Schmitts letzter Fall - Manfred Klimanski - E-Book

Schmitts letzter Fall E-Book

Manfred Klimanski

4,9

Beschreibung

In der fiktiven 300.000-Einwohner Metropole Ostratal irgendwo in Süddeutschland tobt eine heftige Auseinandersetzung um die zukünftige Kulturpolitik. Langfristig liegt der Fokus auf einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Kunstbetriebs. Das philharmonische Orchester ist schon aufgelöst, ein Ensemble für Neue Musik beschlossene Sache. Heftig umstritten ist die Vergabe der Leitung an eine finnische Komponistin. Gekämpft wird mit allen Mitteln, von der Streuung unschöner Gerüchte bis hin zu handfester Verleumdung. Und nicht zuletzt Mord. Schmitt, der eigentlich nur ein paar Instrumentendiebstähle aufklären soll, gerät unvermittelt in den Sog der dramatischen Ereignisse, die unter anderem tief in die Geschichte Finnlands hineinreichen. Die finnische Musikgeschichte muss nach diesem Roman dennoch nicht neu geschrieben werden ...

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ZUM BUCH

In der fiktiven 300.000-Einwohner Metropole Ostratal irgendwo in Süddeutschland tobt eine heftige Auseinandersetzung um die zukünftige Kulturpolitik. Langfristig liegt der Fokus auf einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Kunstbetriebs. Das philharmonische Orchester ist schon aufgelöst, ein Ensemble für Neue Musik beschlossene Sache. Heftig umstritten ist die Vergabe der Leitung an eine finnische Komponistin. Gekämpft wir mit allen Mitteln, von der Streuung unschöner Gerüchte bis hin zu handfester Verleumdung. Und nicht zuletzt Mord. Schmitt, der eigentlich nur ein paar Instrumentendiebstähle aufklären soll, gerät unvermittelt in den Sog der dramatischen Ereignisse, die unter anderem tief in die Geschichte Finnlands hineinreichen. Die finnische Musikgeschichte muss nach diesem Roman dennoch nicht neu geschrieben werden …

ZUM AUTOR

Manfred Klimanski, Jahrgang 1947, war insgesamt zweiundvierzig Jahre in der Verwaltung von Musikhochschulen tätig, zunächst in Stuttgart, dann seit 1979 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2011 als Kanzler der Hochschule für Musik Freiburg. Kein Wunder, dass er es auf Musiker abgesehen hat.

Der erste Roman seiner Trilogie »Schmitts Fall« aus dem Musiker- und Musikbetriebsmilieu mit dem Privatermittler Schmitt, dessen Exfrau Mälis und dem Kriminalhauptkommissar Ringwald erschien im Juni 2014, der zweite »Schmitts tiefer Fall« im Mai 2015. Mit dem vorliegenden Buch wird die Reihe abgeschlossen. Weitere Bücher sollen folgen, sofern Schmitt seinen letzten Fall überlebt.

Für Marek, Mirja und Mascha.

Meine Wonnen, meine Augenweiden.

Eine Ähnlichkeit der Figuren dieses Romans mit lebenden oder toten Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Soweit Personen der Zeitgeschichte namentlich genannt werden, können deren Hintergründe wahr oder erfunden sein …

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«

THEODOR W. ADORNO

»Doch.«

SCHMITT

Inhaltsverzeichnis

KUNST UND KULTUR IN OSTRATAL: EINS

DIE INSTRUMENTENVERSICHERUNG: EINS

DAS MÄZENATENTUM: EINS

KUNST UND KULTUR IN OSTRATAL: ZWEI

DIE INSTRUMENTENVERSICHERUNG: ZWEI

KUNST UND KULTUR IN OSTRATAL: DREI

POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN: EINS

KUNST UND KULTUR IN OSTRATAL: VIER

PRIVATE ERMITTLUNGEN: EINS

DAS MÄZENATENTUM: ZWEI

PRIVATE ERMITTLUNGEN: ZWEI

DIE INSTRUMENTENVERSICHERUNG: DREI

FINNISCHE IMPRESSIONEN: EINS

FINNISCHE IMPRESSIONEN: ZWEI

FINNISCHE IMPRESSIONEN: DREI

SCHMITT: EINS

POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN: ZWEI

KUNST UND KULTUR IN OSTRATAL: FÜNF

PRIVATE ERMITTLUNGEN: DREI

DIE INSTRUMENTENVERSICHERUNG: VIER

DAS MÄZENATENTUM: DREI

POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN: DREI

PRIVATE ERMITTLUNGEN: VIER

POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN: VIER

PRIVATE ERMITTLUNGEN: FÜNF

DIE INSTRUMENTENVERSICHERUNG: FÜNF

POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN: FÜNF

PRIVATE ERMITTLUNGEN: SECHS

RINGWALD: EINS

SCHMITT: ZWEI

SCHMITT: DREI

RINGWALD: ZWEI

SCHMITT: VIER

PERSONEN

DANK

KUNST UND KULTUR IN OSTRATAL

EINS

»Ich bitte Sie, meine Damen und Herren.«

Dr. Peter Rechenberg versuchte zum wiederholten Mal, sich Gehör zu verschaffen.

»So lassen Sie mich doch …«

Aber auch dieser x-te Anlauf, den Mitgliedern des Kulturausschusses im Stadtrat von Ostratal nebst dem Arbeitskreis sachverständiger Bürger das Vorhaben zur Auflösung des städtischen Philharmonischen Orchester zumindest zu erläutern, blieb fruchtlos. Die Empörung und vor allem die Lust, sich zu empören, kochten und brodelten unbeeinflussbar. Und nahmen Formen an, die denen der Ultras der Fanszene des VfR Ostratal in keiner Weise nachstanden.

Rechenberg zog kurz die Augenbrauen hoch, starrte verzweifelt die Tischplatte vor sich an, auf der Tabellen, Statistiken und Zahlenreihen auf ihren Einsatz warteten. Er atmete tief durch.

»Bitte hören Sie mir zu! So geht das doch nicht!«

»Sehr richtig, so geht das nicht!«, donnerte der kulturpolitische Sprecher der Mehrheitsfraktion, Sigmund Altener. Und plötzlich wurde es tatsächlich still.

»So geht das ganz und gar nicht«, fuhr Altener mit lauter Stimme fort. «Vor sieben Jahren haben Sie uns mit den Schreckenszahlen einer Überschuldung dazu gebracht, unser Theater aufzulösen. Gleichzeitig versprachen Sie dem damaligen Opernorchester eine Zukunft als Philharmonisches Orchester, einem – wie Sie es ausdrückten – künstlerischen Leuchtturm unserer Stadt. Und jetzt kommen Sie mit demselben Murks und behaupten, das Orchester sei nicht mehr finanzierbar. Und wollen uns mit einem anderen Leuchtturm ködern, einem festinstallierten Ensemble für Neue Musik nebst der Stelle eines Stadtkomponisten. Als Alleinstellungsmerkmal. Lauter inhaltslose Schlagwörter. Und was wird dann in weiteren sieben Jahren folgen? Ein Einmann- oder Einefrau-Leuchtturm als Stadtblockflöte? Nicht mit uns, Herr Kulturabbruchbürgermeister!«

Rechenberg schüttelte den Kopf, sammelte seine Unterlagen ein und entschuldigte sich mit einem unaufschiebbaren Termin, den er noch wahrnehmen müsse. Dann verließ er die Ausschusssitzung. Er war ganz und gar nicht glücklich mit der seitens der Oberbürgermeisterin und deren Partei betriebenen Auflösung der Ostratäler Philharmonie. Und noch weniger glücklich damit, dass sich diesem Vorhaben selbst seine politische Gruppierung angeschlossen hatte. Wenigstens hatte er aber immerhin einen neuen Klangkörper ausverhandelt. Wenn auch nur durch die glückliche und völlig unerwartete Fügung in Gestalt einer engelsgleichen Sponsorin. Die bei Lichte betrachtet eher eine rabiate Geldgeberin war.

