Im Block - Walter Kempowski - E-Book

Im Block E-Book

Walter Kempowski

4,8
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie kaum ein Autor wurde Walter Kempowski von den beiden deutschen Staaten geprägt. "Im Block" erzählt von einer Zwangsgemeinschaft am Rande der Gesellschaft.
1948 wird Kempowski wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt. Nach acht Jahren im DDR-Zuchthaus Bautzen kommt er frei. 1969 erscheint sein literarischer Bericht dazu.
"Im Block", das ist ein Leben in drangvoller Enge, isoliert, inhaltsarm. Die Häftlinge bilden eine Gesellschaft, geprägt vom Eingeschlossensein, von qualvoll gedehnter Zeit. Eindringliche Bilder zeigen eine Existenz, die das verweigert, was menschliche Selbstverwirklichung ausmacht: Arbeit, Liebe, Besitz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 314

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 Über das Buch:

Wie kaum ein Schriftstellerleben ist die Biographie Walter Kempowskis von der Geschichte der beiden deutschen Staaten geprägt. Seine Erzählung »Im Block« ist die unbestechliche Momentaufnahme einer Zwangsgemeinschaft am Rande der Gesellschaft. 

Im Jahr 1948 wird der 19jährige Walter Kempowski aus Rostock wegen angeblicher Spionage von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Haft verurteilt. Acht Jahre sitzt er im berüchtigten DDR-Zuchthaus Bautzen. Dann wird er begnadigt. 1969 erscheint sein beklemmender literarischer Bericht aus einer Welt außerhalb des bürgerlichen Alltags. »Im Block«, das ist ein Leben in drangvoller Enge, isoliert, passiv, inhaltsarm. Die Häftlinge bilden eine eigene Gesellschaft, die geprägt ist vom Eingeschlossensein, von qualvoll gedehnter Zeit und von seltenen Augenblicken, die nur entfernt an das Glück eines erfüllten Daseins erinnern. Entstanden sind eindringliche, scharf ausgeleuchtete Bilder einer Existenz, die den Betroffenen all das verweigert, was menschliche Selbstverwirklichung ausmacht: Arbeit, Liebe, Besitz. 

Über den Autor:

Walter Kempowski, geboren am 29. April 1929 in Rostock, starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Einem breiten Publikum bekannt wurde er durch seinen Roman „Tadellöser & Wolff“, der auch verfilmt wurde. Seine monumentale Collage „Das Echolot“ war 1993 eine literarische Sensation und fand zwölf Jahre später mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes, der die Bestsellerliste stürmte, ihren krönenden Abschluss. Der letzte zu Lebzeiten des Autors veröffentlichte Roman „Alles umsonst“ brachte Walter Kempowski auch internationale Anerkennung. 

Inhaltsverzeichnis

CopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Editorische NotizWerkverzeichnis

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Copyright © 1987, 2004, 2016 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

1

Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich. Einer nahm aus dem Wäscheschrank Briefe und Tagebücher. Ein anderer strich über die Tapete.

Zwei Pullover zog ich mir über, meinen Ring konnte ich unbemerkt in die Nachttischschublade abstreifen.

Sie legten mir keine Handschellen an. Beim Hinuntergehen faßte einer mit zwei Fingern meinen Ellbogen.

Oben stand meine Mutter mit aufgelöstem Haar.

Auf der Straße Doppelposten mit Gewehr.

Im Fenster des Hausmeisters bewegte sich die Gardine; im Schaufenster der Drogerie Fotos vom Strand.

Im Opel Olympia: Trug der Fahrer eine Pickelmütze?

(In Riga erstach man die Stadtverordneten und warf sie in einen Brunnen.)

Ich hielt mich an der Troddel fest und suchte die Straße nach Bekannten ab. Da drüben hatte immer der alte Weltzin in seinem Erker gesessen.

Ein Bretterzaun versperrte die verbotene Villenstraße. Glatzköpfige Russenkinder davor. Rasch war der Schlagbaum aufgeseilt, ein Ausweis wurde nicht verlangt. Alle Türen standen offen. Von Offizieren geleitet, schritt ich die Treppe hinauf.

Der Wachhabende saß auf einem Gartenstuhl. Er hatte die Ärmel hochgestreift.

Im Keller nahm mich ein freundlicher Mongole entgegen. Krawatte abbinden – ich trug eine rote –, Schnürsenkel herausziehen, Brieftasche hingeben. Brille ab.

Mit Stacheldraht umwobene Gitterstäbe: Kette und Schuß. Vor der Nachbarzelle stand eine Beinprothese.

Erstes Verhör in einem Wohnzimmer.

An der Wand ein Stalin-Bild. Drei Offiziere mit hängenden Orden um mich herum. Ich antwortete nach allen Seiten.

Einer strich mir übers Haar: Guter Junge.

Er stellte ein Bein auf den Stuhl, fummelte an meinem Identification Pass und zählte es an den Fingern her: Aus dem Westen gekommen, Labor Company der U.S. Army, Ami-Hose – also Spion.

Im Straßenlautsprecher Chopin.

Ich war drei Schritte hinter mir. Große Entfernung trotz Naheinstellung. Zahlenziffern am Fadenkreuz. Kein Hätte-doch, kein Gedanke an Morgen, keinerlei Reim.

Reines Heute.

Im Keller schlossen sie mich in eine provisorische Zelle. War das ein Weinkeller gewesen? Ein Kanten Brot lag auf dem Kübel.

Ich legte mich auf die Pritsche und zitterte am ganzen Leib. Nach einer halben Stunde waren sechs Stunden vergangen. Sie schlossen mich wieder heraus.

Ich mußte wieder in das Auto steigen. Rasche Fahrt durch Regen. Der Begleiter gab mir eine Zigarette nach der andern.

An einer Bahnschranke gab es Aufenthalt. Gute Fluchtgelegenheit: Sie ließen mich aussteigen zum Füße vertreten. Keine Hunde, keine Fessel, Wald.

Der Zug fuhr langsam vorüber.

Spätabends waren wir in Schwerin.

