Schmitts Fall - Manfred Klimanski - E-Book

Schmitts Fall E-Book

Manfred Klimanski

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Beschreibung

Der Solo-Oboist des Sinfonieorchesters der fiktiven Stadt Ostratal wird wegen sexuellen Missbrauchs einer jungen, geistig zurückgebliebenen Frau erpresst. Der etwas heruntergekommene Privatdetektiv Heinz Schmitt soll den Erpresser ausfindig machen und stößt dabei auf den Betrieb einer Behindertenwerkstätte. Dort werden junge Menschen mit geistiger Behinderung an ein Netzwerk von Prominenten verkuppelt. Bevor Schmitt Ergebnisse erzielt, geschieht jedoch bei der Geldübergabe ein Mord. Und er hat das zweifelhafte Vergnügen, in den Besitz des Geldes zu kommen. Nach einem weiteren Mord macht Schmitt mehr und mehr Bekanntschaft mit Musikern aus der klassischen Szene und deren Umfeld. Die Polizei tappt im Dunkeln, die Spurenlage ist dünn. Nur durch einen Zufall kommt Schmitt der Aufklärung nahe, gerät dabei aber selbst in höchste Lebensgefahr.

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ZUM BUCH

Der Solo-Oboist des Sinfonieorchesters der fiktiven Stadt Ostratal wird wegen sexuellen Missbrauchs einer jungen, geistig zurückgebliebenen Frau erpresst. Der etwas heruntergekommene Privatdetektiv Heinz Schmitt soll den Erpresser ausfindig machen. Schmitt stößt bei seinen Ermittlungen auf den Betrieb einer Behindertenwerkstätte, in der junge Menschen mit geistiger Behinderung an ein Netzwerk von Prominenten der Stadt verkuppelt werden. Bevor er jedoch Ergebnisse erzielt, geschieht bei der Geldübergabe ein Mord. Und Schmitt hat das zweifelhafte Vergnügen, in den Besitz der vereinbarten Summe zu kommen.

Durch einen weiteren Mord muss er mit seinen Recherchen wieder bei null anfangen. Dabei macht Schmitt mehr und mehr Bekanntschaft mit Musikerinnen und Musikern aus der klassischen Szene und wird tief in deren Gedanken- und Lebenswelt gezogen. Die Polizei tappt im Dunkeln. Die Spurenlage ist dünn, auch wenn sich die Machenschaften innerhalb der Behinderteneinrichtung zunehmend aufhellen. Da die Staatsanwaltschaft dem zuständigen Kriminalkommissar die weiteren Ermittlungen in diesem Betrieb untersagt, ist der Privatdetektiv auf sich gestellt. Nur durch einen Zufall kommt Schmitt der Aufklärung doch noch näher, gerät dabei allerdings selbst in höchste Lebensgefahr.

„Denn während sich so mancher Möchtegern-Krimischreiber allzugern in den Tiefen des Deskriptiven verirrt, hat Klimanski eine tragende Geschichte ersonnen,die er mit feinsten Krimizutaten wie Mord, Erpressung und ein bisschen Sex aufbaut, dramaturgisch sauber hinlegt und die selbst erfahrene Krimileser bis zur Zielgraden des Buches im Unklaren lässt, wer denn nun der Täter ist.“

Badische Zeitung Freiburg

„Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich den zweiten Fall gerne lesen werde. Ich bin zu gespannt, wie der Autor die Fäden dieses besonderen Protagonisten Schmitt bewegen wird. Und ich glaube, dass Sie es im tiefsten Inneren auch sein werden.“

Thriller-Nord (Italien) Laura Salvadori

Für meine „olle Karen“ (sie weiß dann schon …)

Eine Ähnlichkeit der Figuren dieses Romans mit lebenden oder toten Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Soweit Personen der Zeitgeschichte in diesem Roman namentlich genannt werden, sind deren Hintergründe eher erfunden als wahr.

