Aus großer Zeit - Walter Kempowski - E-Book

Aus großer Zeit E-Book

Walter Kempowski

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Beschreibung

Der wohlhabende Rostocker Reeder Robert William Kempowski hat ein stattliches Haus, zwei Dampfer und zwei Kinder. 1913 lernt Sohn Karl an der Ostsee Grethe de Bonsac kennen, deren Familie von anderer Art ist als die des jungen Mannes: ordentlich und fromm. Zwischen Grethe und Karl entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die vom Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen wird.

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Seitenzahl: 602

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Über das Buch:

Der wohlhabende Rostocker Reeder Robert William Kempowski, einst aus Ostpreußen nach Mecklenburg gekommen, besitzt ein stattliches Haus, zwei Dampfer und zwei Kinder, die gutbürgerlicher Tradition entsprechend Tennis und Klavier spielend heranwachsen. In der Ehe arrangiert man sich: Anna hat ihren "Jour fixe" und einen Tenor vom Stadttheater zum Hausfreund; er wiederum pflegt seine kleinen Liebschaften auch dann noch, als er schon krank und an den Rollstuhl gefesselt ist. 1913 lernt Sohn Karl in der Sommerfrische an der Ostsee Grethe de Bonsac kennen, deren Familie aus dem preußischen Wandsbek von anderer Art ist als die des jungen Mannes: ordentlich und fromm. Zwischen Grethe und Karl entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die vom Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen wird. Karl geht als Freiwilliger an die Front und erlebt das "Stahlbad" bis zu seinem bitteren Ende; Grethe dient dem Vaterland in einem Kinderhort. Der Roman „Aus großer Zeit“ ist Teil der sogenannten „Deutschen Chronik“ von Walter Kempowski.

Über den Autor:

Walter Kempowski, geboren am 29. April 1929 in Rostock, starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Einem breiten Publikum bekannt wurde er durch seinen Roman „Tadellöser & Wolff“, der auch verfilmt wurde. Seine monumentale Collage „Das Echolot“ war 1993 eine literarische Sensation und fand zwölf Jahre später mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes, der die Bestsellerliste stürmte, ihren krönenden Abschluss. Der letzte zu Lebzeiten des Autors veröffentlichte Roman „Alles umsonst“ brachte Walter Kempowski auch internationale Anerkennung. 

Walter KempowskiAus großer Zeit Roman

Albrecht Knaus Verlag

Copyright © 1978, 2016 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team

ISBN 978-3-641-06067-1V001

So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.

Jeremia 29, 13

Inhaltsverzeichnis

CopyrightWidmungBILDERI. Teil
Kapitel 1Kapitel 2 - DIE NACHBARINKapitel 3Kapitel 4 - DIE WIRTSCHAFTERINKapitel 5Kapitel 6 - EIN SCHULFREUNDKapitel 7Kapitel 8 - JUNGES BLUTKapitel 9Kapitel 10 - EIN ANDERER SCHULFREUNDKapitel 11Kapitel 12 - NOCH EIN SCHULFREUNDKapitel 13Kapitel 14 - DIE SCHNEIDERINKapitel 15Kapitel 16 - DER HAUSFREUNDKapitel 17
II. Teil
Kapitel 18Kapitel 19 - DIE TANTEKapitel 20Kapitel 21 - RICHARDKapitel 22Kapitel 23 - SCHWESTER LOTTIKapitel 24Kapitel 25 - DIE FREUNDINKapitel 26Kapitel 27 - SCHWESTER HERTHAKapitel 28
III. Teil
Kapitel 29Kapitel 30 - EIN FREUNDKapitel 31Kapitel 32Kapitel 33 - EIN KAMERADKapitel 34Kapitel 35Kapitel 36 - DIE FREUNDINKapitel 37Kapitel 38Kapitel 39 - DER KAMERADKapitel 40Kapitel 41Kapitel 42 - DIE FREUNDINKapitel 43Kapitel 44Kapitel 45 - DIE WIRTSCHAFTERINKapitel 46Kapitel 47
EPILOG
Werkverzeichnis
BILDER

Drei Bilder von Rostock hängen über meinem Schreibtisch: Eine Radierung, ein Öldruck und ein Photo.

