ALICIA II - Robert Thurston - E-Book

ALICIA II E-Book

Robert Thurston

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Beschreibung

Die Jungen müssen sterben, damit die Alten leben können - in den Körpern der Jungen. Ein System, das von einer Untergrundbewegung erbittert bekämpft wird.

Voss Geraghty, Besitzer eines neuen Körpers, gerät zwischen die Fronten, als er ein Mädchen aus dem Untergrund kennenlernt. Ihm bleibt keine andere Wahl: Er muss sich zwischen dem Leben und der Liebe entscheiden...

 

Robert Thurston (* 28. Oktober 1936 in Lockport, New York; † 20. Oktober 2021 in Ridgefield Park, New Jersey) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seine Bücher zu den Serien Kampfstern Galactica und Battletech. Ungeachtet dessen war er ein überaus ambitionierter und mit über 40 anspruchsvollen Erzählungen auch renommierter SF-Autor, dem mit Alicia II (1978) sein großer Wurf gelang.

Die deutsche Erstausgabe von Alicia II erfolgte im Jahr 1983. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe in seiner Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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ROBERT THURSTON

 

Alicia II

 

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 69

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

ALICIA II 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

VIERTER TEIL 

FÜNFTER TEIL 

 

Das Buch

 

 

Die Jungen müssen sterben, damit die Alten leben können - in den Körpern der Jungen. Ein System, das von einer Untergrundbewegung erbittert bekämpft wird.

Voss Geraghty, Besitzer eines neuen Körpers, gerät zwischen die Fronten, als er ein Mädchen aus dem Untergrund kennenlernt. Ihm bleibt keine andere Wahl: Er muss sich zwischen dem Leben und der Liebe entscheiden...

 

Robert Thurston (* 28. Oktober 1936 in Lockport, New York; † 20. Oktober 2021 in Ridgefield Park, New Jersey) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seine Bücher zu den Serien Kampfstern Galactica und Battletech. Ungeachtet dessen war er ein überaus ambitionierter und mit über 40 anspruchsvollen Erzählungen auch renommierter SF-Autor, dem mit Alicia II (1978) sein großer Wurf gelang.

Die deutsche Erstausgabe von Alicia II erfolgte im Jahr 1983. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe in seiner Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER. 

ALICIA II

 

 

 

   

 

 

Für Joan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dorothy: Du bist ein sehr schlechter Mensch!

Zauberer: Aber nein, mein Liebling, ich bin ein sehr guter Mensch. Ich bin nur ein sehr schlechter Zauberer.

 

- aus dem Film Das zauberhafte Land (1939)

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Mein ganzes Leben für dich, Alicia. Schon als du neun Jahre alt warst- blond, glücklich und narzisstisch -, wollte ich in deinem Alter sein. Oder vielleicht in dem reiferen Alter von zehn. Es war nichts Hässliches oder Zweideutiges an meinem Wunsch. Ich wäre nur gern klein genug und leicht genug gewesen, um am Rand der auflaufenden Wellen tollen zu können, statt meine schweren Füße durch die kaum sichtbare Kräuselung zu schleppen, die du hinterließest. Meine Fußabdrücke waren Höhlen in dem feuchten, dunklen Sand.

 

Aber als Alicia neun war, war ich sechsundzwanzig. Man multipliziere diese offizielle Zahl mit drei, addiere mindestens ein Jahrzehnt und lasse einen Spielraum für die Periode der Dunkelheit. Das Endergebnis ist der Abgrund an Jahren zwischen meinem damaligen Alter und meinem tatsächlichen Geburtstag. Ich war alt in meinem neuen Körper, und doch war ich gleichzeitig jünger als Alicia. Ich war ein Erneuerter (schreckliches Wort!) und übermittelte immer noch mit viel Mühe sorgfältig abgefasste Botschaften an Muskeln, die dem Absender misstrauten und sich mit ihrer Reaktion Zeit ließen.

Für alle Erneuerten war es Vorschrift, dass sie eine »Anpassungsperiode« durchmachten, wie man das in bürokratischen Kreisen nannte. Ich wählte Atlantica Spa, und das stellte sich als weiser Entschluss heraus. Denn mit seinen gealterten Gebäuden, seinen zusammenbrechenden hölzernen Gehsteigen, seinen selten geöffneten Imbissständen und seinem nicht überfüllten Strand war es einer der am wenigsten beliebten Ferienorte auf dem ganzen Kontinent. Mir gefiel es dort, weil ich eine Trennung von den Menschenmassen brauchte, in denen jeder sich so leicht durch schmale Zwischenräume wand und man hinter vorgehaltener Hand über den unbeholfenen Erneuerten lachte. Erneuerte stießen andauernd mit anderen Leuten zusammen. Uns kamen sie wie eine Mauer vor, die sich bei jedem Schritt verschwörerisch neu zusammenschloss. Ich hatte immer an einer leichten Klaustrophobie gelitten (vielleicht ein Grund mit, warum ich so schnell zu den Sternen aufbrach), und es wäre mir recht schwergefallen, mich umgeben von vier Wänden aus Menschenleibern um Anpassung zu bemühen.

Vor Jahren, in meiner natürlichen Kindheit schenkte mir ein Verwandter ein rot und schwarz gewürfeltes Kaleidoskop. Zum Geburtstag, glaube ich. Ich kann mich in Zusammenhang mit diesem Verwandten an nichts mehr erinnern, aber das Spielzeug, ein regelrechtes Kaleidoskop, das viele Zusammenstöße überlebte, taucht gelegentlich in meinen Gedanken auf. Wenn man es drehte, wander- ten sechs menschliche Silhouetten um seinen inneren Rand. Zuerst faszinierte mich das - bis sich mir die Vorstellung aufdrängte, die sechs Männchen seien innerhalb dieses kleinen Kreises gefangen. Ich hörte auf, das Kaleidoskop zu drehen. Die sechs Männchen hielten an. Ich konnte nachempfinden, wie es sein musste, in dem Rohr gefangen zu sein, und es wurde mir nicht leicht, das Kaleidoskop weiter ans Auge zu halten. Und trotz meines echten Entsetzens war ich auch ein wenig stolz. Dies törichte Übersteigern einer echten Angst bewies, dass ich doch sehr empfindsam war. Als meine Eltern mich schalten und mir erbarmungslos immer wieder vorhielten, wieviel Geld das Spielzeug meinen armen, meinem Gedächtnis entschwundenen Verwandten gekostet habe und dass es von einem mystischen Ort stamme, der Museum moderner Kunst genannt werde, wurde ich sogar noch stolzer. Jede Nichtbeachtung des Appells, vernünftig zu sein, verstärkte meinen Glauben an meine unauslotbare Empfindsamkeit. Wenige Monate später war das Spielzeug zu einem festen Bestandteil eines Regals geworden, und ich konnte es ansehen oder das je nach Lust und Laune bleiben lassen. Und es war als Werkzeug wie als Waffe nützlich.

Wenn meine Klaustrophobie beziehungsweise meine Angst vor der Klaustrophobie in mir nicht das Bedürfnis nach einem leeren Strand wie in Atlantica Spa erzeugt hätte, dann wäre ich Alicia nie begegnet. Aber das ist frohen Herzens vergossene Milch, ein Faden, der das ganze Gewebe des Schicksals rechtfertigt. In meinen früheren Kreisen war von Kindern so gut wie nie etwas zu sehen oder zu hören gewesen, und so kamen sie mir fremd, ja, abenteuerlich vor. Ich war keinem Kind mehr in die Nähe gekommen, seit man mich andauernd gezwungen hatte, auf meine kleine Schwester aufzupassen. Sie wuchs zu einer so auftrumpfenden Tyrannin heran, dass ich den Erinnerungen, die ich an sie aus meiner Kinderzeit habe, einfach nicht traue. Alicia sah ich an meinem ersten Tag in Spa. Ich hatte mich, erschöpft vom Sonnenschein, zusammengeschrumpft von einem kurzen Morgenspaziergang, auf einem sackenden Faltstuhl auf einer sackenden Veranda niedergelassen und beobachtete sie von diesem günstigen Aussichtspunkt aus. Doch ich verspürte nur flüchtige Neugier, ähnlich wie die der Leute, die den hiesigen Zoo besuchten. Da sahen sie mit aufgerissenen Augen und Mündern durch Gitterstäbe, und die Gegenstände ihrer hingerissenen Bewunderung waren Hologramme afrikanischer Tiere, von denen viele bereits ausgestorben waren. Diese Leute waren im Gegensatz zu mir nie in einem richtigen Zoo gewesen. Die hohl wirkenden Geschöpfe in den Käfigen erweckten in ihnen keine Assoziationen zu Gefühlen oder Gedanken, zu Ängsten oder Gerüchen. (In einem Museum erkennen wir ein Gemälde erst dann richtig, wenn wir etwas von dem Schmerz oder der Freude in den Pinselstrichen nachempfinden, wenn uns ein schwieriges Konzept klar wird - aber das ist eine andere Art von Zoo.) Ich saß niedrig auf meinem wackeligen Stuhl und studierte das Verhalten des am Strand spielenden Kindes. Noch unsicher mit den Fäden meines neuen Körpers verbunden, war ich beeindruckt von ihren ungezwungenen Bewegungen und beneidete sie um ihr glückliches Behagen. Ich kommentierte für mich selbst die Anmut ihrer Gesten, ich hielt den Atem an, als sie in plötzlicher Tollkühnheit einen plantschenden Angriff auf das Meer unternahm. Sie sprang und floh und tanzte. Einmal fiel sie und quetschte ein paar Tränen in dem (vergeblichen) Versuch hervor, dem Mann mit dem erstarrten Gesicht, der ihr Vater war, irgendeine Reaktion zu entlocken. Er aber blickte auf etwas anderes. Meine Hand machte eine unwillkürliche Bewegung in ihre Richtung - ein unwirksamer Versuch, ihre Tränen zu trocknen.