Dunkle Toreinfahrt in weißbeworfener Wand. Auf der Zinne zerbrochenes Glas.

(Hier kriegst du Prügel.)

Der Begleiter bekam für mich eine Quittung und ging fort, ohne mich noch einmal anzusehen.

Weh mir, wenn es Winter wird!

Ein Mensch, vor dem ich sehr erschrak, öffnete mir Jacke und Hose.

Er suchte nach Waffen.

Dann trieb er mich durch Gänge –«schnöll! schnöll!» – und schob mich in eine Zelle. Es war die Nummer 54.

Würde man hier später einmal eine Bronzetafel zur Erinnerung an meine Leidenszeit anbringen?

«Nix sprechen, nix liegen, nix schlafen, nix singen, nix klopfen, nix Fenstergucken», sagte der Posten. Alle übrigen Verbote hatte ich zu ahnen.

Ich hängte meinen Mantel an einen Haken in der Tür. Da klatschte es draußen. Ich hatte eine Signalvorrichtung ausgelöst, durch die der Posten herbeigerufen wurde.

Er kam schimpfend angerannt und donnerte gegen die Tür.

Die Zelle war leer. Eine eingebaute Pritsche mit Strohsack als einziger Einrichtungsgegenstand.

Ich stellte mich an die Heizung und wärmte mir die Füße.

Irgendwo klopfte es. Im Terrazzofußboden tausend Bilder: Hund,

Fisch, Palme. Eine alte Frau mit Holz.

Jemand hatte ins Trinkwasser gerotzt.

Ich legte mich auf die Pritsche.

Kaum lag ich, kam der Posten. «Nix liegen!» Erst wenn die Glocke klingelte, war das Schlafen erlaubt.

Also wieder hoch und warten. Bis gegen Mitternacht wanderte ich auf und ab, dann endlich klingelte es.

Am anderen Morgen studierte ich an den gekalkten Wänden die Kritzeleien meiner Vorgänger:

Und wieder ging ein junges Lebenunaufgeblüht ins Grab,das allzu hast’ge Strebenriß ihm den Faden ab.

Ein Mensch namens Lunow hatte sich wohl zwanzigmal verewigt. Ich schrieb meinen Namen überall dahinter.

An allen Wänden Kalender. Einer mit siebzig Strichen.

Ich legte mir gleich drei an. 8. März 1948. Überm Bett einen, wenn ich aufwachte, an der Tür und unter dem Fenster. Die Striche machte ich für eine Woche im voraus. So lange würde ich ja doch noch sitzen.

Mit dem Austreten war’s schwierig; als Kübel diente eine Vase mit engem Hals.

Ob sie uns lieben oder hassen –einmal müssen sie uns doch entlassen.

Gegen neun Uhr reichte mir der Posten einen Kanten Brot. Dazu gesüßten Gerstenkaffee und eine Vitamintablette.

Endlich konnte ich auch das Trinkwasser wechseln. Die Aule schwamm davon.

Zu Mittag bekam ich Rübenwasser mit drei angebratenen Speckwürfelchen. Und wieder gab mir der Koch eine Vitamintablette. Ein Zellennachbar morste: «Dünn wie Pisse!»

Das Brot teilte ich mit dem Löffelstiel in dreißig fingerlange Stücke. Die Krusten legte ich extra, desgleichen das «Marzipan»: die millimeterstarke Schliffschicht.

Vielleicht sollte man hier beten? Ich tat’ s, dann wandte ich mich vom Spion ab und lutschte Stück für Stück.

Hin und wieder durchfuhr es mich: Hast du auch bestimmt gebetet? Vielleicht sollte ich es sicherheitshalber noch einmal tun?

In der Nacht, kurz vor dem Klingeln, holten sie mich zur Vernehmung. Durch Käfigventile und Gitterschleusen trottete ich hinter dem Posten her. Auf jeder Treppe Schlüsselsignale am Geländer: Hier durften Gefangene sich nicht begegnen.

Über eine Seufzerbrücke ging es ins Justizgebäude. Unter dem Fenster ein Kokshaufen, der würde mich abfangen, wenn ich aus dem Fenster spränge. Oder die Treppe hinunterrasen … am Posten vorbei.

Halb zwölf, Uhrzeit merken.

Der Untersuchungsrichter, ein Major, schritt über die Ankerteppiche, Hände auf dem Rücken. Wie sollte er es anfangen? Vera, die hübsche Dolmetscherin, kaute Nägel.

Gardinen und Übergardinen, Deckenlampen wie Puddingschüsseln: Mein Stuhl stand, wie kein Stuhl in der Welt, am äußersten Rand des Zimmers.

Der Untersuchungsrichter sah mir ins Auge. Gleich mußte er sich entscheiden, ob er mich schlagen würde. Ein paar Sekunden starrten wir uns an. Dann lächelte er und gab mir eine Zigarette. Die glorreiche Rote Armee vergreift sich an keinem deutschen Jüngling, einem jungen Menschen, der vermutlich nur in die Irre gegangen ist.

In der Ferne tutete ein Zug.

Drei Stunden später waren wir im reinen. Indizien erleichterten die Verständigung. Zwei Stunden Schlaf blieben mir.

Dann übernahm Kapitän Scherkow die Ausschmückung meines Falls. Nacht für Nacht wurde ich geholt.

Hunderte von Seiten schrieb er voll mit violetter Tinte, zwischendurch Fingermassage und hin und wieder eine Frage.

Unvermittelt sagte er auch so etwas: «Apfelblumen alle kapuht!» (In der Nacht hatte es gefroren.)

Weil ich die Sowjetunion Rußland nannte, mußte ich in der Ecke stehen.

Scherkow hatte drei Orden. Er spuckte in die Schublade seines Tisches.

Ob ich Gummerstock kennte?

Er riß einen Gummiknüppel aus dem Schreibtisch und rief, mit dem würde ich es zu tun bekommen, wenn ich nicht die Wahrheit sagte!

Sein Dolmetscher hieß Nikolai, ein Arbeiterjunge mit gewelltem Haar. Er ordnete Lineal und Bleistifte und wischte Tabakkrümel mit gekrümmter Hand vom Tisch. Ab und zu unterhielt er sich mit mir.