Der nette Dr. Peter Rechenberg. Mittlerweile siebenundfünfzig Jahre alt, seit neun Jahren Kulturbürgermeister in Ostratal. Feinsinnig, charmant, stets bestens gekleidet, schlank und sportlich und immer tipptopp frisiert. Nach außen vermittelte er den Eindruck, nicht sehr durchsetzungsfähig, geschweige denn kämpferisch zu sein. Aber auf seine nachdrückliche, konziliante Art fand er doch häufig Kompromisslinien, die dann auch hielten. Vor allem, weil die Verhandlungspartner regelmäßig der Illusion unterlagen, die Vorschläge stammten von ihnen. In seiner eigenen Partei wurde er in einer diese Tatsache verkennenden Einschätzung als wandelnder Kleiderständer verspottet.

Vor drei Jahren unterlag er einer frischen, frechen CUV-Kandidatin bei der Oberbürgermeisterwahl und konnte von Glück sagen, mit ihrer Unterstützung voriges Jahr für eine letzte Amtszeit als Bürgermeister seiner DPU durchgeboxt worden zu sein. Seitdem konnten ihm beide, seine Partei ebenso wie seine Chefin auf der Nase herumtanzen, was allerdings die Frau Oberbürgermeisterin nur sehr sparsam tat. Und eigentlich nie zu ihrem reinen Vergnügen. Eigentlich …

Einige Tage nach der Ausschusssitzung versuchte Rechenberg erneut, das Stadtoberhaupt in dessen außerordentlich sachlich und nüchtern eingerichtetem Büro im achten Geschoss des Rathauses, einem schrecklichen Zeugnis architektonischer Phantasielosigkeit der siebziger Jahre im Herzen Ostratals, unter Verweis auf die heftigen Widerstände von dem Vorhaben abzubringen, das städtische Orchester aufzulösen. Er fühle sich als Minenhund, der austesten müsse, wie stark das Feld der Auflösungsgegner sei und inwieweit diese Gegner größere Bürgerbewegungen zu mobilisieren vermögen. Er erhalte deswegen von allen Seiten Prügel. Von den Kulturpolitikern und deren Unterstützern werde er – und niemand anderer – als Totengräber des Orchesters beschimpft, als Weichei, als einer, der sich mit einer lächerlichen Ersatzlösung zufrieden gebe. Desgleichen von den Finanz-, Sozial- und Sportpolitikern: Ein Geldvernichter übelster Sorte sei er, zugunsten einer brotlosen Kunst, einer »Neuen Musik, die nur einige verquaste Einzelgänger interessiere«.

»Aber Herr Dr. Rechenberg.« Diesen etwas gönnerhaften Ton kannte der Kulturbürgermeister mittlerweile zur Genüge. »Lieber Herr Dr. Rechenberg, ich goutiere doch Ihre internen Bemühungen um den Erhalt des Orchesters. Und erst recht Ihr loyales externes Verhalten in der Frage der Auflösung. Aber Sie wissen auch, dass ich bereits eine Mehrheit im Stadtrat für dieses Projekt habe. Nicht nur in Ihrer, sondern verblüffenderweise auch in meiner Partei«, bei dieser Wortwahl musste sie selbst breit lächeln, »und bei den Blauen. Und ehrlich gesagt, aber nur unter uns: Mir ist es völlig schnurz, ob wir statt des Orchesters Ihre Idee mit dem Ensemble für Neue Musik und dem Stadtkomponisten umsetzen oder nicht. Ich würde am liebsten einen Strich unter das Ganze ziehen. Wir brauchen schließlich jeden Cent für den Wohnungsbau und für die Integration der Zuwanderer.«

»Flüchtlinge«, warf Rechenberg ein.

Frau Dr. Scherpen sah ihn mitleidig an.

»Jaja, Flüchtlinge. Aber viele werden hierbleiben. Und dann sind es Zuwanderer. Und die werden ihre Familien nachholen. Das erfordert nicht nur zusätzlichen Wohnraum, sondern Kindergärten, Schulen, Sozialarbeit. Wem sage ich das, das wissen Sie ja alles selbst.«

Frau Dr. Sandra Scherpen, die einundvierzigjährige, flotte Oberbürgermeisterin, mit ihren schulterlangen, dunklen Haaren und dem Retro-Pony, dezent geschminkt, im hellen Hosenanzug, durchaus füllige Figur, wenngleich dies aufgrund ihrer 1,75 Meter Körperlänge nicht sonderlich auffiel, ertappte sich selber bei dieser Wahlkampfrede und verstummte. Völlig unangemessen, sich derart ins Zeug zu legen. Mit nur einem Zuhörer.

Rechenberg war verwirrt. Oder tat wenigstens so.

»Ich dachte, wir seien uns einig gewesen mit der Gründung des Ensembles. Wir brauchen diesen künstlerischen Leuchtturm. Vor allem, nachdem das Streichquartettfestival auch noch weggefallen ist. Und seit ich Frau Von der Kamp als Sponsorin gewonnen habe, waren Sie doch mit der parallelen längerfristigen Auf- und Abbaustrategie der Ensembles einverstanden.« »Ja, natürlich«, beschwichtigte Scherpen. »Dabei bleibt es auch. Ich wollte Ihnen nur noch einmal meine grundsätzliche Position klarmachen. Selbstverständlich ist ein bisschen Hochkulturpolitik für das Image unserer Stadt wichtig. Wobei ich mir ein wenig mehr Unterstützung seitens unserer verehrten Ober- und Mittelschichtsangehörigen gewünscht hätte. Die halten doch alle die Taschen ihrer Spendierhosen zugenäht. Aber maulen, wenn die Stadt kürzt und streicht. Es hat mich allerdings schon immer gestört, dass für einen dermaßen kleinen Kreis an Klassikliebhabern überproportional viel Steuergeld aufgewendet wird. Und von denen wiederum ist nur eine Minderheit für die zeitgenössische Musik zu begeistern. Das sind dann vielleicht mal fünfhundert oder bestenfalls tausend Wähler, für die wir uns in dieser Sache krummlegen. Nicht falsch verstehen, mein Lieber, aber ich habe schließlich den Auftrag, mich vorwiegend um die Mehrheit und deren Anliegen zu kümmern.«

»Aber das Ensemble wird sich ja auch mit dem Jazzbereich befassen.«

Scherpen verzog das Gesicht.

»Diese Art von akademischen Jazz kann ein normaler Mensch doch genauso wenig hören wie die völlig verkopfte Neue Musik. Aber beruhigen Sie sich. Ich halte Ihnen die Stange bei Ihrem Vorhaben, zumal die Musiker Ihrem Modell zufolge ihren Auftrag auch in der Musikschule, bei den Chören und Laienensembles wahrnehmen. Sie haben mein Wort. Und dabei bleibt es.«

Rechenberg hätte darauf wetten können, dass seine Chefin hinter ihrem Rücken Zeige- und Mittelfinger kreuzte.

»Noch einmal: Kunst und Kultur können wir für Ostratal auch einkaufen. Dabei muss es sich ja nicht um das Tournee-Theater Deichgraf handeln. Wir holen uns Produktionen aus Avignon, Sprechtheater aus Zürich und Frankfurt, Ballett aus Amsterdam. Orchester aus Überall. Das müssen wir nicht alles selbst unterhalten. Mit Museen wäre das weitaus komplizierter.«

Scherpen schaute Rechenberg belustigt an. Plötzlich fröstelte es ihn. Meinte sie das etwa ernst? Waren das jetzt die neuen Zeiten?

»Oder sind Sie etwa anderer Meinung?«, konnte sie es nicht lassen, ihn zu provozieren.

