Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
Walter Kempowski bei btb
Widmung
Januar 1989
Nartum - So 1. Januar 1989, Neujahr
Nartum - Mo 2. Januar 1989
Nartum - Di 3. Januar 1989
Nartum - Mi 4. Januar 1989
Nartum - Do 5. Januar 1989
Nartum - Fr 6. Januar 1989
Nartum - Sa 7. Januar 1989
Nartum - So 8. Januar 1989
Nartum - Mo 9. Januar 1989
Nartum - Di 10. Januar 1989
Nartum - Mi 11. Januar 1989
Nartum - Do 12. Januar 1989
Nartum - Fr 13. Januar 1989
Nartum - Sa 14. Januar 1989
Nartum - So 15. Januar 1989
Nartum - Mo 16. Januar 1989
Nartum - Di 17. Januar 1989
Nartum - Mi 18. Januar 1989
Copyright
Buch
»1989 - ein großes Gedächtnisjahr hebt die Röcke und möchte begattet werden: Vor fünfzig Jahren Kriegsanfang, vierzig Jahre Bundesrepublik und DDR. Und ich werde sechzig.« So lautet einer der ersten Einträge im Tagebuch des Schriftstellers Walter Kempowski, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte, welch dramatische Entwicklung dieses Jahr nehmen sollte.
Das Jahr, in dem die Mauer fiel, hat Kempowski mit besonderer Intensität erlebt, verbüßte er doch einst als Regimegegner acht Jahre Haft in Bautzen. Zeitgeschichtliche und historische Betrachtungen stehen daher im Mittelpunkt dieses Tagebuchs, das zugleich Einblick in den Alltag eines großen Schriftstellers gewährt. Humoristische Alltagsbilder, Werkstattbericht und politische Kritik erhellen sich in Alkor wechselseitig und weisen Walter Kempowski als den großen Chronisten unserer Zeit aus.
Autor
Walter Kempowski, geboren 1929 in Rostock, zählt seit vielen Jahren zu den bedeutendsten und produktivsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Mit seiner deutschen Chronik, zu der so erfolgreiche Romane wie Tadellöser & Wolff und Aus großer Zeit gehören, etablierte er sich als Bestsellerautor und Chronist des deutschen Bürgertums. Seine monumentalen Textcollagen Das Echolot und Das Echolot. Fuga Furiosa waren eine literarische Sensation. Walter Kempowski lebt und arbeitet in Nartum.
Walter Kempowski bei btb
Aus großer Zeit. Roman (72015) · Der rote Hahn. Dresden im Januar 1945 (72842) · Heile Welt. Roman (72650) · Herzlich willkommen. Roman (72190) · Schöne Aussicht. Roman (72103) · Tadellöser & Wolff. Roman (72033) · Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst (72202) · Hundstage. Roman (73311) · Letzte Grüße. Roman (73541) · Sirius. Eine Art Tagebuch (73419)
Das Echolot. 4 Bände im Schuber (72076) Das Echolot. Unternehmen Barbarossa’41 (73175) Das Echolot. Fuga Furiosa (72788) Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie (73208)
Für Simone Neteler
Januar 1989
Nartum
So 1. Januar 1989, Neujahr
Welt am Sonntag: Berichte über Stalin-Terror: 30 Millionen/ Angehöriger eines Erschießungskommandos:«Die Männer schwiegen, die Frauen weinten.»
Sonntag: Die Rote Fahne - Geschichte eines Revolutionsblattes
8 Uhr. T: Kann mein 1.- Klasse- Abteil nicht finden, und die FAZ ist ausverkauft.
1989: Ein großes Gedächtnisjahr hebt die Röcke und möchte begattet werden: Vor 50 Jahren Kriegsanfang, 40 Jahre Bundesrepublik und DDR. - Und ich werde 60! Vor 20 Jahren mein erstes Buch.
Das 200jährige Jubiläum der Französischen Revolution. Nietzsche nennt sie eine pathetische und blutige Quacksalberei. Ich bin gegen Revolutionen. Was geht in solchen Umbruchjahren nicht alles kaputt! Mal ganz abgesehen von den vielen Toten! In den ersten 16 Monaten nach der Oktoberrevolution wurden 16 000 Menschen erschossen.
Man denke auch an die«nationale Revolution»der Nazis. Dieses säkuläre Abschlachten …
Das Umschalten auf eine neue Jahreszahl interessiert mich nicht sehr, das ist wie beim Tachometer. Das Umspringen auf das neue Jahrtausend wäre schon interessanter, das regt zu allerhand Vergleichen und Gedanken an.
Im übrigen hat jeder Mensch seine eigene Zeitrechnung. Für mich sind u. a. die Jahre’42,’48 und’56 von Bedeutung.
Über Weihnachten nahm ich meine kleine Orgel wieder in Betrieb. Leider funktioniert das Pedal nicht. Heute spielte ich nach alter Sitte den schönen Choral«Nun laßt uns gehn und treten …»in der Bachschen Version.
Ich legte mir das Gesangbuch daneben und sang den Text von Paul Gerhardt aus dem Jahre 1653, alle 15 Strophen.
Sein Lebtag hat man damit zu tun, sich von dem Mann mit dem Bart zu lösen. Die Calvinisten wußten schon, weshalb sie die Bilder in den Kirchen abschafften. Gott ist Geist, wir sind die Seinen …
Dieses Wetter ist ja nun wirklich durchwachsen. Schon seit Wochen grauer Himmel ohne einen Sonnenstrahl und dann dieser Regen,«nieselnd». Nicht einmal zu einem anständigen Kap Hoorn reicht es. Nieseln, das ist es. Bei ein wenig Glück wäre aus der Nieselei ein sanfter Watte-Schneefall geworden.
«Könnte es nun nicht schneien?»pflegte meine Mutter zu sagen. Das Gerede von früher. Daß es da mehr Schnee gegeben habe. Und in der Tat, mir ist auch so.
Mit Jürgen Kolbe sprach ich im Oktober über«Das Echolot», mein nächstes Großprojekt. Er bezeichnete das als Archäologie. Meine Vorstellung von preiswertem Papier und von französischer Broschur fand er gut, den Untertitel:«Ein kollektives Tagebuch»weniger. Einen Arbeitsvorschuß will er zahlen. Wir fuhren im Auto über den Stachus, als wir darüber redeten, und die Ampel zeigte Rot. War das ein schlimmes Vorzeichen?
Rückblick auf 1988: Die«Hundstage», 90 Lesungen, allerlei Seminare und die Reise in die USA. Anschaffung des Computers und Kiellegung des«Echolot».
Zu«Hundstage»: Der Verlag freue sich über das Buch, wurde gesagt. Es werde jedoch von geschlechtsbewußten Buchhändlerinnen sabotiert.
Im April begann ich mit M/B1 und mit dem«Sirius». Letzteres Vorhaben wurde, wie das«Echolot», durch den neuen Computer angeregt.
Kurzer Spaziergang bei flammendem Sonnenuntergang.
In der Nacht stand ich auf und ging nach unten, um mich etwas zu bewegen. Ich saß zwei Stunden in der Bibliothek und sah nach draußen. Schnee hastete über die Gartenlampe wie Rauch im Wind, ein seltener Anblick, er verwandelt meine Depression in so etwas wie ein Dankgebet.
Prokofjew: Flötensonate. Unerklärlich grauenhaft.
Nartum
Mo 2. Januar 1989
Bild-Zeitung: Silvester-Schiff gesunken/100 Tote?/Deutsche an Bord
Neues Deutschland: Gute Arbeitsergebnisse während der ersten Schichten am Neujahrstag
Im Literatur-Seminar war ich hinter«Plankton»her: den winzigen Erinnerungsbildern, die unablässig in den Ganglien hin-und herschießen. Man kann sie mit Reizwörtern einzeln abrufen. Kleine autonome Texte, die im günstigen Fall von hoher literarischer Qualität sind. Ich habe schon eine hübsche kleine Sammlung beisammen.
Ein warmer Lattenzaun, der das Grundstück meiner Großmutter umfriedete, und dahinter schwarze und rote Johannisbeeren. Der Zaun war warm, weil die Sonne darauf schien.
Ins-Bett-Geh-Bummelei. Dies noch, das noch. Die Jacken der letzten Woche weghängen, Hosen auf Bügelfalte, in speziellen Klemmbügeln. Dann ausgiebig duschen und in das von der Ehe-Lebensfreundin aufgeschüttelte Bett legen. Ah! - Sie war gut gelaunt heute, die Lebensfreundin, ich auch, wir machten uns gegenseitig Komplimente. Es freut sie, daß ich jetzt alt aussehe, nicht mehr wie ein Jüngling.
«Leidet Ihr Mann darunter, daß er so jung aussieht?»ist sie mal von Karin Struck gefragt worden.
Ich höre, daß Rühmkorf ein absoluter Hypochonder sei. In Amerika hätten sie jeden Tag gedacht, der überlebt die Nacht nicht. Vor einiger Zeit habe er sich untersuchen lassen, Leber und alles wär’ völlig in Ordnung. Und wir hätten ihn fast nicht wieder eingeladen, um ihn zu schonen.
Klaus Mann - ein Schriftsteller, der seinen Roman«Symphonie pathétique»nennt, muß ein Blindgänger sein. Der arme Vater!«Missa sine nomine»- so was gab es auch. Das ist nicht ganz so schlimm.
