All die vielen Toten - Manfred Klimanski - E-Book

All die vielen Toten E-Book

Manfred Klimanski

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Beschreibung

Johannes 'Giovanni' Scoferino ist völlig von den Socken. Er soll einen polizeibekannten Geldeintreiber verbrannt haben, und zwar buchstäblich. Scoferino betreibt eine etwas ungewöhnliche Spielothek und Sportsbar in Ostratal, einer fiktiven Großstadt irgendwo in Süddeutschland. Sein Lokal geriet vor einigen Monaten in das Blickfeld einer Schutzgeld-Erpresserbande. Das beeindruckte ihn allerdings wenig. Als das angst einflößende Bandenmitglied Claudio Tornetti das erste Mal Geld sehen will, erfährt dieser Gauner, was Scoferino als ehemaliges Mitglied des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr dort an Kampfpraktiken gelernt hatte. Und zwar ohne zu töten...  Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass Tornetti nur noch ein Häufchen Asche ist. Und die Ostrataler Polizei Scoferino nachhaltig verdächtigt. Er hat zwar ein bombensicheres Alibi, nur nützt ihm das wenig... Manfred Klimanskis fünfter Roman- nach der Ostratal-Trilogie um den Privatermittler Schmitt und einem Kinderkrimi- zeichnet vordergründig den Fall eines Mordes im halbseiden-kriminellen Milieu, führt dann jedoch mehr und mehr in die Untiefen eines erschreckend realitätsnahen politischen Terrorismus.

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Zum Buch

Johannes „Giovanni“ Scoferino ist völlig von den Socken. Er soll einen polizeibekannten Geldeintreiber verbrannt haben, und zwar buchstäblich. Scoferino betreibt eine etwas ungewöhnliche Spielothek und Sportsbar in Ostratal, einer fiktiven Großstadt in Südwestdeutschland. Sein Lokal geriet vor wenigen Monaten in das Blickfeld einer Schutzgelderpresser-Bande, was ihn allerdings wenig beeindruckte. Und als der Angst einflößende Inkassogangster das erste Mal Geld sehen wollte, zeigte Scoferino ihm zunächst die Tür und anschließend, was ein ehemaliges Mitglied des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr an Kampfpraktiken gelernt hatte. Und zwar ohne zu töten. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Bandenmitglied nur noch ein Häufchen Asche ist. Und die Ostrataler Polizei Scoferino nachhaltig verdächtigt. Er hat zwar ein bombensicheres Alibi, nur nützt ihm das wenig …

Manfred Klimanskis fünfter Roman — nach der Ostratal-Trilogie mit dem Privatermittler Schmitt und einem Kinderkrimi — zeichnet vordergründig den Fall eines Mordes im halbseiden-kriminellen Milieu, führt dann jedoch mehr und mehr in die Untiefen eines erschreckend realitätsnahen politischen Terrorismus.

Für dich, Yuri, alter Freund

„Ich werde Euch nun den Beginn zweier gar schrecklicher Geschichten erzählen. Grauenvolle, furchtbare

Geschichten. Eine davon werde ich Euch dann bis

zum Ende erzählen. Die zweite jedoch wird in Euren

Köpfen sein. Sie wird Euch quälen. Quälen und foltern, bis Eure elenden Tage verbraucht sind und der

große und gnädige Quibuti Euch erlösen mag.“

Noredu Khaisastra aus „Samkalosta“ von Saloden Tepi

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sonntag, 25. August 2019 gegen 17.00 Uhr

Sonntag, 25. August 2019 ca. 16.45 Uhr

Sonntag, 25. August 2019, in den Abendstunden

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Teil 2

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Teil 3

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Personenregister

Prolog

Sonntag, 25. August 2019 gegen 17.00 Uhr

Zwei geschlossene Kastenwagen bogen von der Auffahrt Walldorf-Wiesloch auf die A 5 Richtung Süden. Sie hatten Mühe sich einzufädeln, da der normale Ausflugs- und der immer noch anhaltende Ferienreiseverkehr neben den Autobussen und einigen Lastwagen mit oder ohne Ausnahmegenehmigung die Autobahn fast verstopften. Nach einiger Zeit fuhren sie, die offensichtlich zusammengehörten, gleichmäßig hintereinander her. Ungefähr zeitgleich bewegten sich zwei fast identische Kastenwagen von der Auffahrt Kronau kommend mit mäßigem Tempo in der nördlichen Gegenrichtung. Etwa fünf Kilometer vor beziehungsweise nach der Ausfahrt Walldorf-Wiesloch setzte sich der hintere Wagen links neben seinen Zwilling. Beide verlangsamten nach und nach die Geschwindigkeit. Sie ließen sich trotz heftigen Hupens und hektischer Lichtsignale nicht dazu bewegen, eine der beiden Spuren freizugeben. Nach einem weiteren Kilometer stellten die Fahrer diese Autos quer zu den Fahrbahnen einschließlich der Standspur, sodass an ein Vorbeikommen nicht zu denken war. Innerhalb von Sekunden staute sich der Verkehr zu einem unübersichtlichen Blechgewirr. Da auf der Gegenfahrbahn an derselben Stelle die zwei anderen Lieferwagen gleichzeitig ein ähnliches Manöver ausführten, kam der gesamte Autobahnverkehr sowohl in den Süden als auch in den Norden zum Erliegen. Als die vier Fahrzeuge zum Stillstand gekommen waren, sprangen aus jedem der Wagen je zwei Gestalten aus dem Führerhaus. Sie waren in uniformähnliche, hochgeschlossene, schwarze Kleidung gehüllt, hatten Sturmhauben auf den Köpfen und fingen sofort an, aus ihren Maschinenpistolen und Sturmgewehren zu schießen, Handgranaten zu werfen und infernalisch zu brüllen, wobei einzig „Allahu akbar“ zu verstehen war. Sie liefen zu viert in einer Richtung die Autoreihen entlang, etwa hundert Meter, um sich schießend, Tod und Verderben bringend. Bei allem Blut, Leid, Geschrei verhielten sie sich diszipliniert und unbeeindruckt von dem Chaos, das sie anrichteten. Eine der vier Gestalten, die sich in nördlicher Richtung bewegten, eilte zu einem der Kastenwagen zurück, holte eine röhrenförmige Waffe heraus, richtete sie ein und zielte auf das Inferno aus Blech, Gummi und menschlichen Körpern. Es löste sich ein Geschoss, das in etwa vierhundert Meter Entfernung einschlug und in einer Feuer walze explodierte. Das schien das Signal an alle Terroristen zu sein. Sie liefen zu ihren jeweiligen Fahrzeugen, richteten sie wieder in Fahrtrichtung aus und fuhren mit hoher Geschwindigkeit davon. Zwei nach Süden, zwei nach Norden. Keiner von ihnen blickte zurück, keiner schaute zu dem endlosen Stau auf der entgegengesetzten Spur. Auch als die ersten Sirenen aus der Ferne erklangen, zeigte niemand von ihnen auch nur ansatzweise Nervosität oder gar Angst. Sie wussten, bis sich Polizei, Feuerwehr, Notarzt und Krankenwagen durch den kilometerlangen Stillstand gequält hätten, wären sie schon längst in Sicherheit. Ihnen war auch bewusst, dass selbst der Einsatz eines Polizeihubschraubers einige Zeit dauern würde.

Die zwei in nördlicher Richtung fahrenden Wagen bogen an der Ausfahrt Walldorf-Wiesloch von der Autobahn ab, die zwei in südlicher Richtung an der Ausfahrt Kronau. Später kleideten die Täter sich um und sprengten mit Benzin und Handgranaten die Kraftfahrzeuge, Waffen, Kleidungsstücke und Sturmhauben. Dann stiegen sie in die am Tag zuvor bereitgestellten Fahrzeuge und fuhren los. Sie hinterließen keinerlei Spuren.