Auf der Radierung sind die Häuser dicht an die Kirchen gedrückt. ROSTOCHIUM steht in den Wolken: ROSTOCHIUM URBS VANDALICA ET MEGAPOLITANA. Links und rechts daneben geflügelte Löwen mit Adlerschnäbeln: »Anno 1620«. Die Stadt liegt an einem Fluß, der Warnow, auf dem zahlreiche Segelschiffe ankern, Fischer fischen und sogar zwei Schwäne schwimmen.

Im Vordergrund des Bildes stehen Kaufleute. Sie tragen enganliegende Beinkleider und eine Halskrause unterm Knebelbart. Die Kaufleute weisen stumm auf ihre Stadt: Es sind böse Zeiten. Wegen der Teuerung hat man besondere Gesetze erlassen müssen, daß die Käufer den Bauern nicht entgegengehen zum Beispiel und vielleicht schon auf dem Feld das Korn aufkaufen. Erst auf dem Markt darf angeboten werden, in freier Konkurrenz.

Neben den Männern, die da stumm auf ihre Stadt zeigen, stehen die Frauen in ihren langen, mit Spitzen besetzten Kleiderpyramiden. Hohe geschlitzte Puffärmel tragen sie und aufgestellte Kragen: Fein ausgewalzter Roggenmehlteig in siedendes Fett geworfen, das ist sattmachend und billig in dieser Hungerszeit.

Von einem Hündchen verbellt, streben Landsknechte mit Trommeln und Spießen der Stadt zu. Sind es heimkehrende Wächter, oder ist es die Vorhut des unerwünschten Landesherrn? Oder sind es gar die so verhaßten Dänen? Lange Federn haben sie am Hut, und zwischen den Puffbeinen tragen sie einen Ledersack, der gar nicht groß genug ausfallen kann.

Rostock: eine Mauer ist wie ein Band um diese Stadt geschlungen, einmal rundherum; sie hält die Stadt zusammen.

Von dreiundzwanzig Toren ist die Mauer durchbrochen, kleinen Giebeltoren und großen Turmtoren, baufälligen und prächtigen: Durch diese Tore atmet die Stadt.

Sit intra te concordia et publica felicitas.

Das steht am Steintor, und das ist ein Wunsch, der wohl von Herzen kommt.

Wie alle Tore, so gibt sich auch das Steintor zur Stadtseite hin prächtig, zur Landseite ganz ohne Schmuck. Es ist mit Vortoren versehen und mit einem riesigen Zwinger. Abends lassen die Wachen krachend das Fallgatter herunter. Wer sich verspätet hat, muß im »Weißen Kreuz« Unterschlupf suchen oder auf den Wällen schlafen, wo ihn Eulen schrecken und verwilderte Hunde.

Zahlreiche Türme und Türmchen fügen sich in die Mauer oder hocken auf ihr. Sie dienen den verschiedensten Zwecken: Der Lagebuschturm dient dem Einkerkern von Übeltätern, in die Wand sind Ketten eingemauert, vier Schilling kostet das Einschließen und vier Schilling das Wiederausschließen, wenn es soweit ist. Der Vater darf kommen oder die Frau und Brot bringen oder Bier oder Stroh.

Der Blaue Turm dient zum Aufbewahren von Waffen, von Hellebarden der verschiedensten Machart, von Armbrusten und Morgensternen. Viertausend waffenfähige Männer gibt es in der Stadt.

Rostochienses Sunt velut enses Semper acuti Proelia poscunt Ensibus uti.

»Rostocks Bewohner sind wie die Schwerter allezeit schneidig. Sie verstehen zu kämpfen, und ihre Schwerter zu nutzen.« So wird das übersetzt.

Einer der Türme hat eine Windmühle auf dem flachen Dach, das ist die Wasserkunst, die für die Verteilung des Wassers sorgt, das insbesondere die Brauer dieser Stadt benötigen.