22 Uhr. - Es regnet. Ein Rauschen und Schütten auf dem Fenster. Ich stelle die Alarmanlage ab und befreie die Katze aus dem Klo, weil dort der Regenlärm auf den schrägen Fenstern unerträglich ist. Sie wird es mir danken.
Die liebe Nacht, und ich höre Schönbergs 1. Quartett und lese in der«Legenda aurea»: was die Menschen für ihren Glauben riskierten und erduldeten …
Der untergehenden Überlieferung hinterherlaufen. Den versunkenen Jahrhunderten nachlauschen. Je abstrakter die Musik ist, desto besser paßt sie dazu.
Selbstmord: Benjamin meint, es lohne die Mühe nicht. Sein mysteriöser Tod, die Sache mit der Aktentasche. Hierüber machen sich die Menschen mehr Gedanken als über das Passagenwerk. Ein Sprichwort fand ich: Wenn alle Stricke reißen, sagte der Bettler, so häng’ ich mich.
Nartum
Di 3. Januar 1989
Bild: Zwillinge (2½ Jahre) sprangen aus 3. Stock - beide leben
ND: Hohes Leistungswachstum, allseitige Planerfüllung
T: Ich habe vergessen, zum Unterricht zu fahren, kann im Terminkalender nicht erkennen, wann ich welche Stunden zu geben habe, und das Telefon funktioniert nicht.
Unser Seminar ist in vollem Gange. Sich auffällig benehmende Menschen sind darunter. Eine Frau fragt, warum das Klo unten für Herren und das Klo oben für Damen reserviert ist - wieso nicht umgekehrt? - Sie nimmt aus Bedürftigkeitsgründen umsonst teil an unserer«Veranstaltung».
«Wie merken Sie, daß die Gedanken kommen?»
Sie läßt was«impulsiv los», sagte eine jüngere Teilnehmerin, die ein rotgestreiftes T-Shirt trägt und sich an mich drängt, wenn’s eben geht.
Ich fische Plankton, was reichlich zu haben ist.
Die drei Zwischenbücher meiner«Deutschen Chronik», das Hitlerbuch, das Buch über Konzentrationslager und das über Schule, enthalten sehr viel Plankton. Von der Kritik wurden sie abgetan. Im Literaturbetrieb herrscht die Meinung vor: Das kann ja jeder, die Leute ausfragen.
Aldous Huxley schreibt irgendwo, er habe den Eindruck, als blättere in ihm ein Idiot unablässig Fotos auf. Das sind die«Eidetischen Phänomene», wie ich sie nicht ganz zutreffend bezeichne. Die«endogenen Bilder»(Benn).
Am Abend zeigte mir Hildegard den Sirius. Arm in Arm standen wir auf der Straße und sahen uns, die kalten Wangen aneinandergelegt, den fernen Großstern an. Das darf ich niemandem erzählen: Der Kempowski schreibt einen Roman über den Hundsstern und hat ihn noch nie gesehen.
Irre Angaben über dessen Größe.
TV: Endlose Ski-Scheiße. Um 100stel Sekunden geht es.
Im Radio die Komposition«Schiffsruinen»von Tschaikowski, nervend. Die Unterwassermusik unserer Kulturfilmer vorwegnehmend.
Mitternacht: Ich habe mir eine Valium genehmigt, da ich zu aufgedreht bin vom Anprall der vielen Leute (es sind diesmal 76!) und der verschiedendsten Organisationsfragen. Sie sind quietschfidel, all diese Leute, aber sie laufen durcheinander, und die Stühle stellen sie kreuz und quer. Und anstatt sich anständig hinzusetzen, sitzen sie quer auf der Treppe oder auf den durcheinanderen Stühlen im Saal.
Ich möchte mich gern mit ihnen unterhalten, aber meist sind sie erschrocken, wenn ich sie anspreche.
Nartum
Mi 4. Januar 1989
Bild: Blitzeis bei Tempo 160/Minister Haussmann: So kam ich lebend raus
ND: Kollektive im Wettbewerb zum Wohle des Volkes
Dank der Pille schlief ich gut. Jetzt rumort es unten, in einer Stunde beginnt das Seminar, und bevor es beginnt, muß aufgeräumt werden: Stühle richtig hinstellen, Klos säubern usw. Pflicht erfüllen. - Also aufstehen.
Am Fenster stehen, bauchwalkend: Rauhreifgarten, alles weiß. Das kommt uns zustatten! Das geht à conto des Literatur-Seminars. Die denken, das ist hier immer so, und sie werden sich ewig daran erinnern: In Nartum damals gab es einen festlichen Rauhreif zu sehen.
Zeitungsausschnitt über eine Lesung Siegfried Lenz’ am 18. November 1988 in Rostock. Merkwürdig, daß er von den Rostokkern eingeladen wird und ich nicht. Alle möglichen West-Autoren werden von den DDR-Leuten eingeladen, nur Kempowski nicht. Eigentlich schade, daß Sigi nicht den Mut fand, dort auf mich hinzuweisen. Das hätte sich eigentlich so«gehört», und es hätte ihn nichts gekostet. Vielleicht hat er’s ja getan.
Sichtung der«Hundstage»-Kritiken.
Kramberg in der SZ meint, die«Hundstage»seien der tapfere Versuch, einen Motor laufen zu lassen, dem der Treibstoff ausgegangen ist. Seit 19 Jahren sei er mein«Getreuer», aber jetzt sei mir wohl der Treibstoff ausgegangen.
Treibstoff? - Gluck-Gluck oder was meint er?
Die Kritiker sagen mir, wie ich meine Bücher schreiben soll. Es soll schärfer bei mir zugehen, zugespitzter. Es sollen also Fetzen fliegen. Was soll ich machen? - Bei mir fliegen keine Fetzen!
Wenn ich mal ein deutliches Wort zu ihren Erzeugnissen von mir gebe, sind sie sofort beleidigt.
Seminar: Die sonderbarsten Sachen ereigneten sich. Abends schlossen sich welche in die Oma-Stube ein, um sich ungestört unterhalten zu können. Das ärgerte mich ganz besonders, weil ich ja während des Seminars nie irgend etwas abschließe. Eine andere Teilnehmerin verlangt eine Nagelschere: Sie hakt immer hinter beim Stricken.
Ich war heute ziemlich empfindlich, das machte die gestrige Valium, die nächtliche Betäubung muß abgebüßt werden, das ist klar. Die Katzen beklagten sich über den Menschenlärm, und ich mußte sie kraulen, eine mit links, eine mit rechts.
«Sind das Ihre Hühner?»-«Sind die Hühner den ganzen Tag eingesperrt?»wird gefragt.
Ich:«Wir peitschen sie jeden Tag aus, morgens früh, damit sie munter werden.»
Dorfroman: Hildegard hat den Hühnern hübsche Namen gegeben. Emilie, Sophie, Wilhelmine, es sind die Namen ihrer Urgroßmütter. Nach dem ABC sei sie vorgegangen, und jetzt fürchtet sie, alle durcheinander zu kriegen. Den Hund Robby nennt sie im Augenblick ihren«Munterhund».
Die schwarzen«Langschan»-Hühner sind es, die die Namen bekamen, die«Italiener»werden nicht in gleicher Weise ausgezeichnet. Das ist ganz in meinem Sinne. Sie sind nervös auf eine befremdliche Weise. Der Hahn allerdings, ebenfalls italienischen Ursprungs, heißt Richard.
Frau Schönherr sagt, es sei ganz falsch, Hühnern Namen zu geben, dann könne man sie später nicht schlachten.
Am Abend kredenzte mir Hildegard einen heißen Kakao, ich nahm ihn bei ihr im Pavillon und sorgte dafür, daß sie es mitkriegten, die Leute-Gäste: Die wohltuende Liebe meiner Frau sollten sie besichtigen. Das ist gut fürs sogenannte Image.
Ich ging dann mit ihr noch einmal den Sirius angucken. Das hatte mit den«Hundstagen»nichts zu tun. Wir stießen draußen auf einen Herrn, der ums Haus herumschlich und die erleuchteten Fenster fotografierte. Er versteckte sich vor uns.
Ein Heiliger ist für den heutigen Tag nicht vorgesehen. Ich las etwas im Liturgischen Lexikon. So was erfrischt.
Kerze, Licht, das vom sich verzehrenden Wachs der Kerze genährt wird, ist in besonderer Weise Sinnbild Christi, der sich für uns in Liebe opfert; zugleich sind brennende Kerzen Zeichen der Bereitschaft für den kommenden Herrn. So zeigt die brennende Kerze die Gegenwart Christi an: am Altar, beim Evangelium, beim Geleit des Priesters, vor dem Tabernakel und dem ausgesetzten Allerheiligsten; sie wird dem Christen bei der Taufe überreicht, er trägt sie bei der ersten Kommunion und in der Osternacht, sie begleitet ihn bei der Hochzeit als Braut- und in der letzten Stunde als Sterbekerze; mit brennenden Lichtern wird er aufgebahrt und zu Grabe getragen. Brennende Kerzen vertreiben das Dunkel; so werden sie zu Beginn der Osternachtwache und jeden Abend zur Vesper feierlich entzündet und brennen als Wetterkerzen.
Die Kerze verbrennt sich selbst, um anderen zu leuchten. Kein großes Kirchenlicht sein …
Was hilft Kerze, was hilft Brill’/wenn man doch nicht sehen will?