Sonntag, 25. August 2019 ca. 16.45 Uhr

Claudio Tornetti, ein italienisch wirkender Albaner, Mitte dreißig, gefälschter Name, befand sich auf dem Heimweg vom Stadion des VfR Ostratal 1898. Das Spiel hatte sein Herz nicht höher schlagen lassen. Er bog links in die Regelerstraße ein, an deren Ende er nach kurzer Zeit ebenfalls links in die Mulferdinger Straße gehen musste, um nach weiteren etwa siebenhundert Metern das Haus zu erreichen, in dem er in einer kleinen Dreizimmerwohnung lebte. Die Regelerstraße gehörte nicht zu den Prachtstraßen Ostratals. Hier wohnten nicht die Reichen und die Schönen. Hier wohnte eigentlich gar niemand mehr. Die Siedlungshäuschen auf der linken Straßenseite stammten aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und waren weitgehend entmietet. Geplant war laut überdimensionierter Werbetafel die Ansiedelung eines großen Möbelhauses, die aber stockte, weil sich eine energische Bürgerinitiative für eine Wohnbebauung einsetzte. Auf der rechten Straßenseite zog sich über die gesamten rund neunhundert Meter eine Gärtnerei einschließlich Pflanzenschule mit ihren vielfältigen Gebäuden, Gewächshäusern und Anbauflächen.

Claudio Tornetti war tief in Gedanken versunken. In seinem Kopf spielte sich wieder und wieder die spielentscheidende Szene zum Siegtor des auf dem Papier weit unterlegenen Gegners des VfR Ostratal ab. Er achtete kaum auf den Weg, den er in- und auswendig kannte. Er lief ihn nicht nur während der Spielzeit alle zwei Wochen nach einem Heimspiel seines bevorzugten Vereins, sondern täglich für die diversen Besorgungen im Zentrum Ostratals.

Tornetti nahm deshalb gar nicht richtig wahr, dass plötzlich eine eigenartige Gestalt aus der Einfahrt zur Großgärtnerei auf ihn zutrat. Erst als sie ihm den Weg verstellte, schreckte er auf und instinktiv zurück. Auch nach einem zweiten und dritten Blick veränderte sich das seltsame Wesen nicht. Eine große, vogelscheuchenartige Witzfigur in einem flaschengrünen, voluminösen, knöchellangen Regenmantel, Riesenkapuze, Gummihandschuhe … Nicht zu erkennen, ob Frau oder Mann. Auch als dieses undefinierbare Etwas aus der Mitte des Mantels eine großkalibrige Wasser-Gun — der Marke Hasbro, wie Tornetti wie nebenbei fachmännisch wahrnahm — hervorzog, reagierte er nicht. Die Vogelscheuche zog kräftig am Abzug und ein Schwall von Flüssigkeit traf Tornetti auf der Brust.

„He, was soll das denn?“, rief er, eher belustigt als erschrocken, und hielt instinktiv seine Hände abwehrend vors Gesicht.

Doch sein Gegenüber schickte wortlos Schwall auf Schwall in Richtung Tornettis Kopf, Bauch und Oberschenkel. Dieser bemerkte jetzt einen durchdringenden Benzingeruch. „Spinnen Sie? Ticken Sie noch richtig?“, kreischte Tornetti panisch und drehte sich weg.

Der Regenmantelmensch betätigte stoisch den Abzug des eigentlich als Kinderspielzeug gedachten Geräts und traf nun auch Hinterkopf, Rücken, Gesäß. Als die Wasserbeziehungsweise Benzin-Gun leer geschossen war, zückte er ein Sturmfeuerzeug, schnippte es auf und entzündete es.

Konsterniert, ungläubig und keiner Reaktion mächtig beobachtete der triefend nasse Tornetti diese Aktion. Ihm blieben nur wenige Sekunden, sich durch Flucht, durch einfaches Weglaufen, in Sicherheit zu bringen. Die nutzte er jedoch nicht. Er stand wie gebannt da. Sah zu, wie sein Gegenüber das brennende Sturmfeuerzeug nach ihm warf. Sofort stand er in hellen Flammen, immer noch unfähig, sich zu rühren, zu schreien, sich zu wehren. Er ragte als lebende Fackel aus dem allmählich Blasen werfenden Asphalt des Gehweges, sank in Zeitlupe in sich zusammen und erstickte, bevor er zu Boden sackte. Der Regenmantelmensch warf die Wasser-Gun auf die brennenden Überreste. Dort verpuffte sie und schmolz innerhalb von Sekunden. Die todbringende Witzfigur zog in aller Ruhe den Mantel, die Kapuze und die Handschuhe aus, warf all das ebenfalls in das noch immer züngelnde Feuer und lief gemächlich die Regelerstraße entlang in Richtung der Straßenbahnhaltestelle Rudolfstraße, von der Claudio Tornetti sich vor wenigen Minuten von einer seiner sonntäglichen Vergnügungen auf den letzten Teil seines Heimwegs gemacht hatte. Nicht ahnend, dass er diesen Weg nie mehr in seinem Leben nehmen würde …

Sonntag, 25. August 2019, in den Abendstunden

Alle Medien in Deutschland hatten nur ein Thema: den Terroranschlag auf der Autobahn A 5. Auch im übrigen Europa wie in der Weltpresse war dieser kriminelle Akt die Topnachricht. Übereinstimmend wurde berichtet, dass eine genaue Anzahl von Opfern nicht genannt werden könne, weil „noch Stunden nach dem Geschehen bei den Einsatzkräften, in den Krankenhäusern, bei den Sicherheitsdiensten Chaos“ herrsche. Die beiden Autobahnabschnitte in Richtung Süden und Norden seien „auch Stunden nach dem Anschlag nicht freigeräumt“. Polizeisprecher befürchteten, dass „die Arbeiten noch mindestens bis zum Morgen andauern würden“. Filmmaterial stand den Berichterstattern nicht zur Verfügung, weil die Tatorte ebenso wie der Luftraum weiträumig abgesperrt waren. Interviews mit Zeugen, Rettungskräften, vor Ort eingesetzter Polizei waren aus denselben Gründen nicht möglich. Aus den üblichen gut unterrichteten Kreisen verlautbarte, dass mit weit über einhundert Todesopfern („Und das ist eher untertrieben.“) und hunderten von Verletzten gerechnet werden müsse. „Es sind nicht nur Maschinenpistolen, Sturmgewehre und Handgranaten zum Einsatz gekommen, sondern auch eine Art Flammenwerfer oder Flammengranaten, obwohl diese Art von Waffen Ende des letzten, Anfang des jetzigen Jahrhunderts zumindest im Bereich der NATO nicht mehr zur Standardausrüstung der Armeen gehört.“ Soweit ein unbekannt gebliebener Experte.

Der Bundesinnenminister, der sofort nach Bekanntwerden der Tat per Hubschrauber an die Tatorte gebracht worden war, konnte oder wollte nicht bestätigen, dass die Terroristen den Anschlag mit dem mittlerweile traditionellen Schlachtruf islamistischer Gruppen „Allahu akbar“ begleitet hätten. Er konnte lediglich darauf verweisen, dass die ersten verwertbaren Zeugenaussagen Überlebender besagten, dass „wohl in jeder Fahrtrichtung zwei Kleintransporter verwendet wurden und ebenso in jeder Fahrtrichtung mehrere Täter ihr abscheuliches, menschenverachtendes Abschlachten unschuldiger Menschen, darunter Frauen und Kinder, eiskalt begangen“ hätten. Nach Aussagen eines hohen Polizeibeamten gingen die Täter „generalstabsmäßig in Planung, Vorbereitung und Durchführung dieses Verbrechens vor“. Der Minister warnte im Übrigen davor, voreilige Schlüsse auf die Terroristen zu ziehen. „Derzeit weiß man gar nichts. Es gibt kein Bekennerschreiben, keinen noch so geringen Hinweis auf die Tätergruppe.“ Die Bevölkerung solle bitte ruhig bleiben. Es dürfe keine Pogromstimmung aufkommen gegenüber ausländischen Mitbürgern. Die Intensivfahndung laufe, und er versprach, die Urheber und Ausführenden dieser heimtückischen Tat alsbald zu fassen. Im Laufe des Abends wurde noch bekannt, dass zwei Lieferwagen völlig ausgebrannt und zerstört in der Nähe der Ausfahrt Walldorf-Wiesloch aufgefunden worden waren.