Vier große Kirchen sind zu zählen, neben anderen kleineren. In ihnen flackern Kerzen vor geschnitzten Altären. Diese Kerzen beleben durch ihr Schattenspiel die vergoldeten Märtyrer, denen Räder beigegeben sind, Gitter und Sägen: das Marterwerkzeug, dem sie standhielten. Beter knien vor ihnen, in jämmerlicher Klage: Warum gerade ich? Warum gerade ich? Und in der Tiefe der Halle, umschlossen von huschender Finsternis, ein hageres Weib: noch gibt es Hoffnung, noch ist nichts verloren.

Linker Hand die Petrikirche, die kleinste der Kirchen, mit dem höchsten, etwas windschief gebuckelten Turm. Er dient den Seeleuten, draußen auf der Ostsee, als Landmarke, wenn sie aus Reval kommen und Felle bringen oder aus Südkarelien Holz.

Buden und Katen hat St. Petri um sich versammelt. Frauen liegen in den Fenstern und sehen den Knaben zu, die sich da prügeln. Ein Hund hüpft die Stufen zur Kirche hinauf und pinkelt ans Portal. Die Menschen, die in den Buden wohnen, haben nicht einmal ein eigenes Bett. Und doch sind sie noch besser dran als jene, die in den Kellern hausen, ohne Licht und ohne Ofen.

Rechts neben St. Petri, etwas zurückliegend, das ist die Nikolaikirche mit dem silbernen Nikolaus im Oktogon, dem Schutzpatron der Fischer. Zu dem wird gebetet, wenn die Heringe ausbleiben oder die Makrelen. Dem wird gedankt, wenn der Mast brach und das Boot doch noch nach Hause fand.

Der hohe Turm ist eingestürzt nun schon zum zweitenmal; den Küster hat die Glocke erschlagen. Die Trümmer wurden nach Warnemünde geschafft für eine Befestigung gegen die Dänen, die immer keine Ruhe geben.

In der Mitte meines Bildes liegt die Marienkirche, ein Ungetüm mit gewaltigem Westwerk, groß genug, um drei Türme zu tragen, oben jedoch rasch und behelfsmäßig mit einem Helmchen abgeschlossen: Die Kraft reichte nicht, das Werk zu vollenden, die Ablaßeinkünfte versiegten und die Spenden auch.

Hauptanziehungspunkt für Fremde ist die große Muttergottes. Ihr Kopf ist hohl und mit Wasser gefüllt, in ihm schwimmen kleine Fische. Wenn die Fische sich bewegen, dringt Wasser aus den Augen der Mutter Maria, und der Beter meint, sie weine über seine Sünden.

Irgendwo in dieser Kirche liegt auch das Skelett eines Walfisches. Achtzehn Ellen lang, nicht minder bestaunt. Und hinten im Chor tickt eine astronomische Uhr, mit Sonnen-auf- und -untergängen: Ein hölzerner Mann (es ist Julius Cäsar) zeigt mit einem Stab das Datum an.

Allhier sieht man zu aller Frist, wie lang der Tag von Stunde ist.

Seit 1472 tut er es, und bis zum Jahre 2047 wird er es noch tun: wenn nichts dazwischenkommt. Oben über dem meterhohen Zifferblatt ziehen die zwölf Apostel auf einem Rundgang hintereinanderher, nach den Schlägen des Läutewerks: Nun danket alle Gott. Blaue und rote Gewänder tragen sie, die sind in Gold gefaßt. Der Judas kommt als letzter angeruckt, ihm knallt es die Paradiespforte vor die Nase: Nachts, wenn die Tauben, die sonst unter dem Gewölbe fliegen, oben auf der Uhr sitzen, und mittags, wenn Bürger davor stehen und den Verwandten vom Land zeigen, was das für ein Wunderwerk ist.

Weiter rechts auf meinem Bild ist noch die vornehme und ehrgeizige Jakobikirche zu sehen: Kastengestühl für die Bürger und bequeme Stehplätze für die unflätigen Studenten, die während der Predigt essen oder Karten spielen oder gar mit Pflaumen werfen. Sie hat englische Vorfahren, die Jakobikirche: die zwölf Pfeiler sind alle verschieden; wenn man genauer hinguckt, kann man das sehen: Dom sollte sie werden, aber den Priester, der das betrieb, hat der wütende Pöbel erschlagen. Einen Bischof wollten sie nicht in ihrer Stadt.

