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Walter Kempowski führte jahrzehntelang Tagebuch. 1990 entschied er sich, Texte davon zu veröffentlichen. Seine Wahl fiel auf Notizen von 1983. Er nannte das Werk "Sirius", weil es das Jahr dokumentiert, in dem er seine "Hundstage" erlebte (Sirius ist der Hundsstern). Die Aufzeichnungen ergänzte er mit Kommentaren aus der Sicht von 1990. Auch fügte er Texte aus seinem über Jahre zusammengetragenen Archiv unveröffentlichter Biographien ein. Dem Autor gelang es so, ein Stimmungs- und Zeitbild aus den alltäglichen, scheinbar banalen Gegebenheiten zu gewinnen. Erstmals wandte er hier die später berühmt gewordene "Echolot"-Technik der Collage an.
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Seitenzahl: 768
Über das Buch:
Walter Kempowski führte über Jahrzehnte Tagebuch. Im Jahre 1990 entschloss er sich, Texte daraus zu veröffentlichen. Seine Wahl fiel auf Notizen aus dem Jahr 1983. Er gab der Veröffentlichung den Titel „Sirius“, weil sie jenes Jahr dokumentiert, in dem er seine „Hundstage“ erlebte (Sirius ist der Hundsstern). Die Aufzeichnungen durchsetzte er mit Kommentaren aus der Sicht von 1990, die auch die jüngsten historischen Ereignisse widerspiegelten. Daneben fügte er Textpassagen aus seinem über Jahre zusammengetragenen Archiv unveröffentlichter Biographien ein. Dem Autor gelang es auf diese Weise, ein Stimmungs- und Zeitbild aus den alltäglichen, kleinen, scheinbar banalen Gegebenheiten zu gewinnen. Zum ersten Mal wandte er hier die später berühmt gewordene „Echolot“-Technik der Collage an. Drei Jahre später konnte Walter Kempowski mit der Veröffentlichung des monumentalen „Echolot“ dann Triumphe feiern.
Über den Autor:
Walter Kempowski, geboren am 29. April 1929 in Rostock, starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Einem breiten Publikum bekannt wurde er durch seinen Roman „Tadellöser & Wolff“, der auch verfilmt wurde. Seine monumentale Collage „Das Echolot“ war 1993 eine literarische Sensation und fand zwölf Jahre später mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes, der die Bestsellerliste stürmte, ihren krönenden Abschluss. Der letzte zu Lebzeiten des Autors veröffentlichte Roman „Alles umsonst“ brachte Walter Kempowski auch internationale Anerkennung.
Walter Kempowski
Sirius
Eine Art Tagebuch
Copyright © 1990, 2016 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Design Team unter Verwendung einer Farbzeichnung von Renate Kempowski
ISBN 978-3-641-06063-3V001
www.knaus-verlag.de
Für Manfred Dierks
So 2. Jan. 1983 trüb, stürmisch
Wir begingen den Altjahrsabend diesmal ganz traditionell, mit Kappen, Berliner Pfannkuchen und Scherzartikeln, wobei uns das für dieses Brauchtum nötige Brockhauswissen stets zur Seite stand: Bleigießen und Knallbonbons zur Zukunftserforschung, Raketen zur Austreibung von Dämonen. Zum Kotzen! Aber: ohne Folkloristisches kann ich so was überhaupt nicht mehr ertragen.
Wie macht man das eigentlich, «feiern»? Das heißt doch wohl «saufen», oder?
Wir empfingen die Gäste mit Hallo. Jeder setzte einen Papphut auf, und dann gaben wir uns in der Halle bei Kerzenlicht einem «Prasnik» hin, wie wir das im Zuchthaus nannten. In Bautzen bestand der Prasnik aus einer doppelten Portion Brot, in Nartum gab es Räucherfisch, Pfeffermakrelen und natürlich Lachs, mit scharf-süßer Meerrettichsahne, einen herrlichen Obstsalat, mit Rum angemacht, Gänsebrust und die berühmte Fleischbrühe von Hildegard, mit der man Tote wieder fit kriegt. So was sollten sie in Krankenhäusern austeilen!
Den Tischwein (zwei Kisten) hatte ich von Knaus zu Weihnachten bekommen. Ich verstehe ja nichts von Wein, und ich bin immer neugierig, was die Gäste zu meinem «Keller» sagen. Das Urteil fiel günstig aus. Auf seinen Verleger läßt man nicht gern was kommen. – Ich selbst rühre das Arsen-Zeug nicht an, ich trinke solides Bier und Steinhäger. Das Bier hat leider keine «Blume», weil wir unsere Gläser mit Pril spülen, schmeckt also absolut widerlich. Außerdem heißt es, daß der Hopfen ebenfalls mit Arsen behandelt wird. Die Reklame mit den blankgeputzten Kupferbehältern und den drei «Königstreuen», und das Wort «Reinheitsgebot» halten mich bei der Stange. Daß die EG-Beamten das Reinheitsgebot aufheben wollen, erbittert mich.
Altjahrsabend 1982
1990:Hildegard sagt, daß sie kein Spülmittel benutzt. Merkwürdigerweise fällt der Schaum aber trotzdem zusammen.
Zum Essen wurden Balladen aufgesagt.
Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, Ein Fischer saß daran, Sah nach der Angel ruhevoll, Kühl bis ans Herz hinan.
Um entsprechende Vorbereitung hatte ich die Gäste gebeten. Herr von Ribbeck, die Timotheus-Angelegenheit, der Erlkönig usw. Im Grunde alles recht unerträglich. Aber im Bewußtsein der historischen Distanz eben doch unterhaltlich.
Ich erinnere mich noch genau, wie der Student Peter in Bautzen den «Heideknaben» aufsagte oder besser auf-schrie, das hat uns damals sehr beeindruckt.