Vielleicht verliebte ich mich in Alicia, als ich müßig und erschöpft auf diesem Stühlchen hockte und ihre Bewegungsabläufe beobachtete. Ich sah ein schönes Kind und ließ sie vor meinem geistigen Auge zu der schönen Frau heranwachsen, die sie werden würde (und wurde). Das mag verrückt gewesen sein, aber es waren für einen Rekonvaleszenten typische Phantasien.

Als ich später offiziell um die Erlaubnis bat, ihr Spielgefährte werden zu dürfen, reagierte ihr Vater kaum. Vielleicht sah er, dass ich zu schwach war, um irregeleitete Motive zu haben. Ohne jede Gefühlsregung übergab er sie mir wie dem Kesselflicker eine Münze.

Sie nannte mich Onkel Vossilyev und nahm mich ins Schlepptau, nur um auf Kosten meiner Unbeholfenheit ihre Anmut zur Schau zu stellen. »Mach das noch mal, Onkel V.!«, rief sie, wenn ich hilflos am Boden saß und darauf wartete, dass mein Körper sich zur Kooperation bereitfand.

Da ich den Befehl hatte, mich den größten Teil des Tages auszuruhen, spielten wir meistens bei Sonnenuntergang, wenn die Strahlen der roten Sonne dem Öl, den Algen und dem auf der Wasseroberfläche angesammelten Abfall Myriaden von scharfen und stumpfen Lichtern entlockten. Manchmal machte das Gleißen mich buchstäblich blind, und dann sandte ich voll Hoffnung, es sei nicht etwa eine aufgepfropfte Synapse auf die Wanderschaft gegangen, eine hastige Botschaft an meine Augen. Diese gewährten mir widerstrebend ein verwischtes Bild. Langsam - nur um mich zu ärgern, um sich ein bisschen Unabhängigkeit von dem Eindringling in diesem Körper zu bewahren - ließen sie es dann schärfer werden. Manchmal leisteten meine Lungen nervenaufreibenden Widerstand und jagten mir stechende Schmerzen durch den Brustkorb, wenn ich nach der benötigten Luft rang. Manchmal befehdeten sich meine Glieder gegenseitig in dem Wettstreit, welches mich am meisten in Verlegenheit bringen könne.

Abends suchten wir nach Muscheln, fanden aber nur wenige. Schließlich war der Strand von den letzten Strandläufern abgekämmt worden, bevor sie ihn gegen künstlichen Ersatz - die Plaststrände - eintauschten. Dort wurden sie bezahlte Strandwärter und waren ebenso falsch wie das Terrain, das sie abpatrouillierten. Nun ja, wer war ich, dass ich die Nase über ein solches Leben rümpfte? Es war natürlich eins der besseren Paradiese, die die Ausgemusterten in den wenigen ihnen zugestandenen Jahren suchten, bevor sie sich vor der Erneuerungskammer anstellten. Ich musste an die lange Reihe von Ausgemusterten denken, die ich in meiner ersten Lebensspanne gesehen hatte. Mit hängenden Schultern und leeren Augen wanderten sie wie ein Spaghetti-Strang in den Eingang der Erneuerungskammer, damit selbstsüchtige Qualifizierer wie Onkel V. sich ihrer Körper für die nächste Inkarnation bedienen konnten. Wenn meine Gedanken diese Richtung einschlugen, hörte ich auf, mich über fehlende Muscheln zu ärgern.

Alicia machte einen zu aufgeweckten Eindruck, um ausgemustert zu sein, sie schien intelligent genug, um auch die schärfsten Testfolgen zu bestehen. Wenn sie ausgemustert war, sagte ich mir, musste sie sich bei einem neuen Test unwiderruflich qualifizieren. Die Frage, der Zweifel nagten so an mir, dass ich mir gelobte, mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit über Alicias Status zu vergewissern.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

»Komm, Onkel V., gehen wir schwimmen«, schlug sie vor, nachdem ich (wieder einmal) auf dem Rücken liegend zugestimmt hatte, mit ihr zu spielen. Was sie wollte.

»Ich kann nicht schwimmen.«

»Weißt du immer noch nicht, wie man das macht?«

»Ich weiß, wie man es macht. Das habe ich schon gewusst, als Methusalem und Salomo die ersten Schritte taten.«

»Dann hast du eben gelogen.«

»Ich habe nicht gelogen. Ich weiß, wie man es macht, aber ich kann meine Beine nicht dazu bringen, dass sie richtig funktionieren. Sie machen Flop, wenn sie Flip machen sollten.«

»Du machst immer Flip-flop. Flip-flop. Flip-flop.«

Der Klang des Worts gefiel ihr. Sie umkreiste meinen hilflosen Körper und sang es wie eine Formel für ein Ritualopfer. Der Sand scheuerte meine Haut wund, und die Sonne versuchte, mir die Augen auszubrennen. Alicia wurde der Zeremonie schnell müde. Sie rannte zum Wasser und rief:

»Du hast ja noch gar nicht versucht, ob du schwimmen kannst! Angsthase!«

»Du kleine Hexe, ich kriege dich schon noch!«

Das sagte ich in sitzender Haltung. Ich hatte Jahre gebraucht, sie zu erreichen.

»Du kannst mich nicht kriegen, wenn du nicht schwimmen kannst.« Sie platschte ins Wasser, und ihre langen Beine stampften auf und nieder wie die Spindel einer altmodischen Nähmaschine. Eine Weile blieb sie stehen und bespritzte mich mit Wasser und Drohungen. Als ich mich steifbeinig auf sie stürzen wollte, kreischte sie, stolperte zurück, geriet kurz unter Wasser und kam in anmutiger Rückenlage wieder nach oben.

»Ich rette mich auf das Floß, bevor du mich kriegen kannst!«, schrie sie. Und natürlich schaffte sie es. Ich konnte nicht einmal ein Viertel des Weges zurücklegen. Dann musste ich meine meuternden Muskeln zwingen, mich an den Strand zurückzubefördern, wo ich zusammenbrach. Ich muss wie eine Marionette ausgesehen haben, deren Schnüre gerade durchgeschnitten worden sind.

»Nicht weiter als bis zum Floß, du böses Kind!«, erscholl eine Stimme von einem Standort über und hinter mir. Alicias Vater, Mr. Reynal. Er kam kaum jemals an den Strand herunter. Über den Sand schritt er mit zögernden Füßen, so wie wir anderen an einem kühlen Tag die Zehen ins Wasser steckten, und er war immer von Kopf bis Fuß vermummt, obwohl er inkonsequenterweise hutlos ging. Bis dahin hatte er nur selten mit mir gesprochen. Ein stummer Gruß jedes Mal, wenn er mir seine Tochter überließ, ein Grunzen, wenn er sie wieder in Empfang nahm, eine schroffe Ablehnung jeder Einladung. Sein Gebrüll in diesem Augenblick war eine ebenso angenehme Überraschung wie sein zorniges Explodieren. Er war Astrophysiker, und sein normales Gesicht war so bar jeden Ausdrucks wie das eines Ausgemusterten in der Warteschlange.

»Sie droht ständig, sie wolle das unvergiftete Gebiet verlassen«, erklärte er. »Sie wolle vom Floß aus zu dem Riff hinüberschwimmen und die Stellen finden, wo, wie die Sage behauptet, Menschen auf dem Wasser gehen können.«

Zwei Sätze hintereinander waren bei ihm so etwas wie eine mir gewährte Gratifikation, und dazu kam noch die Ironie als ganz besondere Belohnung. Ich forschte in seinem Gesicht nach dem Gefühl hinter den Bemerkungen, aber sein Zorn war verschwunden, und er hatte seine übliche Passivität wieder angenommen.

»Kinder drohen immer«, sagte ich, wobei es ein Geheimnis blieb, wo ich dies praktische Wissen erworben hatte. »Es ist nichts als eine Art Kompromiss mit den Kompromissen des Lebens. Sie müssen dagegen ankämpfen, ehe sie sich ihnen fügen. Alicia ist ein sehr aufgewecktes Kind.«

Ich war bestürzt über meine Taktlosigkeit und hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Die Bemerkung war ganz harmlos, wenn sie sich auf ein qualifiziertes Kind bezog, aber bei einem ausgemusterten war sie eine schreckliche Beleidigung, und ich hatte noch nicht in Erfahrung gebracht, in welche Kategorie Alicia gehörte. Ihr Vater reagierte jedoch auf meinen Ausrutscher nicht. Was in Anbetracht der wenigen Reaktionen, die ich an ihm beobachtet hatte, gar nichts bewies.

Lange Zeit saßen wir da und sahen Alicia zu, die auf dem Floß herumtobte. Sie führte ein ruckartiges Tänzchen auf. das sie aus dem Film Holocaust des Jahres 2133 hatte. (Wir hatten ihn gestern Abend gesehen.) Sie suchte sich auf dem Floß Schlammklumpen zusammen und rieb sich damit Arme und Stirn ein.

Schließlich sprach ich. Höflich, taktvoll, klug und mit der erforderlichen Rücksichtnahme.

»Ist Alicia ausgemustert?«

Abgesehen davon, dass ich diese Information unbedingt haben musste, hatte ich auch den perversen Wunsch, das Aufflackern einer Emotion im Gesicht dieses Mannes zu sehen. Aus beiden Gründen schlug mir das Herz bis zum Hals, als er mich ansah.

»Nein.« Weder seine Stimme noch sein Gesicht gaben einen Hinweis auf seine Stimmung. Meine Erleichterung kann ihm nicht entgangen sein.

Für den Fall, dass er dachte: Warum haben Sie gefragt?, erklärte ich:

»Ihr wird so viel Freiheit zugestanden, dass ich mir nicht sicher war, welcher Fall hier - ich meine, einige von uns mussten - das heißt, der Bedarf an Wiederverwertungskörpern ist heute so groß, und - nun, die Anforderungen sind...«

»Benutzen Sie immer die Bezeichnung Wiederverwertungskörper?«

Sein Ton enthielt keine Kritik. Ich spürte sie trotzdem.