In den engen Gassen der Stadt stehen unzählige Giebelhäuser, prächtige und weniger prächtige, mit Durchfahrt zum Hof, wo Lagerschuppen sich befinden, für Nüsse, Wachs oder Salz und die Ställe mit den Pferden und dem Vieh. Acht Meter breit sind diese Giebelhäuser, und drei, manchmal vier Stockwerke hoch: eins wie das andere. Von Dreck verkrustete Schweine wühlen auf der Straße im Unrat. Abends müssen sie eingeschlossen werden, sonst fängt man sie weg.

Der Rüstwagen eines Puppenspielers kommt dahergerumpelt. Weil »betrübte Zeiten« sind, hat es Streit gegeben. Die Puppe Polichinello hat dem Tod den Hintern gezeigt, so hat es geheißen, und Unglück werde dadurch angelockt. Ferner hätten die jungen Leute im Dunkeln Ungebührliches betrieben, und das ist wohl der wahre Grund, weshalb man sie ausweist, die Puppenspieler.

Nicht nur die Zeiten sind schlecht, auch die Jugend ist es. Das ist ganz unbegreiflich.

»Jungens sollen sich nicht zusammen rottiren, Lärm und Getümmel machen, den Leuten, welche ihrer Wege fahren, mit schimpflichen Worten nicht nachrufen, weder mit Schneeballen noch mit Koth werfen«, so heißt es in einer Verordnung aus dem Jahre 1622. »Widrigenfalls sie ins Halseisen gestellt werden sollen.« Sie sollen auch das »Tumultuiren« und Geräuschtreiben in den Kirchen unterlassen.

Die Menschen, die in Rostock wohnen, sind Schiffsbauer, Gerber, Schuhmacher oder Bierbrauer. Sie heißen Kröger, Kramer oder Kröpelin. Der Zunftmeister der Böttcher heißt Holtfreter: Aus Eiche müssen die Fässer sein, darüber hat er zu wachen, dreieinhalb Tonnen sollen sie fassen, nicht mehr und vor allem nicht weniger.

»Hiering! Frischen Hiering un Dösch!« rufen die Fischfrauen auf dem Markt und heben die schuppenbedeckte Handwaage wie ein lebendiges Standbild der Gerechtigkeit, aber niemand kommt und kauft, weil das Geld so knapp geworden ist.

Nicht weit davon kreischt ein Irrer in seinem Torenkasten. Daß man ihn nicht hinausstieß vor die Mauern, hat er seiner Abkunft zu danken. Und irgendwo sitzt in einem mit Butzenscheiben verglasten Erker ein einsamer Kaufherr – Stockfisch aus Bergen und Roggen nach Visby? –, die Speicherböden über ihm sind leer, und unter ihm das Haus ist auch leer, leer und still. Acht Kinder sind ihm weggestorben und zwei Frauen. Nichts will ihm mehr gelingen.

ROSTOCHIUM URBS VANDALICA … Oben über der Stadt, in den Wolken, fliegt ein Vogel. Er kommt vom Kalvarienberg, wo man weitere Vögel bemerkt, in unordentlichem Keilzug, Galgenvögel, die sich an Gehenkten sättigten. Ein dreischläfriger Galgen steht auf dem Berg, unweit der vielen emsigen Windmühlen. Wie Vogelscheuchen pendeln da zwei struppige Leichen, Brüder sind’s, die lange den glühenden Zangen widerstanden haben, mit denen man sie zwickte, dem Streckbrett, den Schrauben und den Ruten. Um ihre Frauen zu retten, hatten sie widerstanden: Die Frauen hatten nichts damit zu tun gehabt, mit dem Baumfrevel, dem todeswürdigen Verbrechen.

Gleich neben dem Galgen, auf hoher Stange, ein Rad. Entspanntes Gebein hängt über den Rand, mit elf Schlägen hat man es gebrochen und durch die Speichen des Rades gezwängt: Die Knochen spießen durch das Fleisch. Das blutig-schweißige Gesicht des Übeltäters ist erloschen. Lange hat er um Wasser und um seinen Tod gefleht. Die schweigenden Bürger haben dabeigestanden und haben die Stundenschläge gezählt: Wie lange es wohl diesmal dauert?