Sie sitzen vor Stereoanlagen und hören Rockmusik, und dabei dürfen Kerzen nicht fehlen.
1999: Neuerdings werden weiße Papphülsen auf den Altar gestellt, in die oben ein Teelicht eingesetzt wird. - Was bedeutet es, wenn eine Kerze an beiden Enden brennt?
Nartum
Do 5. Januar 1989
Bild: Giftgas-Krise - US-Jäger schießen 2 MIGs von Gaddafi ab / Libyen droht mit Vergeltung
ND: Wehrdienst im Sozialismus ist Dienst am Frieden
Post: Eine Dame aus Österreich schreibt, daß meine Bücher sie zum Schmunzeln angeregt haben. Es wird auch Leute geben, die über meinen Romanen die Fäuste ballen. Oder ausspucken, wie jene Studentin in Oldenburg.
Jemanden an den Kanthaken kriegen.
Ein Herr schickt zwei Ansichtskarten eines Kreuzfahrtschiffes, ob ich die gebrauchen kann.
In den USA gibt es Spezialgeschäfte für Glückwunschkarten. Man müßte mal einen ganzen Jahrgang aufkaufen und lagern. Später wird es bestimmt Sammler dieser Spezies geben. Wenn wir mit Ansichtskarten bedacht werden, sagt Hildegard:«Was das kostet!»
Eine Dame lädt mich in den Harz ein, sie hätte viel Platz im Haus, und ich hätte dort mein Reich für mich, wir könnten uns dann was von unserm Mecklenburg erzählen bei Doppelkorn oder einem Glas Rotspon. Und dann geht sie in die Küche und kocht«uns zwei Beiden was Schönes». An sich ja nett von ihr.
Literatur-Seminar: Das übliche Gewusel. Die Leute ziehen folgsam Hausschuhe an, das hat was von Après-Ski an sich. Jeder hat irgendwo sein Gewölle. Es fehlt der große Ofen, auf dem wir es uns gemütlich machen können, so ein allgemeines Geschmuse. Ein Schmuse-Seminar mit synchronen Ejakulationen. O Gott, das Gekreische!
Martin Andersch sagte beiläufig, daß er schon Tage vorm Seminar keine Eier ißt, um bei uns tüchtig reinhauen zu können, unsere Eier schmeckten so gut. Am meisten ißt Deuterus, es ist sagenhaft, was der verdrücken kann.
Gegen Mitternacht gründete ich mit der Jugend einen Pfefferminzlikör-Klub, giftgrün muß er sein! Dann ab ins Bett, von unten ist das Weitermachen zu hören. Ich liege, den Kopf auf drei Kissen und lese in einem alten Konzertführer. Diese sonderbaren Texte müßte man in einem Hörspiel verarbeiten:
Über einem dissonanten Pizzikato der Streicher huscht ein geheimnisvoll-phantastisches Thema der Flöte, durch die pizzikierende erste Violine verschärft, im schnellen Ab- und Aufstiege dahin. Dieses Thema stellt nur die tonliche Zerlegung der beharrenden Dissonanzunterlage dar. Im Gegensatze zu der Erdhaftigkeit des Brucknerschen Scherzos in den meisten übrigen Sinfonien ist dieses gleichsam in eine entmaterialisierte, rein geistige Sphäre emporgehoben: ein ätherisch leichtes Auf- und Niederschweben der von aller irdischen Schwere befreiten Seele …
Immerhinque: Wenn eines Tages alle Tonträger zertrümmert sein werden und niemand mehr ein Instrument zu spielen versteht, wird man dergleichen noch lesen können. Vielleicht entsteht dann eine spezielle Gedankenmusik.
Ähnlich geeignet als Bettlektüre und jedermann zu empfehlen sind Ratschläge für den«guten Ton».
Nartum
Fr 6. Januar 1989
Bild: Gesundheitsreform/Herr Blüm, diese Kranken klagen an
ND: Hohe Wettbewerbsziele zum 40. Jahrestag der DDR
Wellershoffs Jugenderinnerungen. Die Soldaten zogen die Köpfe ein, schreibt er. Sind das denn alles Mißgeburten? Sie setzten sich ihre Stahlhelme auf. Hatte denn jeder zwei? Wie in Kolumbien, da tragen die Frauen in der Tat mehrere Hüte?«Sie setzten sich ihre Hüte auf», das ist zwar unsinnig, aber in diesem Fall korrekt.
Das Seminar ist beendet, freundliche Leute waren es, fünf Tage. Ade Pfefferminzlikörklub! Und ade, ihr lieben Leute, nie sehen wir uns wieder. Ich duschte mich, um ein neues Leben anzufangen, und präsentierte mich der lieben Hildegard in tadelloser Verfassung, putzte mir die Schuh und zog ein helles Jackett an. Vor den mexikanischen Masken blieben sie stehen. Sie hängen im Archivgang wie in Gutshäusern die Gehörne von Rehbökken. Was mich vor Jahren«umschmiß», der Unterschied zwischen den öden Andenkenläden in San Diego und zehn Meilen weiter südlich, in Mexiko die Explosion von Volkstum. -«Was sind das für Masken?»fragten sie. Ich zeigte ihnen die primitiven Materialien, aus denen die Masken gefertigt wurden, Krebsschwänze auf halben Kokosnüssen. Und ich gab die Story zum besten, wie ich in Thaos auf dem Fußboden gesessen hab’, die Masken um mich herum.
«He is impressed», sagte eine Kundin zu der Verkäuferin.
«My name is Elisabeth», sagte die Verkäuferin und nahm meinen Scheck und versprach, mir die Masken nach Deutschland zu schicken. Und sie tat’s! Ich versprach ihr dafür ein Foto von den aufgehängten Masken, und ich tat’s nicht! Eine nicht zu überwindende Trägheit hielt mich davon ab.
Die Hühner waren die Stars, wurden fotografiert von allen Seiten.«Sind das alles Hähne?»- Manchmal lasse ich extra eine Tür offen, damit sie ins Haus kommen. Eine Henne lagerte unter dem Sofa und lauschte meinen Ausführungen.
M/B: Die Anekdoten sind es, die das größte Interesse hervorrufen. Daß die Autos in Polen von den mitreisenden Werksleuten nachts, während wir schliefen, gewaschen wurden z. B., und daß die Ford-Leute uns vorsorglich Kleingeld für die Strafmandate der Polizei aufs Amaturenbrett gelegt hatten.
Die Laien-Lesungen am letzten Abend: Eine Greisin setzte sich extra auf die Stufen, statt auf den Vortragsstuhl, sie meinte wohl, das wirke jugendlich und progressiv. Eine andere erklärte, daß sie vorm Schreiben immer erst aufs Klo geht und sich tüchtig auspinkelt. Das wurde nachher noch in Knittelversen glossiert.
Zwölf Nächte
Die geheimnisvolle Zeit der Zwölften oder Zwölf Nächte beginnt am 25. oder am 29. Dezember, zuweilen auch schon am 13. Dezember. In diesen Rauhnächten (die wichtigsten sind die zum 25. und 29. Dezember, 1. und 6. Januar) erreicht nach altem Glauben die dämonische Macht der Finsternis ihren Höhepunkt. Ihr muß mit Lärm und Maskenumzügen begegnet werden. An manchen Orten spielt dabei die Gestalt der Perchta (Berchta), einer Frauenfigur aus der germanischen Mythologie, eine Rolle (Perchtenläufe, Perchtenspringen). Auf germanische Vorstellungen geht auch die Furcht vor dem«wilden Jäger»(bzw. der«wilden Jagd») zurück, der in diesen Nächten unterwegs ist; vielerorts gilt es auch heute noch als gefährlich, während dieses Zeitraums Wäsche zu waschen und zum Trocknen aufzuhängen. Seit alter Zeit haben um Neujahr und Epiphanie allerhand Deute- und Beschwörungsbräuche ihren Platz (Orakel, Bleigießen, Neujahrs- oder Dreikönigszauber). Dreikönigsgebäck mit einer eingebackenen Bohne oder Krone wird gebacken und ausgeteilt, um den Bohnenkönig zu krönen. Älter noch ist die Vorstellung, daß die«armen Seelen»durch Backwerk in besonderer Gestalt versöhnt werden können. In vielen Familien wird am 6. Januar der Weihnachtsbaum geplündert.
Was man alles nicht weiß!
Die Wilde Jagd jagte heute denn auch ums Haus herum, ganz zünftig. Ich sitze in meinem Bett und horche in das Zittern und Heulen hinaus. Nach altem Glauben sind es die Engelheere, gute und böse, die miteinander kämpfen! Der Gedanke, daß die liebe Mutter heimat- und wärmelos sich unter ihnen befindet und auch mitkämpfen muß …
Die zwölf Rauhnächte: In unserm unfeierlichen Norden hat man von all dem keine Ahnung. Es weht halt, das ist es.
23.30 Uhr. - Stille ist eingekehrt. Kalt.
Über Erika Mann. Ihr psychedelisches Ende. Dann doch tragisch, wie jedes Menschen Ende.
Nartum
Sa 7. Januar 1989
Bild: Der Geisel-Bus von Bonn/Schüsse an der roten Ampel: Alle frei/Der mutige Fahrer berichtet
ND: Wachsende Leistungskraft der Volkswirtschaft 1988
Radio: Das Wort«schnurstracks». Von dem Vorklassiker Abel führe der Weg schnurstracks zu Haydn, sagt die Ansagerin.«Und deshalb gibt es jetzt ein Menuett von Haydn.»Weshalb? Und welches?
