Alina - Sven Tasch - E-Book

Alina E-Book

Sven Tasch

4,8

Beschreibung

Die Band ALINA feierte Mitte der Neunziger beachtliche Erfolge. Der Selbstmord ihres Sängers Hugo führte einst zur Auflösung. Ein Gig in Rumänien bringt Lukas, Ingo, Jan und Frederique nach zehn Jahren noch einmal zusammen. Im Land der Extreme entdecken die Freunde: Sie haben sich verändert! Ihre letzte gemeinsame Tour macht ihnen klar: Diese Reise führt am Ende alle zu sich selbst! ALINA- Eine Hymne an das Leben, ein wilder Roadtrip und eine rasante Geschichte voller Überraschungen.

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Seitenzahl: 250

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Inhaltsverzeichnis

LUKAS

INGO

JAN

FREDERIQUE

TAG 1

TAG 2

TAG 3

TAG 4

TAG 5

FREDERIQUE

JAN

INGO

LUKAS

Leicht, fast schwerelos zieht der Zitronenfalter seine Kreise durch die heiße Sommerluft. Staubkörner kreuzen seinen Weg, aufgewirbelt von den tieffliegenden Mücken. Weizenfelder liegen goldgelb in der langsam untergehenden Sonne des heißen Tages. Auf einem Stein am Wegesrand lässt sich der Schmetterling nieder. Er ruht sich aus. Von weitem sieht er ein glänzendes Fahrrad auf dem staubigen Feldweg immer näher kommen. Das Fahrrad ist ihm bekannt. Er hat den jungen Mann mit dem weißen Bike schon oft gesehen.

„Gleich wird es wieder laut, besser ist es, ich halte Abstand.“ Der Falter flattert eilig zurück auf die Wiese.

Lukas fährt auf seinem Fahrrad den ausgetrockneten Weg zum See. Sein Lieblingsring, der mit dem Totenkopf, bewegt sich auf dem Fahrradlenker zum Takt der Musik. Sie wird in unsäglicher Lautstärke über die Kopfhörer in die Ohren direkt in die Blutbahn gepumpt. Das letzte Stück muss er sein teures Mountainbike über den holprigen Feldweg schieben. Der Mattlack soll keinen Schaden nehmen. Die Hitze wird für Lukas unerträglich. An seinem sehnigen Oberkörper laufen Schweißperlen über die tätowierte Haut und der Gitarrenkoffer klebt auf seinem Rücken. Der Tag ist einfach viel zu heiß. Nach fünf Minuten hat Lukas den See erreicht und stellt vorsichtig sein Fahrrad ab. Über die Kopfhörer erklingen die letzten Akkorde, dann schaltet er ab. Ruhe. Hastig, ohne abzusetzen, trinkt er den Rest seines Wasservorrates aus der Flasche. In der Ferne sieht er die Sonne in den Wald eintauchen, sie hinterlässt einen roten Streifen am Horizont. Die verbliebene Abendsonne nutzt Lukas, um im Fahrradspiegel seine Frisur zu kontrollieren. Seine Frisur hat schlapp gemacht. Bei 30 Grad im Schatten verliert jedes Gel seine stylende Wirkung. Reflexartig greift er nach dem Kamm in der Hosentasche. Gekonnt bringt Lukas seine Tolle wieder in Form. Der ständige Griff zum Kamm gehört zur Alltagsroutine. Bei jedem Spiegel, selbst bei glänzenden, reflektierenden Flächen, holt er seinen Kamm hervor. Eine kleine Korrektur der Frisur kann nie schaden. Zufrieden mit sich, blickt er noch einmal in den Fahrradspiegel.

„Nicht schlecht“, sagt er zu seinem Spiegelbild und lässt den Kamm in der Hosentasche verschwinden. Lukas hat schon viele Frisuren ausprobiert, auch Farben. Mal war er blond, mal hatte er einen Iro, ab und zu auch mal eine Glatze. Doch die Frisur aus den Fünfzigern hält sich jetzt schon eine lange Zeit. Sie ist wie für ihn gemacht. Keiner kann ihm diese Tolle so rasch nachmachen. Es sind alles armselige Imitationen, denn entweder haben die Leute nicht die erforderliche Haarmenge oder es fehlt ihnen einfach das handwerkliche Geschick. Lukas breitet eine Decke auf der Wiese aus und lässt sich nieder. Langsam schweift sein Blick über den Horizont.

„Hier könnte ich stundenlang sitzen, wie ruhig es hier ist!“ Der Zitronenfalter kommt zurück und kreist ein paar Runden über ihm. Leicht wie ein Staubkorn, lässt er sich auf Lukas Knie nieder. Lukas ist hellwach. Seine ganze Aufmerksamkeit widmet er nun dem Falter. Ganz langsam bewegt er seine Hände auf ihn zu. Behutsam schließen seine Finger über ihm. Der Falter ist gefangen! Lukas kann spüren, wie die kleinen Flügel gegen die Handflächen schlagen. Eingeschlossen in der Dunkelheit flattert er mit aller Kraft, um sich zu befreien. Lukas führt seine Hände zum Mund.