Warum ich Spionage gemacht hätte, wollte er wissen. Die Sowjetunion verfüge über 200 Millionen Menschen, demnächst würden es sogar 220 Millionen sein, und gegen die hätte ich mich aufgelehnt!

Wer zwischen die Mühlsteine gerate, werde zerquetscht.

Er hatte Angst vor irgendeiner Prüfung. Ich half ihm bei den Schularbeiten. Was ein «Landser» sei und «Kimme und Korn». Er behauptete, es heiße «trotz alles». «Trotz» regiere den zweiten Fall.

Ich konnte ihn nicht davon abbringen.

Es täte mir leid, sagte ich, daß ich gegen die Sowjetunion gearbeitet hätte. Ich würde den Schaden gern wiedergutmachen …«Dazu sind Sie zu dumm», antwortete Nikolai.

«Könnte ich einen Pfarrer sprechen?» fragte ich ein andermal. Da antwortete er: «Wenn Sie beichten wollen, dann tun Sie das hier.»

Dem Pfarrer hätte ich Grüße an meine Mutter zugeraunt: Hau ab nach Berlin!

Einmal versuchte ich, Scherkow zu einer Tatortbesichtigung zu verleiten, wegen meines Grenzübertritts nach Westdeutschland im vorigen Jahr. Da lachte er sehr.

Hin und wieder gab mir Scherkow was zu Rauchen. Einmal bedankte ich mich zweisprachig: «Spassibo, danke schön.» Das fand er witzig. Ob ich das auch auf englisch sagen könnte?

Ich tat es.

Da freute er sich: Was für einen Gefangenen haben wir! Er erklärte es sogar dem Posten, der nicht wußte, ob er darüber lachen durfte.

Ich wollte es noch besser machen und fügte «Merci, Monsieur» hinzu. Da winkte er ab. Nun sei es genug.

Nach zehn Tagen machte ich ihn darauf aufmerksam, daß mein Interzonenpaß bald ablaufe.

Auch das erregte Heiterkeit. Darüber sollte ich mir man keine Sorgen machen.

Meistens ließ Scherkow erst gegen Morgen von mir ab. Auch er mußte sein Soll erfüllen. Die Fragen verfolgten mich bis in die Träume.

«Nennen Sie spionische Agenten …» Das war die unangenehmste.

Einmal schrie ich im Schlaf und schreckte auf. Der Posten kam, deckte mich zu und sagte: «Ruhig, Waltera …»

«Nennen Sie spionische Agenten …»

Um endlich Ruhe zu haben, dachte ich mir Agenten aus. Die Namen entlehnte ich aus Shakespeares Dramen.

Auf meiner Arbeitsstelle in Wiesbaden sei so eine merkwürdige Type gewesen, sagte ich, sicher ein Spion. Ein gewisser Rosenkranz.

Und in Hamburg, in der Adolfstraße wohne ein Mensch namens Güldenstern, der habe mich mal um Informationen gebeten.

Sofort kriegte ich Zigaretten. «Karascho!» Alles wurde notiert. Die Liste der Agenten erweiterte sich. Ich mußte sie täglich repetieren: Paul Jago, Güldenstern und Richard Gloster.

Saß ich tagsüber beim Verhör, dann wurde mir das Essen auf die Heizung gestellt. Die Vitamintablette lag im Löffel.

Nach einem Monat hatten sie alles beisammen, ich wurde nicht mehr geholt. Stunde um Stunde marschierte ich auf und ab, siebzehn Stunden lang fünfzehn Kilometer pro Tag, zählte Büchertitel auf oder definierte den Unterschied zwischen Mut und Tollkühnheit.

Was war mit Erasmus von Rotterdam? Was mit Hieronymus im Gehäus?

Wo lag Antofagasta? Oder hieß es Autofagasta?

Dreimal siebenundfünfzig plus einhundertundsechsundachtzig. Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Weiße Blasen seh ich springen;Wohl! Die Massen sind im Fluß.Laßt’s mit Aschensalz durchdringen,Das befördert schnell den Guß.

Durch eine Türritze konnte ich einen Blick auf den Korridor werfen:

Huschende Schatten; ein alter Mann, den sie stießen.

Über die Türritze hatte einer geschrieben: Nicht hinauslehnen!

Wenn der Posten auf der gegenüberliegenden Gangseite die Spione hochschob, gab es ein feines, quietschendes Geräusch. Kam es in meine Nähe, dann ging ich sinnend auf und ab. Oder ich brütete vor mich hin: Ein einsamer Mensch.

«An Mutter denken?» fragte der Posten durch die Tür.

Ich dachte meistens ans Essen: Mal eine Kartoffelsuppe kriegen oder Erbsensuppe. Weiße Bohnen.

Milchreis mit Zimt und Zucker?

Lange würde man das hier nicht aushalten. Wie gut, daß ich mich in Wiesbaden so ausgefuttert hatte.

Zeitweilig stellte ich mir die Zelle als Schiffskajüte vor. Ring-ring! Beide Maschinen volle Kraft voraus!

Unterm Bett würde ich ein Schapp anbringen für Schiffszwieback und Dauerwurst. Und unters Fenster käme ein bequemer Sessel. Alles mit Mahagoni täfeln und Pfeife rauchen.

Sonntags spielten die Posten in der Zellenhalle Fußball. Sie bolzten gegen die Türen; man fuhr zusammen, wenn es einen traf. Manchmal begossen sie sich mit Wasser.

Einer stellte in der Nacht seinen Stuhl vor meine Zelle und kippelte gegen die Tür.

Auf dem Weg zum Kübeln begegnete mir eine gefangene Frau. Schwarzer Rock, roter Pullover. In den Händen hielt sie eine Kaffeekanne.

Sag beim Abschied leise «Servus» …

Ich tat, als sähe ich sie nicht.

Ein Gutes hatte der Hunger, man wußte immer, woran man denken mußte.

Der Kübel mußte in der Kübelzelle in einen großen Trichter entleert werden. Einmal war er verstopft. Der Posten zeigte aufs Knie, ich sollte es öffnen.