So verbindlich, nett und immer positiv die Oberbürgermeisterin auch wirkte, so pragmatisch sie auch sein konnte, im Kern war sie knallhart, zynisch, schnoddrig. Und stets erfolgsorientiert. Die macht noch eine große Karriere, ein ganz große. Dessen war Rechenberg sich sicher.

»Meine Damen und Herren, ich eröffne die heutige nicht öffentliche Sitzung des Kulturausschusses. Tagesordnungspunkte sind erstens die Auflösung des städtischen Philharmonischen Orchesters und zweitens die Gründung eines ebenfalls städtischen Ensembles für zeitgenössische Musik einschließlich der Schaffung der Stelle eines Stadtkomponisten beziehungsweise einer Stadtkomponistin. Wie wichtig mir diese in sich zusammenhängende Angelegenheit ist, ersehen Sie daraus, dass ich in Absprache mit meinem geschätzten Kollegen Dr. Rechenberg die Sitzung selbst leite. Herr Dr. Rechenberg, ich bitte Sie, das allen seit geraumer Zeit vorliegende Beschlussvorhaben zu erläutern. Im übrigen sage ich bereits jetzt in aller Klarheit, dass ich darauf bestehen werde, heute zu einer Abstimmung zu kommen, damit wir nächste Woche im Stadtrat einen Beschluss fassen und die notwendigen Folgen ohne weitere Verzögerung in Angriff nehmen können. Herr Dr. Rechenberg, bitte.«

»Wir lassen uns doch nicht unter Druck setzen! So eine Unverschämtheit!«

»Herr Altener, jetzt aber mal langsam. Die Angelegenheit wird bereits seit Wochen hin und her, rum und num, rauf und runter diskutiert. In den Fraktionen, in Bürgerinitiativen, in der Presse. Irgendwann muss es auch mal gut sein. Und dieses Irgendwann ist zum einen hier und heute und zum anderen nächste Woche Dienstag im Stadtrat.«

»Ihre Spar- und Streichpolitik muss doch erstmal in ihrer Gesamtheit dargestellt und diskutiert werden und nicht Salamischeibe für Salamischeibe.«

»Sie haben nicht das Wort, Herr Altener. Aber Sie können versichert sein, dass die Einsparungen im Vergleich zu den anstehenden enormen zusätzlichen Ausgaben nur einen verschwindend kleinen Aspekt darstellen. Die Auflösung des Orchesters ist vor allem Teil einer zukunftsorientierten, nachhaltigen Kulturpolitik. Und für mich hat Kultur eine umfassendere Ausrichtung als sich im herkömmlichen Kunstbegriff zu erschöpfen. Mir ist auch klar, dass nicht jede größere Stadt ein Orchester mit dem ewig gleichen, angestaubten Repertoire, alibigestützt durch ein paar wenige Werke der Moderne, für ein immer gleiches, ebenfalls weitgehend angestaubtes Publikum …« (»Pfui!«, »Schweinerei!«, »Arrogante Zicke!«) »… benötigt. An der Qualität der Zwischenrufe kann man übrigens durchaus die Notwendigkeit für einen umfassenderen Kulturbegriff erkennen. Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen heute nicht mehr die museale Musik, die können wir uns einkaufen.

Stattdessen ist es hohe Zeit für ein Ensemble, das sich mit dem Jetzt befasst, hochprofessionell und gegenwartsbezogen, ein klingendes Museum für moderne Kunst sozusagen, in dem durchaus auch das zwanzigste Jahrhundert seinen Platz haben wird. Herr Dr. Rechenberg, bitte.«

Rechenberg legte dar, innerhalb welchen Zeitraums das Philharmonische Orchester aufgelöst und durch ein zwölfköpfiges Ensemble nebst der neu geschaffenen Position eines Stadtkomponisten (»Ähnlich einem Hofkomponisten früherer Epochen, verstehen Sie«) ersetzt werden sollte. Dass diese Figur nicht nur das Ensemble leiten und die Programme bestimmen würde, sondern darüber hinaus als Ansprechpartnerin für die pädagogische Arbeit in Musikschule und örtlichen Musikvereinigungen zur Verfügung stünde. Dass sie verpflichtet wäre, mindestens vier Konzerte jährlich in Ostratal zu dirigieren und Konzerttourneen zu vereinbaren, die den Namen Ostratal in alle Welt trüge. Rechenberg schaffte es mit seiner freundlich-temperamentlosen Art, selbst bei diesem höchst umstrittenen Vorhaben den Großteil des Ausschusses in einen Dämmerzustand zu versetzen.

»Und die im übrigen auch Einnahmen einspielen werden. Dem Leiter zur Seite steht ein Geschäftsführer. Verstehen Sie bitte alle Positionen auch in weiblicher Form. Verstärkt wird das Team durch eine Halbtagssekretärin, die Sie bitte auch in männlicher Form verstehen wollen.« (»Wie witzig«)

Rechenberg erläuterte im Folgenden ausführlich die Kostenseite, die er mit insgesamt rund anderthalb Millionen Euro pro Jahr bezifferte, plus einmaligen Ausstattungskosten von rund dreihunderttausend Euro.

»Durch die Auflösung des Orchesters entfallen mittelfristig zweiundsiebzig Personalstellen und ungefähr eine halbe Million Euro an laufenden Sachkosten jährlich. Sie sehen, das bedeutet sozusagen als Abfallprodukt …« (»Unerhört!«) »… – jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich – eine Einsparung von annähernd acht Millionen Euro jährlich. Hinzu kommen einmalige Einnahmen von etwa zweihunderttausend Euro durch den Verkauf der stadteigenen Orchesterinstrumente. Rechnet man den Zuschuss des Landes ein, kommen wir mittel- und langfristig auf eine Summe von jährlich rund drei Millionen Euro Minderausgaben. Und das ist schließlich nicht Nichts, auch wenn diese Einsparung nicht das vorrangige Motiv unserer Oberbürgermeisterin war und ist, wie sie selbst mehrfach darlegte.«

Nun berichtete Rechenberg voller Stolz von einer Sponsorin, die er für eine Mitfinanzierung des Projekts gewonnen habe. Sie unterstütze das geplante Ensemble für Neue Musik mit jährlich fünfhunderttausend Euro auf zehn Jahre. Diese Unterstützung sei allerdings ausschließlich für dieses Projekt zu haben. Sollte es nicht beschlossen oder innerhalb der Laufzeit beendet werden, flössen die Gelder nicht.

»Und so, dank dieses privaten Engagements, mit dieser großzügigen Unterstützung, sehen wir uns in der Lage, das vorgeschlagene Ensemble bereits heute zu gründen, unserem Orchester eine Übergangszeit von fünf Jahren einzuräumen und einen Großteil der Stellen sukzessive im Rahmen einer normalen Fluktuation abzubauen. Deswegen muss die Vorlage der Verwaltung als Gesamtpaket abgestimmt werden. Sollten Sie nicht zustimmen, besteht die Gefahr, dass nach derzeitiger politischer Stimmungslage dann im Plenum des Stadtrates das Orchester aufgelöst wird, ohne ein künstlerisches Äquivalent zu haben.«

»Das ist ja Erpressung!«, ereiferte sich Altener.

»Ach, Herr Altener«, Scherpen konnte nicht anders, das latent Gönnerhafte war ihr augenscheinlich in die Wiege gelegt. »Herr Altener, der Hinweis des Kollegen Rechenberg ist eine notwendige Information. Ohne diese wären Sie gegebenenfalls der Erste, der sich im Fall des Falles höchlichst empören würde.«

»Wie soll denn die Stelle des Stadt- und Landkomponisten besetzt werden?«, witzelte Altener.