«Er zog ein Messer!»– «War das, wie dies?»
«Ach ja, ach ja!»– «Er zog’s?»– «Und stieß» …
Als pervers aber muß ich es bezeichnen, daß der Deutschlehrer uns noch im Stalingradjahr die «Bürgschaft» auswendig lernen ließ.
Zwischen Räucherfisch und Bleigießen las ich aus dem «Neuling»1 ein paar Seiten. Leider schwiegen die Gäste sich– obwohl hochqualifiziert– hinterher aus. Die Uhr tickte, und ich schwieg ebenfalls, leicht aufkochend. Vielleicht dachten sie: Er ist sowieso schon so erregt, bloß nicht noch reizen. Es wurde also peinlich, was mich noch mehr «reizte». Ich kenne dieses Schweigen vom Familienkreis her. Da heißt es auch immer nur: Sehr schön! wenn ich mich mal produziere.
Meine Silvestergereiztheit wurde diesmal ohne weiteres hingenommen. Man hat sich wohl daran gewöhnt: So ist er nun mal. Ich hab’ schon gedacht, ob die Wut, die sich jeden Altjahrsabend bei mir einstellt, vielleicht von den Gewürzen im Glühwein herrührt, von dem ich dann leider doch das eine oder andre Glas trinke! – Es spielt gewiß auch der Gedanke eine Rolle, bis Mitternacht feiern zu müssen, das empfinde ich als eine Art Freiheitsberaubung.
Spät am Abend sorgte der senfgefüllte Berliner für jene Stimmung, die jede lustige Gesellschaft zu Silvester erwartet, obwohl ein senfgefüllter Berliner in einem Kreis wie dem unsrigen, grünbewegt und sozialbewußt, als Sünde empfunden wird, «wo doch in Indien Millionen von Kindern hungern!».
Die herumgereichte Polaroidkamera machte ebenfalls Laune. Wie man sich ausnimmt, kann man ja nicht oft genug zu sehen kriegen. Die Standuhr schlug zwölf, die Atomuhr im Fernsehn ebenfalls, die Raketen wurden vom Wind verweht, die Hunde verkrochen sich vor der Knallerei, und ich ging zu Bett und hörte in meinem Recorder, auf dem Rücken liegend, die Hände wie auf dem Sterbebett gefaltet, den «Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit».
Die andern feierten noch bis vier Uhr früh, ihr Lärm drang zu mir herauf. Sie waren wohl von Herzen froh, daß sie mich los waren.
Unsere Eltern pflegten zu weinen, wenn es zwölf schlug, unsereiner atmet auf.
Als Tischdame hatte ich mir die kleine Stephanie ausgesucht. Das gab dem Altjahrsabend einen gewissen Schmelz. Ich bekam von ihr ganz unvermutet einen trocknen, ja rissigen Kuß, von ihrer vollblütigen Mutter einen feuchten.
Mo 3. Jan. 1983
Traum: Ich stehe an einem Spielautomaten und sehe, daß ich wieder nichts gewonnen habe.
«Das ist ja direkt komisch», sage ich: «Wieder keinen einzigen Pfennig!»
Ein Gast rät mir, die Kassette herauszuziehen. Und da sehe ich ein kleines Fach mit hundert goldenen Herzchen.
Am Nachmittag kamen drei ehemalige Schülerinnen zu Besuch. Ich war «von den Socken», wie die sich entwickelt hatten, niedliche Figürchen, absolut knackig. Die eine von ihnen war ein Problemfall gewesen, um die ich mich besonders gekümmert hatte, mit Hausbesuchen und so weiter. Es gibt ja Lebensläufe, bei denen einem die Spucke wegbleibt.
Ich freute mich über den Besuch und fand ihn gleichzeitig lästig. Etwas kicherig waren sie und nicht sehr mitteilsam. Als ich sie fragte: «Erinnert ihr euch noch ans erste Schuljahr?» sagten sie: «Immer mit die Lobesmarken …»
1990:Lobesmarken, das waren kleine runde Pünktchen, die ich den Kindern mit Schwung auf die Wange klebte, so als wollte ich sie ohrfeigen. Sie nennen sich «Zweckform-Markierungspunkte» und sind in zehn Farben und drei Größen zu haben. Ich bin den kleinen bunten Dingern von Herzen zugetan und habe sie auch jetzt noch ständig vorrätig, obwohl ich sie für meine Arbeit nicht benötige. Ihr bloßer Besitz beruhigt mich, die Möglichkeit, wenn Chaos sich einstellen sollte, mit ihrer Hilfe ordnend eingreifen zu können.
In der DDR, so hörte ich neulich, kriegen Kinder einen Tadelstrich, wenn die Eltern vergessen, das Diktat zu unterschreiben.
Im allgemeinen kriege ich nur selten ehemalige Schüler zu sehen, auf der Straße erkenne ich sie meistens nicht. Neulich beim Hemdenkauf in Zeven: «Aber ich bin doch die Diane!» Sie behauptete, von mir niemals eine der besagten «Lobesmarken» bekommen zu haben, was ich einfach nicht glauben kann. Wie Konfetti habe ich diese kleinen Papierdingerchen– ganz unpädagogisch– über Gute und Böse ausgestreut. Wenn es tatsächlich stimmt, was sie gesagt hat, dann hätte ich einen nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet. Arme Schüler! Arme Lehrer!
Ehemaligen Schülern zu begegnen, ist immer peinlich. Vielleicht aus demselben Grund, aus dem man wegguckte, wenn man einem ehemaligen Lehrer begegnete. Obwohl man in der Schule nichts vom Baum der Erkenntnis zu essen kriegte, verbarg man sich doch vor den Göttern. Es sind die Blößen, die man sich gegeben hat.
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