«Mark und Bein»entfaltet sich wie ein Fächer. Es ist spannend und angstmachend zugleich. Leider spielt der Computer nicht mit. Ich wollte in zwei Spalten schreiben: Links den Text und rechts die Assoziationen zum Text. Unzureichende Technik verhindert die Ausführung einer Idee. Ich hatte mir das so schön gedacht: den Text runterklappern und rechts den Kontratext assoziativ dazu schreiben, in plötzlicher Anmutung.
2000:Andererseits: Technik provoziert auch Ideen. Wie die Orgel eine gänzlich neue und spezielle Literatur hervorbrachte, so der Computer. Das«Echolot»wäre ohne einen Rechner nicht denkbar gewesen.
Im Radio war eine Collage über die Französische Revolution zu hören. Damit werden wir nun das ganze Jahr gefüttert werden. Ich schaltete mich mehrmals ein, legte dann aber doch Mozart auf, den ich dann allerdings auch nicht mehr hören mochte. Zu abgenudelt.
Mitternacht! Das Herz erwacht!
Meine Funkuhr rast sich in den neuen Tag hinein, das macht sie jede Nacht, meist merkt man nichts davon. Das Leben rast hinterher.
Mittags Pilzragout, abends Frikadellen.
Nartum
So 8. Januar 1989
Welt am Sonntag: Die USA drängen auf Einheitsfront gegen Libyen/Chemiewaffen-Konferenz eröffnet - Genscher: deutschamerikanische Verstimmung ausgeräumt
Sonntag: Brechts Courage, zu einer deutschen Erstaufführung vor 40 Jahren. Von Werner Hecht
Heute früh hörte ich mir die Bach-Kantate an:«Wie schön leuchtet der Morgenstern.»
Philipp Nicolai hat übrigens in Hamburg gelebt. Ob die das noch wissen dort? Der kulturlose Norden.
Am Vormittag legte ich mir eine Patience und las Briefe.
Das Patiencen-Buch habe ich für 8 Mark irgendwo auf dem Ramsch gekauft, es liegt hier schon jahrelang herum. Die schönen alten Bezeichnungen: Cœur, Caro, Treff und Pique. Meine Mutter sagte stets«Treff»statt«Kreuz». Sie sagte ja auch«bleu»zu hellblau …
Ab und zu tat ich einen Blick in den Garten: Auf der Laube liegt tauender Schnee, ein Morgen-Service des Wetters, der nichts weiter zu bedeuten hat.
Post: Eine Dame aus Berlin schreibt, sie könne mir über das Kriegsende in Schlesien«ungeschminkte Tatsachen»mitteilen. Ein Herr teilt mit, daß er mit Oberst a. D. Rudel freundschaftlich verbunden gewesen sei.«Die Tragik dieses Lebens, mißbraucht von Politikern und dem Zeitgeist, darf nicht vergessen werden und gibt beispielhaft wohl manchen Einblick in das Schicksal unseres Volkes.»
Ein Herr aus Siegburg schreibt, daß er seine ganzen Feldpostbriefe mit der Hand in japanische Kladden abgeschrieben hat. Alles in allem 1500 Seiten. Es hat ihm Freude gemacht, sich in den Monaten, die er jedes Jahr in Mallorca ist, mit seinem Leben zu beschäftigen.
Japanische Kladden? Sind diese Dinger nicht aus Hongkong? Der Brief gibt Rätsel auf. Und jedes Jahr Monate in Mallorca?
Ich sitze vor dem Computer wie früher vorm Radio, wenn ich insgeheim BBC hörte. Oder wie an einem Funkgerät, durch das ich Verbindung aufnehmen muß mit den Seelen, die mir erzählen wollen von ihren letzten Stunden.
Abends: Staunend und voll Neid lese ich in den Tagebüchern von Musil, die vom Herausgeber durch Fußnoten und eckige Klammern grotesk entstellt sind.
Hildegard hört im Radio eine Rossini-Oper. Das hallt durchs ganze Haus. Unerträglich. Aber doch ganz hübsch.
Buchtitel für ein Tagebuch: PENTIMENTI (Reuestriche) TV:«The Dead»von Huston, ich weine! Ist das ein schöner Film!«Bräutlich geschmückt», dieses Lied, von einer Greisin gesungen. Das kann nicht vergessen werden. Das gehört zu den großen Szenen im Film, die dauern.
Der Tod müßte weiblichen Geschlechts sein. Willig würde ich mir den Mantel anziehen lassen und die Schuhe zumachen. Sie hat mich eingelassen ins Leben, und sie öffnet mir das große Tor. Im Bett. Der Hund nebenan bellt wieder mal. Hau-hau-hau … hau-hau-hau … Zehn Jahre lang das Hundegebell. Aber wir wären nicht dagegen angekommen. Andeutungen, Vorschläge, Klagen, ja Bitten nützten nichts. Polizei oder Tierschutzverein wären umsonst bemüht worden. Böses Blut würde entstehen.
2000:Der Hund bellte noch weitere zehn Jahre. Bis sein Herrchen starb, und da war mit einem Schlag Schluß.
Mittags: Rinderbraten mit jungen Erbsen und süßen Karotten. Dazu einen Vanillepudding. Himbeersauce fehlte leider. Da frage ich mich denn doch: Wieso eigentlich?
Nartum
Mo 9. Januar 1989
Bild: Wut auf Ausländer/Deutscher verbrannte 3 Türken
ND: Werner Eberlin sprach auf Meeting der DKP/Großes Interesse für den realen Sozialismus auf deutschem Boden
Dorfroman: Hildegard meint, die Schafe seien beleidigt, weil sie ihnen statt Kraftfutter nur Heu vorgeworfen hat. - Später berichtet sie, daß die Tiere jetzt wiederkäuten, also doch wohl vom zunächst verschmähten Heu gefressen hätten.
Die rülpsenden Schafe.
Als ich spazierenging, sah ich, wie appetitlich Hildegard ihnen das Heu hingebreitet hat. - Lustig, wenn die Tiere mit vollem Mund«mähen». - Übrigens fressen sie Heu vom Vortag nicht mehr, auch wenn sie noch so großen Hunger haben.
Ich bin sehr dahinterher, daß die Hühner auch was zu trinken kriegen, die armen Tiere in ihrer Stalleinsamkeit. Wenn ich ihnen morgens die Tür öffne, komme ich mir wie ein Gefängnisschließer vor. Rede schon draußen beruhigend was vor mich hin, damit sie sich nicht erschrecken.
Der Munterhund lag heute Mittag auf dem Rücken und schnarchte, die Hände in Pfötchen-Haltung.
Ein Heiligenlexikon kam mit der Post sowie allerlei Glücksverheißungen, wenn ich sofort bestelle bzw.«rubbele».
In Oldenburg sprach ich über die sogenannten Normalwörter, von denen jeder Abc-Schütze zwischen 60 und 100 kennen muß, ehe es mit dem«Buchstaben-Ausgliedern»losgeht: DACH, WASSER, AUTO usw.
Bei«Ali Baba»allein gegessen, wie immer Kebab und die gerösteten Teigröllchen mit Quark gefüllt: 38 DM. Dazu den«Spiegel»gelesen.«Guten Abend, Herr Professor!»ruft der türkische Kellner jedes Mal durchs ganze Lokal. Das tut wohl.
Der Audi, den wir fahren, sei ein typischer Architektenwagen, heißt es. Unser Architekt fährt aber einen amerikanischen, mit Holzaufbau, einen Buick oder so was.
Hildegard, die sich trotz jahrelanger Schulung durch Karl-Friedrich keine Automarken merken kann, ist voll und ganz für BMW.
Wenn sie einen besäße, würde sie wahrscheinlich auch schneepflügend über die Autobahn rasen.
Aust, über Terrorsachen. - Merkwürdige, vielleicht sehr deutsche Hysterie auf allen Seiten.
Ich habe nichts gegen«Rasterfahndung».
Ich wundere mich, daß sie nicht ständig rasterfahnden, Netze auslegen, in denen sich Verbrecher verfangen. Was ist daran anrüchig?
Im übrigen wären Rasterfahndungen auch auf anderen Gebieten angebracht: Begabung z. B. Aber wenn man die Begabten erfahndet hat, wird gesagt: Aha! und überläßt sie sich selbst. Im Konzertführer:
… und stürmisch singt es aus der Tiefe empor zum jubelnden, strahlenden C-Dur des Finale:«Licht, Licht, Sieg», schreit es aus tausend Kehlen! Dann setzt ein Jubel- und Triumphgesang von berauschendem Schwunge ein. Doch noch einmal stockt der Aufschwung. Wieder kehren die unheimlichen Geister der Ungewißheit zurück; aber«Licht und Freiheit»lassen sich nicht mehr eindämmen. Machtvoll bricht sich von neuem der Jubel Bahn und steigert sich zum Schluß zu ungemessener Freude. Das große Ziel, es wäre errungen: Durch Nacht zum Licht!
Volkes Mund hat daraus ganz folgerichtig gemacht: Per Aspirin ad Astrachan.