PERSONENREGISTER

Heinz Schmitt (51), Privatdetektiv

Dr. Susanne Mälis (51), dessen Ex-Gattin, Musikwissenschaftlerin

Rolf Herkenrath (Mitte 40), Solo-Oboist

Aline Herkenrath (Mitte 40), dessen Gattin, Pianistin

Gernot Ruf (Mitte 40), Geiger

Sonja Ruf (etwa 40), dessen Gattin, Klavierlehrerin

Silke Ruf (23), deren Tochter

Mischa Ruf (2o), deren Sohn, Student

Herbert Laile (Mitte 40), Solo-Schlagzeuger

Ingo Harbrecht (35), Solo-Posaunist

Paolo Terrini (weit über 60), Generalmusikdirektor

Andreas Bellheim (49), Orchester-Intendant

Robert Heinke (Anfang 60), Kioskbesitzer

Achim Röllke (über 60), dessen Cousin

Gerd Armbruster (etwa 50), Sozialarbeiter

Peter Ringwald (61), Leitender Kriminalhauptkommissar

Michael Kohl (alterslos), Kriminalhauptmeister

Karsten Berger (38), Leitender Oberstaatsanwalt

Inhaltsverzeichnis

DIE OBOE

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

DAS SCHLAGZEUG

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

DIE POSAUNE

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

Über den Autor

DIE OBOE

KAPITEL 1

„Schmitt!“

Die Stimme klang – unnett. Diese Bezeichnung traf es noch am ehesten, fand Rolf Herkenrath.

„Äh, bin ich da mit der Detektei Schulzenrieder verbunden?“ „Ja.“

Immerhin keine Umschweife, dachte Herkenrath.

„Kann ich bitte mit Herrn Schulzenrieder sprechen?“ Oder Frau, fügte Herkenrath im Stillen politisch korrekt hinzu.

„Nein, niemand da außer mir. Alle unterwegs.“

Oh, Herr Schmitt geruht doch wenigstens zu erklären, dachte Herkenrath, diesmal spöttisch.

„Und wer sind Sie?“, fragte Schmitt.

„Mein Name ist Rolf Herkenrath.“

„Aha, und Sie rufen an wegen …?“

„Das würde ich lieber mit Herr Schulzenrieder selber besprechen.“

Herkenrath erlaubte sich diesmal den Verzicht auf die gedachte Frau.

„Sagen Sie’s mir, ich vertrete Herrn Schulzenrieder. Er ist ständig unterwegs.“ Schmitt wurde ausführlich.

In Ordnung: Herr. Soviel wusste er nun. Herkenrath sah klarer.

Wenn auch die Frage blieb, wie und wem das nützen sollte.

„Ich werde erpresst“, offenbarte sich Herkenrath.

„Weswegen? Womit? Wieviel?“

Damit kam Schmitt ohne Umschweife auf die zentralen Fragen jeder Erpressung.

„Nicht am Telefon,“ verlangte Herkenrath.

„Gut, dann kommen Sie morgen früh um zehn in mein Büro. Die Adresse haben Sie?“

Schmitt klang, nett hin, unnett her, doch souverän und kompetent.

„Nein, zehn geht nicht. Da bin ich unaufschiebbar beruflich verhindert“, sagte Herkenrath bedauernd. „Zwei Uhr am Nachmittag wäre okay.“

„In Ordnung“, erwiderte Schmitt. „Sie wissen, wo?“, wiederholte er.

„Ja, Langgasse zwei im zweiten Obergeschoss“.

„Gut, dann sehen wir uns morgen“, schloss Schmitt das Telefonat ab.

Die Woche fängt ja gut an, dachte Schmitt bei sich. Ich weiß gar nicht, warum alle immer was gegen den Montag haben.