»Nun, das ist der... der übliche Ausdruck.«

»Ja, ich weiß.«

Er sah wieder zu seiner Tochter hin.

»Ich fürchte, Alicia droht die Gefahr, dass sie bei den nächsten Tests versagt.«

Bei dieser Feststellung und der tonlosen Stimme, mit der er sie machte, überlief es mich kalt.

»Was meinen Sie damit? Haben Sie nicht eben gesagt, sie sei nicht ausgemustert?«

»Das habe ich gesagt, ja. Und für den Augenblick ist es die Wahrheit. Aber ich bin Wissenschaftler. Realist, wenn Sie das akzeptieren wollen.«

»Natürlich akzeptiere ich es, aber was hat die Wissenschaft damit zu tun?«

»Alles. Die Wissenschaft und die Politik. Und Alicia könnte gegen beide verlieren. Aber es hat keinen Sinn, sie mit Vorbereitungen auf die Tests zu quälen. Entweder schafft sie es, oder sie schafft es nicht.«

Ich hätte ihn gern um eine Erklärung gebeten, doch ich wartete, während er lange schwieg.

»Ursprünglich lag ihr Testergebnis gerade eben über dem Minimum. Sie bekam die seltene Beurteilung: qualifiziert vorbehaltlich neuer Tests. Ich bin mir nicht völlig sicher, ob der Grund dafür ihr Testergebnis ist. Ich habe - nun, bestimmte politische Sünden begangen, für die man mich vielleicht bestrafen will. Tatsächlich mögen ihre Leistungen sehr gut gewesen sein. Das Beste für Alicia mag sein, dass ich mich aus dem Gesichtskreis offizieller Stellen zurückziehe. Darüber denke ich nach. Trotzdem könnte sie bei der Testwiederholung versagen.«

Ich nahm Zuflucht zum Klischee. »In den meisten Fällen ist das Ergebnis der Testwiederholung genau wie das erste. So heißt es jedenfalls. Nur bei einer statistisch unwesentlichen Anzahl von Kindern, die als qualifiziert vorbehaltlich neuer Tests eingestuft wurden, ist ein Absinken des Quotienten festgestellt worden, so dass sie doch noch ausgemustert wurden. Wer sich qualifiziert hat, bleibt qualifiziert, die Wahrscheinlichkeit beträgt...«

»Ihre Mutter war ausgemustert.«

Zweifellos seine größte politische Sünde, sagte ich zu mir selbst.

»Oh, das tut mir leid.«

»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Sie war eine entzückende Frau.«

Alicia rief uns etwas zu und hüpfte zurück ins Wasser. Sie schwamm auf uns zu. Mit wilden Armbewegungen besiegte sie den Widerstand des Wassers. Ich stellte mir vor, dass sie zu der statistisch unwesentlichen Zahl von Verlierern gehören könnte, und mir wurde ganz elend. Wenn es stimmte, was ihr Vater sagte, hatte sie nach der herrschenden Lehrmeinung zwei Tatsachen gegen sich. Ein Vater, der sich politisch kompromittiert hatte, war schlimm genug, aber ein ausgemusterter Elternteil war noch schlimmer.

»Sie sehen also«, fuhr Mr. Reynal fort, »dass Alicia stärker von der Politik als von der Wissenschaft bedroht ist. Von Leuten, deren Spezialität es ist, den Hintergrund der Kandidaten zu erforschen. Sie durchstöbern ganze Aktenberge und kommen mit blödsinnigen Schlussfolgerungen wieder zum Vorschein, die sie mit eigens dafür recherchierten Daten untermauern.«

»Aber an einem Testergebnis lässt sich nicht rütteln.«

»Nein. Testergebnisse lassen sich manipulieren. Übrigens, wir alle sind manipulierbar.«

»Das verstehe ich nicht, Sir.«

»Natürlich nicht. Wenn Sie gerade erst in einen - wie Sie es nennen - Wiederverwertungskörper geschlüpft sind, glauben Sie an die Dauerhaftigkeit der Dinge. Im Augenblick gleichen Sie Narzissus, der nichts als sein Spiegelbild betrachtet und sich mit einem einzigen Teich zufriedengibt. Ach, mit Alicia wird schon alles gutgehen, davon bin ich überzeugt.«

»Sollten Sie nicht ständig mit ihr arbeiten, damit sie den Wiederholungstest auch wirklich besteht?«

»Sie ist erst neun.«

Die endgültige Antwort.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Ich weiß nicht, wie oft ich versuchte, Alicias Vater mit einem Trick dazu zu bringen, dass er über ihre Mutter sprach, wie oft ich in diesen kalten grauen Augen nach einer Reaktion auf meine schlauen Fragen forschte. Ich hatte mich auch an Alicia selbst gewandt, doch sie hatte keine Erinnerung an ihre Mutter mehr. Ich verstehe nicht, warum ich es wissen musste. Vielleicht lag es nur daran, dass ich als Erneuerter in einem sechsundzwanzig Jahre alten Körper die romantischen Ideen meiner fast ein Jahrhundert zurückliegenden Jugend wieder aufgriff.

Es war nicht schwer, Informationen über Alicias Mutter zusammenzutragen. Dem unternehmenden Schnüffler sind Informationen immer zugänglich.

Sie, die erste Alicia, hatte Claude Reynals Aufmerksamkeit errungen, weil sie eine Fröhlichkeit ausstrahlte, der keine Spur der häufig bei Ausgemusterten anzutreffenden ironischen Bitterkeit anhaftete. Sie hatte nur einige wenige Lebensjahre - nun, da wollte sie diese wenigen Jahre auch voll genießen. Die Zeit damals war freizügiger. Eskapismus war das Losungswort. Qualifizierte amüsierten sich mit Ausgemusterten, und Erneuerte gaben bei geräuschvollen Belustigungen und zweifelhaften Gewohnheiten den Ton an. (Ich erinnere mich an mich selbst zu jener Zeit. Ich war ein alter Sonderling mit purpurnen Adern und Pockennarben, kaum imstande, den Löffel mit dem weichgekochten Ei-Ersatz zu heben, und ich zeterte gegen diese Freiheiten, die in meiner Jugend nicht erlaubt gewesen waren.)

Alicias Vater und Mutter heirateten ohne große Umstände, und die Welt, die die Wichtigkeit von Prioritäten noch nicht entdeckt hatte, nahm sehr wenig Notiz davon. Sie war achtzehn und strahlte vor Lebensfreude. Er war ein gutaussehender Mann, der sich den mittleren Jahren näherte. Wegen einiger politischer Pamphlete, die er geschrieben hatte, war er in Ausgemusterten-Kreisen recht beliebt. Mir wurde berichtet, dass die Hochzeitsgäste ihn in ein Schwimmbecken voller Champagner warfen und dass er lachend wieder in die Höhe kam. Aber ich bezweifele diese Anekdote. Nicht nur, weil darin gewissenlos mit einer so seltenen Ware wie Champagner umgegangen wird (allerdings war damals oder ist vielleicht immer eine Begleiterscheinung des Eskapismus der Hang zum Zerstören), sondern weil ich mir unmöglich vorstellen kann, wie Alicias Vater lachend - oder auch nur lächelnd - aus jener sprudelnden Flüssigkeit auftauchte.

Es gelang mir schließlich, aus ihm herauszuholen, dass er sie nach einigen Jahren der Kinderlosigkeit kurz vor dem Ende der ihr zugestandenen Lebensspanne absichtlich schwängerte. Nur damit er sie bei sich behalten durfte. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erstaunt es mich, wie gut er in diesen undisziplinierten Zeiten politischen Druck auszuüben verstand. Er muss eine einflussreiche Persönlichkeit gekannt haben, die Erlaubnis zur Geburt des Kindes gab, statt eine Abtreibung oder eine Verpflanzung des Fötus anzuordnen. Wer mag es gewesen sein? Oder, und das ist wahrscheinlicher, waren die Leute damals so wild darauf, neue Wiederverwertungskörper zu erzeugen, dass sie auf ein Baby hofften, das sich zur gegebenen Zeit nicht qualifizieren würde? Jede politische Abweichung kann verziehen werden, wenn ein Wiederverwertungskörper auf dem Spiel steht.

Als der Tag näher rückte, an dem Alicia I in die Erneuerungskammer geschickt werden musste, arbeitete Claude Reynal sich durch Berge von Akten. Er suchte nach einem Schlupfloch, nach einer Sondererlaubnis. Ein besonders widerwärtiger Bürokrat sagte ihm, er könne sich glücklich schätzen, Alicias Schwangerschaft wegen eine zusätzliche Zeitspanne bekommen zu haben, und jetzt gebe es keinen Ausweg mehr. Trotzdem verlangte und erhielt er eine zweite Testwiederholung. So etwas hatte es noch nie gegeben, und es war auch vergeblich. Wie zuvor lag ihr Testergebnis eine Winzigkeit unter dem Minimum für die Qualifikation. Ausnahmen wurden nicht gemacht.

Wie mag sie ausgesehen haben, als sie in der Schlange stand? Ob sie, die sich immer von den anderen ihres Status unterschieden hatte, auf dem ganzen Weg bis zum Eingang der Kammer lächelte?

Mehr als das, was ich aus dem widerstrebenden Claude Reynal herausholte, zuzüglich der paar Informationen, die ich mir durch andere Quellen beschaffte, hätte ich nicht erfahren, wenn nicht ein glücklicher Zufall eingetreten wäre. Während meiner letzten Tage in Atlantica Spa machte eine Tante Alicias väterlicherseits einen Überraschungsbesuch.