Ich nahm die Platte ab und fuhr mit der Hand hinein. Glasscherben und Monatsbinden hatten sich vor den Abfluß gesetzt. Plötzlich gab’s Luft. Ein dicker Kotstrahl schoß aus der Öffnung hervor. Ich sprang zur Seite. Der Posten schimpfte. Ich hätte die Platte wieder vor die Öffnung schieben sollen.

Er ließ mich eine halbe Stunde im Dreck stehen, dann holte er mich heraus und schlug mich mit dem Schlüssel.

Der Koch war zu kleinen Hilfsdiensten bereit. Er gab mir einen Handfeger und eine Waschschüssel.

Drei Wochen dauerte es, bis er begriff, daß er mein Fenster öffnen sollte. Dann kriegte ich es nicht wieder zu, tagelang saß ich im Kalten.

Jede Woche schor er mir mit einer Haarschneidemaschine den Bart.

Im April endlich auch das verfilzte Haar.

(Letzter Haarschnitt noch in Wiesbaden, halb liegend, mit elektrischer Kopfmassage und Dampfkompressen.)

Im Kaffee betrachtete ich meine Glatze. Ein ungewohnter Anblick.

Hin und wieder benutzte ich zum Waschen und Essen nur die linke Hand. Die rechte hielt ich in der Tasche. Fit halten; was mitbringen, wenn’s nach Hause geht.

Oder ich jonglierte mit dem Handfeger: «Das hab ich im Knast gelernt.»

Die Pritsche war zu hoch, man konnte die Beine nicht richtig auf den Boden setzen.

Würden sie die Uhr vom Uhrmacher holen? Der Schein lag auf dem Tisch.

Was würden sie sagen, wenn ich plötzlich vor der Tür stünde?

Ich hätte auf den Balkon rennen sollen, auf den Blumenabsatz klettern, übers Teerdach laufen, in eine Bodenluke steigen, durch das Treppenhaus hinunter in den Keller. Hinter einer Kartoffelkiste warten, bis sie gegangen sind.

Das Fenster war mit einer Blende aus Brettern vernagelt. Ein schmaler Streifen Himmel war sichtbar und das gegenüberliegende Dach. (Ostern schneite es.) Den wandernden Schatten der Sonne auf den Ziegelreihen. Wenn er an die Luke reichte, gab’s Abendsuppe.

(Die Fingernägel wachsen lassen wie ein Chinese. Auch die Haare. Die Zelle bis zum Bersten mit Körper ausfüllen. Samson zwischen den Säulen.)

Flüstern, bis der Hals dick ist. Kein lautes Wort. Angst vor der eigenen Stimme.

Wachträume: Eine ungenannte, hochgestellte Persönlichkeit setzt Hafterleichterungen für mich durch. Paketempfang jeden Monat. Begnadigung zu zehn Jahren Freiheitsentzug, abzumachen in einem Büchermagazin.

Oder verstoßen und verraten – von Krankheit verzehrt auf einem Lumpenhaufen liegen, wimmernd um Wasser flehen …

(In Peru zog man den Gefangenen die Gesichtshaut ab und fesselte sie nackt an ein hölzernes Gestell. Damit waren sie den Raubvögeln preisgegeben.)

Zahnschmerzen. Der Posten steckte mir eine Papirossa in den Mund und rief die Ärztin.

Die Ärztin zog mich am Ohr, weil sie Staub auf dem Fußboden bemerkte. Sie griff in die Tasche und holte eine Handvoll schmuddeliger Pillen raus.

Ich durfte mir eine aussuchen.

Im zweiten Stock zerschlug einer die Scheiben und schrie: «Meine Frau! Meine Kinder!» Er wuchtete die Eisenpritsche in die Höhe und ließ sie krachend fallen.

Ich kürzte mir die Fingernägel mit einer Glasscherbe. Bei dem Durcheinander brauchte ich nicht zu befürchten, daß sie mich dabei überraschten.

Einmal versuchte ich, mich mit Löffel und Taschentuch zu erdrosseln. Zuckend lag ich am Boden.

Ich hätte mir auch einen Finger abbinden können: Tod durch Leichengift.

Wenn man hier krank werden würde, käme man dann in ein Lazarett?

Ja, gnade dir Gott, du Ritterschaft!Der Bauer stund auf im Lande,Und tausendjährige BauernkraftMacht Schild und Schärpe zuschande!

Am 10. April erster Spaziergang auf dem Hof. Kosmos!

In der sauberen Gashülle gediehen Märzbecher und Narzissen. Auf der Mauer eine Schußkanzel. Der Posten fragte: «Du Nmetzky?» 1

«Njet, Amerikanski!» antwortete ich.

Kurz darauf bekam ich ein Bündel von zu Hause, das hatte meine Mutter gepackt, ein richtiges Kopfkissen, Wäsche, Schuhe und sogar eine Zahnbürste.

Im Pullover lag ein Stück «Ivory»-Seife.

Die Sachen waren in das dicke italienische Plaid meines Großvaters gewickelt. Wunderbare Wolle. (1936: Ferien an der See; Jesse Owens läuft zehn zwo.)

2

Ende April 1948 kam ich in die Achtunddreißig zu Manfred Hagemeister, einem Hamburger. Der war dürr wie ein Skelett, er saß schon ein Jahr in Untersuchungshaft.

«Du siehst auch nicht besser aus», sagte er.

Sie hatten ihn an der Zonengrenze geschnappt. Er hatte in Leipzig Heringe gegen Seidenstrümpfe eintauschen wollen. Nun dichteten sie ihm Spionage an.

Das Wandbett hatte er belegt. Ich mußte auf dem Fußboden schlafen.

Drüben hatte ich eine Zelle für mich allein gehabt.

Warum ich so leise spräche, wollte er wissen.

Er baute mir aus meinem Strohsack einen Sessel. Ich saß wie ein Rennfahrer darin.

Daß ich zwei Pullover besaß, wunderte ihn, mein Kopfkissen war eine Sensation.