KAPITEL 2

„Wer erpresst Sie weswegen? Und was hat derjenige gegen Sie in der Hand, besser gesagt, womit werden Sie erpresst? Und wieviel Geld oder welche sonstige Leistung wird von Ihnen verlangt? Und hätten Sie das, beziehungsweise könnten Sie diese erbringen?“

Schmitt kam am nächsten Tag gleich umfänglich zur Sache. Herkenrath schaute sich im Büro um. Ein leerer Schreibtisch Marke zum dritten Mal gebraucht, ein Beistelltisch mit Laptop, ein Stuhl hinter, ein Stuhl vor dem Schreibtisch. Ein geschlossener Rolladenschrank, ein ebenfalls geschlossener Beistellschrank von derselben Marke wie der Schreibtisch. Kein Teppich auf dem leicht angeschmuddelten Laminatboden. Nur ein billiger Kalender an den ansonsten kahlen Wänden. Kunststoffjalousetten an den Fenstern, die in den Innenhof zeigten, backside. Kein Vorzimmer. Eine weitere Tür, wahrscheinlich zum WC. Kein Deut Geruch nach Erfolg. Im Hausflur ein billiges Schild „Detektei Schulzenrieder – Tag und Nacht erreichbar persönlich oder unter der Telefonnummer …“. Das gleiche Schild unten neben der Haustür, nur mit dem Zusatz „2. OG links“.

Schmitt war um die fünfzig, kurzer Sparschnitt Marke Eigenbau auf dem Kopf, unrasiert, blass, nicht dünn, nicht dick, schmale Lippen, schmale Augen, alles schmal. Billige Hose, billiges Hemd, Aldi 7,50 Euro. Alles billig, billig, dachte Herkenrath. Schulzenrieder war offensichtlich nicht mit einem dicken Konto gesegnet, oder er war geizig, oder beides. Leistete sich aber einen Mitarbeiter.

Herkenrath war nicht begeistert. Aber schließlich hat Kollege Laile die Detektei empfohlen, überlegte er. Sie habe ihn in seiner Scheidungssache zügig, diskret und vor allem erfolgreich bedient. Ich muss Laile unbedingt fragen, ob er auch mit diesem Herrn Schmitt zu tun hatte.

„Wo arbeitet Herr Schulzenrieder, wenn er denn mal da ist?“ „Wir wechseln uns ab. Quasi Schreibtisch-Sharing“, witzelte Schmitt. Überraschenderweise. „Also noch einmal: Wer, weswegen, womit, wieviel!“

Herkenrath wurde nervös. Verlegen pfriemelte er an seinen Fingern herum.

„Ich soll eine junge Frau vergewaltigt haben.“

„Und? Haben Sie?“ Schmitt fragte das in einem völlig geschäftsmäßigen Ton.

„Nein.“

Herkenrath wurde nachdrücklich, wenn auch mit einem leichten Zittern in der Stimme.

„Ich hatte zwar Sex mit ihr, aber einvernehmlich.”

„Schön gesagt. Und warum sind Sie dann bei mir?“

„Das Mädchen … die junge Frau …“ Herkenrath blickte zu Boden.

„Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt und geistig leicht behindert. Ich bin einundvierzig und verheiratet. Ihr Vater ist ein Freund von mir. Es war … Es gibt missverständliche Fotos.“

„Haben Sie die Fotos dabei?“

Herkenrath reichte ihm fünf Abzüge. Schmitt sah darauf den nackten Herkenrath mit einem durchaus beachtlichen Ständer und eine ebenfalls nackte Schönheit in verschiedenen Stellungen, zweimal offensichtlich in einem Wohnzimmer auf einer Couch beziehungsweise einem Teppich und dreimal in einem anderen Raum, wahrscheinlich einem Kinderzimmer auf dem Parkett- oder Laminatboden, vier Hände und zwanzig Finger an und in allen möglichen Körperteilen und -öffnungen. Den unten rechts stehenden Angaben über Datum und Uhrzeit nach wurden die Fotos an zwei verschiedenen Tagen und jeweils nachmittags gemacht.

„Wie oft haben Sie sie denn ‘einvernehmlich’ gevögelt?“, wollte Schmitt wissen.

Der Sarkasmus des einvernehmlich war unüberhörbar.