Scherpen und Rechenberg schauten sich an. Wusste der was? »Das ist in der Tat eine etwas heikle Frage. Üblicherweise wird eine solche Stelle mit eingehender Schilderung des Profils und der Aufgabenstellung öffentlich ausgeschrieben. Aber in diesem Fall …« Rechenberg suchte nach Worten. »Tatsächlich beabsichtigen wir, diese Position für jeweils vier Jahre befristet auszuschreiben und die Besetzung durch eine Fachjury entscheiden zu lassen. Dabei haben wir eine Verlängerungsmöglichkeit nicht vorgesehen. Nach vier Jahren ist für den Stelleninhaber definitiv Schluss. Dies erscheint uns notwendig, damit immer wieder neue Impulse in das Projekt eingehen. Soweit die Regel. Die Sponsorin macht es jedoch zur Auflage, für die erste Besetzung eine ihr bekannte finnische Komponistin vorzusehen. Ich weise Sie an dieser Stelle übrigens ausdrücklich auf ihre Verschwiegenheitspflicht hin!«

Mit dieser Information schaffte Rechenberg ein Höchstmaß an Unruhe und Zwischenrufen von »Hört, hört!« bis »Das ist doch Korruption!« und holte auch das letzte Ausschussmitglied aus dem Dämmerschlaf. Scherpen hatte alle Mühe, sich vermittels ihrer Schiffsglocke Gehör zu verschaffen.

»Haaaalloooo, nun mal langsam!«

Nach und nach verebbte der Aufruhr.

»Diese eine Kröte muss man schlucken«, erläuterte Rechenberg. »Aber: Ich werde aushandeln, dass die Erstberufung nur auf zwei Jahre erfolgt mit einer einmaligen Verlängerungsmöglichkeit um weitere zwei Jahre. Und zweitens: Diese Komponistin ist eine ausgewiesen erfolgreiche. Sie hat bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Ihre Werke werden häufig gespielt, übrigens von durchaus namhaften Orchestern. Sie hat nicht nur Komposition sondern auch Dirigieren studiert und darin einige Erfahrung. Sie ist Mitte vierzig und beruflich alles andere als ein heuriger Hase. Sie hätte alle Chancen, sich in einem regulären Ausschreibungsverfahren durchzusetzen.

Mit ihr bekämen wir eine ausgezeichnete Vertreterin dieses Genres. Dessen seien Sie versichert.«

»Und ein deutscher Komponist hätte es nicht sein dürfen?«

»Ah, die Vertreterin der nationalen Rechten. Darauf erwarten Sie doch wohl keine Antwort.« Frau Oberbürgermeisterin triefte vor Süffisanz.

»Doch!«

»Wenn es nach diesem herausragenden Beispiel internationaler Sachkunde keine weiteren Wortmeldungen mehr gibt, und wie ich sehe, ist das der Fall, kommen wir nun zur Abstimmung …«

Mit knapper Mehrheit votierte der Ausschuss für die Verwaltungsvorlage. Und mit wesentlich größerer Mehrheit folgte eine Woche später das Plenum des Stadtrates.

DIE INSTRUMENTENVERSICHERUNG

EINS

Nicht weit entfernt vom Rathaus befassten sich einige Herren der Garant-Versicherung AG mit einem Thema, das in ausgesprochener Nähe zum Ostrataler Orchester lag. Die Garant hatte sich vor einigen Jahren durch eine offensive, um nicht zu sagen aggressive Marketingkampagne gegen die führende deutsche Instrumentenversicherung einige Marktanteile geholt und es geschafft, die Dienstinstrumente eines Großteils deutscher Orchester zu versichern. Besonders lukrativ waren dabei Verträge für private, teilweise sehr wertvolle Instrumente einzelner Orchestermitglieder, die diese der Einfachheit halber in die ruhige und zuverlässige Hand der Garant gaben.

Im repräsentativen, etwas pompösen Büro des Vorstandsvorsitzenden Kamphusen hoch über den Dächern Ostratals wurde Rechenschaft verlangt. Und zwar vom Chef der Sparte Instrumente, Axel Steven. Der pummelige Mitfünfziger sah sich einem Triumvirat gegenüber, dem außer Kamphusen noch der Leiter der Revisionsabteilung Ellenbrecht und der Justiziar Roth angehörten. Steven fühlte sich ausgesprochen unwohl. Und er bemerkte, dass er entschieden gegen seinen Willen begann, heftig zu schwitzen.

Kamphusen kam ohne Umschweife zum Kern des Treffens.

»Innerhalb der letzten achtzehn Monate wurden Mitgliedern des hiesigen Orchesters zwei Violinen im Gesamtwert von dreihundertdreiundsiebzigtausend Euro, ein Cello im Wert von einhundertachtzigtausend Euro, eine Bratsche für dreiundneunzigtausend Euro und eine Gold-Querflöte im Wert von dreißigtausend Euro gestohlen. Ist das bis hierhin richtig?« Kamphusen wartete eine Antwort nicht ab. »Zusammengerechnet handelt es sich also um einen Versicherungsschaden von fast siebenhunderttausend Euro. Und Ihnen ist nicht spätestens nach dem dritten angezeigten Versicherungsfall etwas aufgefallen? Die Häufung von Diebstählen privater Instrumente in einem einzigen Orchester hat Ihnen nicht zu denken gegeben? Und der seltsame Zufall, dass die betroffenen Musiker alle Mitte fünfzig oder älter sind?«

»Natürlich fanden meine Mitarbeiter und ich das etwas komisch …«

»Komisch? Haben Sie sich wenigstens köstlich amüsiert?«

Kamphusen, ein durchtrainierter Mittvierziger asketischen Zuschnitts, wie mittlerweile die meisten Wirtschaftsführer offensichtlich mit dem Gen Typ Triathlet ausgestattet, wirkte nicht annähernd amüsiert.

»Nein, natürlich nicht«, versuchte Steven sich zu rechtfertigen. »Ich habe meine Mitarbeiter schon vor Monaten auf die verdächtige Häufung hingewiesen, aber die sprachen nur von einer Delle, wie sie immer mal vorkommen könne. Und ich bin ja erst seit einem Jahr …«

»Nun laden Sie das mal nicht auf Ihre Mitarbeiter ab, Herr Steven!« Die Miene des Vorsitzenden verfinsterte sich zusehends. »Sie hätten den Zusammenhang zwischen der Häufung der Diebstähle, dem Alter der Bestohlenen und nicht zuletzt der in aller Öffentlichkeit diskutierten vorgesehenen Auflösung des Orchesters erkennen müssen. Das stank doch zum Himmel!«

»Diesen Zusammenhang habe ich sehr wohl erkannt. Aber es gab eben keine belastbaren Hinweise auf eine verabredete, konzentrierte, ja bandenmäßig betriebene Aktion bestellter Diebstähle. Bei den Opfern sind keinerlei Anzeichen von krimineller Energie feststellbar. Die Instrumente sind nicht auf den uns bekannten Märkten zum Verkauf angeboten worden. Auch nicht im Internet. Und die Musiker werden sich kaum ihrer eigenen Arbeitsmittel berauben.«

»Das brauchen sie auch nicht«, meldete sich jetzt Roth zu Wort, ebenfalls ein Hungerhaken. »Sie haben nämlich Anspruch auf ein qualifiziertes Dienstinstrument seitens des Orchesterträgers. Und dieses Instrument dürfen sie natürlich auch für ihre Konzerte, Orchesteraushilfen, ihren Unterricht und so weiter nutzen. Wenn auch solche Nebentätigkeiten kaum noch üppig gesät sein werden. Das dürfte Ihnen eigentlich bekannt sein, Herr Steven.«

»Natürlich ist mir das bekannt. Und übrigens habe ich die Polizei auf meine Vermutung aufmerksam gemacht, dass da was nicht koscher läuft. Aber der zuständige Kommissar, ein Schönling namens Kohl, wollte davon nichts wissen.«

»Nun gut, ich will keine Köpfe rollen sehen«, lenkte Kamphusen versöhnlich ein. »Wir müssen uns aber gegen einen weiteren Ausverkauf, wenn ich so sagen darf, wappnen. Und ich will, auf welchem Wege auch immer, die gestohlenen Instrumente zurückbekommen. Dafür sollten wir eine einschlägig befähigte Detektei einschalten. Unsere eigenen Leute wären damit überfordert. Was meinen Sie, Herr Ellenbrecht?«

Der Leiter der Revisionsabteilung nickte.