«Ivory», flüsterte er und hielt sich meine Seife unter die Nase. Die Zahnbürste löste Verblüffung aus: Ah ja, Zahnbürsten, die gab’s ja auch …

Alle paar Minuten ging er «den Familienstrumpf auswringen». Vor jeder Mahlzeit dröppelte er. Wenn er eben den Löffel in die Suppe tauchen wollte, sprang er nochmals auf – es hätte sich ja noch ein Tropfen verkrochen haben können. Einer hecke zehn, behauptete er. Was es im vorigen Jahr zu essen gegeben hatte, war ein wichtiges Gesprächsthema, und was es im Sommer wohl geben wird.

Das erste Scheißen war peinlich. Hosen runter, es half ja alles nichts.

Als Lokuspapier verwendete er briefmarkengroße Stückchen vom Hemd. Es war schon recht kurz.

Ich brach mein Bettlaken an.

Als alter Häftling kannte er sich aus. Daß die Wachen sich in drei Schichten teilten, hatte ich noch gar nicht mitgekriegt, jede hatte zwölf Stunden Dienst. Die eine Abteilung war faul, die zweite scharf, die dritte gutmütig.

Manfred wußte auch, daß in der 3. Etage Prominente lagen – jeden Tag einen Schnaps – und im Keller schwangere Frauen.

Durch das Suppenauskellgeräusch hatte er die Belegschaftsstärke herausgekriegt. Vierundachtzig Mann waren es.

Ich sei ja noch grün, hätte von nichts ’ne Ahnung.

Unter dem Fenster unserer Zelle waren die Schattenrisse früherer Bewohner eingeritzt, übereinander, wie Bismarck, Hindenburg und Hitler im Kontor meines Vaters.

Flugzeuge: Ein Stuka mit Knickflügeln, eine eckige Me und die sogenannte Tante Ju.

An die Maschinen, an die Maschinen!Kamerad, da gibt es kein Zurück …

Die früheren Zellenbewohner hatten Uhrzeitstriche angebracht. Ich saß in meinem Sessel und verfolgte die Sonnenstrahlen, wie sie von Strich zu Strich glitten. Bald würde auf der ersten Etage der metallene Suppenkübel aufbumsen. Der Pawlowsche Reflex stellte sich ein.

Beim Kübeln zeigte Manfred mir die Todeszelle. Zwei Riegel vor der Tür. Jetzt war sie leer.

Hier hatte damals der Massenmörder Haarmann gelegen.

Zwei Tage später kam Günther zu uns, ein Drogistenlehrling. Er hatte betrunkenen Russen die Schuhe ausgezogen.

«Ich wußte, daß wir nicht allein bleiben», sagte Manfred. «Ein Mann, das ist Einzelhaft, aber zwei, das ist zweifelhaft.»

Aus Pritschenholz machte er uns Stichel. Zum Nägelsaubermachen oder Zähne stochern. Oder zum Schreiben. Das ging natürlich nur bei der «guten» Wache.

Er schabte Kalk von der Wand, zerpulverte ihn und vermischte ihn mit Wasser und etwas Seife. Dieses Pulver schmierte er auf den Schüsselboden. Das gab eine glatte weiße Fläche, auf der man schreiben konnte.

Manfred machte Rätsel, magische Quadrate mit vier oder mit fünf Buchstaben. Oder Silbenrätsel: «Gut ist, was mir nützt, schlecht ist, was mir schadet.»

Er konnte gut zeichnen. Mit ein paar Strichen zeichnete er Autos auf die Schüssel, Wanderer oder DKW, deren Physiognomie man sofort erkennen konnte.

Wenn er ein Rätsel fertig hatte, schrieb er es mit einer winzigen, in Brot gefaßten Bleistiftmine auf Kippenpapier. Damit würde er sich draußen Geld verdienen.

Ich nahm meine Rosodont-Zahnseife und rieb damit die Schüssel ein, das ging auch. Tage verbrachte ich damit, meinen Namen zu schreiben.

Dann spielte ich mit Günther «Schiffe versenken».

Wie würde man uns später wohl nennen: Kämpfer gegen Stalins Diktatur? oder Opfer des Bolschewismus?

Die «OdF» 2 müsse man respektieren, man selbst wolle später ja auch anerkannt werden, sagte Manfred. Wir könnten uns freuen, daß wir nicht bei den Nazis säßen, da wär’s anders rundgegangen. Wir entwarfen Embleme und Abzeichen für antisowjetische Vereinigungen.

In der ersten Zeit habe sein Untersuchungsrichter bei Verhören im Nebenzimmer Grammophonplatten mit Schmerzensschreien ablaufen lassen, sagte Manfred. Damit hätten sie ihn wohl kirre kriegen wollen.

Von einem Kameraden wisse er, daß die NKWD bei ihren Verhören Helme verwende mit Schrauben, die in den Schädel eindrängen. Ich sollte mir die Posten mal ansehen. Die hätten bestimmt auch alle schon mal gesessen, denn einige hätten Narben von solchen Schrauben.

Er sei froh, daß er niemanden verraten habe. Er wolle nicht, daß man im Lager mit Fingern auf ihn zeigt und ihn womöglich verprügelt.

Mit einer selbstgemachten Nadel stickte er Blumen in ein Taschentuch, die Fäden zog er aus allen möglichen Wäschestücken heraus.

Von meinem grünen Hemd hätte er gern einen Streifen gehabt. Auf den Besitz von Nadeln standen acht Tage Karzer bei Wasser und Brot. Wegen der dauernden Kontrollen konnte er immer nur ein paar Stiche machen. Es war schon erstaunlich, was er da zuwege gebracht hatte.

Aus einem Stück Kupferdraht machte er mir eine Nadel. Mit Hilfe eines spitzen Nagels schlug er ein Öhr hinein.

Auch gegen meinen Zahnschmerz wußte er ein Mittel: Blitzschnell die Hände aneinanderreiben, die Backe damit wärmen –«na?»

Eine Viertelstunde hielt er’s durch.