Das Busengrabschen soll unter Strafe gestellt werden. Obwohl ich entsprechende Neigungen nicht habe, bin ich dagegen. - Ist das Sackgrabschen der Frauen eigentlich auch verboten? Von betrunkenen Frauen angemacht zu werden, ist ja auch nicht gerade angenehm.
Eichendorff-Gedichte mit Erschütterung.
Licht aus. Eben höre ich noch eine Motette von Orlando di Lasso. Das ist ein würdiger Tagesabschluß. Das An- und Abschwellen der Melodielinien. Das Lebensatmen über die Jahrhunderte hinweg.
Nartum
Di 10. Januar 1989
Bild: Robert Lembke am offenen Herzen operiertND: DDR tritt für vollständiges Verbot der C-Waffen ein
Fotokopierer-Miete: 820 DM
Zehn Disketten: 141 DM
Das Jahr fängt gut an: Der Anwalt hat wegen der Verhandlungen mit der Landesbibliothek und Hagen eine Rechnung über 2000 DM geschickt. Eine kostspielige In-den-Sand-Setzung ist das.
Mitternacht, kalt.
Dorfroman: Ich habe bei den Hühnern die Infra-Heizung angestellt und schwebe jetzt in Ängsten, ob nicht der Stall und dann das ganze Haus in Flammen aufgeht. Vielleicht ist sie falsch installiert? Aber ich mag die armen Hühnerchen nicht der Kälte aussetzen. - Auch die Katzen in der Veranda tun mir leid.
Sie springen jedesmal an die Tür, wenn ich durch die Bibliothek gehe.
Im Hinblick auf die Tiere kann Hildegard mehr ab als ich. Sie meint, die Tiere seien abgehärtet, und deshalb läuft sie auch nicht dauernd hin, um zu gucken, ob sie noch leben. Ich tue es ja auch nur gelegentlich.
H. H. Jahnn. Ein merkwürdiger Mensch. Ich habe noch nie was von ihm lesen können, aber über ihn, das ist was anderes. Seine Krankheiten! - Er nennt Thomas Mann«pfiffig».
Das Aust-Buch, spannend geschrieben. Buch zuklappen, Augen zu.
C. F. Meyer:«Das traute Wachtgebell der Hunde …»Na, also - traut?«Hau-hau-hauhau … hau-hau-hau-hau …»
Melde mir die Nachtgeräusche, Muse, Die ans Ohr des Schlummerlosen fluten! Erst das traute Wachtgebell der Hunde, Dann der abgezählte Schlag der Stunde …
Die Katholiken feiern heute das Andenken an den heiligen Agatho, einen sizilianischen Mönch, der drei Jahre lang einen Stein im Mund trug, um Schweigen zu lernen.
Rinderbrühe, Harzer Käse.
Nartum
Mi 11. Januar 1989
Bild: Er wollte zu Prof. Hetzer/Herzpatient starb auf Flughafen Tegel
ND: Schwedt: Mehr Produkte aus Veredelungsanlagen/Zuwachs von 100 Millionen Mark/Warenproduktion bei Erdölspaltung /Qualitative Stärkung der Reihen der SED fortgesetzt
In Wuppertal steht eine Krankenschwester vor Gericht, die 17 Patienten der Intensivabteilung mittels einer Clonidinspritze zum Tode befördert hat. Sie sieht nicht unsympathisch aus. Es muß ein letzter großer Lebensgenuß sein, als lallender Greis von einer jungen Krankenschwester gemurkst zu werden.
Was sagen die Feministinnen dazu? Wahrscheinlich wird aus ihrer Vita eine Opferrolle zusammengefummelt.
Post: Brief einer Dame, neun Seiten, lila. Sehr lieb, ja natürlich auch erotisierend. Die Bücher, die ich schreibe, reichten wie ein langer Handschuh in die Menschheit hinein, ab und zu werde er ergriffen, und es wird daran gezogen: ob eine Hand darin ist. - Ja, es ist eine drin, aber die zieht sich zurück.
Ab und zu träume ich von der Leserin, die nicht am Handschuh zupft, sondern sich darin einnistet. Gott sei Dank hat sie sich noch nicht eingestellt.
Heute Nacht überprüfte ich, ob es den Hühnern gefällt, daß sie beheizt werden. Nein, es gefällt ihnen nicht. Sie rücken zur Seite.
Ich im Nachthemd und Galoschen, Sturmwind im Haar. Heizung ausgeschaltet. Der Hahn kräht manchmal nachts. Vielleicht träumt er?
Hildegards heimlicher Geliebter schnappt manchmal in die Luft, um zu zeigen, daß er notfalls beißen könnte.
Jede freie Minute arbeite ich an dem«Echolot». Es müssen noch Tagebücher von Polen, Italienern usw. aufgetrieben werden, sonst wird die Sache zu einseitig.
Zweifel bleiben weiter bestehen, ob das Unternehmen überhaupt realisierbar ist. Dies wird sich erst herausstellen, wenn sich mehr«Masse»versammelt hat. Auf verbindende Texte muß unter allen Umständen verzichtet werden. Für Kursiv-Sätze bin ich nicht zu haben.
Das Baader-Meinhof-Buch von Aust. Spannend. Das ist ja auch ein Teil unserer Lebensgeschichte. Vieles versteht man jetzt besser, obwohl man eigentlich nichts versteht. Und: Verstehen und Billigen sind zweierlei. Und: Verzeihen ist noch wieder was anderes. - Ich las den ganzen Tag.
Abends Rinderfilet.
Nartum
Do 12. Januar 1989
Bild: Helene (7) vor Imbißstube entführt
ND: Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps: Den Abrüstungsprozeß beschleunigen - eine vorrangige Aufgabe im Jahr 1989/Die DDR bleibt stets ein zuverlässiger und berechenbarer Partner
Sogenannte«Bürger der DDR»haben sich in die Berliner Vertretung der Bundesrepublik geflüchtet und wollen sie nicht eher verlassen, als bis ihnen die Ausreise gestattet wird.
Im Fernsehen wird die Fassade des Botschaftsgebäudes gezeigt und der Posten davor. Wieso keine Bilder von drinnen?
Man möchte gern wissen, was die zu essen kriegen und ob sie dafür zahlen müssen. Vielleicht teilen die Sekretärinnen ihr Frühstücksbrot mit ihnen? Die Amis würden einen schönen Film daraus machen, eine schwangere Frau müßte dabei sein, sonst geht so was nicht. Ob sie auch mal baden dürfen, in der Wanne des obersten Vertreters?
In der Tagesschau zeigen sie die Fenster von außen: Schatten hinter den Gardinen. Eine sonderbare Art, die Menschheit zu informieren.
2000:Kein Film darüber gedreht, kein Buch darüber geschrieben. Kein Thema. Dafür«Titanic»zum fünften Mal.
TV: Bilder von den Erdbebenopfern in Armenien. Der eingeklemmte Kopf eines Verschütteten.«Der Mann lebt noch», höre ich sagen. Der wird’s vielleicht auch gehört haben.
Einige Arbeiter seien in einer Konservenfabrik begraben, möglicherweise überleben sie, weil sie von den Konserven leben könnten. Soll mich wundern! Auch das wäre ein schöner Film für die Amis.
Russische Schluderwirtschaft in Armenien. Die Hilfsgüter für die Erdbebenopfer hat man immer noch nicht verteilt.
In der SU haben sie nicht einen einzigen Rettungshund! Auch kein Räumgerät. Aber eine Weltraumstation, in der im wesentlichen Experimente mit schwebenden Bleistiften gemacht werden. Statt ihren Menschen zu helfen, interessiert es sie, ob torkelnde Mäuse Geschlechtsverkehr haben.
Wir hier im Westen haben zwar Rettungshunde und Räumgerät, sind aber andererseits mit allerhand Beknackungen geschlagen. Neuerdings gehen die Linken davon aus, daß das Technische Hilfswerk entweder völlig überflüssig ist oder daß es gar auf der Lauer liegt, uns bei günstiger Gelegenheit mit Diktatur zu überziehen.
Ich gucke mir mit Wohlgefallen die Erdkrustenkarte an und freue mich, daß wir in unseren Breiten kein Erdbeben zu erwarten haben, kein Erdbeben und kein Hochwasser. Beim Abschmelzen des Poleises allerdings wird es uns hart erwischen. Da haben dann die Armenier gut lachen: Hilfsgüter werden die uns nicht schicken, wenn’s mal soweit ist.
Hilfsgüter haben uns nach dem Krieg die Quäker geschickt, und das ist in Vergessenheit geraten. Hiermit sei daran erinnert. Auch die Schweden, die ansonsten ja von ausgefressener Dummheit sind.
In ganz Moskau gibt es kein Waschpulver und keine Kernseife zu kaufen.«Zum Jahresende gab es kein Benzin, Tee, Zahnpasta, Rasierklingen, Regenschirme, Streichhölzer.»(«Spiegel»).«In vielen Bezirken der Sowjetunion sind Fleisch, Butter und Zukker nur auf Karten zu haben.»Daß es kaum Farbfernseher zu kaufen gibt, Kühlschränke, Waschmaschinen und Kassettenrekorder, werden sie verschmerzen können. Von 87 Millionen Tonnen Kartoffeln erreichen nur sieben Millionen Tonnen den Verbraucher. Man vermutet, daß es sich um Sabotage gegen Gorbatschows Perestroika handelt. Ich denke, das ist ganz einfach Schlendrian.
