Schöne Aussicht - Walter Kempowski - E-Book

Schöne Aussicht E-Book

Walter Kempowski

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Beschreibung

Die Familie Kempowski in den zwanziger Jahren und in den Anfängen des Hitlerreichs

Karl Kempowski und seine junge Frau Grethe haben nach Ende des Ersten Weltkriegs in Rostock keinen leichten Start. Sie müssen auf eine bürgerliche Villa verzichten und sich im Arbeiterviertel einmieten. Der kleinen väterlichen Reederei setzt die wirtschaftliche Depression schwer zu. Drei Kinder werden geboren, unter ihnen auch der Autor. Seine Schulzeit fällt in die Jahre, in denen Deutschlands Verhängnis seinen Anfang nimmt. Von dieser Familie und allen, die ihren Weg kreuzen, erzählt Walter Kempowski mit der Genauigkeit, dem Humor und der leichten Ironie, wie sie nur ihm eigen sind.

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Seitenzahl: 729

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Über das Buch:

Karl Kempowski und seine junge Frau Grethe lernen sich 1913 in der Sommerfrische an der Ostsee kennen. Ihr junges Glück wird vom Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen. Doch sie haben Glück – Karl überlebt seinen Einsatz an der Front. Doch auch nach dem Ende des Kriegs haben die beiden keinen leichten Start in Rostock. Sie müssen auf bürgerliche Villenvornehmheit verzichten und sich im Arbeiterviertel einmieten; der kleinen väterlichen Reederei setzt die wirtschaftliche Depression schwer zu. Drei Kinder werden geboren, unter ihnen auch der Autor; ihre Schulzeit fällt in die Jahre, in denen Deutschlands Verhängnis seinen Anfang nimmt. Von dieser Familie und allen, die ihren Weg kreuzen, erzählt Walter Kempowski mit der Genauigkeit, dem Humor und der leichten Ironie, wie sie nur ihm eigen sind. Der Roman „Schöne Aussicht“ ist Teil der sogenannten „Deutschen Chronik“ von Walter Kempowski.

Über den Autor:

Walter Kempowski, geboren am 29. April 1929 in Rostock, starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Einem breiten Publikum bekannt wurde er durch seinen Roman „Tadellöser & Wolff“, der auch verfilmt wurde. Seine monumentale Collage „Das Echolot“ war 1993 eine literarische Sensation und fand zwölf Jahre später mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes, der die Bestsellerliste stürmte, ihren krönenden Abschluss. Der letzte zu Lebzeiten des Autors veröffentlichte Roman „Alles umsonst“ brachte Walter Kempowski auch internationale Anerkennung.

Walter KempowskiSchöne Aussicht Roman

Alles frei erfunden, auch die Namen. Ähnlichkeiten sind zufällig.

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Copyright © 1981, 2016 beim Albrecht Knaus Verlag, München

 in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Inhaltsverzeichnis

CopyrightWidmungI. Teil
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5
II. Teil
Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9
III. Teil
Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15
EPILOG
Werkverzeichnis

I. Teil

Es war ein Sonntagabend, und da hieß es plötzlich: Flottenalarm! Die ganze Flotte lag ja im Hafen, und eine Stunde lang heulten alle Schiffssirenen, ohrenbetäubend. Und dann zogen die Matrosen Arm in Arm durch die Stadt, und alles, was sie an Signalmunition hatten, rot, grün, weiß, das schossen sie in die Luft. Die Marine war Wilhelms Lieblingskind, und ausgerechnet die hat die Revolution angefangen.

A.D.

Wir hatten Angst vor den Kommunisten, weil wir die Berichte aus Rußland von 1917 gehört hatten. Das muß ja schrecklich gewesen sein! Und deshalb waren wir gegen diese Leute.

C. L.

»Morgen braucht ihr nicht zur Schule zu kommen«, hieß es im November 1918. Man befürchtete, es gebe irgendwelche Unruhen. Es hieß: »Wenn es irgendwelche Straßensachen gibt, dann bleibt ihr zu Hause.«

M. N.

Ein Lehrer kam herein und sagte: »Die Schule fällt aus, ihr geht jetzt nach Hause.«

Wir haben dann einen großen Umweg gemacht. Der nächste Weg wäre über die Kaiserbrücke gewesen, aber die stand unter Feuer. Wir schlichen uns also zu der allerletzten Brücke, das war eine Eisenbahnbrücke, und dann liefen wir schnell hinüber.