„Hab keine Angst, ich tue dir nichts. Ich will dir nur einen Moment ganz nahe sein. Gleich lass ich dich wieder frei und du kannst fliegen, wohin du willst.“ Durch einen schmalen Spalt befreit sich der Schmetterling, flattert orientierungslos im Kreis und verschwindet in der Abenddämmerung. Lukas verfolgt ihn, bis er nicht mehr zu sehen ist. Ein hässlicher Ton seines Handys holt ihn in die Realität zurück. Er schaut aufs Display: Du wolltest doch um 16.00 Uhr bei mir sein, ich warte auf dich. Mia.

Mia ist eine Eroberung seines letzten Konzertes und seit vier Wochen führen sie so etwas wie eine Beziehung. Selten investiert Lukas so viel Zeit in eine Frau, doch Mia ist unkompliziert. Sie stellt keine Ansprüche und erwartet nichts, was er für sie ändern müsste. Nur ihre ständigen Anrufe und Nachrichten nerven von Zeit zu Zeit. Er möchte jetzt nicht antworten und legt das Handy beiseite. Sein Blick gleitet über das klare dunkle Wasser und da ist sie wieder, die Melodie. Jedes Mal, wenn er hier sitzt, geht sie ihm durch den Kopf. Er nimmt seine Gitarre aus dem Koffer und beginnt zu spielen. Zwischen all seinen Gedanken ist noch viel Platz für die Musik und zu jeder Tages- und Nachtzeit versucht Lukas neue Melodien zu spüren und sie festzuhalten. Darum ist seine schwarze Gitarre auch immer griffbereit, so wie an diesem Abend am See.

„Der Song landet auf meiner CD“, sagt Lukas überzeugt und legt seine Gitarre beiseite. Seinen Traum vom eigenen Soloalbum nimmt ihm so schnell keiner; auch wenn ihm bisher das nötige Startkapital fehlt. Langsam wird es dunkel und er packt seine Sachen zusammen. Auf dem Rückweg zirpen die Grillen am Wegesrand, sein Schmetterling wird sich jetzt einen ruhigen Ort für die Nacht gesucht haben und aus der Ferne hört man die Geräusche der Stadt näher kommen.

Zwanzig Minuten später erreicht er mit dem Fahrrad ein Wohngebiet am Stadtrand. Doppelhaushälften schmiegen sich dicht aneinander, durchgestylte Vorgärten erzählen von Tristesse.

„Hier würde mich nichts inspirieren“. Er war zuvor noch nie in dieser Gegend und niemals würde es ihn hierher ziehen. Aus den Vorgärten dringt Grillgeruch. Väter präsentieren ihre Weber Grills, während ihre Kinder im dämmrigen Licht Fußball spielen. Die Mütter haben sich an Tischen versammelt und verkosten ihre selbstgemachten Salate. Misstrauisch beäugen sie den tätowierten Fahrradfahrer. Alle starren Lukas hinterher, bis er endlich in einer Seitenstraße verschwindet. In dieser Straße ist es sehr still und aus einigen Fenstern flimmern Fernseher. Eine Frau lehnt in der Fensterbank und beobachtet wie sich zwei Mädchen an einem Zigarettenautomaten zu schaffen machen.

„Was habt ihr da zu suchen?“, schreit sie den beiden hinterher, die mit ihrer Zigarettenschachtel das Weite suchen. Lukas kommt es so vor, als ob diese Straße einen Wettbewerb der Buchsbaumhecken veranstaltet. Um dem Elend zu entkommen, tritt er noch fester in die Pedale und biegt mit rasender Geschwindigkeit in eine Sackgasse. Laut des Straßenschildes muss er hier richtig sein. Ganz am Ende steht ein Haus, das ein wenig aus diesem Einheitsschön heraussticht. Nur ein paar Rosenbüsche zieren den Vorgarten zwischen allerlei Steinen. Lukas sichert sein Fahrrad und nähert sich Stufe für Stufe der Haustür. In der Türscheibe kontrolliert er rasch noch seine Tolle und steckt sich eine Zigarette an. Während er genüsslich den Tabak inhaliert, beobachtet ihn im Fenster des Nachbarhauses eine alte Frau. Ungeniert verfolgt sie alle seine Bewegungen. Sie beugt sich weit hinaus, um Lukas im Blickfeld zu haben. Er nimmt nochmal einen kräftigen Zug und schnippt die klimmende Kippe in ihren Vorgarten. Sie reagiert sofort mit einem bösen Blick. Lukas schenkt ihr ein meisterhaft gespieltes Lächeln. Nun drückt er den Klingelknopf. Sehr schnell öffnet sich die Tür und im Eingang steht Mia. Ihre wunderschönen schwarzen Haare legen sich über ihre Schultern und Lukas muss mal wieder feststellen, wie schön sie doch ist. Mias grauer Lieblingspullover fällt lässig über ihre kurze Jeanshose. Am Glanz ihrer Augen kann man ihre Freude erkennen, sie fällt Lukas um den Hals und küsst ihn.