»Das sehe ich ganz genauso.«

»In Ordnung. Hat jemand einen Vorschlag?«

»Ja, äh, da gab es doch vor einiger Zeit diesen spektakulären Fall von Mord, Millionenbetrug und ähnlichem im Zusammenhang mit dem letzten Streichquartettfestival hier in Ostratal. Der Fall wurde maßgeblich von einem Privatdetektiv namens Schmitt aufgeklärt, soweit ich mich erinnere«, drängte sich Steven eifrig vor.

Kamphusen runzelte die Stirn.

»Wurde der nicht selber wegen … was weiß ich, Behinderung der Behörden oder so ins Gefängnis gesteckt?«

»Nein, er bekam zwar eine Geld- oder vielleicht eine Bewährungsstrafe. Aber er hat auf jeden Fall praktische Erfahrungen im Instrumentenmilieu, wenn ich das so salopp sagen darf …«

»Das kommt gar nicht in Frage«, donnerte Ellenbrecht überraschend los. »Schmitt! Der war bis vor etwa zehn Jahren bei uns in der Schadensabteilung beschäftigt. Und hat gemeinsam mit einem dubiosen Typ, äh, ich komme gerade nicht auf dessen Namen, unsere Versicherung ausgenommen. Mit manipulierten Autounfällen. Außerdem ist das ein Einmann-Unternehmen. Der ist gar nicht in der Lage, ein komplexes Netzwerk von Instrumentenschiebereien zu erkennen, geschweige denn, es aufzudecken.«

»Na ja«, ließ sich Roth süffisant vernehmen, »immerhin hat er Erfahrung mit kriminellen Strukturen. Denn auch manipulierte Autounfälle bedürfen, wenn auch in geringerem Umfang, eines kriminellen Zusammenwirkens.« Er lächelte in die Runde.

»Das mag alles richtig sein«, Steven kämpfte für seine Idee, »Aber erstens spielt auch der Kostenfaktor eine Rolle. Eine einschlägig erfahrene Detektei käme uns sehr teuer. Schließlich wird meine Abteilung damit belastet. Zweitens könnte es sich für uns und eine eventuell nicht ganz gesetzeskonforme Rückkaufaktion als vorteilhaft erweisen, wenn der Ermittler nicht übermäßig skrupulös agiert. Darüber hinaus hat Schmitt, wie zu lesen war, über seine Exfrau, eine Musikwissenschaftlerin, einen hervorragenden Zugang zur Musikerszene. Und«, setzte Steven in fast schon triumphalem Tonfall noch einen drauf, »er soll auch gute Kontakte zu einem leitenden Beamten bei der Kripo haben, der zwar nicht für Diebstahl und Betrug zuständig ist, sondern für Mord und Totschlag. Aber schaden kann das jedenfalls nicht.«

Steven schwieg erschöpft. Er hoffte, dass der Vorstandsvorsitzende Kamphusen bemerkt hatte, dass er sich schon im Vorfeld eine Strategie zur Schadensbegrenzung ausgedacht hatte. Und das positiv vermerken würde. Kamphusen schwieg. Kamphusen dachte nach. Auch Roth dachte nach. Oder tat so, immerhin gekonnt. Ellenbrecht dachte nicht nach. Der blickte finster in die fernen Weiten der Ebene vor der Stadtgrenze Ostratals.

»Nun gut«, ließ sich der Vorsitzende nach einer gehörigen Weile vernehmen. »Versuchen wir es mal mit diesem Schmitt. Aber Sie führen ihn an der kürzestmöglichen Leine, Herr Steven!« Langsam wandte sich der Leiter der Revisionsabteilung wieder dem Geschehen zu.

»Ich will aber immerhin zu Protokoll geben, dass ich größte Bedenken habe. Und mich gegen die Verpflichtung dieses Herrn Schmitt ausspreche.«

»In Ordnung, Herr Ellenbrecht. Angekommen.«

Jeder merkte Kamphusen an, dass er diese Bemerkung nicht über das Trommelfell hinaus in seine etwas zu großen Ohren gelangen ließ.

»Schmitt.«

Eine müde Stimme. Ohne jeden Elan. Ohne Neugier, Erwartung, Spannung. Nichts davon. Kein Vergleich zum messerscharf herauskatapultierten »Schmitt« vergangener Zeiten. Auch wenn dieser erste Eindruck schon damals nicht von Dauer war.

Schmitt. Mittlerweile gute fünfundfünfzig und unaufhaltsam die sechzig im Blick. Ein geschlagener Held. Ex-Jurastudent ohne Abschluss, Ex-Ehemann, Ex-Versicherungsangestellter und fast auch Ex-Detektiv. Wenig Vergangenheit, kaum Zukunft. Mittlere Größe, mittleres Gewicht. Schmale Augen in undefinierbarer Farbe, dünne Lippen, unausgeprägte Nase, kurze Haare. Seit einiger Zeit zogen sich zwei nicht zu übersehende Kerben von den Nasenflügeln an den Mundwinkeln vorbei bis fast zum Unterkiefer. Wer es nicht besser wusste, musste annehmen, dass diese auf eine chronische Magenschleimhautentzündung hindeuteten. Wer allerdings dem äußerst überschaubaren Kreis derer angehörte, die Schmitt näher kannten, wusste um die wahre Ursache: Schmitt war infolge seines letzten Auftrags zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt worden, und zwar wegen Behinderung der Justiz, Beihilfe zur Geldwäsche respektive versuchter Erpressung und Unterschlagung von Beweismitteln. Die Oberstaatsanwältin Dr. Grosse-Uckermann, damals noch nicht mit der »Leitenden« geschmückt, hatte ihn geradezu verbissen verfolgt und wollte ihn unbedingt im Gefängnis sehen. Schmitt konnte noch von Glück sagen, dass der Richter und die Schöffen beim Landgericht Ostratal die Vehemenz der Staatsanwältin als persönlichen Rachefeldzug einzuordnen wussten und dies zu seinen Gunsten ausgelegt hatten. Und pures Glück war auch, dass sein Gewerbeschein nicht eingezogen wurde. Vielleicht hatte sein, nun ja, Freund Ringwald hier ein gutes Wort für ihn eingelegt. Hinsichtlich der von anderen Personen begangenen, erheblich schwereren Verbrechen im Zusammenhang mit dem genannten Fall hatte Grosse-Uckermann ihren Furor merkwürdigerweise ziemlich im Zaum gehalten. Vor dem Schwurgericht wurde ohne Umschweife ihre vorauseilende Bereitschaft zu den heutzutage üblichen Deals erklärt. Aus eigennützigen Gründen. Wirklich überrascht war Schmitt von dieser Art Umgang mit dem Recht nicht. Darauf war er durch besagten Ringwald, Erster Hauptkommissar und Leiter des Dezernats Gewaltverbrechen im Polizeipräsidium Ostratal, bereits im Krankenhaus hinlänglich vorbereitet worden, wo Schmitt die Folgen seines Ostrataler Fenstersturzes auskuriert hatte. Und zweitens entsprach das Vorgehen der Justiz seinem misanthropischen Weltbild: Die wahren Schuldigen lässt man laufen, nur ihn fasst man immer bei den Hammelbeinen.