Rostock zweihundert Jahre später: 1820.

Gemeiner Fried – ein schöner Stand, dadurch erhält man Stadt und Land.

Die zweite Stadtansicht, die über meinem Schreibtisch hängt, ist ein Öldruck. Das Original befindet sich im städtischen Museum, es hat einen breiten Goldrahmen.

Auf dem Feldweg staubt ein Wagen der Stadt zu, am Wirtshaus »Zum Roten Lappen« vorbei und an einer Schafherde: Der Schäfer stützt sich auf den Stock. In der grünen Kutsche sitzt einer, der lange in der Fremde war. Gegen die Sonne schützt ihn ein Leinenüberzug, der über Weidenreifen gespannt ist.

Was wird er seinen Eltern alles erzählen! Berlin, Leipzig, Dresden! In seinem Koffer hat er ein Skizzenbuch, in rotes Leder ist es gebunden, das wird er ihnen zeigen. Nichts ist verloren, nur die Zeit, sie ist dahin.

Viel Grün ist auf dem nachgedunkelten Bild zu sehen: alte Bäume, Gärten. Hoch über den Bastionen, auf denen Frauen promenieren, in weißen Kleidern, mit Sonnenschirm und kleinen Hündchen, da stehen immer noch die altvertrauten, mit Kupfer gedeckten Türme: gute Väter, gute Mütter. St. Petri, wie eh und je, dem Winde sich entgegenbuckelnd, St. Nikolai mit neuem, etwas zu kurz geratenem Turm und St. Jakobi, fremd.

Breit gelagert: die Marienkirche. Wieviel zusammengepreßtes Erdreich hält sie bedeckt! Kein Hälmchen wird in ihre Krypta dringen.

Immer noch ziehen die Apostel durch die Uhr, nun danket alle Gott, ruckend, zweimal pro Tag um zwölf. Eine Viertelstunde später rasseln sie zurück. Ein Spiel, das lange noch nicht endet.

Neununddreißig Altäre hat man dieser Kirche ausgerissen, das riesige Triumphkreuz und die tränenreiche Muttergottes: zerhackt und weggeworfen.

Statt der Altäre glänzt nun der Thron des Großherzogs im Westwerk, mit rotem Samtbaldachin und goldener Bekrönung. Und über dem Thron steigt eine Orgel bis in das Gewölbe hinein, 5700 Pfeifen; und oben drüber: posauneblasende Engel und eine große goldene Sonne.

Für Bildung und Volksbelustigung hat man ein Theater gebaut. »Der Einsiedler an der Warnow« wird gegeben, Pantomimen und Ballett. Die Stühle der strickenden Damen stehen schräg, so daß die Männer sie mit einem Blick überschauen können. Den Studenten mit den gewichsten und gespornten Stiefeln darf man nicht zu nahe kommen, sonst bleibt man mit den Strümpfen hängen.

»Jungens sollen nicht mit den Peekschlitten auf den Anhöhen in der Stadt fahren, widrigenfalls ihnen die Schlitten genommen, sie selbst arretiert und nach Befinden bestrafet werden sollen.« So heißt es in der Stadtverordnung. Die Jugend, ja, sie ist noch immer schlimm, aber die Zeiten sind besser.

So wechselt alles ab, Nach Krieg und Blutvergießen Laßt uns des Himmels Huld, Des Friedens Lust genießen.

Der Dreißigjährige Krieg mit dem Durchziehen von Kaiserlichen und Schweden, Mord, Greuel und Verwüstung: er ist vergessen.

Auch der große Brand ist vergessen, 1677, der am 4. August in der Fischergrube ausbrach, abends um neun Uhr, und sich durch die Straßen fraß. Siebenhundert Häuser brannten ab, der prächtige Fürstenhof, das Rathaus auf dem Alten Markt, die Giebelhäuser, die Fachwerkhäuser und die Katen und Buden mit den heulenden und kreischenden Weibern: Wann dreht denn endlich der Wind?

Die Stadt ist wieder aufgebaut.

Hiering, greun Hiering un Dösch!