„Ich bin so froh, dass du endlich da bist“, flüstert sie in sein Ohr. Lukas bleibt kühl. Beide betreten das Haus und Mia schließt fast geräuschlos die Haustür. Den muffig riechenden Flur zieren antike Möbel. Es riecht sehr stark nach Zigarettenqualm, doch ein Geruch drängt sich noch mehr in Lukas Nase: Alkohol.

Mia läuft wie eine Ballerina auf Zehenspitzen an Lukas vorbei. Vor einer Tür bleibt sie stehen und schweigt. Man hört das Ticken einer Wanduhr und das Rauschen eines Kühlschranks. Sonst nichts. Plötzlich ertönt eine Stimme hinter der verschlossenen Tür.

„Hast du Besuch?“ Die Stimme klingt sehr tief und nicht besonders freundlich. Lukas hört, wie etwas zu Boden fällt und zerbricht. Beide bleiben regungslos im Flur stehen.

„Wer ist da?“, ertönt es erneut aus dem Raum.

„Es ist Lukas, Papa. Der, von dem ich dir erzählt habe.“ Wieder hört man etwas poltern. Dann geht alles sehr schnell. Mia zieht Lukas zum Ende des Flures und schiebt ihn in einen Raum.

„Ich bin gleich wieder bei dir!“ sagt Mia und verlässt das Zimmer. Lukas lässt seinen Blick durch den spärlich eingerichteten Raum wandern. In der Ecke steht ein Bett, ansonsten nur ein paar alte Möbel. Zum Glück gibt es zum Rückzug noch das Fenster. Lukas versucht es zu öffnen, erst vorsichtig, dann mit aller Gewalt. Doch der Griff bewegt sich keinen Millimeter von der Stelle. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. So streift er die Gitarre vom Rücken, stellt sie gegen die Fensterbank und lässt sich angespannt auf der Matratze nieder. Nach ein paar Minuten betritt Mia wieder den Raum. Sie knallt die Tür hinter sich zu und schließt ab. Mia lehnt sich gegen die Holztür. Ihr Atem wirkt angestrengt kontrolliert, ihre Augen sind glasig. Mit dem Ärmel wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und stellt sich in die Mitte des Raumes. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, sie versucht in ihrem Kopf Ordnung zu schaffen, sich zu sortieren. Langsam zieht sie ihren grauen Pullover über die Schulter und ein schmaler Körper kommt zum Vorschein.

„Gut, dass ich hiergeblieben bin“, denkt Lukas und lehnt sich gegen die Wand. Mit einem heftigen Kuss beginnt das Spiel und nun gibt es kein Halten mehr.

Ein wenig später sitzt Lukas am Bettrand und raucht genüsslich eine Zigarette. Aus seiner Tolle ist eine wilde Zottelfrisur geworden. Mia liegt auf ihrem Bett und blickt auf seinen tätowierten Rücken. Zwischen all den unbekannten Zeichen ist auch der Kopf einer Frau abgebildet. Mia fragt sich, wie viele Frauenherzen Lukas wohl schon gebrochen hat. Zärtlich legt sie beide Arme um Lukas breite Schultern und küsst seinen Nacken. Er schmeckt salzig.

„Bleibst du heute Abend bei mir?“, fragt Mia zögerlich.

„Heute nicht“, erwidert Lukas kurz und schiebt ihre Arme beiseite. Schnell sammelt er seine Sachen vom Boden.

„Wenn du willst, kannst du morgen zu mir kommen.“ Mit diesem kurzen Satz verabschiedet er sich, nimmt seinen Gitarrenkoffer und geht. Durch das Fenster beobachtet Mia wie Lukas die Straße hinunter fährt und am Ende verschwindet.