Man lese nach im Buch von Weressájew,«Meine Erlebnisse im russisch-japanischen Krieg», über das Chaos damals, 1904. Ich seh’ noch den Russenbengel 1945 mit Brötchen Fußball spielen.
Dorfroman: Hildegard ist von ihrer bisherigen Hühner-Nomenklatur abgegangen, sie nennt einzelne Hühner neuerdings die Schlapphut-Else oder Gold-Marie.
Ich war es, der dem Hahn seinen Namen verpaßt hat:«Richard», und darauf werde ich immer stolz sein. Die Zutraulichkeit des Spezial-Huhns wirkt auf mich eher zudringlich. Um die andern, die scheuen, ist es mir mehr zu tun. Am liebsten ist mir noch der Hahn, der als wirklicher Charakter immer auf Distanz bleibt und dabei doch freundlich ist. Als ich neulich mit einem alten Hut in den Stall trat, warnte er die Hühner mit einem speziellen Laut, die aber zuckten nur aus Höflichkeit zusammen, die hatten mich längst erkannt. Vielleicht wollte er im Falle einer Katastrophe Recht behalten:«Ich hatte euch gewarnt»?
Hildegard:«Soll ich dir einen Apfel schälen?»
Ich:«Nein, laß ihn zu.»
23.30 Uhr im Bett. Herrlich. Die Jahnn-Lektüre ist äußerst interessant. Thomas Freeman heißt der Autor, ein angenehmer Angelsachse:«Das Erstaunlichste in seinem Gesicht war sein unförmiges, großes Fischmaul …», schreibt er über den Dichter.
Post: Heute schickte uns eine Dame, o Wunder!, Gedichte, die ich 1946 gemacht habe. Lustiges Zeug. Darunter auch ein prophetisches. - Was alles die Zeiten überdauert!
Nartum
Fr 13. Januar 1989
Bild: Todesengel Michaela/So spritzte ich sie nacheinander tot/ Wunder von Armenien/Nach 35 Tagen 6 geborgen
ND: Kollektive setzen verstärkt Schlüsseltechnologien ein
5.30 Uhr. - Ich wachte auf, weil ich mich nicht erinnern konnte, wem ich meine Romane gewidmet habe. Jetzt hab’ ich’s zusammen.
«Ein Kapitel für sich»ist Charly und dem«Popen»gewidmet (wie Mund sich selbst nannte). Charly hat aus reiner Menschenliebe sein Paket mit mir geteilt, und dem«Popen»habe ich weiß Gott viel zu verdanken. Beide haben sich zu der Widmung nicht geäußert. Da kam kein Dankeschön. Ist ja auch nicht nötig. Für ein Dankeschön braucht man sich nicht zu bedanken.
«Herzlich willkommen»ist Erich gewidmet, weil er mir 1956 einen Wintermantel schenkte!
Daß ich«Aus großer Zeit»Fritz Raddatz zugeeignet habe, trug mir den Haß des Feuilletons ein. Es gehört sich so, gegen F. J. zu sein.
Dorfroman: Hildegard schmeißt unten die Katzen raus, ich hol’ sie oben wieder rein. Sie wundert sich, wo all die Katzen dauernd herkommen.
Am Abend kam eine Volkshochschul-Gruppe aus Nienburg. Zum Anwärmen zeigte ich ihnen erstmal das Haus, und damit war schon mal eine Stunde rum. Dann gab’s eine kleine Lesung. Man kann ja nicht damit rechnen, daß solche Besucher je etwas von mir gelesen hätten. Ein junger Mann wollte wissen: Wieso ich das gemacht habe, ihnen das Haus gezeigt. - Ja, ganz richtig, warum hab ich’s gemacht? Mein eigner Museumswärter?«Damit Zeit herumgeht», darf man nicht sagen. Am besten wäre es, man schenkte größere Mengen Schnaps aus, dann liegen sie nach einer gewissen Zeit in der Ecke und röcheln, und man kann sich sacht entfernen. - Ich fischte ein wenig Plankton.
2000:Ich zeige noch immer das Haus. Jaja. Je mehr Bücher ich geschrieben habe, desto weniger haben sie gelesen.
Post: Eine 29jährige Dame aus Bayreuth, die ein sehr schreibwütiges Wesen sei, will mir eventuell einen Teil dessen überlassen, schreibt sie, was sie in den letzten fünf Jahren an Gedanken«schriftlich niedergelegt»hat.
Ja gern, liebe Dame, wenn’s ein Tagebuch wäre.
Sehr originell, daß die Leute meinen, ich hätte mich in Alexander Sowtschick porträtiert. Ich dachte eher an Manfred Bieler oder Traugott Buhre. Pfeife rauchend, 1,85 groß.
«Wo ist denn der Schwimmgang?»fragen sie. Das hat ihnen immerhin imponiert.
Und:«Wie waren Sie mit der Verfilmung zufrieden? Hatten Sie ein Mitspracherecht?»
Post: Auf intelligenten Zuspruch hoffe ich oder auf einen wohlansehnlichen äußeren Aspekt. So eine Art Marianne Willemer … So wie es Rilke geschah, dem die Freundin einen Wohnturm anbot. Aber einen Turm habe ich selber.
«Und wo stammen sie her?»wurde ich im Rostocker Turm gefragt.
Nartum
Sa 14. Januar 1989
Bild: Frau verlor ihr Kind/Sie entführte dieses Baby
ND: Bildung eines Verbandes der Freidenker der DDR vorbereitet
T: Die Russen kommen, ich weiß nicht, wo ich mich verbergen soll. Am Ende entscheide ich mich für eine Kneipe mit zwei Ausgängen.
D Die Nienburger sind noch hier. Sie wollen irgendwie Erquikkung von mir; denken sie, ich besprühe sie mit warmem Wasser? Sitzen so trocken und zusammengesunken da. Das ist aussaugend. Ging zwischendurch nach oben und legte mich still und feierlich aufs Bett.
Die Ausbeute an Plankton bei einer solchen Gelegenheit ist erheblich. Ich denke manchmal, diese kleinen Geschichten interessieren keinen Menschen, aber mein Instinkt sagt mir: aufbewahren!
Hildegard war in Rotenburg, sie hat in einem Ökogeschäft eingekauft. Der Laden nennt sich«VOLLKORN ÜBERLEBENS-MITTEL».
In einer Zeit, in der Menschen wegen Überfettung ins Sanatorium gehen, werden uns Wirkstoffe und Nährwerte angepriesen. Steht uns das Wasser denn bis zum Hals?
Im«Spiegel»ein Bericht über Massengräber der Stalin-Zeit. Es heißt, daß die Todesschützen der Erschießungskommandos noch lebten, die säßen auf Parkbänken und schauten spielenden Kindern zu. Oder«besuchen Konzerte».
Weshalb sollten Todesschützen keine Konzerte besuchen?
Augstein über die Französische Revolution. - Raddatz wunderte sich darüber, daß ich gegen Revolutionen bin. Er ist noch nie jemandem begegnet, der gegen Revolutionen ist, sagt er.
Ah! Revolutionär sein, das gefällt ihnen. Mit Zigarette im Mundwinkel, Armbinde und Maschinenpistole vorm Bauch. Fremdartige Stahlhelme. Frauen die Haare abscheren und irgendwas in Brand stecken.
Die Dänen 1945 in Schlosseranzügen mit Schulterriemen. - Hausdurchsuchung. Unbedingt Hausdurchsuchungen«durchführen». Und immer gehört das Erschießen dazu. Einsperren ist noch das mindeste.
Wie in Frankreich, die Résistance: Im Garten unterm Apfelbaum, da sitzt der kommissarische Untersuchungsrichter: Umlegen! sagt er. Ein solcher Befehl wird ausgeführt.
Hinterher dann:«Leider kam es zu Irrtümern …»
Interessant in der Jahnn-Biographie Menschen erwähnt zu finden, die man persönlich kennt. Ein Reigen seliger Geister. Das quicke Leben dieser Leute, von denen einige schon tot sind. Künstlerbälle! - Fuchs! Rühmkorf! Fröhlich †! Fichte †!
Nartum
So 15. Januar 1989
Welt am Sonntag: FDP: Untersuchungsausschuß zur Giftgasaffäre /BND-Kommission erhält neues Belastungsmaterial vom CIA/Vogel hält Kohl«Täuschung»vor
Sonntag: Wir machen uns ein Bild. Zum Buch Maria Seidemanns über Rosa Luxemburg. Von Wolfgang Sabath
Ich saß lange mit Hildegard am Kaffeetisch, so lange bis wir die Volkshochschulleute aufs Haus zustreben sahen.
Wir rückten zusammen und sahen den Vögeln zu, wie sie sich von der Tanne zum Futterhäuschen hinunterfallen ließen. Die«gefiederten Gäste»schwirrten fort, als die Bildungsmenschen herbeikamen.
Ich erklärte ihnen heute, wie ich schreibe und warum, wobei ich ständig daran denken mußte, daß eigentlich alles ganz anders ist. Zum Schluß verkaufte ich noch acht Ansichtspostkarten vom Haus. Das Stück 1 Mark. Mittags fuhren sie davon. Waren sie erquickt? Verjüngt? Wird aus ihnen was Großes werden? - Es ging kein Leuchten aus von ihnen, als sie vom Hofe schlurften.
1999:Es hat sich später eine Frau gemeldet, die damals dabeiwar, es sei sehr schön gewesen.