Das rufen die Fischfrauen auf dem Neuen Markt, und sie heben die Waage hoch, wie sie es immer taten. Der neue Vorbau vorm Rathaus ist nicht sehr schön – »schwächlicher Barock« –, aber die Prosperität hält an:

Pip, Dän’, pip! Dien Schonen büst du quit.

Die Dänen sind vergessen mit ihren Durchzügen und Plünderungen, und die Franzosen sind verschwunden, die von 1812. Keine Fuhren sind mehr zu stellen, keine Zwangswerbungen mehr zu befürchten. Kein Fliehen mehr in den Wald (wo man auf andere Flüchtlinge stößt), kein Schiff des Nachts mit abgeblendeten Laternen, kein Verbergen im Gebälk der Türme. Die zerwühlten Felder sind bestellt, der abgeholzte Wald ist nachgewachsen.

Wie der Preußenkönig dahin ist, der Mecklenburg für einen Mehlsack hielt, auf den man nur zu klopfen braucht, dann kommt Mehl heraus, so ist auch der Korse dahin.

Dreihundertsiebenundvierzig Segelschiffe zählt die Rostocker Flotte, sie ist nun die größte im Ostseeraum. Aus Eichenholz sind die Schiffe gebaut. Manche sinken schon auf ihrer ersten Fahrt und manche halten fünfzig oder achtzig Jahre: Schnelle Vollschiffe und breite, schwere Barken: auf allen Meeren sieht man sie. »Ihr habt den Wilhelm von Oranien an den Füßen aufgehängt«, behaupten die Holländer, weil die Rostocker Flagge die holländischen Farben umgekehrt zeigt, und manche Schlägerei gibt es deswegen.

Maler verkleinern Großes und vergrößern Kleines. Sie drücken die Bauwerke einer Stadt zur Komposition zusammen, damit es akkordiert. Auf Photos geht das nicht: Rostock 1885 – das ist das dritte Bild über meinem Schreibtisch.

Karl Steenbock Großherzogl. Hofphotograph.

Der Häuserbrei ist zerflossen, kreuz und quer, hoch und niedrig, und in dem Häuserbrei, mit Bretterzäunen und rauchenden Schornsteinen konkurrierend, einsam die großen alten Gemäuer, kahl dem Sturmwind ausgesetzt. Wie lange soll man sie denn noch erhalten?

Die Straßen am Fluß sind aufgerissene Münder, sie schnappen nach Luft, denn die alten Tore sind abgebrochen, das Mühlentor mit seinen Vortoren (weil ein Bürger die Steine haben wollte für sein Haus), das Bramower Tor und auch das Burgwalltor mit seiner Zolleinnehmerbude davor, von dem es noch ein Photo gibt. Hier hält nichts mehr zusammen.

Auch den Zwinger hat man gesprengt, vor dem Steintor, preußische Pioniere mußten dabei helfen. »Endlich kann der Verkehr frei fließen …« Drei Meter dicke Mauern – das war nicht einfach.

Auch die Bastionen hat man geschleift, bis auf zwei, die sich die Bürger nicht nehmen lassen, auf denen kann man nämlich so schön spazierengehen und im Winter rodeln.

Zitra! Holt Bahn! Wer sick nich wohrt ward oeverkohrt!

Auf den Gräben läuft man sogar Schlittschuh, auch auf der Teufelskuhle, obwohl es da nicht ganz geheuer ist.

Die Aufsicht über den Wall hat Jochen Stut. Nähert er sich dem Oberwall, dann hört man den Ruf: »Jochen kümmt!«, und alle Jungen laufen weg, denn der Walldiener hat eine geschmeidige Stock-Quitsche in der Hand.

Der illustrierte Stadtführer kommt mit wenigen Seiten aus: Das Johannis-Kloster ist abgebrochen, St. Michaelis auch, diese wunderliche Kirche mit den fünf Querschiffen. Der Stadtführer verzeichnet, was übriggeblieben ist von der alten Herrlichkeit, und er rühmt den neuen im gotischen Stil erbauten Wasserturm, den Friedrich-Franz-Bahnhof und den hohen Schornstein der größten Brauerei. Er verzeichnet auch die Lokale, in denen man gut essen kann, den Wintergarten zum Beispiel oder das Hôtel de Russie: »Elektrisches Licht, Zentralheizung; Hausdiener an allen Zügen.« Daß das Sanitätshaus Frahm die besten Bruchbandagen liefert, auch das verzeichnet er.