„Also“, stammelte Herkenrath, „also ich bitte Sie um einen anderen Ton. Lassen Sie diese Ausdrücke!“

„Wie oft?“

„Drei- bis viermal.“

„Sowas wissen Sie nicht genauer?“

„Okay, genau siebenmal.“

„Und warum wollen Sie zahlen?“

„Meine Frau würde sich scheiden lassen und das will ich nicht.

Mein Freund würde mich totschlagen. Und meine Stellung im Orchester wäre flöten …“

„Welche Summe wird von Ihnen verlangt?“

„Zwanzigtausend Euro.“

„Und? Haben Sie die?“

„Ja. Ich verdiene als Solo-Oboist im hiesigen Sinfonieorchester nicht schlecht und meine Frau ist vermögend.“

„Und Sie können ohne Mitwissen Ihrer verehrten Gattin zwanzigtausend Euro loseisen?“

„Ja. Ich habe ein Konto in Luxemburg, auf das ich meine Nebeneinkünfte einzahle. Musiker lassen sich ja gerne bar bezahlen. Meine Frau weiß nichts davon.“

„Und das Finanzamt auch nicht.“

Herkenrath verzog das Gesicht ob dieses Einwurfes.

„Und was wollen Sie von mir?“, fuhr Schmitt fort.

„Dass Sie den Erpresser ausfindig machen. Entweder schon vor oder spätestens bei der Geldübergabe. Und dass Sie ihn“ (oder sie, Herkenrath stolperte ständig über diese korrekte Geschlechterzuordnung) „mundtot machen, ausschalten, abschalten, egal.“

„Mein Honorar beträgt zweihundertfünfzig Euro am Tag plus Spesen, das wissen Sie?“

„Was? Das ist ja … Das sind ja …„ Herkenrath rechnete in aller Schnelle nach „Siebentausend Euro im Monat, im Schnitt, ich meine …“

„Ich habe meine betriebswirtschaftlichen Kalkulationen noch nie begründet und fange damit auch jetzt nicht an.“ Schmitts Lippen wurden noch schmaler. „Außerdem erhalte ich pauschal fünfzig Euro Spesen pro Tag. Natürlich rechne ich die mit Belegen ab. Benötige ich weniger, zahle ich die Differenz zurück; brauche ich mehr, geht das auf meine Kappe. Das ist doch fair.“ Schmitt war eisig. „Darüber gibt es keine Diskussion. Basta.“

Herkenrath fühlte sich überfahren. Er war unsicher, ob er diesem ihm zutiefst unsympathischen Mann, der keinerlei Empathie zeigte, nicht die geringste Gefühlsregung, sein Problem überlassen wollte. Einem Mann, dem es offensichtlich völlig egal war, ob Herkenrath tatsächlich eine geistig behinderte Frau mehrfach vergewaltigt, missbraucht, sexuell genötigt hatte, wie auch immer. Wichtig waren Honorar und Spesen. Aber andererseits: Er brauchte ihn. Er hatte Angst; die Furcht breitete sich in den letzten Tagen immer stärker vom Magen bis in die Herzgegend aus. Sie beeinträchtigte ihn jede Minute. Beruflich und bei allem, was er tat. Im Wachzustand wie im Schlaf.

„In Ordnung. Akzeptiert. Aber befreien Sie mich von diesem Albtraum. Und übrigens: Nein, ich weiß nicht, wer mich erpresst.“

„Dann woll‘n wir mal. Ich benötige eine Menge Angaben Ihrerseits. Und noch eins: Honorar und Spesen bekomme ich bar auf die Hand.“