Der schönste Augenblick des Tages war das Kantenwählen. Wir legten die Portionen auf die Pritsche und knieten uns davor, beäugten sie von allen Seiten, nahmen sie wie Blumenschalen in die Hand …

So bedächtig man auch wählte, immer fühlte man sich beschissen.

Manfred war ein sogenannter Krümelkacker, er zerkrümelte sein Brot und trocknete es an der Sonne. Fachmännisch wendete er die Brocken wie Rosinen alle halbe Stunde um.

Morgens aß er nichts, um mittags und abends recht viel Brot in die Suppe tun zu können. Die war dann ziemlich dick.

Ich schwankte, ob ich es ihm gleichtun sollte. Immer wieder ermunterte er mich dazu. Es war ihm wohl unangenehm, morgens zusehen zu müssen, wie ich meine Brotzigarren lutschte, er hätte mich gern auf seine Seite gezogen.

Mittags zählten wir die Speckstückchen. Wer hat die meisten? Sechs Stück war Rekord.

«Ihr wascht doch wohl eure Schüsseln nicht etwa aus?»

Manfred wollte beobachtet haben, daß die Posten vor der Essenausgabe das Fett von der Suppe schöpften und tranken.

Beim Suppeessen wollte jeder der letzte sein. Das war ein stiller, erbitterter Kampf. Nur nicht als erster fertig sein und dann zusehen müssen, wie die andern essen.

Hauptgesprächsthemen bei dieser Hungerei: wie man eine Mehlschwitze macht, Herstellung von Blätterteig, Schokoladenmarken.

«Mir ist schon ganz schwindelig.»

Beim Aufstehen das berühmte Fahrstuhlfahren, da wurde einem schwarz vor Augen.

Er könne nicht singen, sagte Manfred, aber es mache ihm Spaß.

Ausgerechnet du bist mein Typ,ausgerechnet dich hab ich lieb,ausgerechnet du mußt das sein,sage mir, wie kommt das nu-hu-hur?

Das regte Günther zum Mitmachen an. Sobald Manfred sang, tat er es auch, und genauso falsch.

Kleine Stadt will schlafen gehn,die Lichter löschen aus …

Eine Weile sangen sie gegeneinander, dann gaben sie es auf.

Genauso war es mit dem Hinundherlaufen. Kaum drehte einer seine Runden, dann sprang auch der andere auf.

Man konnte darauf warten.

Wenn sie sich begegneten, mußte jedesmal einer zur Seite treten und den anderen durchlassen.

Nach dem Essen meditierte Manfred.

Ein Bein hochgezogen, Russenmantel über der Schulter.

Das hätte einen Holzschnitt abgegeben. ‹Mann mit Gitter und Krug›.

Einmal war er wütend auf mich. Ich hatte ihn vor dem Posten gewarnt.

Ich könne ihm schon glauben, daß ein alter Fuchs wie er ständig mit einem Auge nach dem Spion schielt. Außerdem seien seine Sinne durch die lange Haft dermaßen geschärft, wie ich mir das mit meinen zwei jämmerlichen Monaten nicht vorstellen könnte.

Es gab öfter Streit. Die Anlässe waren belanglos. Ob Triumph oder Sarotti die bessere Schokolade sei. Daß ich einmal das Wort«Igelit» beim Rätselmachen verwendete, rechnete er mir hoch an.

Im Mai wurde die Zelle frisch geweißt. Alles futsch: Silhouetten, Stuka, Uhrzeitstriche.

«Jetzt wollen wir aber die Wände sauberhalten und nicht gleich wieder alles vollschmieren.»

Kurz darauf wurden wir wieder einmal zum Spaziergang hinausgelassen.«Dawei! dawei!» Es war das zweite Mal in den zwei Monaten.

Nun armes Herz vergiß der Qual!Nun muß sich alles, alles wenden.

Manfred wedelte vogelscheuchenartig mit den Armen. Wir sahen ihm zu – der Posten, Günther und ich.

Speckdüfte aus der Küche.

Nach zwanzig Minuten durften wir endlich wieder rein. Wir waren so schwach, daß wir uns am Treppengeländer hinaufzogen.

In der Nacht wurde ich geholt.

Ein fremder Offizier stellte mir Bratkartoffeln und eine Salzgurke unter die Nase. Er sei mein Freund, sagte er, und: «Kopf hoch!» Und dann befragte er mich über meine Zellenkameraden.

Ich konnte nicht widerstehen und erzählte ein paar Kleinigkeiten, von denen ich wußte, daß sie den Sowjets schon bekannt waren.

Am nächsten Tag schwammen unverdaute Gurkenstücke im Kübel.

Mitte Mai hatte Manfred Tribunal. Er wusch sich vorher von Kopf bis Fuß und klopfte seine Hose aus: einen anständigen Eindruck machen wollte er.

Sage mir, wie kommt das nu-hu-hur?

Dann wurde er rausgeschlossen, mit allen Sachen: «Schnöll! schnöll!» Alles Gute und auf Wiedersehen.

Ich hatte ihn ziemlich satt.

Günther sah mich an, als müsse er um Verzeihung bitten. Ein solcher Dummerjan wie er mit mir allein auf der Zelle …

Ob’s im Arbeitslager auch mal dicke Nudeln gäbe? wollte er wissen.

Oder Grieß mit ausgelassener Butter?

In der Nacht ging ein starkes Gewitter nieder. Günther stellte sich in die Türnische.

Ich machte ihm mit Kugelblitzen angst: «Die gehen auch durch dieses Gitter hier.»

Vom Waschen hielt er nichts. Er nuddelte sich ab. Wenn er merkte, daß ich ihm zuschaute, lachte er. Aber sein Lachen war muffig, das kam von den ungeputzten Zähnen.

(Diese Sorte brachte Marmeladenbrote mit in die Schule.)

«Kannst du mir Lateinisch lernen?» fragte er. Radix, die Wurzel. Als Drogist könne er das gebrauchen.

Ich fing mit amare an, doch er schmiß alles durcheinander.

Um Mitternacht stand plötzlich ein Neuer in der Zelle.

«Bist du ein Geist?» fragte ich ihn.