„Diese Automobile werden dem Terroranschlag zugerechnet“, so die Verlautbarung. Weiter wurde mitgeteilt, dass nicht damit zu rechnen sei, irgendwelche verwertbaren Spuren an oder in diesen Fahrzeugen zu finden. Nach den zwei weiteren Kleintransportern werde mit höchster Priorität gefahndet, wie es abschließend hieß.

In der Bretagne verfolgte ein junger Rechtsanwalt namens Andreas Hofstätter die Berichterstattung am Mini- Fernseher seines Hotelzimmers. Das französische TV räumte diesem Anschlag einen breiten Raum ein. Obwohl Hofstätter nicht fließend französisch sprach, verstand er doch, was passiert war. Und während er die üblichen Statements der Politiker nach derartigen Taten mit einer gehörigen Portion Zynismus abtat, wühlten ihn deren Aussagen jetzt doch tief auf. „Feiger Massenmord an unschuldigen Menschen“, „Schrecklicher Anschlag auf Menschlichkeit und Demokratie“ und ähnliches berührt anders, wenn ein solches Verbrechen quasi um die Hausecke geschieht. Nur rund einhundertzwanzig Kilometer von Ostratal entfernt. Sein gemütliches Zimmer in Douarne nez kam ihm auf einmal fremd und unwirklich vor. Ihm dämmerte, dass in den folgenden Monaten rigide Sicherheits- und Strafverfolgungsmaßnahmen umgesetzt werden dürften: erhebliche Einschränkung von Bürgerrechten, insbesondere bei türkisch, arabisch, nordafrikanisch aussehenden Menschen. Vorsorgeverhaftungen, Zensur, verschärfte Verhörmethoden. Bundeswehreinsatz im Inneren zur Überwachung von Flughäfen, Bahnhöfen, öffentlichen Gebäuden. Und was den erschreckten Innenpolitikern sonst noch alles einfiel, um die Bevölkerung zu beruhigen. Einerseits verständlich. Andererseits schauderte es ihn. Er musste unwillkürlich an die Erzählungen seiner Eltern aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts denken. Aus den Zeiten des RAF-Terrors …

Kapitel 1

Johannes „Giovanni“ Scoferino holte sich gerade hinter der Theke sein übliches Tonic Water, als er mitbekam, dass eine etwa fünfunddreißigjährige Frau mit ihrem etwas älteren Begleiter sein Lokal Joystick betrat. Die beiden schauten sich um und gingen dann, ohne zu zögern, auf das der Tür am nächsten gelegene Thekenende zu, wo sein Mitarbeiter Tim Bernhard Dienst hatte. Er hörte, wie der weibliche Part Tim fragte, ob er Johannes Scoferino sei, und sah, dass Tim wortlos auf ihn deutete. Woraufhin das Pärchen den langen Weg zum anderen Thekenende ging. „Sie sind also Johannes Scoferino“, konstatierte die attraktive Frau. Ein verwuschelter Kurzhaarschnitt über einem zwar nicht sonderlich hübschen, ziemlich ungleichmäßigen Gesicht, das aber mit den weit auseinanderstehenden, großen, grauen Augen und einem breiten vollen Mund dennoch eigentümlich sinnlich wirkte. Vor allem fiel ihre herausfordernde Figur auf, deren oberer Teil von einem schlabbrigen, hellgrauen T-Shirt kaum verhüllt wurde. Dieses Bild setzte sich entsprechend nach unten fort mit hautengen Bluejeans und roten Blockabsatz-Stiefeletten, abgerundet durch eine lässige rote Lederumhängetasche.

Scoferino zog die Stirn in Falten und blieb stumm.

„Entschuldigung, ich hätte schon gerne eine Bestätigung, ob Sie Johannes Scoferino sind“, sagte die jüngere Dame und kniff die Augen ärgerlich zusammen.

„Das haben Sie doch schon festgestellt. Übrigens auch Entschuldigung, aber wer sind denn Sie? Normalerweise stellt man sich doch als erster vor, wenn man einen Raum betritt. Oder besser, als erste“, erwiderte Scoferino, jetzt freudlos lächelnd, mit immer noch hochgezogenen Augenbrauen.

Kein guter Beginn. Ohne jede Aussicht, beste Freunde zu werden. Er war sich darüber im Klaren, dass die beiden von irgendeiner Behörde kommen mussten, so, wie sie auftraten: Gewerbeaufsicht, Finanzamt, Polizei. Und dass er sich besser gut mit ihnen stellen sollte. Wie jede oder jeder. Aber schlechtes Benehmen konnte er nun mal nicht leiden. Schließlich bemühte er sich selber um korrekten Umgang, wenn auch nicht immer erfolgreich.

„Kriminaloberkommissarin Stefanie Herbstritt. Das ist mein Kollege, Kriminalhauptmeister Stefan Braun. Können wir irgendwo in Ruhe reden?“

Stefanie Herbstritt gab sich offensichtlich Mühe, sachlich zu bleiben.

„Das ist ja ein fernsehreifer Auftritt. Mit Stefan und Stefanie, wie reizend. Aber klar“, machte Johannes Scoferino ein Friedensangebot, „wir können in mein Büro gehen.“

Dort kam die Kommissarin gleich zur Sache.

„Sie sind Geschäftsführer dieses, wie soll ich es nennen, dieses Restaurants, obwohl es das nicht in erster Linie ist. Eine Spielhalle ist es wohl in erster Linie, aber nicht nur. Sportsbar kommt noch dazu …“

Sie war sich wegen der Mehrfachfunktion des Lokals offenbar unschlüssig

„Spielcasino ist in Ordnung. Und ja, untypischerweise haben wir auch ein Speiseangebot. Und kein schlechtes! Hier gibt es sonst weit und breit keine Gaststätte. Und Geschäftsführer trifft es auch ganz gut, obwohl ich mit zwanzig Prozent Miteigentümer bin. Aber was interessiert Sie denn nun?“

„Ganz direkt gefragt: Wurden Sie in den letzten Wochen oder Monaten von Schutzgelderpressern belästigt? Seit etwa einem halben Jahr ist eine Racket-Bande aktiv, die sich nach unseren Erkenntnissen vorwiegend an Lokalitäten heranmacht, bei denen sie Geldwäsche vermutet. Offensichtlich glaubt sie, dass die nicht so gerne die Polizei einschalten.“

„Und das wären dann Spielhallen?“, kommentierte Scoferino spöttisch.

„Auch. Und Pizzerien, griechische Lokale, Kebap-Restaurants, Shisha-Bars. Die haben nicht alle etwas mit Geldwäsche zu tun. Aber überdurchschnittlich viele schon“, erklärte Stefanie Herbstritt unbeirrt.

„Aha. Schon mal was von Diskriminierung gehört? Aber um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Nein!“

Der Spielhallenbetreiber ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen. Er sah der Oberkommissarin durchdringend direkt in die Augen. Ein Beuteblick, unter dem es Herbstritt zunehmend unbehaglich wurde.