Offensichtlich konnte Mr. Reynal sie nicht ausstehen, denn er fand ständig Ausreden, um ihr aus dem Weg zu gehen. So saß ich viele Stunden zu Füßen der schwatzhaften Frau, einer Erneuerten, die in ihrem zweiten Körper schon wieder alterte, und hörte mir den letzten Teil der Geschichte von Alicia I an.

In der Erneuerungskammer löschte man das Bewusstsein der ersten Alicia endgültig aus. Der immer noch lebende Körper, zur leeren Hülle geworden, wurde durch eine Reihe von Röhren in die Inspektionskammer gesaugt. Dort zeichneten die Inspektoren mit rotem Stift die notwendigen Reparaturen an, und die als Chirurgen ausgebildeten Mechaniker kamen ihrer Aufgabe nach, Teile instandzusetzen oder auszutauschen. Andere Röhren beförderten die Hülle in die Nährkammer, wo man den Körper der ersten Alicia pflegte und ernährte, bis das alte Wrack, das ihn erben sollte, entweder starb oder gestorben wurde. Nach einer Reise durch wieder neue Röhren wurde die neue Bewohnerin der Hülle implantiert und angeschlossen. Schließlich trat die frühere Alicia unsicher aus dem Rekonvaleszentenhaus. Sie war jetzt Martina Skotch, die berühmte Kybernetik-Psychiaterin, die sich in ihrem neuen Leben einen Namen als Hauptdarstellerin in Fühlfilmen machte, bevor sie verboten wurden. Mit anderen Worten, sie machte von dem Körper der ersten Alicia den angemessenen Gebrauch. Funktional.

(Wenn die zweite Alicia darüber Bescheid gewusst hätte, was hätte sie bei einem Fühlfilm mit Martina Skotch empfunden? Hätte sie voll Hass gegen die Emotionen angekämpft, die der Film ihr aufzwingen wollte? Ich stellte sie mir vor, angeschlossen an eine Simulation der Nervenzentren Martina Skotchs, teilhabend an den Aufwallungen, die die Schauspielerin entsprechend dem Inhalt des Films in sich erzeugt hatte. Alicia, die mit Martinas Augen sah und mit ihren Händen berührte. Hätte Alicia in dem Teil ihres Bewusstseins, der auch während des Fühlfilms selbständig und unverändert blieb, darüber nachgedacht, dass diese Hülle, jetzt ein simulierter Teil ihrer selbst, einst ihrer Mutter gehört hatte? Dass sie in diesem Leib, der sich jetzt in Leidenschaft wand, einmal geborgen gewesen war? Abwegigere Fragen als diese sind Fühlfilmbesuchern schon mitten in einer Vorstellung durch den Kopf geschossen. Kein Wunder, dass man sie verbot, sagten ihre Gegner später.

Hätte Alicia II für den als Opposex bekannten Nervenkitzel, bei dem die Frau in die Rolle des Mannes schlüpfte und umgekehrt, extra bezahlt? Dann hätte sie, zusammengeschaltet mit Arch Kral oder Steve Dimond oder welcher Schauspieler gerade zu der Zeit der Publikumsliebling war, sich die Hülle von Martina Skotch ansehen, ein paar Jahre abziehen (aber nicht die Gesamtzahl der Jahre seit dem Tod der ersten Alicia, weil Martina alles tat, um sich kosmetisch und chirurgisch jung zu erhalten) und die Schönheit ihrer Mutter studieren können. Vielleicht ihre eigene Schönheit an der Quelle.

Aber Opposex wurde nach kurzer Blütezeit aufgegeben, und Martina Skotch verblasste in ihrer Abgeschiedenheit. Das Publikum vergaß ihre Filme, die nicht einmal mehr für Vorführungen ohne Fühleffekte wieder aus der Mottenkiste geholt wurden. Wie ich hörte, waren Martinas Fühlfilme einfach fürchterlich, aber trotzdem bedauere ich manchmal, dass ich sie verpasst habe. Die zwei oder drei Fühlfilme, die ich gegen Ende meiner ersten Lebensspanne sah, als sie für mich wenig praktischen Nutzen mehr hatten, waren meiner Meinung nach unvollkommen synchronisiert. Liebesszenen vermittelten nicht die richtigen Berührungen und Emotionen. Regentropfen trafen das Gesicht, ließen es aber trocken. Essensdüfte reizten zwar den Appetit, und dann kam die herbe Enttäuschung, weil der Geschmack fehlte.

Ein Spezialist für Wiederbelebungstechnik, von Alicias Vater bestochen, spielte diesem die Information zu, und Reynal schlich sich in das Foyer, wo die neue Martina ihren ersten großen Auftritt in der Welt hatte. Er ging nahe an sie heran und versuchte, Alicia I in den müden, traurigen Augen, den unbeholfenen Bewegungen, dem hinkenden Gang zu finden. Er sagte ihr, wer er war, und ich fürchte, er machte ihr einen Antrag, den die in diesem Augenblick noch unerfahrene Martina selbst nach den Begriffen dieser Eskapisten-Zeit unsittlich fand. Als sie ihn abblitzen ließ, geriet er in Verzweiflung. Er flehte sie an, seine Gesellschaft nur für eine Weile zu erdulden, sei es für zehn Jahre oder für zehn Minuten, das spiele keine Rolle. Wieder lehnte sie ab. Er küsste sie trotzdem. Sie ohrfeigte ihn. Er ging.

Vielleicht eine hässliche Geschichte und dazu eine, die man klugerweise im Familienschrank unter Verschluss hält. Ich fragte mich, ob Alicias Vater, auf eigenen Wunsch in eine andere Welt verpflanzt, fortfuhr, diese alternde Fackel zu tragen. Und Martina - wo sind diese alten Stars heute?

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

An jenem Tag am Strand sprachen Alicias Vater und ich nur noch wenig miteinander. Wir sahen Alicia beim Spiel zu und ließen uns von ihr unserer Faulheit wegen aufziehen.

Um die langen Schweigepausen zwischen Claude Reynal und mir zu verkürzen, zwang ich ihn ständig zur Unterhaltung. Auf diese Weise holte ich dürftige, anekdotenhafte Informationen aus ihm heraus. Es schien ihn überhaupt nicht zu kümmern, was er mir erzählte. Doch es wäre ihm offenbar lieber gewesen, wenn ich so bald wie möglich verstummt wäre. Ich lernte eine Konversationstechnik, die bei ihm gut funktionierte: das knappe Anschneiden eines Themas ohne jede vernünftige Einleitung. Eines Tages hatte ich das Bedürfnis, über mich selbst zu sprechen, das verzweifelte Bedürfnis, denn die Unfähigkeit meines Körpers, etwas zu lernen, trieb mich in den Wahnsinn. Ich sagte zu ihm:

»Sie erinnern mich überhaupt nicht an meinen Vater, kein kleines bisschen.«

»Ich war mir keiner Ähnlichkeit, die auch nur von leisestem Interesse sein könnte, bewusst«, sagte er. Es klang freundlich - sarkastisch, aber freundlich -, und deshalb bohrte ich weiter.

»Mein Vater war empfindsam, zu empfindsam für seine Zeit, zu empfind...«

»Dann kann es natürlich keine Ähnlichkeit gegeben haben.« Er stellte nichts mit seinem Gesicht an, das auf Humor hingewiesen hätte.

»Nun, ich habe nicht sagen wollen, Sie seien nicht empfindsam. Natürlich nicht.«

»Natürlich nicht.«

»Mein Vater war ein Eskapist.«

»Vielleicht sind wir uns doch nicht ganz unähnlich. Auch ich neige ein wenig zu jener Richtung. Wie war er?«

Ich war beinahe sprachlos. Claude Reynal hatte tatsächlich wir eine Frage gestellt! Schließlich entzog ich mich dem Bann dieser vorgebeugten Haltung, dieser grauen Augen und antwortete:

»Nun, er reagierte auf seine Zeit, die Ansichten, die Krisen. Sie wissen schon, Verbrechen, Lebensmittelmangel, überfüllte Wohnungen, Hass, Heuchelei..

»Ich habe undeutliche Erinnerungen an einige dieser Zustände. Wie viele andere Menschen habe ich aus ihnen der Bequemlichkeit halber Geschichte gemacht.«

»Ach ja? Jedenfalls, wie ich schon sagte, versuchte mein Vater, diesen Zuständen zu entkommen. Er schleppte uns, die Familie, im ganzen Land umher. Er war auf der Suche nach einem - einem besseren Leben, würden Sie es wohl nennen.«

»Ja, das würde ich.«

Ich wünschte, er würde seinen Körper um den halben Zoll, den er sich mir entgegengeneigt hatte, wieder aufrichten.

»Das Endergebnis war, dass mein Vater auf seiner Suche da landete, wo er hergekommen war. Im übertragenen Sinne, meine ich.«

»Ja, ja, verstehe.«

Ich kam nicht dahinter, welches Spiel Reynal mit mir trieb. Ich spürte nur, dass er die Figuren manipulierte.

»Im Wesentlichen fanden wir überall die gleichen Bedingungen. Die großen Städte litten unter Überbevölkerung, die kleinen Städte waren verbarrikadiert. Die leichteren Zeiten, die Zeiten der Weltregierung und des Erneuerungs-Wunders, sollten ja erst kommen.«

»Das Wunder, ja, so ist es.«

Irgendetwas - aber diesmal nicht Reynal - drängte mich, nicht weiterzureden.

»Ich weiß es nicht bestimmt, ich vermute es nur. Es wurde eben alles zu schwierig für ihn.«

Ich machte eine Pause und wartete darauf, dass er etwas sagte, zum Beispiel ja, ja, zu schwierig, aber er blieb stumm und blickte mich an.