Heißes Wasser ergießt sich über Lukas. Sein Kopf lehnt gegen die Fliesen und er versucht, seine Gedanken zu sammeln. Da ist sie wieder, die Melodie vom See. Lukas seift sich ein, rasiert seinen Körper und wäscht sich das Wachs aus seinen dunklen Haaren. Schwungvoll bindet er sich ein Handtuch um und läuft zum Fenster, um eine Zigarette zu rauchen. Seit einem Jahr lebt Lukas im Leipziger Stadtteil Plagwitz und wenn er nicht gerade auf Tour ist, genießt er die Zeit daheim. Hier kann er für sich sein und ist doch unter vielen. Oft sitzt er auf seiner Fensterbank und beobachtet das bunte Treiben auf der Straße. Die Miete für diese Wohnung kann er geradeso aufbringen, dafür jobbt Lukas in Musikgeschäften oder verkauft sein musikalisches Talent in einer seiner vielen Tanzbands. Neben der Fensterbank steht eine alte Waschmaschine, auf der sich alte Zeitungen, Musikmagazine und ein übervoller Aschenbecher stapeln. Ansonsten hat dieses Bad das Flair eines Schlachthauses. Nichts ziert die Wände oder steht irgendwo umher. Lukas ist Purist und den Sinn von Dekoration hat er noch nie verstanden. Nicht einmal einen Schrank hat er hier aufgestellt. Die paar Hygieneutensilien verteilen sich um das Waschbecken. In dem überfüllten Aschenbecher löscht Lukas seinen Zigarettenstummel und beginnt mit dem Styling. Gekonnt führt er das Rasiermesser an seinen Wangen entlang und entfernt die Bartstoppeln. Er mag es, sich auf die altmodische stilvolle Art zu rasieren. Nachdem er die letzten Stoppeln entfernt hat, werden die Haare geföhnt und in Form gebracht. Zum Schluss springt Lukas in seine schwarze Röhrenjeans und zieht sich ein schwarzes, enganliegendes Hemd über. Nach einer Stunde ist das Styling beendet und Lukas betrachtet sein Spiegelbild. Er ist zufrieden und verlässt das Bad.

Der Flur wirkt endlos. Möbel sucht man hier vergebens, dafür lehnen unendlich viele riesige Fotos an den Wänden. Es sind Fotografien von vergangenen Tagen. Bevor Lukas die Musik für sich entdeckte, verbrachte er die meiste Zeit hinter einem Objektiv. Einige Bilder zeigen Ausschnitte seiner zahlreichen Roadtrips, doch auf den meisten Fotos sind Frauen zu sehen. Das weibliche Geschlecht hat Lukas schon immer interessiert und oft hat er mit seiner Fotomasche die eine oder andere ins Bett bekommen. Viele Gesichter sind Liebschaften vergangener Jahre, ein paar Freundinnen sind auch dabei, doch an die meisten dieser Frauen kann sich Lukas nicht mehr erinnern. Keine dieser Fotografien hat Lukas aufgehängt, bis auf ein Riesiges, das sein Schlafzimmer ziert. Es zeigt das Gesicht einer schwarzhaarigen Frau. Zwischen ihren vollen Lippen steckt eine knallrote Kirsche. Ihre schwarzen Haare sind im 50er Look gestylt. Sie trägt passend zur Kirsche einen knallroten Lippenstift und ein rotes Kopftuch mit weißen Punkten. Das Markanteste jedoch sind ihre tiefdunklen Augen, die geheimnisvoller nicht leuchten könnten.

Anna war seine einzige große Liebe. Doch diese Liebe wurde nie erwidert. Seitdem ist Lukas auf der Suche. Doch niemand kann es mit Anna aufnehmen. Keine ist so witzig, klug, charmant und elegant. Bei ihr hatte Lukas gespürt, wie sich Liebe anfühlt.

„Ich muss mich ablenken“, denkt Lukas und greift nach einer seiner vielen Gitarren, die aufgereiht neben dem Bett stehen. Mit geschlossenen Augen singt er Make you feel my Love von Bob Dylan. Doch seine Zeilen reißen immer mehr Wunden auf. Er stellt die Gitarre beiseite und zündet sich eine Kippe an.

„Es ist so lang her und doch fühlt es sich an, als wärst du gestern noch hier gewesen. Doch du bist nicht hier! Du wohnst in einen der vielen langweiligen Doppelhaushälften und hast eine Familie. Warum hast du uns so schnell aufgegeben.“ Lukas legt eine Platte von den Editors auf und dreht den Lautstärkeknopf fast auf Anschlag. Singende Gitarren hallen durch den Raum und übertragen sich auf seinen ganzen Körper. Langsam beginnt Lukas zu tanzen, allein in diesem riesigen Raum. Er bewegt sich zum treibenden Takt des Drummers und tanzt sich langsam in Ekstase. Die Musik wird intensiver, alles dreht sich. Als der letzte Takt erklingt, fällt Lukas erschöpft aufs Bett.

„Zu viel passiert heute. Ich muss mich ablenken.“ Er greift zum Telefon und wählt eine Nummer. Nach einiger Zeit hört man eine Stimme zwischen unsäglichem Lärm.

„Lukas, was willst du, der Laden ist voll! Ich kann nicht telefonieren.“

„Katrin, brauchst du heute noch Hilfe an der Bar, ich muss mal raus hier, abschalten.“

„Das fällt dir immer früh ein, es ist ein Uhr. Aber von mir aus gern, wenn du auch ausschenkst und nicht nur baggerst. Hier ist nämlich die Hölle los.“

„Schon klar!“, Lukas drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und dreht sich eine Neue für den Weg. Im Flur wirft er sich seine Lederjacke über und kontrolliert im Spiegel nochmal die Optik.