Studenten hatten sich für heute angesagt, aber sie erschienen nicht. Ich saß allein da mit zwei Liter Kaffee. Schade um meine Planktonfischerei. Ich hatte mir schon den Block zurechtgelegt. Nie wird irgend jemand ihre Geschichten abrufen, sie sind für immer verloren. - Sie wurden wahrscheinlich durch kritische Einwände der Professorenschaft abgehalten von dem Besuch bei diesem konservativ-liberalen Schwein in Nartum. Kloppen sich lieber mit einer Freundin auf dem Sofa, als daß sie bei Regen und eisigem Wind aufs Land fahren, zu einem Menschen, dem, wie sie gehört haben, der Kalk aus der Hose rieselt, und von dem man doch noch gar nicht wissen kann, ob er je in irgendwelchen Annalen verzeichnet sein wird.
Hat sich in der DDR gegen den Sozialismus vergangen, dieses Schwein.
So hatte ich denn den Abend frei. Fläzte mich vor den Fernsehapparat. Der«Liedermacher»Krawczyk war zu sehen mit seiner sympathischen Frau. Das sind Widerständler. Ob sie etwas von den alten Bautzenern wissen? Ist das Wispern aus dem«Gelben Elend»an ihr Ohr gedrungen? - Soll ich ihnen eine Postkarte schicken? Sie anerkennen, damit sie mich anerkennen? Schwur gegen Schwur auf dem Altar der Freiheit.
22.30 Uhr. - Beim Spaziergang hatte ich die Vorstellung, es hingen Monatsbinden in den Bäumen der Allee.
Der«Hokuspokus»-Film von Curt Goetz (1953). Jämmerlich.
Diese jämmerliche 50er Jahre-Jauche. Unbegreiflich, es waren doch gute Schauspieler? Daß die sich das gefallen ließen? (Erich Ponto!)
In der Nacht dann noch Bachs f-Moll-Präludium, das ich lange nicht gespielt habe. Ich konnte es mal auswendig. Ich stellte den Flügel auf und lauschte mir selbst, das tuckerte im Gehirn … Glenn Gould spielt es sehr langsam (zu langsam).«Andante espressivo»steht oben drüber. Schon recht. Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus. Das 1. Präludium spiele ich gerne rasend schnell, es kriegt dadurch einen fast jazzigen Rhythmus. - Gould bleibt auch bei diesem Stück fast stehen. - Die sonderbare Verunstaltung des Präludiums zum Ave Maria durch Gounod. Gut für Eistanzveranstaltungen. In unbewachten Augenblicken hört man sich das vielleicht doch mal an?
Was gibt ein einziger Tag her …
Auch das Ausstrecken im Bett und das so nötige Tagebuch. Ich zögere das Lichtausmachen hinaus, eine unerklärliche Angst vor der Nacht. Ich wache so lange, bis mir die Augen zufallen. Keine Angst vor Geistern ist das. Es ist eher die Furcht davor, daß ich nicht wieder aufwache.
Nartum
Mo 16. Januar 1989
Bild: Robert Lembke/Er schlief sanft ein ND: 250000 marschierten für Karl und Rosa
Oldenburg: Bei den Pädagogen demonstrierte ich die Optische Analyse, was das ist und wie man das macht. Das Weitergeben alter Tricks: drei Wörter mit M wie zufällig untereinanderschreiben:
Milch Maus Mutter.
Dann warten, ob bei einem Kind der Groschen fällt. Auch bei den Studenten muß man warten, bis der Groschen fällt.
Ich lief mit bunten Belohnungs-Gummibändern durch die Reihen und belohnte damit das Nennen von Wörtern mit M, wie ich es in der Schule tat. Wie gut, daß so was nicht höheren Orts bekannt wird, dann setzen sie mich bestimmt raus.
Bei«Ali Baba»allein - Kebab und Teigrollen, die heute leider nicht ganz«durch»waren, dazu den«Spiegel»gelesen. Am Nebentisch saß ein Professor, gekleidet wie ein Strauchdieb, mit einem feingliedrigen Inder zusammen. Auf den Geist kommt’s an, wird der Hochschullehrer mit seinem Aufzug dem Fremdling wohl bedeutet haben wollen. Ja, wenn man welchen hat! Auch die Türken sollte man mal nach Erinnerungsbildern fragen. Vielleicht sind sie den unsrigen sehr ähnlich? - Ich tue es nicht, weil ich beim Essen meine Ruhe haben will.
Im Literatur-Seminar lieferten mir die Teilnehmer Erinnerungen an Brücken.
Im Lexikon der Symbole ist von Brücken keine Rede.
In der Tschechoslowakei kam es zu Prügeleien. Die Demonstranten wollten auf dem Wenzelsplatz Jan Pallachs gedenken, das konnte sich die Staatsmacht nicht gefallen lassen.
Von Pfarrer Brüsewitz spricht hier bei uns kein Mensch mehr. Dieses Volk scheint keine Helden zu benötigen. 24 000 Ritterkreuzträger haben den Bedarf für alle Zeit gedeckt.
Post: Eine Ambitionsdame aus Berlin, die mir über das Kriegsende in Schlesien«ungeschminkte Tatsachen»mitteilen möchte, will lieber Cassetten besprechen, statt schreiben, das sei doch viel einfacher?«Was da zur Sprache kommt, wird schockieren, wo liegt die erlaubte Grenze?»
Ob sie denkt, daß ich das alles abschreibe? Den ganzen Quark? und dann drucken lasse und sie damit in gebundener Form zum Weihnachtsfeste überrasche?
Im Fernsehen war der Gedenkmarsch für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu sehen. Da hatten sich Leute eingeschlichen, die ebenfalls für die Märtyrer demonstrieren wollten, ebenfalls mit Transparenten, aber irgendwie andersrum. Die wurden hinweggezerrt.
Harry Graf Kessler über Liebknecht:
Vom Balkon redete Liebknecht. Ich hörte ihn zum ersten Male; er redet wie ein Pastor, mit salbungsvollem Pathos, langsam und gefühlvoll die Worte singend. Man sah ihn nicht, weil er aus einem verdunkelten Zimmer sprach, man verstand nur einzelne von seinen Worten, aber der Singsang seiner Stimme tönte über die lautlos lauschende Menge bis weit hinten in den Platz. Am Schluß brüllte alles im Chore«Hoch», rote Fahnen bewegten sich, Tausende von Händen und Hüten flogen auf. Er war wie ein unsichtbarer Priester der Revolution, ein geheimnisvolles, tönendes Symbol, zu dem diese Leute aufblickten. Halb schien das Ganze eine Messe, halb ein riesiges Konventikel. Die Welle des Bolschewismus, die von Osten kommt, hat etwas von der Überflutung durch Mohammed im siebenten Jahrhundert. Fanatismus und Waffen im Dienste einer unklaren neuen Hoffnung, der weithin nur Trümmer alter Weltanschauungen entgegenstehen. Die Fahne des Propheten weht auch vor Lenins Heeren.
Die Briefe der Luxemburg sind zum Teil anrührend zu lesen. Wie sie sich im Gefängnis ein Herbarium angelegt hat. Einen Korbsessel hat man ihr in den Hof gestellt. Das war doch sehr freundlich? Uns hat man mit dergleichen nicht versehen. Man liest wenig Kritisches über die beiden, es waren doch auch Menschen?
Zweierlei Arten von Demonstration. Hier die brav-säuerliche, von der Obrigkeit verordnete, dort die Brandung, die gegen die Oktaeder schlägt.
2000:Sie demonstrieren immer noch für Rosa und Karl. Dieses stupide Dahintrotten. Man müßte sich an den Straßenrand stellen und über die Demonstrationsbeamten lachen. - Eine besonders kitschige Art der Demonstration, die neuerdings zu beobachten ist: dies Blumenablegen vor gebrandstifteten Häusern - sie nehmen nicht einmal das Cellophan ab! Kerzen gehören auch immer dazu. Das Wegräumen der Sträuße vor Lady Di’s Türe hat große Probleme gemacht. Man engagierte Pfadfinder dafür, die es schonend vollbrachten. Müllabfuhr wäre nicht gegangen.
Kurz vor Mitternacht hörte ich ein Streichquartett von Mozart. Bei sowas wird man ein besserer Mensch. Aber am nächsten Tag ist man wieder verkrustet.
Es ist naß, kalt und windig ums Haus.
Nartum
Di 17. Januar 1989
Bild: Doppelmord vor der Party/Gemeinsam vergewaltigt, gemeinsam erwürgt
ND: Meinungsaustausch zwischen Erich Honecker und Horst Schmidt/Zusammenarbeit zwischen DDR und Berlin (West) wird zum gegenseitigen Nutzen ausgebaut
Dorfroman: Die Tarmstedter brachten mir alte Entschuldigungszettel kuriosen Inhalts.
Ich möchte Kirsten entschuldigen, weil sie auf ihren kleinen Bruder aufpassen mußte. Ich bin eine Frau über 30 und muß auch mal auf dem Sofa liegen.
Hiermit entschuldige ich meine Tochter Svenja. Sie muß zum Arz. Weil Svenja zu dick werd es muß ja was geschehen.