„In unseren Kollegenkreisen munkelt man jedoch, dass Sie nach einem Brandanschlag auf Ihr Lokal am …, wann war der nochmal, Herr Braun?“ wandte sich Herbstritt an ihren Kollegen.

„Am 19. Juni“, half Braun seiner Chefin aus.

„Richtig, am 19. Juni für jeden sicht- und hörbar enorm stinkig reagierten. Und dann haben Sie vor etwa einem Monat einen späten Besucher Ihres Spielcasinos, der offensichtlich kein Gast war, nach einer erregten Diskussion rausgeschmissen und vor der Tür ziemlich verprügelt.“ „Das muss doch aber kein Schutzgelderpresser gewesen sein.“

„Nein, aber er ist unseren Kollegen von der Betrugsabteilung als Geldeintreiber bekannt. Auch wenn sie ihm nichts nachweisen konnten.“

„Ihren Kollegen? Dann sind Sie …“

Scoferino schien verunsichert.

„Vom Dezernat Gewaltdelikte und Mord. In diesem Fall Mord. Denn der Geldeintreiber namens Claudio Tornetti wurde letzte Woche am Sonntag, den 25. August, ermordet.“

Anschließend schoss Herbstritt mit unverhohlener Antipathie ihre Fragen ab.

„Nochmal: Hat die Schutzgelderpresserbande versucht, Ihnen einen sogenannten Versicherungsvertrag abzupressen? Kannten Sie Tornetti? Haben Sie ihn verprügelt? Wenn ja, ist er danach nochmal bei Ihnen auf getaucht? Und vor allem: Wo waren Sie an besagtem Sonntag zwischen, sagen wir, sechzehn und zwanzig Uhr?“

Scoferino war platt. Wollte die Kommissarin ihm einen Mord anhängen? Das wäre purer Unsinn. Aber sie marschierte unverblümt direkt auf die Täterfrage zu. Das hatte vielleicht auch etwas mit seiner nicht gerade zuvorkommenden Art zu Beginn ihrer Bekanntschaft vor nicht einmal dreißig Minuten zu tun.

Er erinnerte sich an seine wilde Jugend vor rund fünfunddreißig Jahren und die Maxime, die ihm sein Großvater fürs Leben mitgegeben hatte: sich niemals eine Blöße geben. Niemals mit der Polizei reden, nicht im Guten, nicht im Bösen. Nicht als Zeuge, nicht als Täter — wenn es nicht unbedingt sein muss. Die Bullen würden jedes Wort missverstehen und drehen und wenden, bis es ihnen passte. Scoferino hatte Tornetti schließlich nicht umgebracht. Er hatte ein bombensicheres Alibi, auch wenn er es ungern offerieren würde. Und ja, er hatte den Geldeintreiber aus seinem Lokal geworfen. Und ja, verprügelt auch, diesen kleinen Dreckskerl. Das sollte seinem Boss eine Lehre sein. Und nein, danach tauchte Tornetti nicht wieder auf. Wie kam diese Frau Herbstritt darauf, dass er ihn umgebracht hatte? Nur wegen dieser Vorgeschichte? Das war doch lachhaft. Aber nein, das wollte er eigentlich gar nicht wissen.

„Es tut mir leid, Frau Kriminaloberkommissarin, ich kenne keinen Herrn Tor … wie immer er heißen mag. Mir wurde auch kein Versicherungsvertrag, welcher Art auch immer, angeboten, geschweige denn sowas mit mir abgeschlossen“, behauptete er. „Der Brandanschlag, wie Sie ihn nennen, war nur ein kleines Feuerchen in der Küche, durch Unachtsamkeit entstanden. Und im übrigen habe ich jetzt zu tun“, beendete er seinerseits das Gespräch und wandte sich ostentativ seinem Büro zu.

„Das waren jetzt zwei Lügen. Ich gehe davon aus, dass noch weitere folgen werden. Wir sehen uns wieder, Herr Scoferino. Ich befürchte, schon bald.“

Frau Herbstritt und ihr Assistent erhoben sich und marschierten zur Tür.

„Ach ja, Herr Scoferino. Auf ein letztes Wort. Sie waren doch bei einem Sondereinsatzkommando der Bundeswehr und hatten meines Wissens dort auch mit Feuer, Feuerbekämpfung und ähnlichem zu tun?“

„Das stimmt. Und das dürften Sie eigentlich gar nicht wissen. Aber warum fragen Sie?“

„Weil Tornetti abgefackelt wurde, flapsig gesagt“, teilte die Kommissarin mit, jetzt ausgesprochen gut gelaunt.

Und verließ anschließend mit einem gleichfalls fröhlich wirkenden Kriminalhauptmeister Braun das Lokal.

Und hinterließ einen völlig verwirrten Geschäftsführer.

Kapitel 2

Scoferino griff nach seinem Smartphone und tippte eine kurze Nummer ein.

„Ruf mich doch bitte mal zurück.“

Er war zwar nicht beunruhigt wegen des Auftretens der Kriminalpolizistin, aber sicher ist sicher. Mit seinen mittlerweile siebenundvierzig Jahren hatte er schon alles erlebt und von allem mehr als genug.

Sein Großvater kam in den Vierzigerjahren als Fremdarbeiter in das damalige Deutsche Reich und blieb nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Stuttgart. Er hatte keine Idee, wie seine Zukunft in der alten Heimat Sizilien aussehen sollte. Er jobbte ein paar Jahre mal hier und mal da, lernte Ende der vierziger Jahre ein Stuttgarter Mädel kennen und schuftete sich dann als mittlerweile erbetener, aber ungeliebter Einwanderer, den Rücken krumm, erst stets neu befristet beim Daimler, dann in einem festen Arbeitsverhältnis, stets mit den niedersten und anstrengendsten Tätigkeiten betraut. Trotzdem lernte er im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute fleißig deutsch, stieg nach einigen Jahren beim Daimler auf und landete gar im Betriebsrat.

1950 bekamen die stolzen Eltern einen Sohn namens Angelo, den Vater von Johannes, der später ebenfalls beim Daimler arbeitete, allerdings im kaufmännischen Bereich, gleichfalls eine Stuttgarterin heiratete und wiederum einen Sohn zeugte. Bei dessen Geburt war Angelo gerade zweiundzwanzig Jahre alt. Dieser Sohn sollte wie sein italienischer Großvater Giovanni heißen. Allerdings setzte sich die schwäbische Mutter mit einem Kompromiss durch und so wurde aus Giovanni ein Johannes. Giovanni blieb ihm jedoch als Kose-, Spitz- und Kampfname er halten.

Als Junge war Johannes ein Streuner und Straßenkämpfer, der dennoch die Mittlere Reife schaffte. Wenn auch mit Schweiß und Tränen, Hängen und Würgen. Dank seines Vaters begann er eine Lehre beim Daimler. Allerdings nicht im kaufmännischen Bereich, wie es sich seine Mutter wünschte, sondern als Fräser und Dreher. Daneben betrieb er mehrere Kampfsportarten und schloss sich einer Hooligan-Fan-Gruppe der Stuttgarter Kickers an. Schlägereien am Wochenende waren üblich und eine besonders üble brachte ihm eine Jugendgefängnisstrafe ein, glücklicherweise auf Bewährung. Dank der Verbindungen seines Vaters wurde er beim Daimler nicht gekündigt, beendete seine Lehre mit verblüffend guten Ergebnissen und wurde 1991 als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr eingezogen. Nach kurzer Zeit verpflichtete er sich zu einer zweijährigen Dienstzeit, anschließend zu einer weiteren zwölfjährigen. Entsprechend seinem Naturell absolvierte er eine Einzelkämpferausbildung bei den Gebirgsjägern. Folgerichtig bewarb er sich 1998 beim zwei Jahre zuvor eingerichteten Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, kurz KSK. Dort durchlief er eine weitere zweijährige Basisausbildung und anschließend eine einjährige Spezialisierung zum Kommando-Soldaten. So war er einer der ersten deutschen Soldaten im Kosovo, in Bosnien und in Afghanistan. Die Kommandoeinheit war fast weltweit tätig und hatte einen zumeist nicht klar definierten Kampfauftrag, jedenfalls offiziell. Ähnlich wie die SOF (Special Operations Forces) der USA oder der SAS (Special Air Service) der Briten. Böse Zungen behaupteten, sie seien die Killertruppen der westlichen Demokratien. Eine durchaus doppeldeutige Beurteilung.