„Alles perfekt!“ Als er die Wohnungstür hinter sich zuschmeißt, fällt im Flur ein Bild um und das Glas im Rahmen zerspringt. Es ist das einzige Bild, das einen Mann zeigt. Auf dem Fußboden zwischen all den Scherben liegt Hugo, der verstorbene Sänger seiner Band ALINA.

Der Club ist brechend voll. Mit aller Kraft bahnt sich Lukas seinen Weg durch die zappelnde Menge als ein Hit von David Guetta die Feiermeute durchdrehen lässt.

„Assimucke“, denkt Lukas und schwingt seinen Körper ganz cool über den Tresen. Katrin steht mal wieder allein hinter der Bar und versucht, Herrin der Lage zu werden. In Dreierreihen warten durstige Gäste auf ihr Getränk. Mit etwas gestresstem Gesichtsausdruck schaut sie zu Lukas hinüber, der gerade einen ziemlich albernen Tanz aufführt. Dann begrüßt er Katrin mit einem Schlag auf den Po.

„Na Baby, haste die Leute im Griff?“

„Da hängt die Schürze! Siehst du nicht, was hier los ist?“ Seine Barkollegin ist genervt und greift nach einer Flasche Gin. Gekonnt lässt sie weiße Flüssigkeit in ein Glas laufen. Lukas zieht sich elegant die schwarze Schürze um und tanzt weiter zum Takt der Musik, als hätte er einen epileptischen Anfall. Dann greift er sich den Cocktailshaker, denn Cocktails mixen ist sein Spezialgebiet. Nun beginnt die Show. Endlich ist er Mittelpunkt des Geschehens. Gekonnt fliegt der Shaker in die Luft und landet zurück in seinen Händen. Katrin verdreht die Augen, doch sie ist froh, dass Lukas hier ist. Sie ist gern in seiner Nähe, auch wenn sie es nie zugeben würde. Und zwischen Pina Colada, Sex on the Beach und Long Island Icetea gibt es den einen oder anderen Flirt. Die Party fiebert ihrem Höhepunkt entgegen. Aus dem Augenwinkel beobachtet Lukas, wie Katrin ein süßes blondes Mädchen bedient. Ihr Haar ist zu einem lockeren Haarknoten zusammengebunden.

„Kanonenfutter“, denkt Lukas und springt zu seiner Kollegin hinüber. Alle seine Sensoren sind empfangsbereit.

„Die bediene ich, rutsch rüber.“ Genervt tritt Katrin beiseite und bedient den nächsten Gast. Der DJ legt schon wieder einen Megahit von David Guetta auf und alle im Raum drehen durch. Lukas lehnt sich über den Tresen, da die Musik um 10db gestiegen ist.

„Was kann ich dir denn Gutes tun?“, schreit er dem Mädchen zu.

„Pina Colada“, antwortet sie und schaut verführerisch in Lukas Augen.

„Das läuft ja besser als gedacht“, denkt er sich. Eine ähnlich aussehende Blondine drängelt sich an der Schlange vorbei und zieht das Mädchen in Richtung Tanzfläche. Reflexartig verlässt Lukas die Theke und läuft ihr hinterher. Gerade noch bekommt er ihren Arm zu greifen.

„Willst du mal einen richtigen Cocktail trinken, dann komm nachher zu mir. Geht auch aufs Haus.“ Die Blondine lächelt Lukas zu und nickt. Nun wird sie weiter gezogen in den Sog der Tanzfläche. Lukas geht zurück zur Bar und schnappt sich sein Handtuch.

„Na, hat wohl nicht geklappt?“ Katrin legt ein hämisches Grinsen auf und füllt ein Glas Hefeweizen.

„Wollen wir wetten, dass sie wiederkommt“, erwidert Lukas und nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Bier.

„Hast du ihr deinen Spezialcocktail versprochen? Lass dir mal was Neues einfallen.“

„Bis jetzt brauchte ich das nicht, es funktioniert immer! Außer bei dir Schätzchen!“ Katrin zieht die Augenbrauen nach oben und holt eine Weinflasche aus dem Kühlschrank.

„Na guck mal, wer da schon wieder in der Schlange steht.“ Lukas grinst und schraubt den Cocktailmixer auf. Er zieht eine Tequilaflasche aus dem Fach und dreht sie mehrmals in der Hand. Er zählt bis sechs während der Alkohol durch den Ausgießer in den Shaker fließt. Danach folgen Gin, Rum und Wodka. Zum Schluss füllt er den Shaker mit Zitronensaft, Organgensaft, Cola und Eis. Dann beginnt er erneut, seine Mixkünste zu präsentieren, während er Blickkontakt mit dem fremden Mädchen hält. Sie lächelt zurück.