»Er versuchte, uns allen hindurchzuhelfen. Er riet mir - das fällt mir jetzt gerade ein, ich hatte es vergessen -, das Beste aus meinem Leben zu machen, zum Wohle der Menschheit zu wirken, alles zu tun, um die Ausbreitung von Intelligenz und menschlichem Mitgefühl zu fördern. Das hört sich für Sie wohl alles recht töricht an?«

»Ganz und gar nicht.«

»Er verwandte viel Zeit darauf, mir Ratschläge dieser Art zu geben. Im Alter wurde er ein bisschen senil. Mehr als ein bisschen. Dauernd drohte er mit Selbstmord. In seinen letzten Tagen wachte ich bei ihm und gelobte, mein Leben der Arbeit für die Menschheit zu weihen, ganz wie er es wünschte. Nach seinem Tod überwachte ich den Transport seiner Leiche zur nächsten Erneuerungskammer, und wenige Tage später kam die schlechte Neuigkeit.«

»Schlechte Neuigkeit?«

Ich glaube, er neigte sich noch einen halben Zoll weiter vor.

»Ja. Sehen Sie, es war irgendein Fehler passiert, der vielleicht auf ihn selbst, vielleicht auf den Erneuerungsprozess zurückzuführen war. Die Übertragung seiner Seele aus seinem natürlichen Körper in einen Konservierungsbehälter, wo sie hätte ruhen können, bis eine Hülle zur Verfügung stand, war misslungen. Man schickte eine Nachricht, er könne nicht erneuert werden, wir würden ihn in keiner Gestalt mehr wiedersehen, er sei - wie es in solchen Fällen immer heißt - offiziell tot.«

»Aha. Und das war die schlechte Neuigkeit?«

»Ist das keine?«

»Das kommt darauf an. Sie haben Ihre Mutter nicht erwähnt.«

»Ja, also, das ist ein bisschen unerfreulich. Die Nachricht, mein Vater könne nicht erneuert werden, traf sie sehr schwer. Sie wurde nie wieder ganz sie selbst. Wie mein Vater reiste sie mit uns zu einigen neuen Orten, aber es war nicht das Gleiche. Es gab keinen, gar keinen Grund für das Umherziehen. Und als sie starb, unterschrieb sie den Antrag auf Erneuerung nicht. Sie weigerte sich, in einem neuen Körper wiedergeboren zu werden. Sie sei es ganz zufrieden, sagte sie, in ihrem alten zu sterben.«

»Und auch das war eine schlechte Neuigkeit, wie?«

»Natürlich.«

»Hatte Ihr Vater geplant, zu seiner Familie zurückzukehren?«

»Gesagt hatte er es, aber er war wirklich senil und benahm sich seltsam.«

»Vermissen Sie ihn?«

Reynal drehte den Spieß um und fragte mich aus, wie ich ihn in den letzten beiden Tagen ausgefragt hatte. Die Antwort machte mir Mühe.

»Ob ich ihn vermisse? Ich glaube schon, ich habe seit Jahren nicht mehr darüber nachgedacht. Sein Tod und dann die Nachricht, er könne nicht erneuert werden, waren Schocks, die mich umwarfen, wie Sie sich vorstellen können.«

»Ja, ich kann es mir vorstellen.«

»Ich litt lange Zeit unter Depressionen. Monate. Aber vielleicht war es gut für mich. Ich tauchte mit einem festen Entschluss aus der Finsternis auf. Was ich mit meinem Leben auch anfangen würde, ich wollte es für ihn, für meinen Vater tun. Deshalb bewarb ich mich um einen Posten bei der Behörde für Erneuerungsforschung.«

»Erneuerungsforschung, oh.«

»Das hört sich an, als seien Sie enttäuscht.«

»Ganz und gar nicht, aber vielleicht haben wir unterschiedliche Begriffe vom Wohl der Menschheit. Erhielten Sie den Posten?«

»Nicht den, den ich wollte. In der Erneuerungsforschung selbst war keine Planstelle frei.«

»Es gab sicher viel Andrang.«

»Genau. Meine Empfehlungsschreiben verschafften mir eine Stellung in der Klon-Forschung, die tief unter der Erde in einem Forschungskomplex in Arizona betrieben wurde. Die amerikanische Regierung, die damals auf dem letzten Loch pfiff und paranoider war als je zuvor, hatte alle ihre Forschungs- und Entwicklungsinstitute unter der Oberfläche vergraben.«

»Ich habe ein paar besichtigt. Viel später natürlich. Das Klonen hat mich immer interessiert, aber ich bin über die Forschungsergebnisse nicht auf dem laufenden geblieben.«

»Ja, vielleicht, wenn wir mehr Erfolg gehabt hätten - ich erinnere mich nur noch daran, wie ich mich freute, an einem Projekt arbeiten zu dürfen, das sich in Übereinstimmung mit den Wünschen meines Vaters befand, und gleichzeitig aus der Hässlichkeit der Alltagswelt in eine saubere und sozial gesunde Umgebung fliehen zu können.«

»Sie waren ein Eskapist wie Ihr Vater.«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.« Ich hätte es nicht so ausgedrückt, und die autobiographische Schilderung begann mich anzustrengen. Ich sehnte mich nach seinem Signal, die Unterhaltung zu beenden. »Jedenfalls kam ich auf diese Weise in die Enklave. So nannten wir uns hochtrabend selbst. Wahrscheinlich machten es andere Enklaven ebenso. Viele Jahre arbeiteten wir ohne Erfolg daran, menschliche Klone zu schaffen. Im Anfang waren wir voller Begeisterung und glaubten fest daran, es werde uns gelingen, menschliehe Wesen aus Zellen wachsen zu lassen. Klone waren eine so großartige Idee. Wenn wir Klone entwickeln konnten, brauchten wir keine Menschen auszumustern, die Erneuerung wäre allen zugänglich, und die Körper würden von uns, der Enklave, geliefert werden. Später, nachdem die Weltregierung konstituiert war und ihre Vertreter uns Mittel für weitere Klon-Forschung versagten, mussten wir, die Enklave, uns verbittert mit den langweiligeren Studiengebieten beschäftigen, die uns zugewiesen wurden. Wir forschten nicht mehr. Wir hielten nur noch lange Diskussionen ab, mehr Geschwätz als Arbeit. Auf gewisse Weise waren wir eine sehr törichte Gruppe, verrückte Wissenschaftler, die immer noch vorgaben, ihr Tun habe irgendeine Wichtigkeit für die reale Welt. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe.«

»Etwas von der Bitterkeit, die Sie erwähnten, haben Sie mitgenommen.«

»Nun ja, in meinen letzten Tagen war ich zum Geizhals geworden. Selena sagte immer...«

»Selena?«

»Meine Frau. Sie war..

»Oh. Ich frage mich, wohin meine Tochter diesmal gewandert ist.«

Das war es. Das Signal. Reynals Befehl, die Unterhaltung einzustellen. Er war zu abrupt gekommen, obwohl ich mich danach gesehnt hatte. Ich war zornig darüber, dass er andeutete, die noch nicht beschriebenen Teile meines ersten Lebens seien für ihn ohne Interesse. Dann erkannte ich: Er konnte es einfach nicht zulassen, dass das Thema »Ehefrauen« in die Unterhaltung einbezogen wurde; er konnte es nicht zulassen, dass die Erinnerung an Alicia I sich ihm von neuem aufdrängte.

 

 

 

Fünftes Kapitel

 

 

Für den Rest dieser leider zu kurzen Woche begleitete ich Alicia glücklich auf all ihren improvisierten Ausflügen. Wir erkundeten die erstaunlich guterhaltenen Überreste eines Tanzlokals, kratzten Sand von einem Marmorfußboden und sprachen mit den in den Schatten sitzenden Geistern von Mauerblümchen. Wir gerieten an eine aufgegebene Brücke und erfanden für sie einen Balladen singenden Troll mitsamt seiner ganzen Lebensgeschichte. Wir schlichen uns in anderer Leute Hütten und untersuchten ihre Habseligkeiten. Je länger ich mit Alicia zusammen war, desto stärker wurde meine Überzeugung, dass die Überlegungen Reynals’, ob sie doch noch von dem gleichen Schicksal ereilt werden könne wie ihre Mutter, nur die übertriebenen Ängste eines liebenden Vaters waren. Intelligent? Sie war intelligenter als alle Kinder, die ich je gekannt hatte, ganz zu schweigen von ein paar einwandfrei als qualifiziert eingestuften Erwachsenen.

Wir streiften an mehreren heißen Nachmittagen umher und tanzten komische Gigues als Willkommensgruß für die zögernd aufgehenden Monde. Alicias hübsches Gesicht zeigte viele Nuancen des Ausdrucks, wenn sie in dem unterschiedlichen Licht umherwirbelte - dem wissenden Schatten des natürlichen Monds, dem stählernen Flackern des Satellitenmonds, den Python-Attacken eines Strandfeuers, der Aura von Menschen geschaffener Lichter, die auf den Hügelkuppen schimmerten, den Widerspiegelungen all dieser Quellen auf dem undurchdringlichen Wasser. In jedem Licht war es ein anderer Ausdruck, keiner trat zweimal in der Stunde auf.

Nach und nach gewöhnte sich mein Körper daran, dass ich ihn herumkommandierte, und kam seinen Pflichten mit weniger Widerstreben nach. Vielleicht sagte er sich, dass er bereits ausreichende Rache für mein Eindringen genommen habe und dass die Fortsetzung dieser kleinen Quälereien unnötiger Sadismus sei.