Als normaler Bundeswehrsoldat hatte er schon viel gesehen und erlebt: von Langeweile bis zum unsäglichen Leid der Bevölkerung, von blutigem Kampfgeschehen bis zur täglichen Korruption, vom Versagen der Führungskräfte bis hin zu Vergnügungen obsessiver Art. Das wurde in den Einsätzen des KSK allerdings noch getoppt. Mit einem Unterschied: die unzerstörbare Kameradschaft, die absolute Loyalität, der hundertprozentige Verlass auf die Mitkämpfer und die Homogenität der Truppe. Ein Manko jedoch war, dass die Einsätze, der Erfolg ebenso wie der Misserfolg, die Opfer, auch in den eigenen Reihen, die ‚Heldentaten‘, strengster Geheimhaltung unterlagen. Einerseits wurde dadurch das Außenseitertum gestärkt, andererseits auch die Wut auf die zivile Gesellschaft wegen mangelnder Wertschätzung, wie übrigens insgesamt in der Bundeswehr.

Nach fünfzehn Jahren musste er altershalber das KSK verlassen und quittierte, überhäuft mit Auszeichnungen, ehrenhaft als Oberfeldwebel den Dienst in der Bundeswehr mit einer anständigen Abfindung. Zusammen mit dem Ersparten aus den Zulagen der Auslandseinsätze und der mangelhaften Möglichkeit der Geldverschwendung im Heimatstandort Calw ergab das eine durchaus nennenswerte Summe. Davon kaufte er sich, wie vor ihm schon einige seiner Kameraden, mit Geschäftsanteilen in eine Kette von attraktiven Spielcasinos ein. Er wurde Geschäftsführer zunächst einer kleineren Spielhalle in Pforzheim, dann vor drei Jahren Chef des Joystick in Ostratal. Als einsamer Wolf fand er nie Gelegenheit zu einer festeren Beziehung mit einer Frau, hatte auch kein Bedürfnis danach. Früher verschafften ihm gelegentliche Bordellbesuche Erleichterung. Heute traf er sich hin und wieder mit verheirateten Frauen zu einer vergnüglichen halben Stunde oder holte sich eine attraktive Escort-Dame in sein gemütliches Appartement oberhalb des Joystick.

Scoferino sah auf den ersten Blick gut aus mit seinen 1,87 Metern durchtrainierter Muskelmasse und dem dunklen, leicht angegrauten Kurzhaarschnitt. Aber seine kantigen, zumeist unbewegten Gesichtszüge, die dünnen Lippen, seine fast schwarzen, etwas stechenden Augen und seine meist kühle, abweisende Art waren nicht unbedingt dazu geeignet, tiefere Bekanntschaften zu schließen, sowohl männliche als weibliche. Zumal er in seiner Freizeit gerne Camouflage-Klamotten und Doc Martens Stiefel trug, was ihn nicht nahbarer erscheinen ließ. Seit er mit dem Joystick ein ganz und gar solides Etablissement führte, zumindest was das Restaurant anging, hatte er jedoch seinen Kleidergeschmack ein wenig umstellen müssen, sehr zu seinem Vorteil. Und wenn er wollte, konnte er auf eine spitzbübische Weise durchaus charmant sein.

Einmal im Monat, an jedem zweiten oder dritten Sonntag, nahm er an einem KSK-Stammtisch in Pforzheim im Alten Simpl teil, je nachdem, welcher dieser Sonntage eher in der Mitte des Monats lag. Und wenn es sich irgendwie bewerkstelligen ließ. Zu diesem Ereignis kamen regelmäßig viele der ehemaligen und möglichst alle der noch aktiven KSK-Kämpen, zumindest die der Kommando-Kompanie. Scoferino jedenfalls ließ kaum einen aus. Die Entfernung von rund neunzig Kilometern störte ihn nicht. Wenn mal zu viel Alkohol geflossen war, übernachtete er bei einem Bekannten. Wobei er sowieso nicht der begnadete Säufer war, Alkohol eher mied und lieber bei seinem Tonic Water blieb. Einmal jährlich fand das große Treffen alter Kameraden mit langjährigen Auslandserfahrungen in Calw statt. Viel mehr an gesellschaftlichen Vergnügungen kannte Scoferino nicht.

Sein Smartphone klingelte.

„Ja?“

„Du wolltest mich sprechen?“

„Richtig. Vorhin waren zwei Typen von der Kripo hier, besser gesagt, eine Typin und ein Typ, und haben mich wegen eines Mordes in Ostratal am letzten Sonntag spätnachmittags angehauen. Und die machten den Eindruck, als ob sie tatsächlich glauben, dass ich das war. Weiß der Teufel, warum. Ich hab den Eindruck, als ob die mir weiter auf den Sack gehen werden. Kennst du hier einen Anwalt, den ich fragen kann wegen ungerechtfertigter Verdächtigung, Belästigung oder so?“

„Nun beruhige dich mal. Du kannst das schließlich nicht gewesen sein. Die können dir gar nichts.“

„Ich bin ja auch nicht beunruhigt. Ich finde das bloß lästig, überflüssig und blöd. Kennst du jetzt einen oder nicht?“

„Auf Anhieb nicht. Ich werde mich aber mal bei meinen bürgerlichen Freunden umhören. Die sind wahrscheinlich von einer ganzen Armada von Anwälten umgeben, wie ich die kenne. Ich melde mich wieder. Oder einer von diesen Anwälten meldet sich. Wie geht’s dir sonst?“

„Gut. Keine besonderen Vorkommnisse. Haha. Und dir?“

„Naja, bin ein bisschen gestresst. Du weißt ja, unser Hauptmann hat Ärger mit der Justiz und vor allem mit den Politfuzzis im Verteidigungsministerium wegen seiner vorlauten Klappe. Hab ihm schon hundertmal gesagt, dass er die Schnauze halten soll. Aber nein, nach drei Bier und Korn muss er natürlich bei vermeintlich seinesgleichen über die lasche Führung, Nigger, Flüchtlinge, das fehlende nationale Bewusstsein und die Politclowns herziehen. Und passt nicht auf, wer alles dabei ist. Und ich muss jetzt eine Zeugenaussage machen. Und weiß nicht genau, was der Staatsanwalt alles in petto hat. Ich hab schließlich keine Lust, wegen Meineids dran zu sein. Aber was soll’s. So hat jeder sein Päckchen zu tragen. Du dein Mordpäckchen, ich mein Eidpäckchen.“

„Sehr witzig! Jedenfalls — ein Anwalt oder du melden sich bei mir. Klar?“

„Okay! Halt die Ohren steif, mein Lieber.“

„Also danke erstmal. Und lass bitte den Scheiß mit ‚mein Lieber‘. Du weißt, dass ich da empfindlich bin. Ciao.“

„Tschüss. Und mach dir keine Sorgen.“

„Jaja.“

Scoferino beendete das Gespräch, legte die Fingerspitzen aneinander und das Kinn auf die beiden Zeigefinger. Dann gab er sich einen Ruck, erhob sich und ging in sein Lokal. Nein, er war nicht wirklich beunruhigt. Das entsprach nicht seinem Naturell. Aber eine gewisse Verunsicherung hatte sich in seinem Unterbewusstsein eingenistet und gab sich alle Mühe, dort zu bleiben. Vielleicht hing das auch damit zusammen, dass Scoferino das erste Mal in seinem Leben etwas mehr zu verlieren hatte als sein Leben.