„Die ist verdammt jung“, denkt sich Lukas und füllt den Inhalt in ein Glas. Auf einen Bierdeckel schreibt er: Um 6.30 Uhr vor der Tür. Lässig drückt er den Cocktail mit dem Bierdeckel einem Jungen aus der ersten Reihe in die Hand und zeigt auf das Mädchen. Wortlos dreht sich der Junge um und überreicht den Opfertrank.

„Wird man hier nach Aussehen bedient?“, ruft ein Mann aus der Schlange.

„Dann würdest du nie drankommen“, erwidert Lukas und zwinkert dem Mädchen noch einmal zu.

„Arrogantes Arschloch“, erwidert der Mann, dreht sich um und verschwindet. Nun ist auch das Mädchen nicht mehr zu sehen.

Die restlichen Stunden vergehen wie im Flug. Die Musik wird immer beschissener, dafür die Gäste immer besoffener. Punkt sechs Uhr wirft der DJ seinen Rausschmeißersong ein und die Deckenlampen erleuchten einen halbzerstörten Tanzsaal. Einige Verstrahlte zucken noch auf der Tanzfläche zur Musik von David Hasselhof. Lukas schmeißt die Schürze beiseite und gibt seiner Barkollegin noch einen Abschiedskuss auf die Wange.

„Ich nehme mir mein Geld raus, ok?“ Er zieht sich einen Fünfziger aus der Kasse und springt über den Tresen.

„Hast du noch`ne Kippe für mich?“ Genervt hält Katrin ihm eine Schachtel entgegen. Lukas zieht sich zwei heraus, steckt eine in den Mund und die andere hinter sein Ohr. Dann verlässt er den Club. Draußen begrüßt die Morgensonne einen neuen Tag. Morgenrot hat sich über Leipzig gelegt und einige sind schon auf den Straßen unterwegs, um frische Brötchen zu ergattern. Lukas zündet sich die Zigarette an und nimmt genussvoll einen Zug.

„Hast du auch ein Zigarette für mich?“, fragt eine junge weibliche Stimme, die plötzlich hinter Lukas steht. Er dreht sich um und erblickt das blonde Mädchen.

„Guten Morgen. Hat dir der Cocktail geschmeckt?“ Lukas greift sich hinters Ohr und hält ihr die Zigarette entgegen.

„Er war sehr lecker, aber auch sehr stark. Wolltest du mich abfüllen?“ Das Mädchen lächelt.

„Hast du auch einen Namen?“ fragt Lukas.

„Sabine!“ Sie öffnet ihren Haarknoten und ihre langen, seidigen Haare fallen über ihre Schultern. Lukas zieht noch einmal kräftig an der Zigarette.

„Lukas.“

„Ich weiß, das hat mir meine Freundin schon erzählt. Sie kennt dich.“ Einen Moment lang herrscht Schweigen, Lukas ist irritiert.

„Sie sagt, du wärst der erfolgreichste Aufreißer in diesem Club.“

„OK“, antwortet Lukas cool und überlegt, wie er diese Situation entschärfen kann. Ohne ein Wort legt Sabine ihre Hände hinter Lukas Kopf. Darauf folgt ein minutenlanger Kuss.

„Mann, die geht ja ran“, denkt Lukas und ballt freudig seine Faust in der Tasche. Er hat sein Ziel schneller erreicht als gedacht. Gekonnt zärtlich legt er beide Hände auf ihren Po und zieht ihn zu sich ran. Auf dem Weg zu Lukas Wohnung können sie nicht voneinander lassen. Fast hätte Sabine ihre neue Eroberung in irgendeinem Hauseingang gezogen. Nur mit aller Kraft schafft es Lukas, sie bis zur Wohnung zurück zu halten. Ihre Leidenschaft ist nicht zu bremsen.

Ein vibrierendes Handy weckt Lukas aus dem Tiefschlaf. Er blinzelt und erblickt neben sich einen zarten Rücken und einen kleinen süßen Po. Das Mädchen neben ihm krallt sich an der Bettdecke fest und schnarcht. Lukas schaut auf sein Handy, es ist 14.30 Uhr, irgendjemand mit unbekannter Nummer hat ihn versucht zu erreichen. Aus der Nachbarwohnung dringt leise Musik von den Bee Gees durch die Wand. In der Wohnung über ihm ist wie immer um diese Uhrzeit ein Staubsauger aktiv. Lukas dreht sich noch einmal zu Sabine und lässt seine Finger über den zarten Rücken wandern.

„Sie muss hier schnellstmöglich verschwinden. Es könnte sein, dass Mia hier aufkreuzt.“ Die letzte Zigarette in der Schachtel gibt ihm genügend Zeit, um sich eine Lüge einfallen zu lassen. Während er sie genüsslich raucht, vibriert erneut das Handy auf seinem Nachttisch. Es ist wieder diese unbekannte Nummer. Damit Sabine nicht von den Handygeräuschen geweckt wird, nimmt Lukas ab.