Mr. Reynals’ Ferien endeten zur gleichen Zeit wie mein Rekonvaleszenten-Urlaub, und wir vereinbarten, gemeinsam zum Hauptstrom der Menschheit zurückzukehren. Mir tat es leid, diesen stillen, und vor allem unbevölkerten Ort verlassen zu müssen. Während der ganzen Zeit in Spa hatte ich nicht einmal dreißig Leute gesehen und vielleicht mit der Hälfte von ihnen gesprochen. Noch heute denke ich voll Sehnsucht an diese Einsamkeit zurück, aber jetzt träume ich des Nachts von einer verwüsteten Stadt, über deren Eingang in grünen schmiedeeisernen Lettern Paradies geschrieben steht. Kein Wunder, dass man Spa schließlich auch zu einem Plastistrand machte, einer blassen Imitation des Originals, aber sorgfältig geplant, voll leuchtender Farben und Glanz und mit mehr Luxus, als der zivilisierte Mensch sich wünscht. Eine überwältigende Liste von Vergnügungen wird einem in alphabetischer Reihenfolge angeboten, so enzyklopädisch ist sie, und das häufige Reiben von Haut gegen Haut macht den Aufenthalt dort zu wirklichen Ferien.

Ich schlug vor, den Rapzug (die offizielle und nur gelegentlich benutzte Bezeichnung für das Rapid-Transit-Überland-System) statt eins der billigeren, schnelleren und zweckdienlicheren Verkehrsmittel zu nehmen. Mr. Reynals erklärte sich damit einverstanden. Anscheinend war er mit allem einverstanden. Vielleicht gab er mir nach, weil mir mein romantisches Bedürfnis, an allen sterbenden Künsten teilzuhaben, zu deutlich anzumerken war.

Es gab Leute, die Rapzüge in ihrem heruntergekommenen und gar nicht mehr rapiden Zustand bevorzugten. Wenn man nicht in der Stimmung war, schnell an einen anderen Ort zu gelangen, boten sie einem eine Fahrt in aller Muße, und das ohne Unbequemlichkeiten, ohne Gasvergiftung und ohne Angst. Mit Rapzügen konnte man die meisten wichtigen Orte des amerikanischen Kontinents erreichen. Wir leben in einem Zeitalter, das den Fortschritt an den Stolperern misst, die in der Richtung nach vorn gemacht werden, und da sollte man es vielleicht nicht so tragisch nehmen, dass die Tunnel, die das ganze Land unterminieren, aufgegeben wurden. Aber ich finde es doch bedauerlich, dass man die Rapzüge zugunsten unterirdischer Einkaufszentren und Verbrauchermärkte abgeschafft hat.

Ich weiß noch, dass ich, als wir vor dem Drehkreuz anstanden, darüber nachdachte, welch verzweifeltes Problem die Übervölkerung vor zwei Jahrhunderten gewesen ist. Damals sagten Propheten den unausweichlichen Untergang laut Malthus voraus. Doch statt angesichts der offensichtlichen Entwicklung klein beizugeben, hatten wir sie positiv gestaltet. Wir hatten uns nach außen und unten ausgedehnt, nahrhafte Lebensmittel-Ersatzstoffe erfunden und Land wieder urbar gemacht. Wir hatten neuen Raum in den aufgegebenen Rapzug-Tunneln und unterirdischen Höhlen gewonnen. Die Gebäude bohrten sich tiefer in die Erde und stiegen höher zum Himmel empor. Jetzt war das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen. Laute Rufe forderten stärkere Vermehrung, um den Planeten mit einer Zahl an Menschen zu überschwemmen, die den zu verantwortenden Höchstwert der alten Propheten überstieg. Denn wir sahen uns mit einem Bevölkerungsproblem anderer Art konfrontiert. Alle unsere genetischen Forschungen und Experimente konnten es nicht erzwingen, dass mehr Kinder geboren wurden, deren Schicksal es war, bei den Tests ausgemustert zu werden und ihre Körper zur Verfügung stellen zu müssen. Warum zeugt ihr nicht mehr Babys? schrie die verzweifelte Gesellschaft den allzu lethargischen ausgemusterten Eltern zu. Nicht nur lag die Geburtenrate zu niedrig, die ausgemusterten Eltern lieferten auch nicht genug unterqualifizierte Babys, und das trotz der entsprechenden Gene. Sie fuhren fort, zur Klasse der Privilegierten beizutragen und nicht genug Wesen ihrer eigenen Art in die Welt zu setzen. Manche Leute hielten es für einen teuflischen Plan, die Bevölkerungszahl immer weiter zu erhöhen.

Es sind nie genug Körper da, sagten die Erneuerungsspezialisten. Die Perioden der Dunkelheit, in der die individuellen »Seelen« auf ihre neuen Körper warteten, wurden länger und länger. Die Ärzteschaft sei daran schuld, behaupteten manche. Wenn sie das Leben nur über das Durchschnittsalter von neunzig hinaus verlängern könnten! Die Ärzte wiederum machten den Medien zum Vorwurf, dass sie die Massen in einen Zustand fortgeschrittener sexueller Stimulation drängten, ja geradezu zwängen, nur damit wir mehr Babys bekämen. Die Analytiker der politischen und sozialen Verhältnisse meinten, die Erzeugung von mehr Babys sei keine echte Lösung. Gleichzeitig mit zusätzlichen Körpern für den Erneuerungsprozess wüchsen auch zusätzliche Qualifizierte heran, die schließlich ihrerseits auf die Liste gesetzt werden müssten und neue Körper benötigten. Und dann werde von neuem nach einer höheren Geburtenziffer gebrüllt.

Nun, dachte ich, wenigstens ist dabei für mich ein neuer Körper abgefallen. Dann schüttelte mich das Entsetzen über meinen eigenen Zynismus.

 

 

 

Sechstes Kapitel

 

 

Die Luft des Rapzug-Bahnhofs war dick von Gestank. Ich meinte, einzelne Schichten wahrzunehmen: erhitzte Körper, ungenügende Pissoirs, den Abfall der Gleichgültigkeit, all den Rost und Staub, der den Reinigungsmannschaften unschwer entgeht. Ich wartete, Alicias Hand in meiner. Vor uns stand ihr Vater, und an den übrigen drei Seiten waren wir von anderen Reisenden eingekeilt. Ich spürte sie förmlich gegen meinen Rücken, meine Schultern, meine Brust drücken. Ich hatte ein Netzhemd und Hosen aus dem sogenannten Kühlschrank-Stoff angezogen, der einen von der Hitze draußen isolieren sollte, jedoch (wie ich jetzt entdeckte) inmitten einer Menschenmenge nicht funktionierte. Ich stellte mich auf die Zehen, um einen Atemzug frischer Luft zu erhaschen, und dann setzte ich meine Fersen auf die Füße von jemand anders. Wir murmelten beide eine Entschuldigung, obwohl es ebenso wenig sein Fehler gewesen war wie meiner, weil er von einer dritten Person, vielleicht mehrere Reihen hinter ihm, vorwärtsgeschoben worden war.

Nicht imstande, mich umzudrehen, verrenkte ich mir den Hals, soweit es mir meine protestierenden Nackenmuskeln gestatteten, und sah den rotgesichtigen Herrn hinter mir aus den Augenwinkeln an.

»Wenn Sie die Füße auseinandersetzen könnten«, begann ich, »dann wäre es vielleicht...«

»He, Ernie!«, sagte der Rotgesichtige, »ich habe dich von hinten gar nicht erkannt.«

Er berührte meinen bloßen Arm mit schwieligen Fingerspitzen.

»Es tut mir leid, aber Sie müssen sich...«

Meine Entschuldigung ging unter in dem langen Heulton des einfahrenden Zuges. Wir schafften es in den Zug, gerade als das Besetzt-Zeichen anging und die Leute hinter uns vor dem Einstieg ausgeschlossen wurden. Nur der rotgesichtige Mann quetschte sich in der kurzen Zeit, bevor die Schleusentür einrastete, noch hindurch.

»Das war knapp, was, Ernie?« lächelte Rotgesicht und zog eine gewürfelte Robe enger um sich. »Aber was soll’s, zum Teufel, ich muss sowieso bald gehen. Man hat mir die doppelte Versicherungssumme für meine Frau angeboten, wenn ich vor der Zeit gehe. Aber ich habe ihnen gesagt, was sie mit dem Geld machen können. Verdammt, meine Alte hat ja auch nur noch zwei Jahre vor sich. Soll es also an die Kinder fallen? Lass sie für sich selbst sorgen, sage ich immer. Gottverdammt, eins davon hat sich noch dazu qualifiziert. Sie sagen, darauf solle ich stolz sein, aber ich werde diesem kleinen Bastard kein Erbe hinterlassen, darauf kannst du wetten. Komisch, aber ich dachte, du wärst bereits weg, Ernie. Das soll natürlich kein...«

»So wird es wahrscheinlich sein. Ich bin nicht Ernie. Dieser Körper mag ihm gehört haben, doch ich fürchte, er ist dahin.« Ich glaube, ich sprach wie der typische kalte Fisch. Eis schimmerte auf meinen Schuppen. Ernies Freund nickte und hakte einen schwieligen Daumen in den Gürtel seiner Robe.

»Tut mir leid, entschuldigen Sie«, murmelte er, seine Wut hinunterwürgend. Dann schlängelte er sich in einen anderen Teil des Wagens. Während der ganzen Fahrt blickte er oft mit seinen bewölkten, kummervollen Augen zu mir hinüber.

 

 

 

Siebtes Kapitel

 

 

Wenn ich wollte, könnte ich eine hübsch romantische Darstellung meines Abschieds von Alicia auf dem gedrängt vollen Lakeshore-Bahnhof im Cleveland-Meglop geben. Die Einzelheiten retuschieren, die Andeutung einer späteren Neigung in ihren tränengefüllten Augen erkennen (tatsächlich strahlten diese Augen fröhlich und hielten sicher schon nach neuen Abenteuern Ausschau). Aber wir sollen den Pfad der Liebe nicht mit künstlichen Rosen bestreuen. Alles spielte sich gehetzt ab. Atemlose Erklärungen, Versprechen, sich wiederzusehen, die doch gebrochen wurden, ein verrücktes Hinstürzen zum Ausgang. Vielleicht zauste ich kurz ihre blonden Locken, vielleicht streichelte ich ihr wie ein guter Onkel den Kopf, war einen Augenblick lang traurig über den Abschied, so in der Art. Aber es beschäftigte mich viel mehr, dass ich nun mit meinem zweiten Leben anfangen konnte. Mein Körper begann, ordnungsgemäß zu funktionieren, und ich brannte darauf, ihn zu erproben. Ich sehnte mich danach, lange entbehrte Freuden zu genießen.