Er heiße Fritz Schwaan, sagte er, und sei Medizinstudent. Ein Geist sei er nicht.

Am nächsten Morgen stellte ich den Wasserpott zwischen unsere Strohsacksessel und deckte ein Handtuch darüber. Die Sonne schien in die Zelle. Nun fehlte bloß noch eine Vase.

Ermattet ruhn der Hirt und seine Schafe,die Ente träumt im Binsenkraut,die Ringelnatter sonnt in trägem Schlafeunregbar ihre Tigerhaut.

Draußen spielten Kinder. «Ich fahr noch einmal um ’n Block!»

Wenn er bloß was gemacht hätte, jammerte Fritz Schwaan vor sich hin.

Zufällig habe er bei seiner Tante gesessen, als die Russen kamen und sie verhafteten. Sie hätten ihn da sitzen sehen und gleich mitgenommen.

Seine Tante habe immer so guten Kuchen gebacken. Altdeutschen Topfkuchen mit Rosinen. Den schmecke er noch auf der Zunge.

Er gestand mir, daß er mich für verrückt gehalten habe, weil ich gefragt hatte: «Bist du ein Geist …»

Mein Gott, hätte er gedacht, auch das noch! Nun sperren sie dich zu einem Verrückten.

Ob mir schon mal einer abgegangen sei. Er, für sein Teil, habe sich draußen noch ganz schön ausgetobt.

Er hielt uns einen Vortrag über die Verdauung.

Die Verdauung, sagte er, beginne bereits im Mund. Alle Nahrungsmittel könne man übrigens auch von hinten zu sich nehmen.

Sicher sei, daß wir bei dieser Verpflegung mit bleibenden Schäden zu rechnen hätten. Ihm sei ein Rätsel, woher wir allein die täglichen sieben Gramm Fett fürs Auge nehmen sollten.

Das Brot genoß er. «Schmeckt es nicht wie Kuchen?»

Mit dem Kauen nahm er es genau. Zweiunddreißigmal und mehr, er ging auf Nummer Sicher.

Den Kaffee trank er im Stehen, wischte sich mit dem Handrücken die Nase.

«So müßte uns hier mal einer sehen.»

Daß ich Manfreds System übernommen hatte und meinen Kanten in die Suppe brockte, verdroß ihn.

«Das muß doch ganz sauer schmecken», sagte er.

Draußen werde er sich mal ein frisches Schwarzbrot kaufen, der Länge nach durchschneiden und mit Butter bestreichen. Dann würde er sich in eine Ecke setzen und alles in Ruhe verdrücken.

Er war grau vor Sauberkeit. Seine Morgenwäsche war sehenswert.

Auf dem Kübel hatte er lange mit dem Abwischen zu tun. Das Geräusch war schwer zu ertragen.

Bei seiner Tante im Garten hätten die Obstbäume gerade geblüht.

Wenn er wenigstens was gemacht hätte!

Das sei doch ein schönes Gedicht:

Seltsam im Nebel zu wandern!Einsam steht jeder Busch und Stein …

Voll von Freunden war mir die Welt,Als noch mein Leben licht war,Nun, da der Nebel fällt,Ist keiner mehr sichtbar.

Mir gefiel es auch, und ich lernte es.

Es ärgerte ihn, daß ich immer «Jetzt, wo der Nebel fällt …» sagte, statt «Nun, da …» Ich hätte eben keinerlei Sprachgefühl, sagte er. Damit müsse ich mich abfinden.

Ich kannte ein paar Gedichte von Christian Morgenstern, die brachte ich ihm bei, als Gegenleistung für das Nebelgedicht.

Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eisund träumte von Liebe und Freude …

Anschließend große Diskussion über Morgenstern, Ringelnatz und Wilhelm Busch: wer der beste sei.

Ob er nicht auch ein Gedicht wüßte, fragten wir Günther.«Ja», sagte er, ‹Lütt Matten de Haas›.

Lütt Matten de Haas,de mäkt sick een Spaß …

«Ja, ja», sagte Fritz, «der Reuter!»

Das Gedicht sei nicht von Fritz Reuter, sagte ich. Es sei von Klaus Groth.

Das wär ja das Allerneueste! Ihm sei schon längst aufgefallen, daß ich ein Idiot sei. Außerdem sei ihm nicht entgangen, daß ich mit Günther unter einer Decke steckte und ihm immer einen Vogel zeigte.

Über Manfreds Schreiberfindung staunte er. Er habe ja wie im Mittelalter gelebt! Darauf hätte man doch auch selbst kommen können!

Er rieb die Schüssel sorgfältig ein. Dann saß er nachdenklich davor und wußte nicht, was er schreiben sollte.

Die Nächte waren endlos. Vom vielen Sitzen wurde einem der Hintern taub.

Er könne verstehen, sagte Fritz, daß Häftlinge, deren Fall noch nicht abgeschlossen sei, bis Mitternacht wachen müßten. Aber wir? Uns sollte man doch pennen lassen, das wär doch die reinste Schikane …

Wenn er bloß was gemacht hätte!

Ein Posten, den wir «Tiger» nannten, erwischte ihn beim Schlafen. Er sollte sich eine Stunde in die Tür knien.

«Wie soll ich denn merken, wann die Stunde rum ist?» sagte er. Hoffentlich gebe der Posten rechtzeitig Bescheid.

Er fing an zu stöhnen und zu ächzen. Ich massierte ihm den Nacken.

Einmal hätten sie ihn fast rausgelassen, das war seine beste Repertoire-Erzählung. Er hatte schon am Tor gestanden, den Zettel in der Hand. Hatte sich Gedanken gemacht, wie er so spät in der Nacht nach Hause kommen könnte.

Aber es war eine Namenverwechslung gewesen, und er war zurückgeschickt worden.

Wenn er wenigstens was gemacht hätte!

Ende Mai hatten wir wieder einmal Spaziergang. Ich wär am liebsten auf der Zelle geblieben.

Fritz breitete die Arme aus und ließ sich ganz von ultravioletten Strahlen durchdringen.