„Wer stört?“, fragt er und zieht an seiner Zigarette. Einen Moment lang ist Stille, dann meldet sich eine Stimme.

„Hallo, hier ist Frederique…“

Ingo sitzt auf dem Toilettendeckel und starrt an die Wand. Sein Schlafanzug liegt auf dem feuchten Boden vor der Dusche. Um die morgendliche Stille zu genießen, hat er sich im Bad eingeschlossen. Sein Blick schweift durch den Raum. Alte Wäsche stapelt sich auf dem Fußboden, da spielt es keine Rolle, wo er seinen Pyjama deponiert. Im Bad verteilt sich allerlei Zeugs, das niemand gebrauchen kann. Wie auch diese drei Dekoigel, die ihn dämlich angrinsen.

„Die Viecher kotzen mich an“, denkt Ingo und schaut zurück zur Wand. Ein Klopfen an der Tür reißt ihn aus seinen Gedanken. Ingo ärgert sich.

„Hat man hier nicht mal fünf Minuten für sich“, schreit er und beginnt in einen der vielen Wäschestapel nach noch einsatzfähigen Socken zu wühlen. Das Klopfen an der Tür wird energischer, Ingo versucht es zu ignorieren. Tops, Kleider und Unterwäsche fliegen durch die Luft.

„Papa, mach auf. Ich will mich fertig machen.“

„Ich bin auch noch nicht fertig“, schreit Ingo lauthals der geschlossenen Tür entgegen und schmeißt wütend eine Hose in die Ecke.

„Scheiße, hier sieht es aus wie Sau. Könnt ihr euren Kram nicht mal wegräumen?“ Sein Puls schießt in die Höhe und die Halsschlagader kommt zum Vorschein. Ingo schafft es nur noch selten, sich unter Kontrolle zu halten. Der kleinste Reiz löst eine Explosion aus. Unerwartet öffnet sich die Tür.

„Luisa, wie bist du hier reingekommen?“, fragt Ingo und blickt in das hämisch grinsende Gesicht seiner Tochter.

„Der Schlüssel vom Schlafzimmer passt in jede Tür. Müsstet du eigentlich wissen!“ Mit einem Schmunzeln mustert sie ihren Vater, der inzwischen im weißen Feinrippschlüpfer vor ihr steht.

„Der sieht so lächerlich aus. Ein totaler Versager“. Sie sagt es nicht laut, aber er kann es förmlich hören, wie seine Tochter über ihn denkt. Sie läuft zum Spiegel. Auf dem Waschbecken stehen meterlang aufgereiht, sämtliche Schminkutensilien der Rossmann und DM Kollektion. Geschickt umkurvt Luisa den Wäschewald einschließlich ihres Vaters, schnappt sich einen Eyeliner und führt den Pinsel an ihren noch kindlichen Wimpern entlang. Seit langer Zeit hat sie darin Erfahrung und ist über die Jahre eine Meisterin im Schminken geworden. Im Spiegelbild beobachtet sie ihren Vater, der immer noch in einem Klamottenhaufen herumwühlt.

„Es wäre echt nice, einen coolen Vater zu haben. So wie meine Freundin. Papa ist einfach nur voll nervig. Voll peinlich. Und die hässlichen Tattoos! Wenn er wenigstens coole Tattoos hätte“, denkt Luisa.

„Diesen Rock trägst du nicht oder willst du, dass jeder deinen Schlüpfer sieht“, sagt Ingo energisch und zieht sich endlich ein Paar Socken an.

„Sowas ziehst du in der Schule nicht an!“ Luisa antwortet Ingo mit einem zynischen Lächeln und setzt den Lippenstift an. Sorgfältig färbt sie ihre Lippen dunkelrot und die Verwandlung Kind-Puppe ist perfekt. Sie kontrolliert das Ergebnis im Spiegel, lässt ihren Blick kreisen und betrachtet jede Pore ihrer Haut. Es ist nicht der Blick einer Vierzehnjährigen. Ingo ist kurz davor zu explodieren. Er hasst es, wenn man ihn ignoriert. Tagtäglich muss er darum kämpfen, wahrgenommen zu werden. Mit zittrigen Händen schließt er Knopf für Knopf seines glattgebügelten, hellblauen Hemdes, dann legt er sich eine schwarze Krawatte um den Hals und zieht sie so fest, als wolle er sich selbst für die Nichtbeachtung strafen. Er versucht sich zu beruhigen. Luisa steht fertig gestylt vor dem Spiegel. Er erkennt seine eigene Tochter nicht mehr.

„So gehst du nicht in die Schule, zieh dich sofort um!“

„Du Penner hast mir gar nichts zu sagen.“ Ihm stockt der Atem. So etwas aus dem Mund seiner Tochter, das will er nicht hinnehmen. Ingo geht einen Schritt auf Luisa zu und hebt seinen Arm.