KAPITEL 3

Stück für Stück setzte sich für Schmitt ein klareres Bild des Geschehens zusammen. Wenn er es auch mühsam aus Herkenrath herausfragen musste. Herkenraths Bekannter, Gernot Ruf, ebenfalls Musiker, Lehrer für Violine an der örtlichen Musikschule, hatte eine Tochter namens Silke. Ausgesprochen hübsch, dreiundzwanzig Jahre alt, geistig behindert. Sie besaß das intellektuelle Niveau einer sechsjährigen, den Körper allerdings einer altersgemäß reifen Frau und das Gesicht einer Schönheit. Lange honigblonde Haare, grüne, etwas schrägstehende Augen, ein voller Mund, hohe Wangenknochen. Sie hing jedoch völlig von ihren Eltern ab, Gernot und Sonja. Rolf Herkenrath war mehr oder weniger ständiger Gast im Hause Ruf. Dort wurde mit einigen Kollegen aus dem Orchester an Kammermusikstücken in verschiedenen Besetzungen gearbeitet, am Klavier teils Sonja Ruf, teils Aline Herkenrath, Ehefrau von Rolf Herkenrath. Auch sie Pianistin, von Haus aus vermögend, aber laut Herkenrath weder großzügig noch großherzig. Durch diese musikalische Zusammenarbeit ergaben sich gemeinsame Essen, Ausflüge und Veranstaltungen. Für Silke wurde Herkenrath zu Onkel Rolf.

Und wie es so läuft, eines Tages am Nachmittag … Silke war, was selten vorkam, allein zu Haus und nicht wie üblich beschäftigt in einer beschützenden Werkstatt in der Nähe. Rolf Herkenrath schaute aufs Geratewohl herein. Eine Melange aus kindlicher Unbefangenheit Silkes und einem sich möglicherweise aus einem gewissen Ehefrust ergebenden Blutstau in der Mitte von Herkenraths ansehnlichem Körper führte über anfänglich spielerisches Berühren, Streicheln und zärtliches Entkleiden schließlich zum laut Herkenrath einverständlichen erstmaligen Sex.

Jedenfalls wehrte sich Silke nach seiner Aussage nicht. Sie schien den Sex zu genießen, zumindest bis zum Eindringen Herkenrats in ihren Körper. Das versuchte sie abzuwehren, aber Herkenrath war inzwischen dermaßen erregt, dass er schon nach dem ersten Stoß kam, so dass Gewalt laut seiner Aussage auch zu diesem Zeitpunkt nicht im Spiel war. Anschließend säuberte er sich, sie und die Couch der Rufs, nahm Silke das Versprechen ab, niemandem etwas zu sagen, gab ihr zur Motivation zwanzig Euro für ein Eis („viel Geld für Silke!“), noch einen onkelhaften Kuss und ging. Für die nächsten Male passte er, diesmal ganz gezielt, noch weitere Gelegenheiten ab. Überwiegend, wenn das auch ein bisschen blöde klänge, erfolgreich. Immer nach demselben Muster, immer mit Silkes Abwehr vor seinem Eindringen, immer mehr allerdings mit der stärkeren Absicht, dem stärkeren Willen seinerseits. Er, Herkenrath, könne sich nicht vorstellen, wer die Fotos geschossen haben könnte, wann und vor allem wie und immerhin ja auch an verschiedenen Wochentagen. Nicht allerdings bei den ersten zwei Gelegenheiten, davon war kein Bild dabei. Wichtig sei ihm die Erwähnung seines Eindruckes, dass Silke mit ihm nicht ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hatte. Bis auf die fast schon panische Angst vor dem Eindringen seines Gliedes in ihre Vagina hatte sie ohne Scheu seinen Schwanz in die Hand genommen, seine Hände auf all ihren Körperteilen zugelassen, seine Zunge geduldet, wo auch immer er sie eingesetzt hatte. Ihm waren nie Personen in der Nähe aufgefallen, kein Schattenhuschen an den Fenstern.

Der Sex fand immer im Haus der Rufs statt, zumeist im Wohnzimmer auf der Couch oder dem Fußboden, zweimal in Silkes Zimmer. Deshalb musste derjenige, der die Fotos gemacht hatte, sich im Hause aufgehalten haben. Dies allerdings hätte ihm doch auffallen müssen, schließlich habe er als Musiker ein feines Gehör und würde bei aller Erregung durchaus das Klicken oder Summen eines Fotoapparates mitbekommen.