Schon mit seinem ersten großen Fall, einer widerlichen Erpressungsgeschichte, hatte er diese üble Erfahrung gemacht. Er musste das Erpressungsgeld von zwanzigtausend Euro, das er gefunden und sichergestellt hatte, an die Erben eines Oboisten zurückzahlen. Gut, zunächst wurde es von ihm auf ein Anderkonto in Luxemberg eingezahlt. Aber trotzdem: Nur um es in Sicherheit zu bringen! Es war ihm im weiteren Verlauf nicht gelungen, bei der Rückgabe eines Großteils der Summe sein Honorar und seine Auslagen zu verrechnen. Die Erben waren stur, geizig, gierig. Der damalige Leitende Oberstaatsanwalt wollte Schmitt sogar wegen Diebstahls oder wenigstens Fundunterschlagung drankriegen, konnte aber letztlich die Behauptung der Sicherstellung nicht widerlegen. Und hatte nach dessen Versetzung in das Justizministerium niemand in der Staatsanwaltschaft irgendein Interesse an einer weiteren Strafverfolgung. Glück gehabt. Und dennoch: Wieder mal wurde nur er bei den Hammelbeinen gefasst.

Auch Schmitts Sorgenfalten auf der Stirn hatten sich in letzter Zeit gleichzeitig vermehrt und vertieft. Nachdem seine Verletzungen so leidlich abgeklungen waren – das rechte Bein zog er immer noch etwas nach –, sah er ein, dass er als Privatermittler keine großen Sprünge mehr machen würde. Er hatte deshalb einen Job als Kaufhausdetektiv angenommen, der ihn zwanzig Stunden in der Woche in Anspruch nahm. Über das Wochenende war er als Nachtportier in einem der billigeren Hotels in der Bahnhofsgegend tätig. So fiel er wenigstens nicht Peter Hartz und seinem IV. Buch zur Last. Und war als Kaufhausangestellter ordentlich renten- und günstig krankenversichert. Als Hotelmitarbeiter bevorzugte er die Cash-Entlohnung, was dem Eigentümer auch lieber war. Ab und zu bekam er noch Aufträge, eine diebische Kellnerin oder einen langfingrigen Supermarktmitarbeiter zu überführen. Selbst solchen Kleinkram allerdings selten. Durchschnittlich dreimal im Jahr. Nie was Größeres. Das war’s dann. Auch seine Exgattin Susanne Mälis konnte ihm keine Aufträge mehr zuschanzen. Verbrannte Erde, zerstörte Brücken.

Nun also: »Schmitt.«

»Steven, Garant-Versicherung.« Schmitt fiel fast der Hörer seines Festnetztelefons aus der Hand »Ich rufe Sie an wegen eines Auftrags. Also nicht gleich auflegen!«

»…«

»Und ich hoffe auf Ihr Einverständnis, wenn wir auf jegliches Geplänkel bezüglich Ihrer Vorgeschichte bei uns verzichten und ich gleich zur Sache komme.«

»Einverstanden«, quetschte Schmitt mühsam heraus.

»Wir haben ein gewisses Problem mit unserer Sparte Instrumentenversicherung. In der letzten Zeit wurden gezielt und planmäßig wertvolle Instrumente aus dem privaten Besitz von Mitgliedern des hiesigen Orchesters gestohlen. Und wir vermuten, dass dies im Einvernehmen und unter Mitwirkung der Eigentümer geschah.«

Armbruster, schoss es Schmitt durch den Kopf. Das konnte nur Armbruster ausgeheckt haben, dieser manipulative Drecksack, dessen Machenschaften ihn vor vielen Jahren den Job bei der Garant-Versicherung gekostet hatten.

»Aha«, sagte Schmitt. »Und wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen? Es gibt doch genug einschlägig spezialisierte Detekteien.«

»Schon, aber erstens nicht vor Ort. Und zweitens dachte ich, dass Sie mit ihren Verbindungen zur hiesigen Musikszene und auch über Ihre ehemalige Frau … Na ja, Sie wissen schon.«

Schmitt wollte es seinem etwas ins Trudeln geratenen Gesprächspartner einerseits nicht allzu schwer machen. Schließlich ging es um etwas – vielleicht – Großes. Andererseits konnte er ihn auch nicht einfach so davonkommen lassen.

»Und außerdem habe ich gute Kenntnisse in Sachen Schiebereien. Wie damals bei der Garant mit den Autos.«

»Ach, da wären wir ja glücklich beim Geplänkel angekommen. Das wollten wir doch lassen.«

»Sie haben recht. Wieviel Zeit würden Sie mir für meine Ermittlungen geben?«

»Einen Monat, höchstens zwei. Dann müssten Sie Ergebnisse liefern oder unser Vertragsverhältnis würde enden.«

»Um dann doch eine große Detektei zu beauftragen. Aber gut. Und das Honorar? Ich müsste schließlich alle anderen Tätigkeiten einstellen.«

Was hast du denn schon für Tätigkeiten, dachte Steven.

»Das können wir alles besprechen, sobald Sie im Grundsatz einverstanden sind. Auf jeden Fall erhielten Sie eine Erfolgsprämie von zehn Prozent aus dem Versicherungswert der wiederbeschafften Instrumente beziehungsweise aus der Rückkaufsumme, wenn eine andere Möglichkeit nicht in Frage kommt. Sie wissen, was ich meine?« Idiot, dachte Schmitt.

»Um welchen Betrag handelte es sich denn im besten Fall?« »Etwa siebzigtausend Euro«, erwiderte Steven.

Schmitt meinte, ein nur ungenügend unterdrücktes Vergnügen aus dessen Stimme herauszuhören. Er musste schlucken. Siebzigtausend Euro! Damit wäre er wieder im Spiel. Und für sein Honorar müsste die Garant auf jeden Fall mit mindestens zehntausend Euro pro Monat rüberkommen. Plus Spesen.

Steven und er verabredeten sich auf den nächsten Vormittag in die Räume der Versicherung. Dort sollten dann die Details des Vertrags festgelegt werden. Anschließend rief Schmitt bei Mälis an in der Hoffnung, dass sie nicht gerade ihre Honorarprofessur in Aarhus wahrnahm oder mit ihrem Derzeitigen, einem Banker, turtelte. Mit dem sie jetzt auch schon einige Jahre zusammen war. Schmitts Meinung nach völlig unverständlich. Ein Banker! Wie auch immer, er würde diese Gelegenheit nutzen, um mit Mälis mal wieder fröhlich und ausgeglichen, ohne sein ewiges Maulen und seine Larmoyanz, etwas trinken zu gehen. Allerdings musste er das erst wieder üben. Am besten zunächst allein für sich im »Neustädter Hof«, dem Gasthaus, das seiner Wohnung in der Falkensteinstraße gegenüber lag. Und das er wesentlich lieber als Büro verwendete als seinen eigentlichen Arbeitsraum, den er sich in seiner Behausung eingerichtet hatte. Beide Arbeitsplätze hatte Schmitt in der letzten Zeit wenig bis gar nicht genutzt.

Sie trafen sich nicht im »Neustädter Hof«. Mälis konnte wegen ihrer Pflichten in der Universität Ostratal nicht. Oder sie wollte nicht. Schon nachmittags in einer Gaststätte zu sitzen und trüben Kaffee zu trinken, musste nicht sein. Sie verabredeten sich auf vier Uhr im Café Heidenreich zwischen den architektonisch uneinheitlichen Gebäuden der geisteswissenschaftlichen Fakultät und der Fußgängerzone des Zentrums. Dem letzten klassisch-konventionellen Café in der Ostrataler Innenstadt. Keine Lounge, keine Bar, kein Bistro, kein Café à Go Go, sondern ganz im herkömmlichen Stil: Gepflegt und gediegen. Schmitt saß schon bei einem Kännchen Kaffee, schwarz ohne alles, und einem Stück Käsesahnetorte. Konnte er sich leisten nach dem Vertragsschluss am Vormittag. Mälis kam, wie fast immer, etwas zu spät. Sie ging mit einem Lächeln an den Tischen vorbei auf Schmitt zu. Manchmal, wenn auch selten, spürte Schmitt bei ihrem Anblick einen leicht Stich ins Herz.