Von der Küche her Speckdünste. Die Rüben fehlten neuerdings. Dafür wurde Kopfsalat in die Suppe getan.

Als wir auf unsere Zelle wankten, schenkte uns «Pockennarbe» einen Kanten Brot. Das hatte es noch nie gegeben.

Er guckte durch den Spion, was wir wohl dazu sagten.

Um ihm eine Freude zu machen, schlugen wir uns auf die Schultern und gingen grinsend auf und ab.

Zwischendurch wurde Fritz mal wieder zum Verhör geholt. «Die wollten noch was wissen», sagte er.

Am nächsten Tag schwammen Gurkenstückchen im Kübel.

Dann wurde er verlegt. «Dawei! dawei!» Für ihn kam ein Mann namens Schorsch Seefeldt auf unsere Zelle. Ungleichmäßiges Gesicht, Bartwuchs wie Rinaldo Rinaldini.

Schorsch war Berliner: Schlesischer Bahnhof, Wohnküche mit Ausblick auf die Stadtbahn, Wäsche überm Herd. Als Kind hatte er mit seiner Schwester in einem Bett schlafen müssen. Das Jüngste lag bei Muttern.

Wenn er mal irgendwo einen Groschen ergatterte, kaufte er sich ein Viertel Jagdwurst auf die Faust. Mit Knoblauch, «weißde».

Er war Schuhmacher von Beruf. Ich sollte nicht «Schuster» sagen, das gehöre sich nicht. Das wäre genauso, als wenn er zu meinem Vater Dampfschiffskapitän statt Reeder sagte.

Er lobte meine Schuhe. Baujahr 1934, Antilopenleder.

«Was hast du bloß für kleine Füße», sagte er und nahm sie in die Hand wie eine Scholle.

Von Zeit zu Zeit repetierte er das im Arbeiter-Bildungsverein erworbene Wissen.

«Südamerika geht in Afrika rein …»

Ich war vom Hunger so geschwächt, daß ich nur noch vor mich hin dämmerte. Einmal raffte ich mich aber doch auf und sagte, die Erde sei früher ein glühender Gasball gewesen. Da staunte er und sagte: «Du wirst bestimmt noch mal Professor.»

Seine Scheiße roch nach Pfefferkuchen. Solche Blöcke hatte ich noch nie gesehen. Ich konnte es zuerst nicht glauben. Als balle sich alles zu Fäusten in ihm.

Anfang Juli wurde ich wieder mal verlegt.

Einen alten ausgelaugten Mann fand ich vor, der behauptete, Filmoperateur gewesen zu sein. Er sah aus wie Sigismund Rüstig. Er sei in Finnland geboren und habe sich in der Nazi-Zeit dummerweise naturalisieren lassen. Aus Begeisterung für Deutschland. Ob ich das verstünde? Und nun sitze er hier …

Aber noch einmal kriegten sie ihn nicht, das sollte ich ihm man glauben.

Seine Söhne hatten mit den Russen gemeinsame Sache gemacht. Und die Frau auch …

Schon bei den Nazis hatte er gesessen. Er und andere Gefangene hatten in Berlin mit Ketten gefesselt durch die Straßen gehen müssen.

Die Polizisten hatten sich gegenseitig korrigiert: «Geh du mal ’n bißchen weiter links!»

Die Bevölkerung habe gelacht: Hähä!

Zu Hause habe er sich einen Geheimgang mit Waffen und Lebensmitteln angelegt, sagte er und zog die Hose hoch; im Stiefelschaft stets eine Sieben-Komma-Fünf. Erdaufschüttungen bis unters Dach, Schießscharten, Ausschlupf in Richtung Wald.

Plötzlich nahm er mich beim Arm und flüsterte: Seine Zahl sei die Dreizehn. In den Glühfäden der Birne, in den Schmutzflecken des Strohsacks – überall sehe er die Dreizehn.

Das müßte doch eigentlich Glück bringen, was? Ich sollte mal selbst sagen …

Dann lief er, undeutlich vor sich hin singend und Hände reibend, auf und ab, als ob er sich über irgend etwas diebisch freute.

Weshalb er sitze, fragte ich ihn.

«Ach was», antwortete er, «das ist doch ganz egal.»

Nach dem Essen erbrach er die Suppe wieder und wieder in den Mund, ein menschlicher Wiederkäuer. Die Zelle roch säuerlich. Wenn ich auf dem Kübel gewesen war, ging er hinterher nachgucken. Unbedingt wollte er wissen, ob ich bei der Vernehmung geschlagen worden sei.

Im Mantelsaum verwahrte er Kochrezepte. Die wollte er seiner Frau mitbringen. Kaum hatte ich ihm was von gebratenen Rübenschnitzeln erzählt, griff er zum Bleistift.

Da wurde es vor der Tür lebendig. Das Schloß ratschte, ein Posten sprang herein: «Was du da machen?»

Der Alte wich zurück und schoß zu seiner Rettung russische Wortsalven ab. Ich stand wie ein Musterknabe daneben.

«Du Karzer», sagte der Posten und nahm ihn mit.

Nach drei Tagen kam er schlotternd zurück. In mein Plaid gewickelt, lief er auf und ab.

Ah! Diese Kälte! … Und die Nässe! Jetzt bekomme er bestimmt Rheuma.

Sie hätten ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet und das Fenster geöffnet. Ob’s so gut sei, hätten sie gefragt. Oh, das sollten sie ihm büßen, diese Schweine. Ich sollte doch mal selbst sagen …

«Diese Schweine, diese Schweine …»

Wenn er später einmal seinen Untersuchungsrichter in die Hand bekäme, würde er ihn kneifen und fragen: Na, tut’s weh?

Bald kriegten wir Zuwachs, einen jungen Mann. Kaum war er auf der Zelle, da schlug er seinen langen Militärmantel auseinander und klemmte den Handfeger zwischen die Beine.

Ich dachte schon, er sei vom Hexenwahn besessen. Nein, er hätte Hämorrhoiden (eine Krankheit, von der ich bis dahin nur wußte, daß sie merkwürdig geschrieben wird).

Dann probierte er, ob er besser so sitzt oder so.