Schmitt übernahm den Fall, die Fotos, einen Vorschuss von zweitausendeinhundert Euro für sieben Tage und ver langte von Herkenrath, die Zahlung an den Erpresser auf diesen siebten Tag festzulegen. Mit der Begründung, vorher könne er, Herkenrath, das Geld eben nicht besorgen. Das müsste dem Erpresser genügen. Sieben Tage brauche er, Schmitt, um das gesamte geschilderte Umfeld zu sondieren, dem Erpresser nahe zu kommen und ihn eventuell bereits vor der Geldüber gabe zu entlarven. Spätestens bei dieser werde er dem Erpresser an die Gurgel gehen, Fotos und Geld sicherstellen, dem Erpresser eindringlich beibringen, zukünftig auf andere Weise sein Geld zu verdienen und damit seinen Auftrag abschließen.

Herkenrath murrte zwar ob der zu bezahlenden sieben Tage, das sei doch irgendwie unnötig, Schmitt könne doch gleich in den nächsten ein oder zwei Tagen zu einer entsprechend verabredeten Geldübergabe mitkommen und den Erpresser (oder die Erpresserin, wie er automatisch mitdachte) dingfest machen. Er, Schmitt, wolle doch wohl nicht nur sein Honorar in die Höhe treiben. Nachdem Schmitt ihm jedoch erklärt hatte, dass seine Chancen, aus der Sache völlig heil herauszukommen, erheblich stiegen, wenn Schmitt den Erpresser so früh wie möglich stellen konnte, auf jeden Fall vor der Geldübergabe, einigten sie sich auf die Sieben-Tage-Frist.

KAPITEL 4

Schmitt war sich im Klaren darüber, dass er keine sieben Tage benötigen würde, um den Erpresser zu stellen. Das passierte am ehesten bei der Geldübergabe.

Aber zum einen brauchte er das vereinbarte Honorar dringend, zum anderen hatte Herkenrath offensichtlich Geld übrig und zum Dritten wollte er tatsächlich ermitteln. Er hatte im Moment keinen anderen Klienten. Seine seit langem von ihm geschiedene Frau hatte zwar keine Ansprüche gegen ihn, aber auch ohne eine solche Belastung lebte er von der Hand in den Mund. Als promovierte Musikwissenschaftlerin war sie durch einige Lehraufträge, Veröffentlichungen und Vortragsreisen ganz gut im Geschäft. Und Kinder gab es nicht. Sie führte ihm netterweise den einen oder anderen Klienten zu, denn sie verfügte über ausgezeichnete Kontakte in die Kunst-, Musik- und auch in die gehobene Bildungsbürgerszene. Dafür war er ihr im Rahmen seiner mittlerweile etwas gefühlsarmen Persönlichkeit dankbar. Er hatte zweimal vergebliche Anläufe zum ersten juristischen Staatsexamen unternommen. Nach mehr oder weniger befriedigenden siebzehn Jahren als Schadenssachbearbeiter bei einer mittelehrlichen Versicherung wurde er wegen vermeintlicher, aber nie bewiesener Mittäterschaft in einem zwar vorsätzlichen, jedoch lächerlichen Versicherungsbetrug in hohem Bogen rausgeschmissen. Und nun schlug er sich seit neun Jahren als Gründer, Geschäftsführer, Eigentümer und einziger Mitarbeiter der Detektei Schulzenrieder durch, für die er den Geburtsnamen seiner Mutter verwendete. Besser, sich hinter diesem zu verstecken.

Welch eine Zerstörung lang aufgegebener Illusionen. Welch ein Abstieg aus luftigen Schlössern. Wenn Schmitt nicht mittler weile kalt wie eine Hundeschnauze wäre, müsste seine Seele in einem Meer von Tränen ertrinken. Ein paar abgetragene Klamotten, ein roter, klappriger Peugeot 306, genau wie er selbst in die Jahre gekommen, eine von seinen Eltern geerbte, unbelastete Zweizimmer-Eigentumswohnung in der Falkensteinstraße, ein paar ebenfalls geerbte Möbel waren sein ganzer Besitz. Ab und zu ein Honorar wie jetzt das von Herkenrath.