So auch jetzt. Obwohl die Liebe seit Jahren verbraucht und die Leidenschaft noch länger verraucht waren. Aber wie er sie so sah. Mit ihrem mittlerweile sicherlich etwas stärker nachblondierten Pagenschnitt. Dem runden, fast faltenlosen, herzförmig geschnittenen Gesicht. Der nicht übermäßig, aber sichtbar pummeligen Figur. Mit ihren inzwischen dreiundfünfzig Jahren war sie schlicht und einfach niedlich. Sofort rief Schmitt sich zur Ordnung. Zum einen war es sicherlich nicht statthaft, eine promovierte Musikwissenschaftlerin, Honorarprofessorin an der Universität Aarhus in Dänemark, Lehrbeauftragte mit Fachgebiet Biografieforschung an der hiesigen Hochschule, niedlich zu nennen. Und Schmitt war sich darüber hinaus sicher, dass es heutzutage äußerst unkorrekt war, Frauen überhaupt niedlich zu nennen.

»Hallo Schmitt, lange nicht gesehen.« Mälis verkniff sich aus Erfahrung die Frage nach dem Wohlbefinden, um seinem ewigen Lamento zu entgehen.

Tatsächlich sind sie sich einige Monate nicht über den Weg gelaufen. Schmitt hatte sich nach seinem tiefen Fall in Selbstmitleid vergraben. Mälis hinwiederum hatte keine Veranlassung gesehen und erst recht keine Lust gehabt, seinen im wahrsten Sinne niedergeschlagenen Zustand unmittelbar mitzubekommen. Zumal es auch keinen konkreten Anlass gab, sich zu treffen. »Du siehst keinen Tag älter aus als beim letzten Mal«, versuchte Schmitt sich in Galanterie.

Was ihm auch gelang. Mälis fühlte sich geschmeichelt. Wider Willen.

»Das Kompliment kann ich leider nicht zurückgeben, Schmitt. Du siehst mitgenommen aus. Müde, grau und alt.«

Mälis konnte bei Schmitts erbarmungswürdigem Anblick nicht anders als ehrlich sein. Ungebügeltes, abgetragenes Karo-Hemd, Sakko von 1980, Cordhosen von 1970. Mindestens. Tränensäcke, Bartstoppeln. Schmitt sah von oben bis unten aus wie ein »Haste mal ….-Typ«.

»Kein Problem. So fühl‘ ich mich auch. Fühlte mich, genau gesagt. Bis gestern. Und seit heute Vormittag noch dreimal besser.« Schmitt grinste breit. »Stell dir vor, ich arbeite wieder für die Garant.«

Mälis schaute fragend und höchst interessiert. Nach einer Weile, in der er auf Bemerkungen seiner Ex wartete, sie hingegen darauf, dass er fortfuhr, woran Schmitt wiederum nicht im geringsten dachte, kam von ihrer Seite dann doch ein »Und?«.

»Na, das ist doch«, Schmitt suchte nach dem richtigen Begriff, aber ihm fiel nur »sensationell« ein.

Die Bedienung kam und Mälis bestellte einen Milchkaffee.

»Kein Kuchen?«, fragte Schmitt. »Ich lade dich ein.«

»Danke dir. Aber ich muss ein bisschen aufpassen.«

»Schade. Na gut. Also hör zu. Offensichtlich wurden in den letzten ein, zwei Jahren auffällig viele wertvolle Instrumente aus dem Privatbesitz einiger Ostrataler Orchestermitglieder gestohlen. Und zwar seit sich das Gerücht verdichtet hatte, dass das Orchester aufgelöst wird. Die betroffenen Musiker sind alle schon älter, von Mitte fünfzig bis kurz vor Renteneintritt und die Garant vermutet, dass irgendjemand die Diebstähle in die Wege geleitet hat. Sprich: Auf die Musiker zugekommen ist, den Plan erläuterte, schmackhaft aufbereitet und bestens organisiert. Die Instrumente wurden bei den verschiedensten Gelegenheiten geklaut. Aus verschlossenen Autos ebenso wie aus Probenräumen oder zu Hause. Die Garant vermutet, dass sie nach Asien verschwinden und dort mit gefälschten Papieren renommierter und vor allem toter europäischer Geigenbauer und anderer Experten versehen in den Handel geschleust werden. Die Bestohlenen erhalten die Versicherungssumme. Und zusätzlich, wie ein gewisser Steven von der Garant glaubt, rund fünfzig Prozent der Verkaufssumme. Er geht darüber hinaus davon aus, dass ähnliches auch bei anderen Orchestern passiert, immer kurz vor Renteneintritt derjenigen, die teuer versicherte Instrumente besitzen. Die Musiker erhalten für den Rest ihrer Orchestertätigkeit ein Dienstinstrument. Und falls sie danach noch weiter musizieren, kaufen sie sich eben für zehn- bis fünfzehntausend Euro eine Geige oder ein Cello oder was auch immer. Für diesen Preis gibt es schon ganz gute für den normalen Gebrauch.«

»Nicht schlecht, Herr Specht«, meinte Mälis anerkennend.

»Und wie kam die Garant ausgerechnet auf dich?«

Schmitt wurde verlegen.

»Sie nehmen offensichtlich immer noch an, dass ich damals bei der Unfallbetrügerei meine Finger im Spiel hatte und deshalb gute Kontakte zur Schieberszene habe. Außerdem bin ich billiger als die auf Kunstdiebstähle spezialisierten Detekteien.« Nun lebte er doch etwas auf. »Und natürlich sprechen meine Erfolge für sich, auch wenn sie schon etwas länger zurückliegen.«

»Wieviel billiger?«

»Bitte?«

»Was bekommst du für den Job?«

»Ach so. Halt dich fest. Zwölftausend Euro Grundgage monatlich als freier Mitarbeiter für zwei Monate. Ab heute bis zum 20. Oktober. Ich hatte mir nur zehntausend ausbedingen wollen. Insgesamt vierundzwanzigtausend Euro, auch wenn ich die Sache schon vorher aufgeklärt haben sollte. Plus Spesen. Davon die Hälfte in bar, unter der Hand. Du weißt ja, wegen meiner Schulden bei der verehrten Staatskasse. Meine Arbeit im Kaufhaus kann ich daneben fortsetzen. Vielleicht in geringerem Umfang und nach Möglichkeit flexibler. Das müsste aber drin sein. Darüber hinaus bekomme ich zehn Prozent des Wertes beziehungsweise der Rückkaufsumme der gestohlenen Sachen, wenn sie durch mich wieder auftauchen. Ich habe vorhin den Vertrag unterschrieben. Alles in trockenen Tüchern. «

Schmitt war sichtlich hochzufrieden. Mälis merkte ihm an, dass er sich wieder im Rennen fühlte.

»Dann kannst du dir endlich die Modelleisenbahn kaufen, die du dir als Zehnjähriger so sehr gewünscht hast«, sagte sie ironisch.

Schmitt überhörte diese Äußerung ungewohnt souverän.

»Du bist übrigens die Erste, die das erfährt«, verkündete Schmitt, als sei dies für Mälis eine besondere Auszeichnung, ähnlich mindestens dem Leibniz-Forschungspreis.

»Du kennst ja auch nicht so viele andere, denen du das erzählen könntest«, spottete Mälis.

Schmitt war sofort eingeschnappt und verzog sauertöpfisch das Gesicht.

»Na hör mal. Und Ringwald? Der muss mir sowieso mit ein paar Tipps helfen.«

»Aber ist der nicht immer noch bei Mord und Totschlag?«

»Wenn schon. Dann kann er mir wenigstens einen Kontakt zu einem zuständigen Kollegen herstellen.«

Nach einer Weile beleidigten Schweigens ließ sich Schmitt dazu herab, nach Mälis Befinden zu fragen. Und da diese ihren Schmitt kannte und zudem nicht nachtragend war, erzählte sie ihm von ihrem derzeitigen Forschungsprojekt.