R.K.

Ich bin auf der Kavalleriestraße Rollschuh gelaufen. Da hörte ich Schüsse und lief angstvoll zu meiner Freundin ins Haus.

R.Sch.

Ein Trupp Soldaten zog durch die Straße, Matrosen und Feldgraue, jeder trug das Gewehr, wie’s ihm gefiel.

Vor unserm Haus stand ein einzelner Soldat und guckte sich das an, wie die da vorübermarschierten. Da lösten sich zwei aus dem Trupp, schnitten ihm die Achselklappen ab und marschierten weiter. Das ging in größter Ruhe vor sich, und der Soldat war ganz einverstanden damit.

S.R.

Fünfzig Meter von unserm Haus entfernt bauten die »Gerstenberger« ihre Kanonen auf. (Das waren Soldaten, die aus dem Westen kamen.) Die Kommunisten erwiderten das Feuer mit Maschinengewehren, und ein Pferd der Artilleristen bekam einen Schuß ins Bein. Mein Vater war Arzt. Der hat das Tier operiert und verbunden.

L.Z.

Läden wurden geplündert. Zum Beispiel Kunella am Gertrudenplatz. Polizei und Feuerwehr waren schnell zur Stelle. Die Plünderer, meist Frauen, hatten die Schürzen vollgepackt mit Eiern, Margarine und so weiter. Die Feuerwehr setzte ihre Spritzen ein, alle verloren ihren Raub: Die Straße war kaum noch begehbar.

R.S.

Nach der Revolution kamen die heimkehrenden Truppen auf dem Güterbahnhof an. Wir Schüler standen am Fenster, auch die Lehrer, und in der Pause liefen wir runter zum Zug, aber die Soldaten waren alle weg. Vor den Schiebetüren der Waggons hingen Gardinen, und innen drin standen Betten mit Kissen und Plumeaus. Überall standen offne Kisten mit Handgranaten, Gewehr- und Revolvermunition. Wir stopften uns die Taschen voll. Später machten wir Unsinn damit.

R. St.

Es hieß: drei Wochen Behördenschluß. Mein Vater war Stadtbauinspektor und dachte, er würde entlassen oder so was, aber nach drei Wochen ging alles normal weiter. Ohne Beamte kann kein Staat auskommen.

P.T.

Die Nachkriegszeit war traurig. Ich ging immer durch das Alte Rathaus zur Arbeit. Da standen die Wohltätigkeitsempfänger Schlange. Ach, war das ein Elend! Und dann die dicken Bonzen, die denen dann die Wohltätigkeitsgelder hinschmissen …

Ich war noch jung, aber das hab’ ich wohl gemerkt.

W.Ö.

1

Die Borwinstraße in Rostock hat ihren Namen von Burwin II., einem Wendenfürsten. Im 13. Jahrhundert sorgte er dafür, daß »Rostock viele ansehnliche Gebäude erhielt«, wie in einer Chronik steht. Die Borwinstraße ist allerdings keinesfalls ansehnlich, sie ist eine sogenannte Arbeiterstraße und liegt in der Werftgegend. Sie grenzt an die Niklotstraße, die auch nach einem Wendenfürsten benannt wurde, nach Niklot dem Kind. In ihr wohnen ebenfalls Arbeiter, die tagsüber in der Werft hämmern und sägen, was zu hören ist; Arbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende.

In diesem Stadtteil sind die Häuser durchweg viergeschossig und wie mit Lehm verstrichen, ganz ohne jeden Schmuck. Eins ist wie das andere: Straßenbäume decken die Armseligkeit notdürftig zu.

Schwaan im Blauband frisch gekirnt

In jedem sechsten Haus ist das Parterre zu einem Kolonialwarenladen ausgebaut, dessen Besitzer von den Menschen lebt, die hier wohnen. An den Ecken der Häuserblocks befinden sich Kneipen oder Friseure oder Zigarettenläden. Einmal die Woche kommt hier noch der Tönnchenwagen der städtischen Rieselfelder.