In meiner ersten Lebensspanne war ich ein solcher Einsiedler gewesen, dass ich meiner Meinung nach in dieser Runde ein erfüllteres Dasein brauchte - etwas Besseres, als mich tief in einer unterirdischen Höhle mit einer Enklave von Experimentatoren zu vergraben, die ebenso eremitenhaft veranlagt waren wie ich. Wenn ich jetzt mit einem Abstand von einer ganzen Lebensspanne auf mein erstes Leben zurückblicke, finde ich in meiner Erinnerung nur noch die trivialen Einzelheiten des Alltags. Meine Kenntnisse wurden damals missbraucht und sind heute veraltet, und ich habe sogar jene Tatsachen und Theorien vergessen, die jede wache Minute meiner Zeit in der Enklave erfüllten. Nichts von meinen dort gemachten Erfahrungen liefert Stoff für Erzählungen eines alten Mannes von der großen Vergangenheit. Ich heiratete innerhalb der Gruppe, das taten wir alle. Einer von uns war sogar Spezialist für Inzucht, was Anlass zu einigen anstößigen, aber echt komischen Witzen gab. Selenas Fachgebiet war die Soziogenetik. Sie war ein Mädchen mit sanftem Gesicht und unterentwickeltem Körper. Obwohl wir ausgezeichnet zusammen arbeiteten, regten wir uns nur selten zu sexueller Leidenschaft an.

Schließlich wurde der sexuelle Akt überflüssig, und wir verzichteten darauf. Unser Bett sackte an den Seiten statt in der Mitte ein.

Zu Beginn der mittleren Jahre, wenn derlei fast unvermeidlich ist, hatte ich eine Affäre mit Lanna Petersen, einer funktionell attraktiven brünetten Programmiererin. Doch wenn sie sich auch mehr sexy gab als Selena, war im Bett eigentlich nicht viel Unterschied.

Mein Lebenswerk ist zusammengeschmolzen zu einer Fußnote in einer Fachzeitschrift, die selten zu Rate gezogen wird. Selena starb. Ich wurde zum Sonderling. Die erneuerte Selena war eine knubbelige, schlecht angezogene Blondine. Ich starb im Schlaf.

Während der Rekonvaleszentenzeit hatte ich über den möglichen Inhalt meines neuen Lebens heftig nachgedacht. Selena hatte mich mehr oder minder direkt gebeten, in die Enklave und zu ihr zurückzukehren. Ihr sei das gleichförmige Leben in der Enklave ein Trost, meinte sie, denn das Durcheinander in der Welt draußen gehe über ihre Kräfte. Aber ich antwortete ihr entschlossen nein, mein Liebling, nicht noch einmal dasselbe. Nein, von dieser Runde erwartete ich mir einen Schmaus, ein Fest, einen Freudenrausch. Vollsaftige Erlebnisse sollten diesmal den Grundstock zu fesselnden Geschichten legen, die ich im Alter erzählen konnte. Mich verlangte es nach gefährlichen Abenteuern, nach den leckeren Früchten der Zerstreuung, nach regelmäßig eingeplanten Orgien. Wie sich herausstellte, bekam ich nicht alles davon. Im Gegensatz zu dem volkstümlichen Glauben ist die Erfüllung von zwei Wünschen unter dreien nicht genug.

Vor Beginn meines abenteuerlichen Lebens musste ich einen Besuch abstatten. In seinem ersten Leben war Dr. Ben Blounte der beste Freund meines Vaters gewesen. Sie wuchsen zusammen auf, feierten Doppelhochzeit und starben sogar nur Wochen voneinander getrennt. Das einzige, was sich nicht Hand in Hand bewerkstelligen ließ, war die Erneuerung. Als die meines Vaters fehlschlug, trauerte Ben mit der Familie. Sein Leid hatte damals in meinen Augen etwas Bizarres an sich - da vergoss ein kräftiger junger Mann Tränen um einen Greis, der ihn bei seinem letzten Besuch, als Ben gerade erneuert worden war und voll Freude seinen neuen Körper herzeigen wollte, nicht einmal mehr erkannt hatte.

Während meines Lebens in der Enklave hatte ich mir nur für meine jährlichen Besuche bei Ben erlaubt, mein Asketentum zu unterbrechen. Er pflegte mich mit aller Gründlichkeit doppelt und dreifach zu untersuchen. Das letzte Mal, als wir einander sahen, hatte er verlangt, mein erster Weg nach der Erneuerung und Rekonvaleszentenzeit müsse zu ihm führen.

Cleveland, einer der letzten Orte, der die moderne Stadtplanung und Architektur noch nicht eingeführt hatte, hatte sich nicht sehr verändert. Es war nach dem unpraktischen Gittersystem angelegt. Die Gebäude erhoben sich senkrecht nach oben und bohrten sich ebenso in die Erde. Die Straßen waren mehr oder weniger gerade und kreuzten sich in fast rechten Winkeln. Einschienenbahnen bummelten vorbei. Es gab sogar hier und da noch funktionierende Gleitbürgersteige. Und der Straßenverkehr ließ einen bedauern, dass in mehr als zwei Jahrhunderten so wenig Fortschritt auf dem Gebiet des Fahrzeugtransports erzielt worden war. Cleveland war eine unlogisch moderne Stadt, als versteckten Hüllen und Fassaden nur die industrielle Scheußlichkeit, die Zerstörerin des großen Sees, die es einmal gewesen war. Ich habe das Gefühl, wie die Zeiten sich auch entwickeln, Cleveland wird immer hinterherhinken. Ich fühlte mich dort wohl.

Ben hatte seine Praxis in der gleichen Höhle, die er seit beinahe einem Jahrhundert benutzte, im neunzigsten Untergeschoss eines alten Gebäudes. In Bens Wartezimmer nannte ich dem rostigen alten Robot-Sekretär einen falschen Namen, obwohl ich wusste, die Maschine gab sowieso jede Botschaft verstümmelt weiter. Ich hörte Ben im Nebenraum brummen. Er verwünschte die konfusen Informationen des Robot-Sekretärs.

»Kommen Sie herein, wer Sie auch sein mögen!«, rief er. Das Licht über der Tür ging an. Ich legte meine Hand auf den mit »Eintreten« gekennzeichneten Streifen, und die Tür, ein weiteres Stück überalterter Einrichtung, holperte zur Seite.

Vor mir lag dasselbe alte Sprechzimmer. Ein hässlicher schwarzer Drehschreibtisch, der gefährlich auf seinem Zapfen wackelte. Missgestaltete Kontursessel für die Patienten (man musste schon wirklich krank sein, wenn man auch nur in Betracht zog, sich in einen zu setzen). Der schiefe Turm eines Untersuchungswürfels. Die holographischen Jagd- und Fischereibilder, die die früheren Großen Augenblicke der Medizin ersetzt hatten (ihre pastorale Einfachheit war viel ansprechender, und außerdem waren die Großen Augenblicke ein bisschen zu blutig gewesen). Verschiedene Geräte und Instrumente des ärztlichen Berufs waren unordentlich im Raum verstreut. Ben kam hinter dem Schreibtisch hervor, der noch schräger kippte, als seine Hüfte ihn streifte. Seine ausgestreckte Hand schien seinen Körper hinter sich herzuziehen. Tränen standen ihm in den Augen. Mir auch.

Er umarmte mich. »Verdammt noch mal, wie hast du mich so schnell erkannt?«, fragte ich.

»Ganz gleich, was für ein Gesicht du erbst, du wirst immer mit dem gleichen dämlichen Ausdruck darauf ins Zimmer kommen.«

Ben trat von mir zurück, und ich sah ihn mir an. Er war viel älter geworden, was mich nicht überraschte. Sein Gesicht hatte tiefe Falten, und sein Körper zeigte die Magerkeit des Alters. Aber die wachen braunen Augen musterten einen immer noch Zoll für Zoll mit dem Blick des Arztes, auch wenn man nicht zur Untersuchung kam und rein zufällig vor ihm stand. Er wies mich an, mich zu setzen. Ich tat mein Bestes, mich in die unnatürliche Stellung zu verbiegen, die der Kontursessel verlangte. Mir war, als spürte ich durch meine dünne Kleidung die groben Fäden des Kissens (Ben kaufte immer Ausschussware und Reste).

»Soll ich dich gleich untersuchen?«

»Nicht jetzt. Zu offiziell. Ich komme morgen oder übermorgen wieder. Gib mir einen Termin.«

»Morgen früh um neun.«

»Ich bin pünktlich, das verspreche ich.«

»Es gibt noch einen guten Grund für eine sofortige Untersuchung, und ich bin sicher, das Zentrum hat es vermieden, dich darüber aufzuklären.«

»Und der wäre?«

Er stand auf, trat an das Fenster mit der ländlichen Szene und blickte hinaus, als pulsiere das Bild vor Leben. Er kreuzte die Arme und dachte nach. Ich erkannte die Anzeichen. Er nahm seine professionelle Haltung an.