Erste Vakuum-Dampf-Zucker- und Bonbonwarenfabrik FRIEDRICHS.

Die Sargfabrik A. Seitz erledigt sämtliche mit einem Trauerfall verbundenen Angelegenheiten.

Kinos gibt es noch nicht in dieser Zeit. Aber auf dem Pfingstmarkt ist schon einer gewesen, mit einem Flimmerkasten. Bewegte Bilder hat er gezeigt, und die Rostocker haben »Bauklötze« gestaunt.

I. Teil

Der Kaufmannstand war geachtet, in dem lebte noch etwas von der hanseatischen Tradition, da zog man die Mütze. Feine Herren waren das, die wohl wußten, wie man Geld verdient, die aber auch ihre Verantwortung für die Stadt kannten.

P. S.

Damals sprach ja noch alles Platt, egal ob das ein Hafenarbeiter war oder ein Kapitän oder der Schiffsreeder selbst. In Rostock sprach man Platt, da war sich keiner zu fein dazu.

L. N.

An unserer Ecke wohnte Konsul Brüdigam. Wenn der morgens aus dem Haus ging, guckte er erst einmal rechts und links, als ob er Wind schnuppern wollte, und dann steuerte er in Richtung Rathaus.

A. Sch.

Kaufleute? Das waren ziemlich nüchterne Menschen, die mehr oder weniger ans Plusmachen dachten. Man hütete sich, bei denen anzuecken, das wär einem wohl nicht recht bekommen.

V. Z.

Mein Vater hatte eine ziemlich große Ziegelei, und in der Schule, darüber hab ich mich geschämt, da war der Lehrer direkt ein bißchen unterwürfig uns gegenüber.

Die feineren Leute hatten ja auch ihren Pastor. Konfirmiert wurde unsereiner bei Pastor Magen.

»Lassen Sie auch bei Pastor Magen arbeiten?« So ungefähr.

Ansonsten hatte die Kirche nicht viel zu melden.

P. G.

In der Marienkirche hatte der Großherzog seinen Thron. Da soll er ab und zu auch draufgesessen haben. Ich weiß davon nichts. Ich weiß bloß noch, daß das ’n ganz jovialer Mann gewesen sein soll.

L. Ö.

Als der Großherzog kam, mußten wir Blumen streuen. Mich fragte er: »Was willst du werden?«, und da sagte ich »Kaiserin«. – Mein Bruder sagte: »Kutscher«, dem hatte der livrierte Kutscher mehr imponiert als der Großherzog.

G. F.

Meine Kusinen hatten Postkartenalben mit Fürstlichkeiten. Man tauschte die Bilder in der Schule. Den Kronprinzen, der immer fesch abkonterfeit war, tauschte man gegen das Bild der majestätischen Kaiserin.

G. F.

Unsere Eltern hatten gegen den Großherzog nichts, weil sie nichts Schlechtes von ihm erfuhren. Man hatte das Gefühl, in einem absolut sicheren Staat zu leben. – Die seefahrende Bevölkerung, das hab ich damals auch mitgekriegt, war oft anderer Ansicht.

K. F.

1

Robert William Kempowski: morgens fährt er mit einer Droschke ins Kontor, langsam und nach allen Seiten grüßend, mal nach links und mal nach rechts. Die Stephanstraße fährt er entlang– die schöne warme Luft–, am Haus von Konsul Viehbrock vorbei. Geheimrat Öhlschläger hat sich Ecke Graf-Schack-Straße einen richtigen Palast gebaut, mit Turm und mit verzinktem Ritter auf dem Dach.

An der Reichsbank fährt Robert William Kempowski vorbei, wo man ihm wohlgesonnen ist, und am nagelneuen Stadttheater, in dem er eine Proszeniumsloge gemietet hat für Anna, seine Frau,

Ein Baro und ein Thermo die fahren nach Palermo.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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