Vorgestern hatten wir ein großes Vollmondfest, bei dem sich viele Erwachsene und Kinder trafen. Nach einer festlichen Nacht mochten sich Kinder und Erwachsene nicht in Eile trennen, so verbrachten wir alle noch einen gemeinsamen Tag in frohem Mut, daß auch morgen die Sonne noch über unseren Köpfen aufgehen mag. Die Kinder haben sich dann auch mit Spielen und Backen beschäftigt und auch was gelernt. So hoffe ich auch auf Ihr Verständnis.
Mein Sohn soll nicht mit auf Klassenfahrt, eine Bruse [sic] kann er auch zu Hause trinken.
Am gestrigen Morgen haben wir, bedingt durch die Abwesenheit meines Mannes, so nachhaltig verschlafen, daß es nicht mehr lohnte, den Jungen noch zur Schule zu bringen.
Wegen möglicher Gefährdung durch radioaktive Strahlung bei Regenschauer haben wir Helga am Mittwoch und Freitag zu Hause behalten.
Gegen Abend kamen zwei Schülerinnen, die eine Abschlußarbeit über den«Tadellöser»schreiben wollen oder sollen.
Ob ich das Bürgertum entlarven wollte, fragten sie, und:«Haben Ihre Eltern wirklich so geredet?»Sonst konnte von Wißbegier keine Rede sein. Man möchte ihnen den Text wie eine Tür öffnen und sie«reinlassen», aber sie wollen ja gar nicht. Immer noch Geprügel in Prag. F. M. meint: Diese Ostmenschen hauen ganz anders zu als unsere. Wahrscheinlich könnten die Demonstranten - slawischen Blutes - auch mehr ab als unsere.
Im«Spiegel»steht, daß«noch mehr Öl in Saudi-Arabien»vorhanden sei als man gedacht hat. Zum Vorjahr seien die Vorräte um 51% gestiegen. Ich mußte an einen Vortrag des Physikers Pupke an der Rostocker Universität denken, der 1944 sagte, die Weltvorräte an Kohle reichten noch 150 Jahre, die an Öl 15! Ich hab’ mich damals richtig erschrocken. Seither habe ich ein gewisses Mißtrauen gegen wissenschaftliche Vorhersagen.
Aus dem«Spiegel»vom 16.1.1989:
«Auf Wiedersehen, Mathias Rust»
Die Moskauer »Iswestija« über Errungenschaften des Jahres 1988: Wir haben uns von einer Reihe Ministerien und Ämtern verabschiedet, trotz ihres leidenschaftlichen Wunsches, bei uns zu Gast zu bleiben. Wir nahmen Abschied - und verstanden, daß ohne sie zu leben nicht nur möglich, sondern auch nötig ist!
Wir trennten uns von der Stadt«Breschnew», leichten Herzens, und mit wirklich weniger Feierlichkeit als vor einigen Jahren von«Nabereschnyje Tschelny»(so hieß die Stadt bis zu ihrer Umbenennung 1982 zu Ehren des verstorbenen Breschnew).
Dies alles geschah im vergangenen Jahr 1988 - dem Jahr der großen Verabschiedungen. Dafür danken wir ihm dann auch.
Wir danken für den Abschied von der Limitierung der Zeitungsabonnements. 1988 trennten wir uns vom Stempel«Geheim»- in Hunderten von Büchern, deren ganzes Geheimnis aus diesem Stempel bestand. (…)
1988 verabschiedeten wir uns von einigen Orden und Medaillen, nur dafür verliehen, daß der Genosse ein Jubiläumsalter erreicht hatte, ohne der Bevölkerung besonders Schlechtes anzutun. Aber wie lange halten wir das wohl durch?
Auf alle diese Fragen:«Wie lange wird es andauern?»,«Ist es wirklich unumkehrbar?»,«Ist es alles nur so, als ob es gar nicht wahr wäre?», wird nun das kommende Jahr 1989 eine Antwort geben können.
Scheiden tut weh. Wie schwer war es doch, sich vom Gedanken zu verabschieden, daß Millionen von Rubeln verschwendet werden müssen, um durch Tuten und Zischen im Äther unsere Ohren vor der Falschinformation der verlogenen Auslandssender zu retten.
Wie schwer war es zu begreifen, daß es noch eine andere Methode gibt, um Terroristen unschädlich zu machen, als auf sie aus allen Läufen zu knallen. Wir nahmen Abschied von dieser«wahren»Methode. Wir haben vielen Menschen damit das Leben gerettet.
Wie schwer war es, sich von der Vorstellung loszusagen, daß unsere Landkarten nur dazu herausgegeben werden, Spione des Auslands zu verwirren. Abschied: Jetzt kann man einen genauen Moskauer Stadtplan auch hier erstehen, nicht nur in London.
Lebt wohl, Ihr lieben SS-20-Raketen samt den nicht minder teuren Pershings. Adieu, aufregende Wahlen, Auswahl eines Abgeordneten aus der Alternative eines einzigen Kandidaten. Zur Makulatur mit den Tonnen von Fragebögen für Auslandsreisen …
Auf Wiedersehen [im Original auf deutsch], Mathias Rust, tollkühner Revisor unserer Luftabwehr. (…)
Do swidanija, 1988. Du warst ein gutes Jahr. Auch ein schweres Jahr, und, ehrlich gesagt, es ist gut, daß Du gehst. Noch besser ist es, daß mit Dir eine Menge vermoderter Ideen, falscher Prinzipien und verfaulter Begriffe verschwunden sind. (…)
Hildegard kaufte in der Fischhalle, die unter dem Namen«Freitag»firmiert, Fischfilets. Naheliegend, ein Fischgeschäft«Freitag»zu nennen. Wir allerdings essen diesen Fisch am Mittwoch. Am Nachmittag fuhr Hildegard nach Hamburg. Die Tiere sahen mich vorwurfsvoll an. Ich kann ja auch nichts dafür.
Sich vergammeln lassen, bis der Tod den Rest besorgt. Dem Tode entgegengammeln.
Post: Ein Herr meint, er habe einen Stoff auf Lager, der, von einem Journalisten aufgenommen, bestimmt sehr spannend sein würde: Über die letzten 100 Jahre der Möbelindustrie gebe es noch kein Buch, erst recht nicht einen Roman, der über drei bis vier Generationen hinweg ein Milieu zeige, das grundverschieden von den Gutsgeschichten sei, die adlige Damen schreiben.
Vom SFB bekam ich die Nachricht, daß am 27. 12. mein«Beethoven»-Hörspiel gesendet wurde, und es kam auch gleich das Geld dafür. Jetzt nehmen sie das als Sylvesterscherz, und dabei war es mir verdammt ernst damit - sonst wäre es nicht so lustig geworden.
Nartum
Mi 18. Januar 1989
Bild: Um Mitternacht in Neukölln/Promille-Fahrt: Im Auto saß ein Wildschwein
ND: Besuch von Ingvar Carlsson/Meilenstein in den Beziehungen Schweden - DDR
Harry Graf Kessler im Januar 1919 zum Tod von Liebknecht/ Luxemburg:
Sie haben durch den Bürgerkrieg, den sie angezettelt haben, so viele Leben auf dem Gewissen, daß an sich ihr gewaltsames Ende sozusagen logisch erscheint.
Gibt es in Berlin ein Denkmal für die bürgerlichen Opfer des Spartakusaufstandes? Nein, Gott sei Dank nicht. Es kann nicht zu einem Anlatschziel verordnet werden.
Post: Ein Mädchen fragt an, ob sie in dem geplanten«Hundstage»-Film mitspielen darf? Wenn nicht, dann wünscht sie mir drei große Busse mit Senioren in mein Arbeitszimmer. Sie verbleibt mit freundlichen Grüßen …
Ein Herr aus Norderstedt schreibt, daß er in den letzten 13 Jahren rund 2500 Briefe an Politiker, Kirchenführer, Schriftsteller, Maler usw. geschrieben hat.«Zwischen 80 und 85% wurden die Briefe beantwortet.»Der Inhalt der Briefe gäbe einen Einblick in das Denken eines Staatsbürgers; ob mich das interessiere?
Ein anderer schreibt, ich solle wenigstens die Briefe unterfertigen, das sei doch wohl das mindeste? (Er meint, ich soll die von Simone geschriebenen gegenzeichnen.) Wahrscheinlich ein verkappter Autographen-Sammler. Ob er auf seine Beschwerde hin eine unterfertigte Antwort will?
Eine Dame aus Bremen:«Leider mußte ich dazulernen, daß ein Schriftsteller nicht etwa eine Lesung macht, um Käufer für sein neues Buch ranzuholen, sondern erstmal, um kräftig abzusahnen. DM 6.- Eintritt, tth, tth, tth, Herr Kempowski! Ich war mächtig verstimmt, kaufte Ihr Buch nicht, sondern borgte es mir in der Stadtbibliothek, Strafe muß sein.»
Es war heute kalt, aber auch sehr schön. Da kein Wind wehte, konnten wir unser wunderbares Haus genießen. Gelbrote Wolken auf lasiertem Türkis. Das gab’s heute abend kostenlos zu sehen. Ich studierte beim Rasieren meine Falten im Gesicht. Krähenfüße nahm man früher als Beweis für unmoralischen, liederlichen Lebenswandel.
1
Der Roman«Mark und Bein», erschienen 1992.
2. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2003,btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © 2001 by Albrecht Knaus Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
KR · Herstellung: Augustin Wiesbeck
eISBN 978-3-641-06050-3
www.btb-verlag.de
Leseprobe
www.randomhouse.de