»Sabotage ist der volkstümliche Ausdruck dafür, mein lieber Voss.«

»Was? Sind wir wieder in einem anarchistischen Zyklus oder so etwas?«

»In gewisser Weise ja. Vor allem in dem Sinn, dass Anarchie im allgemeinen Angriffe der Unterdrückten auf die glücklicheren Menschen über ihnen mit einschließt.«

»Und sie sprengen Gebäude in die Luft? Ich verstehe nicht, wie...«

»Nein, diesmal ist die Sabotage auf Körper gerichtet, nicht auf Eigentum. Das ist ganz neu und hat sich erst bei den in den letzten paar Monaten Erneuerten gezeigt. Ich selbst habe noch keinen Patienten gehabt, an dessen Körper herumgepfuscht worden ist. Deshalb habe ich keine unmittelbare Erfahrung mit Körpersabotage. Man hätte statt an Sabotageakten wahrscheinlich nur an zufällige Defekte oder in einigen Fällen an ein Versagen des Erneuerungsprozesses geglaubt, wenn nicht einer der radikalen Ärzte ein anonymes Geständnis abgelegt hätte. Und da fing man an, die Unterlagen durchzusehen, und...«

»Warte mal! Ich komme längst nicht mehr mit. Sabotage? Erkläre mir das.«

»In diesem Fall heißt Sabotage, dass der Körper eines Ausgemusterten verändert wird, bevor er oder sie in die Kammer geht. Etwas wird entfernt, oder etwas wird eingepflanzt, oder etwas wird gerade so weit verändert, dass es das Leben für den neuen Besitzer des Körpers - nun - unbequem macht. Wenigstens eine Zeitlang.«

»Etwas. Was für ein Etwas?«

Ich merkte, dass er mich behutsam wie auf eine Operation vorbereiten wollte, und das gefiel mir gar nicht.

»Üblicherweise Organe. Obwohl schon alle möglichen Tricks versucht worden sind. Kürzlich las ich, ein Knochen sei entfernt und durch eine Plastik-Nachbildung ersetzt worden, die so präpariert war, dass sie sich nach der Erneuerung langsam im Körper auflöste. In der Hülle, wie viele Leute es so unelegant nennen. Eine Hülle nennen sie den Körper, als habe er nie zuvor Leben in sich getragen oder als sei er von jemandem weggeworfen worden, der ihn nicht mehr wollte...«

»Hör mal, ich schaudere schon genug. Deshalb kannst du das philosophische Beiwerk lassen. Meine Knochen fühlen sich im Augenblick okay an, aber...«

»Immer mit der Ruhe, es ist nur ein Fall mit dieser Knochensache aufgedeckt worden. Meistens handelt es sich um die lebenswichtigen Organe.«

»Wie mich das tröstet!«

Im Geist erkundete ich meine Innereien. Ich entdeckte alle möglichen Fehlfunktionen, die ich nie zuvor bemerkt hatte.

»Ein Schlüssel-Sabotageakt ist die Entfernung eines Organs. Sagen wir, es wird eine Niere herausgenommen. In der Erneuerungskammer, wo das gesamte fähige Personal überarbeitet ist (ganz zu schweigen von der Mehrzahl des unfähigen) prüft niemand den Körper - die Hülle - so sorgfältig nach. Eine kleine Narbe sieht wie die andere aus, und es gibt keinen Grund, übermäßig genau zu sein. So wird die Tatsache, dass ein Organ entfernt wurde, erst entdeckt, wenn der Erneuerte zum ersten Mal zum Arzt geht. Selbst dann ist es keine große Sache, es sei denn, die noch übrige Niere funktioniert nicht richtig, und dann kann immer noch eine Transplantation vorgenommen werden. Der Zweck ist nur, dem Erneuerten Ärger zu bereiten, verstehst du? Es ist ein in die Zukunft verschobenes kleines Stückchen Revolution seitens des Ausgemusterten, der sich in der Kammer melden muss.«

»Ich verstehe nicht ganz, was das alles soll, Ben. Du sagst, die Ausgemusterten lassen sich operieren, bevor sie sich in die Erneuerungskammer begeben, nur um dem Körper, der einen neuen Eigentümer bekommen wird, Schaden zuzufügen?«

»Jawohl. Sie gehen zu den sogenannten radikalen Ärzten, die all das in einer Art Untergrundbewegung tun, und lassen nach ihrer Wahl etwas zerstören oder so ändern, dass es Unbehagen hervorruft. Tatsächlich sind Operationen wie die Entfernung einer Niere zwar einfach, aber ziemlich selten, weil so etwas sogar bei einer flüchtigen Untersuchung in der Kammer leicht entdeckt und repariert werden kann. Die meisten Sabotageakte sind subtiler und schwerer festzustellen - und übrigens auch schmerzhafter. Es gibt komplizierte Implantationen in der Aorta, die leichte Schmerzen hervorrufen und eine außerordentlich gefährliche Operation verlangen. Und dann gibt es eine Zeitbomben-Technik, die man auf das Rückenmark anwenden kann - es bricht ein paar Tage, nachdem der Erneuerte seinen Körper erhalten hat, buchstäblich zusammen. Glücklicherweise sind die meisten Ausgemusterten gegenüber Schmerzen und Operationen ebensolche Feiglinge wie wir übrigen und lassen nichts machen. Ein Großteil der Sabotageakte besteht allein darin, dass eine Menge Backenzähne gezogen oder ein Trommelfell punktiert wird...«

»Mach mal eine Minute Pause. Ich kann nur eine bestimmte Anzahl bildhafter Einzelheiten in mich aufnehmen und dann...«

»Entschuldige.«

Ben trat an ein Fenster, das einen Hirsch auf der Flucht vor Jägern zeigte. Das braune Fell der springenden Gestalt war zerfetzt und legte stellenweise Drähte und rotes Tuch bloß. Ben drehte sich um und sah mich an. Ein schmerzhaftes Kribbeln überlief meinen ganzen Körper.

»Warum werden wir in der Erneuerungskammer nicht sorgfältiger untersucht?«

»Das ist bereits angeregt worden. Von mir und einigen wenigen anderen. Aber die meisten meiner lieben Kollegen wollen nichts davon hören. Schon vor Beginn der Sabotageakte hat die Ärztevereinigung entsprechende Maßnahmen vereitelt. Vor Jahren war einmal geplant, den Kammern Kliniken anzuschließen. Die Ärztevereinigung verhinderte das mit dem Argument, es sei besser, wenn der Erneuerte freiwillig zu einem Arzt oder einer Klinik seiner eigenen Wahl gehe. Auf diese Weise erhalte er individuelle Betreuung - und die Ärzte erhalten mehr Geld. Jetzt behaupten sie außerdem, die Anpassung nach der Erneuerung sei so schon schwer genug, und wenn eine Untersuchung einen größeren Fehler des Körpers enthülle, könne der Schock für den frisch Erneuerten zu viel sein. Vielleicht ein guter Einwand, wenn auch ein bisschen zu rationalistisch. Denke daran, was du in den letzten Tagen hast durchmachen müssen - welchen psychischen Schock könntest du verkraften?«

»Keinen großen.«

»Richtig. Und dann ist da noch ein weiteres Problem, ein ziemlich blödsinniges. Die für die Kammern verantwortlichen Bürokraten wollen einfach nicht zugeben, dass an Körpern herum gepfuscht wird. Sie bestehen darauf, das Gerede über fehlerhafte Hüllen, wie sie sich ausdrücken, sei übertrieben und da es von offenkundig die eigenen Interessen wahrnehmenden Ärzten stamme, wie sie sich ausdrücken, sei es wahrscheinlich sogar unwahr. Lassen wir ihre Logik beiseite, die Hauptsache ist, dass das Gerücht über fehlerhafte Hüllen ihrem kostbaren Image in der Öffentlichkeit schadet. Außerdem fürchten sie, ihre Kunden könnten mehr von ihnen verlangen, als sie im Augenblick fähig sind zu geben. Ich kann sie beinahe verstehen. Schließlich gibt es bisher nicht viele beweiskräftige Informationen über Sabotageakte. Und ganz gewiss keine soliden Nachforschungen. Zurzeit fällt es ihnen noch leicht, die Sache mit einem Puh! abzutun. Aber sie werden sich damit beschäftigen müssen...«

»Warum werden denn die Körper überhaupt beschädigt? Wie ist es zu all dem gekommen?«

»Das weiß niemand sicher, aber man kann es leicht erraten. Stell dir vor, was du empfinden würdest, wenn du wüsstest, dein Körper werde einem neuen Besitzer gegeben und dir das Lebenslicht im Alter von sechs- oder siebenundzwanzig für immer ausgeblasen.«

»Natürlich habe ich oft darüber nachgedacht. Das tut jeder. Aber...«

»Aber nichts. Ich will jetzt keine Diskussion über das Für und Wider der Erneuerung anfangen. Das haben wir alle durchgemacht, im College oder sonstwo. Zum Teufel, es hat eine Zeit gegeben, als ich fest davon überzeugt war, die besten Eigenschaften der Menschheit seien es wert, erhalten zu werden, und die Erneuerung sei eine wunderbare Methode, es zu tun. Es war meine ehrliche Meinung, die Erneuerungsgesetze seien logisch und der Trend, eine elitäre Gruppe zu schaffen, in einer überbevölkerten Welt selbstverständlich. So wenige nur brauchten für so viele geopfert zu werden, erinnerst du dich an das hübsche Schlagwort? Ich habe all diesen Unsinn geglaubt. Vermutlich glaube ich ihn in einem egoistischen Eckchen meines Unterbewusstseins immer noch.«

Wir brachten es nicht fertig, uns anzusehen. Das geschah immer, wenn Leute die ideologische Basis der Erneuerung diskutierten. Einmal, als wir im Aufenthaltsraum der Enklave darüber sprachen, brachte Selena uns alle zum Schweigen, indem sie darauf hinwies, solange wir sicher unter der Erde blieben und uns nur selten hinauswagten, seien wir nicht befugt, solche Sachen zu beurteilen. Sie sagte, wir betrachteten uns als die Auserwählten innerhalb der Elite, die für alle anderen Menschen Entscheidungen treffen dürften. Und in Wirklichkeit seien wir Einsiedler, die sich in dunklen Höhlen versteckten und jeden Kontakt mit der realen Welt vermieden, indem wir vorgäben, zu ihrem Fortschritt beizutragen.