»Stell dir vor, ich habe von der DPU-Stadtratsfraktion den Auftrag erhalten, Gerüchten über eine Nazi-Vergangenheit des Großvaters mütterlicherseits der ins Auge gefassten finnischen Stadtkomponistin nachzugehen. Du weißt schon, die Idee mit dem Ensemble für Neue Musik statt unseres Orchesters und … Aha, du weißt nicht.«

Mälis war stets aufs Neue überrascht, wie ignorant Schmitt in allen gesellschaftlichen Dingen geworden war, egal, ob es sich um Kunst, Sport, Soziales oder Wirtschaft handelte. Und auch immer wieder überrascht davon, wie überrascht sie war.

»Aber was gibt es da groß zu forschen? Das ist doch einfach. Wenn du weißt, wie er heißt und einen Blick in die Archive wirfst …«

»Nein, so einfach ist das nicht. Der betroffene Großvater mütterlicherseits war auch Komponist, Toivo Hämäläinen, wenn auch nicht ansatzweise so berühmt wie Jean Sibelius. In Deutschland völlig unbekannt. Sibelius wird dir doch wohl ein Begriff sein.« Schmitt knurrte nur abschätzig. »Finnland war ja rund hundert Jahre bis zur Unabhängigkeit ein russisches Großfürstentum. Erst ein General mit dem urfinnischen Namen Carl Gustav Emil Freiherr von Mannerheim nutzte die Revolutionswirren 1917/18 für die Gründung des freien Finnlands. Und es dauert bis 1920, bis Russland Frieden mit dem neuen Land im Nordosten Europas schloss.« Mälis merkte, dass sie Schmitt wieder einmal schrecklich langweilte. Er musterte angelegentlich die Decke des Café Heidenreich. »Aber das weißt du wohl schon alles.«

»Stimmt. Die Geschichte Finnlands ist mir in Grundzügen tatsächlich bekannt.«

»Gut. Dann weißt du auch, dass der finnische Nationalismus in den ersten Jahrzehnten durch die Decke schoss. Die deutschen Nazis genossen hohe Sympathiewerte, insbesondere in der Mittel- und Oberschicht und bei den Intellektuellen. Das wurde erst anders, als Mannerheim 1944 mit den Russen Frieden schloss und die deutsche Wehrmacht sich unter Hinterlassung verbrannter Erde zurückzog. Da waren Hitler und Konsorten nicht mehr so beliebt.« Mälis sah, dass Schmitt erneut die Augen verdrehte, ließ sich aber in ihrer Vorlesung nicht aus dem Konzept bringen. »Und hier wird es spannend. War Toivo Hämäläinen nur ein nationalistisch-romantischer finnischer Volkskomponist oder ein völkisch-germanischer Ideologe, der mit seinen Werken den Übermenschen verherrlichte, um den jüdisch-bolschewistischen Untermenschen zu vernichten? In welchem gesellschaftlichen Kontext stand er? Wie waren seine Verbindungen zu deutschen Nazi-Komponisten? Hat er Böses nicht nur bewirkt sondern auch getan? Oder war er nur ein opportunistischer Mitläufer wie zum Beispiel der niederländische Komponist Henk Badings, der sich der deutschen Besatzung als Kollaborateur andiente und später Kompositionsprofessor an der Stuttgarter Musikhochschule war.«

Schmitt war nur mäßig beeindruckt.

»Und warum?«

»Wie bitte?«

»Warum sollst du das rausbekommen?«

»Ich kann mir vorstellen, dass die Gegner des Projekts oder der finnischen Komponistin die Ergebnisse politisch verwenden wollen. Die glauben, dass der Großvater belastet ist und hoffen, dass diese Belastung ausreicht, um das Ganze zu skandalisieren.«

»Und für so eine schmutzige Sache gibst du dich her?«

»Mich reizt eben die geschichtliche Seite, die damalige gesellschaftliche Stimmung, auch wenn es ein fehlgeleiteter Aufbruch war. Und vielleicht bleibt auch etwas über den berühmten Jean Sibelius hängen …«

Schmitt gab sich nicht geschlagen.

»Na, ich weiß nicht. Da wirst du doch instrumentalisiert!«

»Nee, das habe ich im Griff.« Mälis wirkte außerordentlich überzeugt. »In diesem Zusammenhang muss ich übrigens nach Helsinki. Komm doch mit!«

»Warum das denn? Was soll ich denn da?«, fragte Schmitt erschreckt.

Mälis sah ihren Exgatten nachdenklich an.

»Manchmal bist du schon sehr begriffsstutzig. Die Garant hat doch Geld. Und du hast die Spesenzusage. Dann gönn dir doch mal was. Komm raus aus deinem Schneckenhaus. Ein paar Tage im schönen Helsinki wären genau das Richtige.«

»Und wie stellst du dir das vor? Ein Doppelzimmer im Hotel für uns beide?«

Schmitt guckte weiter völlig ratlos. Mälis schüttelte sich. Schmitt konnte nicht erkennen, ob vor Lachen oder als Abwehr. »Bilde dir bloß nichts ein. Ich nehme mir vielleicht ein Doppelzimmer. Für meine Arbeit benötige ich ein bisschen Platz. Und vielleicht kommt mein Banker mit. Und du nimmst brav ein Einzelzimmer.« Mälis musterte seinen Aufzug. »Natürlich müsstest du dir einige neue Kleidungsstücke besorgen.«

»So gerne ich das täte, aber bei dieser Größenordnung von Ausgaben bräuchte ich vorab eine Genehmigung, soviel ich weiß. Ich kann ja noch mal einen Blick in den Vertrag werfen, aber …

Außerdem müsste ich mich im Kaufhaus beurlauben lassen.« Schmitt, der Bedenkenträger. Und schwang in seiner Stimme nicht so etwas wie Erleichterung über diese Komplikationen durch? Mälis war sich nicht sicher. Würde aber zu dem Miesepeter, der er geworden war, passen.

»Jetzt hör mir mal zu«, dozierte Mälis. »Falls das mit den Diebstählen tatsächlich bandenmäßig organisiert laufen sollte, dann können die Instrumente nicht einfach so ausgeführt werden. Sie brauchen meines Wissens eine Ursprungsbescheinigung und eine Ausfuhrerklärung, wenn sie außerhalb der Europäischen Union gehandelt werden sollen. Und für das Zielland eine Einfuhrerklärung. Das Risiko ist zwar nicht extrem hoch, dass beim Verbringen ins außereuropäische Ausland etwas auffliegt, Korruption gibt es schließlich überall. Es liegt aber auch nicht bei Null. Der Transport nach Finnland ist dagegen risikofrei, da innerhalb der EU. Und dann weiter über die endlose und mittlerweile löchrige Grenze nach Russland, von dort über die ebenfalls endlose und löchrige Grenze nach China und schwupps zu den Fälschern einwandfreier Wert- und Herkunftsgutachten.« Schmitt hörte fasziniert zu.

»Du meinst, dass das auf dieser Route so passiert?«, fragte er mit großen Augen.

Mälis sah ihn mitleidig an.

»Keine Ahnung. Aber es klingt jedenfalls plausibel, meinst du nicht? Du müsstest das Ganze nur noch ein bisschen aufmotzen mit anonymen Tippgebern, Hinweisen aus der Polizei und vom Zoll, beispielsweise von Ringwald oder so. Wär‘ doch gelacht, wenn die bei der Garant nicht darauf einstiegen. So könntest du zu ein paar bezahlten Urlaubstagen in Skandinavien kommen. Du müsstest nur ein bisschen Finnisch lernen, um mir beim Übersetzen zu helfen.«

»Was?«

Mälis lachte glockenhell.

»Ein Scherz. Diese Sprache ist gar nicht zu erlernen.«

Aber immerhin: Die Idee mit der Helsinki-Reise war in der Welt.

Und Schmitt begann langsam, sich mit ihr anzufreunden.

DAS MÄZENATENTUM

EINS