Das Joystick war sein Werk, seine Idee. Hier war sein Konzept verwirklicht worden: nicht nur Spielcasino und Sportsbar, sondern zusätzlich ein wirklich gutes, hervorragend eingerichtetes Restaurant. Im Grunde sein ganzer Stolz, gerade weil er in seinem seitherigen Leben keinerlei Beziehung zu Küche und Dienstleistung gehabt hatte. Er war zwar nur zu einem Fünftel Eigentümer, aber dennoch mit vollem Herzen bei der Sache, zu fünf Fünftel sozusagen. Er hatte nach seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr durch die Arbeit in einem herkömmlichen Casino in Pforzheim die Eingebung, nicht nur eine Spielhalle zu betreiben, sondern in Kombination mit einem Restaurant und einer Sportsbar. In Ostratal fanden er und sein Geschäftspartner, dem auch der andere Laden gehörte, die passende Umgebung. Und zwar genau auf der Grenze zwischen einem großen Gewerbegebiet mit kleinen und mittleren Unternehmen der Handwerks- und Dienstleistungsbranche auf der einen Seite und Wohnbebauung auf der anderen. Und keine Gaststätte in der näheren Umgebung. Idealerweise war dort ein Gebäude in der Carl-Benz-Straße frei geworden, in dem junge Leute eine Internetfirma gegründet hatten, die sich nun vergrößern und umziehen musste. In das Haus musste zwar einiges investiert werden, vor allem in eine ordentliche Küche mit entsprechenden Kühlräumen, leistungsstarkem Dunstabzug, immenser Elektro-Verstärkung und dergleichen. Aber sein Geschäftspartner war sogleich Feuer und Flamme.

So entstanden drei teils nur indirekt miteinander verbundene Räume: das modern eingerichtete Restaurant mit achtzig Plätzen, dazu als Sahnehäubchen eine Freifläche für nochmals vierzig Gäste. Die eigentliche Spielhalle mit ihren funktionalen Automatenreihen, Spiel- und Billardtischen. Und als weitere Attraktion die Sportsbar mit riesigen Monitoren für die Übertragung von Sportereignissen aller Art, Pferde- und Hunderennen, Fußballspielen aus allen Ligen der Welt und auf was sich sonst noch wetten ließ. Dabei konnten die einzelnen Übertragungen mit Kopfhörern individuell und geräuscharm verfolgt werden. Die Sportsbar war vorwiegend mit Stehpulten eingerichtet. Verbunden wurden diese drei Lokalitäten durch einen zentralen Thekenraum, von dem aus alle Räume gut einsehbar waren. Insbesondere das Casino, der heikelste Teil der Einrichtung, musste ständig im Auge behalten werden. Dort allerdings und in der Sportsbar wurde so richtig Geld gemacht.

Ein Traum von Theke bildete den Mittelpunkt des gesamten Betriebs. Die rund siebzehn Meter Länge waren mit dreißig absolut originellen Barhockern ausgestattet, die Toilettensitze, Männer- und Frauenbeine, Fahrradsättel, Berliner Mauerteile und ähnlich skurrile Gegenstände darstellten. Die Rückwand schien durch eine optische Täuschung voll verspiegelt zu sein und war mit allen alkoholischen und nichtalkoholischen Getränken versehen, die das Herz begehrt. Das Publikum bestand tagsüber aus Mitarbeitern der vielfältigen Betriebe des großflächigen Industrie- und Dienstleistungsgebiets im blauen Anzug wie im blauen Anton. Vor allem aus den direkt umliegenden Unternehmungen. Für einen kleinen Imbiss in der Mittagspause oder zum Spielen und Wetten. Abends kamen ganz unterschiedliche Besucher aus der Wohnnachbarschaft, aber auch von weiter her, manche für eine schnelle Mahlzeit, andere für ein gemütliches Abendessen. Beiden war gemein, die Gelegenheit gerne zu nutzen, auf die Schnelle mal zehn Euro am Spielautomaten zu verlieren zum Beispiel auf dem Weg zur Toilette. Und dann die hungrigen Gestalten, die sich nur im Casino rumtrieben. Dort trafen sich stets Spieler unterschiedlichsten Charakters, alle mit dem unruhigen Blick derer, die auf die nächste Chance hofften. Und natürlich die Wettfreaks: äußerlich cool bis auf den Grund ihres Whiskyglases, innerlich brodelnd und bei Verlust oder Gewinn explodierend. Geöffnet wurde um zehn Uhr morgens, geschlossen um ein Uhr nachts. Sonntags blieb der Spielbereich des Joystick geschlossen. Nur das Restaurant hatte geöffnet.

Als sich Scoferino in seinem Lokal umsah, fiel sein Blick nachdenklich auf eine südländisch wirkende, aber aus dem Oberschwäbischen stammende kleine Schönheit. Klein im doppelten Sinne, sowohl körperlich mit ungefähr 1,60 Meter Größe als auch nicht wirklich umwerfend gutaussehend. Petra Rückert wechselte sich mit Tim Bernhard ab in der Aufsicht über die Spielautomaten, Spiel geräte und Spieltische. Sie tauschten auch den Dienst hinter der Theke. Auf ihrem erhöhten Stuhl wirkte sie fast wie eine Schiedsrichterin beim Tennismatch. Ende dreißig, rund, wo sie rund sein sollte. Mit einem ansprechenden Gesicht, das von großen, dunklen Augen beherrscht wurde, so wie von einem etwas zu breiten, stets zum Lächeln bereiten Mund. Dunkles Haar bis zu den Schultern mit einem dichten Pony und eine natürliche Bräune vervollständigten den südlichen Typ. Mütterlich groß- und gleichzeitig sinnlich offenherzig. Sie war glücklich verheiratet, was sie nicht hinderte, für eine interessante Liebelei, sprich einen anderweitigen guten Fick bereit zu sein. Gerne mit ihrem Chef, aber auch mit einem der hübschen jungen Männer, die das Joystick besuchten. Dabei fühlte sie sich ihrem Mann treu verbunden und würde ihn nie verlassen. Ihr Gatte arbeitete Schicht wie sie auch. Leider zu völlig unterschiedlichen Zeiten.

Scoferino kam das Arrangement mit ihren gelegentlichen Seitensprüngen recht, entsprach es doch seinen eigenen Bedürfnissen. In der Küchencrew war noch eine Mit arbeiterin beschäftigt, die in Sachen Liebe zu Scoferinos Freude ähnlich eingestellt war. Ernten ohne zu säen. Als Scoferino Petra Rückert auf ihrem erhöhten Sitz sah, die träumerischen Augen in weite Fernen gerichtet, dachte er daran, dass er schon längere Zeit kein warmes Bett mit noch wärmerem Inhalt genossen hatte. Aber nach kurzer Zeit kehrten seine Gedanken zu seinen geschäftlichen Interessen zurück. Sein Konzept war aufgegangen und hatte Erfolg. Sein Werk, sein Joystick, sein Leben. Das wollte er noch nicht mal ansatzweise riskieren.