Hunde pinkeln an die Häuser, und Jungen schreiben mit Kreide auf das Trottoir: »Erna ist doof.« Sie essen Schmalzbrote und haben schmutzige, abgeschrammte Knie, und aus der Hosentasche hängt ihnen ein sogenannter »Herkules«, eine Gummizwille also, mit der sie Kinder anderer Straßen beschießen. Manchmal geht dabei auch eine Laterne zu Bruch, was die Straße von Kindern augenblicklich leerfegt. Die Hunde laufen hinterher.

Die Kirche, die inmitten dieser Häuser steht, heißt Heilig-Geist-Kirche; sie ist eine evangelische Kirche, und sie wurde 1904 von einem katholischen Architekten erbaut und gar nicht mal so schlecht. Glasierte Ziegel wurden verwendet, und mit Zierat wurde nicht gespart. Sie ist übrigens größer, als man denkt. Geschickt eingebaute Emporen ermöglichen an hohen Festtagen die Unterbringung einer großen Zahl von Gläubigen, ohne daß bei schwächerem Besuch der Anblick unerfreulicher Leere entsteht. Von draußen sieht es so aus, als sei sie mit einem Kreuzschiff versehen, von drinnen hatman eher den Eindruck, in einem Rundbau zu sitzen: wenn man schon mal drinsitzt.

Der Pfarrer, der hier zuständig ist, heißt Straatmann, der läßt nichts unversucht: Plattdeutsch predigt er zu festgesetzten Zeiten, und die Taubstummensprache kennt er auch. Viel ist er unterwegs in dieser etwas schwierigen Gegend. Mit einer Bratpfanne hat man ihn schon mal geschlagen, und seine Tür hat man mit Kot beschmiert. Oft sitzen verweinte Frauen in seinem Arbeitszimmer, und ständig hat er einen Schüler bei sich, den er weiterbringen will, weil er erkannt hat, in diesem Bengel steckt was, der muß aufsteigen aus dem Sumpf, der muß studieren.

Utinam, mit dem Konjunktiv: O daß doch! Wenn doch…

Latein bringt er ihm bei und Mathematik, und bei den Lehrern läßt er sich sehen, mit seinem freien Blick, öfter als denen lieb ist.

In diesem Stadtteil, in der Werftgegend also, in dem die Bewohner auf spiegelblanke Treppenhäuser Wert legenauf jedem Treppenabsatz steht ein Gummibaum–, findet Karl Kempowski, dieser schmächtige junge Mann mit der goldenen Brille, nach längerem Suchen für sich und seine junge Frau eine winzige Dreizimmerwohnung.

Sein Vater hatte beim Wohnungsamt nichts ausrichten können, die Beziehungen hatten versagt, der rechte Kontakt zu den neuen Leuten im Rathaus war noch nicht wieder hergestellt.

»Wir können uns auch keine Wohnung aus den Rippen schneiden für Ihren Herrn Sohn«, war gesagt worden, und es war hingewiesen worden auf den verlorenen Krieg, in dem es die Herrschaften ja vorgezogen hatten, Kanonen herzustellen, mit denen man Wohnungen zerschießen kann. »Akkenkunnig« habe man Karl Kempowskis Wohnungswünsche gemacht, das hatte man gesagt, »akkenkunnig«, immerhin, doch dabei blieb’s.

Es war noch nicht einmal gelungen, in einer der drei eigenen, im Krieg erworbenen, sehr komfortablen Villen Platz zu schaffen für den Sohn, weder in der »Lo-ig-ny«-straße– wie die Rostocker sagen– noch in der Orleansstraße, geschweige denn am Schillerplatz, dieser vornehmen Grünanlage. Man sah sich nicht in der Lage, die Leute, die jetzt dort wohnten, auf die Straße zu setzen. »Mieterschutz« verhinderte das.

»Eigentlich ja unerhört.«

Die Kempowskis hätten auch die Wohnung in der Borwinstraße nicht bekommen: »Zu groß« für ein jungverheiratetes Paar, wenn der Hauswirt nicht gutgesagt hätte für sie; Schlossermeister Franz, ein ehemaliger 210er, Feldwebel in Karls Nachbarkompanie vor Ypern und Inhaber eines phantastischen Schnurrbarts. Der hatte sein SPD-Mitgliedsbuch gezückt und hatte der Stadträtin Bultmann Bescheid gesagt, daß der junge Herr Kempowski vier Jahre lang »vorn« gewesen wär’ und sich immer anständig benommen hätt’. Auf den Tisch hatte er geklopft, und laut war er geworden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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