„Zieh dich verdammt nochmal um, wenn ich es dir sage? Überlege wie du mit mir redest. Ich bin dein Vater!“ Luisa verzieht keine Miene.

„Du bist ein Looser, Mama hat Recht.“ Mit diesen Worten verlässt sie das Bad und hinterlässt ein unerträgliches Klopfen in Ingos Brust. Ihm steht der Mund offen. Nach ein paar Minuten normalisiert sich sein Puls und die gewohnte Leere kehrt zurück. Er tritt vor den Spiegel und betrachtet seine Erscheinung.

„Was ist bloß aus mir geworden“, fragt er sich. Es gab mal eine Zeit, da hat er sich von niemandem etwas sagen lassen und ist unbeirrt seinen Weg gegangen. Ja, es gab mal einen starken Ingo. Er hatte dieses Leuchten in den Augen, das die Frauen reihenweise schwach werden ließ. Und immer wenn er auf der Bühne stand, seine langen Haare zum Takt der Musik schüttelte und den tiefen Bass im Magen spürte, dann war er glücklich. Die Musik, seine Träume und letztendlich auch seine langen Haare hat er für seine Familie geopfert. Nun sieht er im Spiegelbild einen abgekämpften, müden Mann. Ingo tritt aus dem Bad und geht in den begehbaren Kleiderschrank. Für die Ordnung seiner Sachen ist er selbst zuständig, darum hängen die Sakkos auch säuberlich aufgereiht an einer Kleiderstange. Ingo hasst sie alle, denn jedes Sakko erzählt von qualvollen und erniedrigenden Tagen in der Bank. Obwohl er keine Farben mag, leuchten sie blau, schimmern lachs- und erdfarben. Ingo muss sich jeden Tag aufs Neue verkleiden. Sein Blick fällt auf einen Kapuzenpullover, der säuberlich zusammengelegt in einem Fach liegt. Er nimmt ihn heraus und breitet ihn über der Kleiderstange aus. Der Schriftzug auf diesem Pullover reißt ihn innerhalb einer Sekunde in die Vergangenheit zurück. ALINA steht in großen Buchstaben auf dem schwarzen Stoff gedruckt. Seine Gedanken überschlagen sich.

„Was ist wohl aus meinen alten Bandkollegen geworden?“ Alina, das war eine Zeit, in der Ingo noch Anerkennung bekam. Ein Wort, das ihm heute fremd erscheint.

„Und du musstet dir ja in den Kopf schießen, du Idiot“, sagt Ingo wütend und schmeißt den Pulli auf den Fußboden. Langsam geht er die Treppenstufen hinunter in die Küche. Er weiß, was ihn hier erwartet. Nicole lehnt an der Küchenzeile und tickert auf ihrem Handy. Sie trägt einen gepunkteten Blazer über einer hellen Jogginghose. Ihre roten High Heels treffen genau den Ton ihrer rot gefärbten Haare. Ingo hasst es, wenn Nicole sich wie ein Teenager kleidet und jedem Trend hinterher läuft. Doch seitdem Luisa in der Pubertät ist, werden Nicoles Fashionexzesse immer schlimmer. Eine Art Wettkampf, der zwischen den beiden stattfindet. Nicole hat anscheinend vergessen, dass sie keine 16 mehr ist.

„Jogginghose und High Heels, was für eine Scheiße.“ Ingo zupft an seiner Krawatte. Früher mochte er den eigenwilligen Klamottenstil seiner Frau. Ja, es war vielleicht sogar ein Grund gewesen, warum er Nicole damals nach einem Konzert zum ersten Mal ansprach. Heute ist es ihm einfach nur peinlich. Seine Tochter sitzt am Tisch und hat frech die Beine hoch gelegt. Auch ihr Blick weicht nicht eine Sekunde vom Handy ab.

„Guten Morgen“, sagt Ingo und geht zum Küchenschrank. Er schiebt Nicole beiseite, um an eine Packung Müsli zu gelangen. Schon seit langem erwartet er keine Antwort mehr auf sein „Guten Morgen“, oder vielleicht sogar einen Kuss seiner Frau. Er erwartet lediglich, dass Nicole an die Seite geht, wenn er diese beschissene Packung Müsli aus dem Schrank nehmen möchte.

„Die Milch im Kühlschrank ist abgelaufen, du müsstest mal neue holen“, sagt Nicole genervt. Ingo setzt sich zu Luisa an den Tisch und kippt das letzte Müsli in seine Schüssel.

„Und denk dran, dass du heute Nachmittag Luisa zum Tanzen fährst. Ich habe Pilates.“ Angewidert steckt sich Ingo einen Löffel trockenes Müsli in den Hals und würgt es herunter. Nun muss er husten. Wütend schmeißt er den Löffel auf den Tisch.

„Du weißt aber schon, dass ich heute länger arbeiten muss.“ Er hat es tatsächlich ausgesprochen, doch nun tritt