Kapitel 3

Im großen Sitzungssaal des Polizeipräsidiums Ostratal fand fast zeitgleich eine Besprechung mit allen Dezernatsleitern und Dezernatsleiterinnen sowie ihren Stellvertretern und Stellvertreterinnen statt. Die Spitze des Präsidiums, die Pressesprecherin und die Stabstellen für Diesundjenes sowie die Leitende Oberstaatsanwältin waren erschienen. Es musste sich also um eine äußerst prekäre Angelegenheit handeln. Selbst die Dienst ältesten unter den Anwesenden konnten sich nicht erinnern, einen derartigen Auftrieb erlebt zu haben. Der Polizeipräsident ergriff das Wort.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesinnenminister hat die Fachminister der Bundesländer um größtmögliche Unterstützung gebeten bei der Aufklärung des Terroranschlags am letzten Sonntag, der Verfolgung und Verhaftung der Täter sowie der Hintermänner und gegebenenfalls Hinterfrauen.“

Das konnte sich der Altmacho doch nicht verkneifen.

„Unser Innenminister hat dieser Bitte entsprochen, sodass wir sowohl personell als auch logistisch unsere Kollegen vom BKA, der Bundespolizei und den Verfassungsschutzämtern verstärken werden. Von der Staatsanwaltschaft Ostratal wurden bereits zwei ihrer Staatsanwälte abgestellt.“

Der Polizeipräsident blickte zur Leitenden Oberstaatsanwältin, die zustimmend mit dem Kopf nickte.

„Und wir werden zwanzig Beamtinnen und Beamte abgeben. Die meisten von ihnen scheinen hier vor Ort arbeiten zu können, aber einige werden auch im Polizeipräsidium Heidelberg beziehungsweise beim Bundeskriminalamt Wiesbaden eingesetzt. Gestatten Sie mir, dass ich jetzt unsere Planung hierfür bekanntgebe. Im Anschluss daran können wir gerne diskutieren. Bei guten Argumenten Ihrerseits sind Änderungen durchaus möglich. Die Argumente müssen aber schon verdammt überzeugend sein. So, also vom Dezernat Gewaltdelikte und Mord die Kriminaloberkommissarin Herbstritt und der Kriminalkommissar Michels, vom Betrugsdezernat …“

Nachdem der Präsident seine grundlegenden Entscheidungen unterbreitet hatte, setzte ein immer lauteres Gemurmel ein, bis er sich mit seiner Sitzungsglocke Gehör verschaffte. Er bat die Anwesenden, in aller Ruhe durch Handaufheben Wortmeldungen abzugeben, die dann nach und nach beantwortet würden oder gar zu einer Revision der einzelnen Planungsinhalte führen könnten. Nach einer halben Stunde heftiger Diskussionen blieb es jedoch bei der Vorlage der Chefetage.

Der Dezernatsleiter Gewaltdelikte und Mord, Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Mohr, kehrte kopfschüttelnd in sein Büro zurück und teilte den dort Anwesenden mit, dass Frau Herbstritt und Herr Michels ab sofort von ihren Fällen abgezogen seien. Frau Herbstritt sei nach Wiesbaden zum BKA überstellt und Herr Michels nach Heidelberg zum dortigen Polizeipräsidium. Allerdings könne Frau Herbstritt wahrscheinlich per Internet von hier aus arbeiten, müsse aber gewährleisten, dass sie ausschließlich für das BKA tätig werde. Anschließend bat Mohr Herbstritt und Braun in sein Büro, um sich auf den neuesten Stand in der Sache Tornetti bringen zu lassen, die in der Mordkommission unter der Bezeichnung ‚Firehand‘ lief. Kaum im Büro ihres Chefs angelangt, wollte die Oberkommissarin ihrer Wut freien Lauf lassen. Aber der unterbrach sie sofort.

„Frau Kollegin.“ Er seufzte tief. „Es hat gar keinen Zweck. Ihre Abordnung ist entschieden. Seien Sie froh, dass Sie die Arbeit von hier aus leisten können. Und jetzt bitte, wie ist der Sachstand? Ich werde mich selber gemeinsam mit Ihrem Kollegen weiter um diesen Mordanschlag kümmern müssen. Wobei die Hauptarbeit bei Ihnen liegen wird, Herr Braun.“

„Bei diesem ungewöhnlichen Mord mit noch ungewöhnlicherer Tatwaffe handelt es sich ganz sicher nicht um ein Eifersuchtsdrama, Raub, Blutrache oder sowas. Da scheint mir wesentlich mehr dahinter zu stecken. Bandenverbrechen beziehungsweise Revierkämpfe oder Begleichung von Mafiarechnungen. Das Opfer war schließlich Albaner, der sich als Italiener ausgab. Da bedarf es doch all unserer Kräfte zur Aufklärung!“, ereiferte sich Herbstritt trotz der Einlassung ihres Chefs.

„Die Anweisung ist klar und deutlich, Frau Kollegin. Sie sind bereits beim BKA. Verstanden?“, wurde jetzt auch ihr Vorgesetzter etwas lauter. „Oder trauen Sie mir die Leitung dieser Ermittlungen nicht zu?“ Er blickte seine Untergebene zornig an. „Besser, ich enthebe Sie einer Antwort. Und noch was, wer hat eigentlich die dämliche Bezeichnung ‚Firehand‘ in die Welt gesetzt? Mit der ich jetzt leben muss, nachdem die auch schon durch die Zeitungen geisterte!“

Herbstritt und Braun verzichteten auf eine Erwiderung. Sie, weil sie immer noch sauer war. Er, weil er sich als begeisterter Karl-May-Fan mit diesem Vorschlag bei seiner Chefin durchgesetzt hatte.

„Aber lassen wir das. So, Frau Herbstritt, wie ist denn nun der Sachstand?“

„Tut mir leid, ich bin bereits beim BKA, wie Sie sagten“, erwiderte sie schnippisch.

„Jetzt zicken Sie nicht rum!“, explodierte Mohr. „Auch wenn mir diese Wortwahl wahrscheinlich einen Verweis einbringen wird. Sie werden sich deswegen ja wohl stante pede beschweren. Im Intrigieren sind Sie bekanntlich ganz groß“, spielte er auf einen Vorfall im Zusammenhang mit seinem Vorgänger Ringwald vor drei Jahren an, im Tonfall immer noch erheblich über Zimmerlautstärke. „Aber denken Sie dran, auch damals hatten Sie keinen großen Erfolg damit. Und wenn Sie mir nicht sofort berichten, was Sache ist, werde ich mich über Sie be schweren, dass es sich gewaschen hat“, drohte Mohr, jetzt fortissimo. Stefan Braun kroch regelrecht in sich zusammen. Stefanie Herbstritt war blass geworden. So hatte sie ihren Dezernatsleiter noch nie erlebt. Da musste wohl einiges eine ganze Weile geköchelt haben, vermutete sie. Dann riss sie sich zusammen und referierte mit zunächst etwas unsicherer, aber zunehmend ruhigerer Stimme die Lage. „Wir wissen leider wenig, vermuten aber eine ganze Menge. Wir kennen die Tatzeit ziemlich genau, weil ein Anruf bei der Feuerwehr um Viertel nach fünf einging, als Tornetti, wie soll ich sagen, noch kokelte.“

Herbstritt blickte fragend zu Mohr. Als er nicht reagierte, fuhr sie fort.

„Der Anruf war anonym, eine männliche Stimme. Die Handynummer unterdrückt. Entweder war es der Täter selber oder ein illegaler Bewohner eines der abbruchbereiten Siedlungshäuschen. Die Spurenlage ist absolut dünn. Kein Hinweis auf den Täter, die Täterin oder mehrere Beteiligte. Keine DNA, kein Fingerabdruck, kein gar nichts. Wir wissen, dass Claudio Tornetti mit Benzin überschüttet und dann angezündet wurde. Das hat unser Brandsachverständiger herausgefunden. Wie das von statten ging, wissen wir hingegen nicht. Auf der Leiche fanden sich Reste geschmolzenen Plastiks verbunden mit geschmolzenem Metall. Das Labor meint, dass dies vielleicht, aber sehr vielleicht Reste einer Wasserspritzkanone sein könnten. Aber unsere Kollegen sind sich alles andere als sicher. Außerdem fanden wir einen angekokelten Regenmantel der Marke Klepper, grün, Größe 58. Und ebenfalls angekokelte Gummihandschuhe, wie sie zur Gartenarbeit benutzt werden. Aber diese Sachen haben uns bis jetzt nicht weitergebracht. Zeugen: Keine.“ „Wie haben Sie die Identität der Leiche ermitteln können?“ erkundigte sich Mohr in jetzt ebenfalls ruhiger Stimmlage.

Herbstritt schaute zu ihrem Kollegen, der daraufhin mit dem Bericht fortfuhr.

„Tornetti trug einen ledernen Geldbeutel in der Gesäßtasche seiner Hose. Da er zusammensank, während seine Kleidung brannte und er langsam durch Sauerstoffentzug erstickte, entwich aus der Gesäßtasche Luft und entzog dem Feuer örtlich die Nahrung. Außerdem brennt Leder nicht so schnell. Tornetti ist dann umgefallen, und zwar auf den Rücken, und das löschte den Brand im Bereich des Hinterteils. So erklärte es uns besagter Brandschutzexperte. Dadurch ist der gesamte Inhalt des Portemonnaies einschließlich Ausweis, Führerschein und so weiter erhalten geblieben.“

„Claudio Tornetti wird von unseren Kollegen der Abteilung Betrug und Bandenverbrechen verdächtigt, Geldeintreiber einer neuen Racket-Bande zu sein, die seit einigen Monaten versucht, hier in Ostratal ihren Laden aufzuziehen“, ergänzte Herbstritt. „Ein italienischer Clan, möglicherweise mit albanischen Querverbindungen. Über Tornetti gibt es weder in Deutschland noch in Italien eine Akte. Mit dessen persönlichen Daten existiert überhaupt keine Person. Was auch kein Wunder ist, da er ausweislich der Fingerabdrücke, die in seiner Wohnung gefunden wurden, ein Albaner namens Bekim Bajrami ist.“

„Geht’s nicht ein bisschen weniger ausufernd?“, ermahnte Mohr die Berichterstatterin.

„Ich werde mir Mühe geben. In Albanien war er mehrfach vorbestraft wegen Körperverletzung und bekannt unter dem Spitznamen ‚Der Italiener‘, weil er perfekt italienisch sprach. Er wurde auch eines Mordes verdächtigt. Es konnte ihm aber nichts nachgewiesen werden. Ihm wurde nachgesagt, dass er Mitglied einer mafiaähnlichen albanischen Bande war, allerdings nur ein einfaches. Darauf deutet auch die Art seiner Vorstrafen hin. Als Albaner mit diesen Vorstrafen hätte er nie und nimmer einen Aufenthaltstitel in Deutschland bekommen. Sicherlich deshalb hat er sich einen ziemlich gut gefälschten italienischen Pass besorgt. Die bekommt man in Albanien mit bester Qualität für einen nicht zu hohen Preis.“

„Frau Herbstritt …“, bat Mohr mit gequältem Gesichtsausdruck.

„Okay, also zunächst zum Tathergang. Wir vermuten mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Bajrami alias Tornetti von einem Spiel des VfR Ostratal kam, das gegen 16.15 Uhr zu Ende war. Er war immer bei den Heimspielen und hatte ein Ticket im Portemonnaie. Normalerweise wird er auf dem Weg nach Hause mit der Straßenbahn Linie vier die Rudolfstraße bis zur Haltestelle Regelerstraße gefahren sein, lief die dann Richtung Mulferdingerstraße, in der er wohnte, bis er schätzungsweise um Viertel vor fünf bis fünf auf der Höhe einer Großgärtnerei auf seinen Mörder traf. Dieser Heimweg nach einem Spiel war in seinem Freundeskreis allgemein bekannt. Bajrami war wohl ein Gewohnheitsmensch. Deshalb bedurfte es keiner großen Recherchen des Täters, um seine üblichen Wege rauszufinden. Er verließ das Stadion immer direkt nach dem Abpfiff. Im Übrigen gehen wir davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelte. Der trug den aufgefundenen Regenmantel wahrscheinlich zum Schutz vor Benzinspritzern, die vom Windstoß in seine Richtung geweht werden konnten. Nehmen wir an. Und da wir nur einen …“ „Ist gut, Frau Herbstritt, ich habe es verstanden“, wurde sie von ihrem Chef unterbrochen. „Zum Täter. Gibt es Hinweise?“

Erneut blickte Herbstritt auffordernd zu ihrem Mitarbeiter, der gerne fortfuhr.

„Naja, Beweise haben wir nicht. Und handfeste Indizien auch nicht. Aber eine Vermutung. Und zwar gehen wir davon aus, dass einer der von der Racket-Bande angesprochenen Geschäftsleute nicht zahlen wollte. Und selbst tätig wurde, statt die Polizei zu rufen. Um der Bande durch ein Exempel zu zeigen, dass mit ihm nicht zu spaßen sei. Unsere Kollegen halten das für eine durchaus mögliche Arbeitshypothese, zumal von einem Bandenkrieg oder von inneren Konflikten nichts, aber auch gar nichts bekannt ist. Jedenfalls haben die Recherchen über in Frage kommende Geschäftsleute ergeben, dass einer von ihnen, ein gewisser Johannes Scoferino, genannt Giovanni, für eine solche Tat in Frage kommen könnte. Er war rund zwanzig Jahre bei der Bundeswehr, hat harte Spezialausbildungen hinter sich, erst als Einzelkämpfer, zuletzt beim KSK. Das ist …“

„Danke, Herr Braun, ich weiß, was das ist. Fahren Sie bitte fort.“

„Im Rahmen dieser Ausbildungen war er mehrmals im Ausland eingesetzt. Über die Einsätze innerhalb des Spezialkommandos wird ja nichts bekannt, streng geheim. Aber die Angehörigen müssen wirklich harte Hunde sein. Jedenfalls hat uns ein Vögelchen gezwitschert, dass Scoferino im Rahmen diverser Einsätze eine Ausbildung als Feuerwerker und auch als Feuerbekämpfer erhielt. Nachgewiesen ist ein Kontakt mit Bajrami unter dessen Aliasnamen Tornetti, und zwar ein körperlicher, eine ziemlich einseitige Schlägerei. Nachgewiesen ist auch ein Brand im Lokal Joystick, einem Spielcasino mit angeschlossenem Restaurant, wenn man so will. Geschäftsführer und Miteigentümer ist, na, wer wohl, genau — unser Scoferino.“

Sowohl Herbstritt als auch Mohr verdrehten synchron ihre Augen zur Zimmerdecke.

„Und der behauptet, Tornetti alias Bajrami oder umgekehrt nicht zu kennen. Er räumt zwar den Brand ein, erklärt aber, dass dies ein kleines Feuer war und kein Brandanschlag. Und verprügelt habe er niemanden, auch keinen Tornetti alias Bajrami. Scoferino ist absolut unkooperativ und regelrecht frech, um nicht zu sagen, eiskalt. Dem wird schwer beizukommen sein, meiner Meinung nach.“

„Aber das klingt doch sehr vielversprechend. Haben Sie ihn schon nach einem Alibi gefragt, Frau Herbstritt?“

„Sicher, aber keine Antwort erhalten. Und wir haben nicht so viel in Händen, dass wir nachhaltiger darauf bestehen können.“

„Na, das werden wir doch mal sehen, was, Herr Kollege Braun? Da bleiben wir am Ball. Kleiner Scherz am Rande.“ Herbstritt und Braun kapierten den ersichtlich nicht. Beide blickten angestrengt zum Fenster hinaus.