Wie gut, dass seine Ex damals ihren Mädchennamen beibehalten hatte. So kam niemand, dem sie seine Detektei empfahl, auf die Idee, dass es sich dabei um persönliche Hilfsmaßnahmen handelte. Schmitt revanchierte sich, indem er ihre Kreise mied, in denen er sich früher bewegen musste: Aufgeblasene Schwätzer, versteckt hinter ihren Masken großbürgerlicher Anständigkeit. Bei Empfängen unerträglich, wenn auch privat möglicherweise ganz angenehm. Konzert-Abo mit weihevoller Musik und Atmosphäre. Konzertpausengeschwafel und hinterher backstage dito Gesülze mit den Musikern, die doch zumeist nur sehnlichst auf ein Bier aus waren. Gut: Die Bildenden waren noch schlimmer, wenn auch nicht so opportunistisch.

Und Herkenrath: Immerhin hatte er nicht diesen schmallippigen, engherzig kleinen Mund, den Oboisten nach Meinung von Schmitt unabänderlich brauchen, um die Atemluft in das dünne Röhrchen zu blasen. Groß war Herkenraths Mund allerdings auch nicht. Und offensichtlich hatte sich sein Hirn beim Pressen der Luft in die Oboe verflüchtigt. Sonst müsste dort oben im Kopf doch wenigstens ein bisschen Blut angekommen und nicht ausschließlich in der Mitte seines Körpers in den kleinen Herkenrath geflossen sein.

Schmitts Gedanken waren wieder mal nicht zu bremsen, misanthropisch, mies, fies, negativ. Er riss sich zusammen, trank einen Korn und dann noch einen. Freundlicher ging es in seinem Kopf trotzdem nicht zu.

Die dringlichsten Fragen für Schmitt lagen auf der Hand:

Wer hatte die Fotos geschossen?

Wie kamen sie zu Stande, wenn keine versteckten Kameras im Hause Ruf installiert waren (was absurd gewesen wäre)?

Wurde zufällig fotografiert, in einem (un)glücklichen Moment, oder planvoll und auf Herkenrath abgezielt, oder war ein professioneller Erpresser tätig geworden?

War überhaupt der Fotograf der Erpresser oder hatte jener die Fotos weitergegeben? Warum wurde untypischerweise ein so hoher Einmalbetrag verlangt, auch wenn dieser natürlich nicht als einmalig garantiert war, statt eher leistbarer, niedrigerer Monats teilbeträge?

War das etwa doch ein Amateur, der die Gunst der Stunde nutzte?

Er musste unbedingt noch heute Nachmittag mit Herkenrath sprechen, mit dem er auch zu klären hatte, wie der Erpresser weiter mit ihm in Kontakt bleiben wollte. Sein Handy klingelte. Herkenrath.

„Herr Schmitt, der Erpresser hat sich eben telefonisch gemeldet.“

„Erstmal guten Tag oder wenigstens ’Hallo, Herr Schmitt’. Oder ist es bei Musikern nicht mehr….“

„Jetzt pampen sie nicht rum. Ich soll das Geld in drei Tagen, also am Freitag bereithalten. Er hat in keiner Weise mit sich reden lassen. Die Art der Scheine ist ihm egal. Der Treffpunkt wird noch mitgeteilt.“

Herkenrath klang außerordentlich nervös, geradezu fahrig.

„Haben Sie die Stimme erkannt?“, erkundigte sich Schmitt.

„Nein, ich konnte auch nicht hören, ob männlich oder weiblich.“

„Na gut, wir müssen uns sowieso treffen. Ich habe da noch einige Fragen. Und übrigens: Der Vorschuss bleibt trotzdem in der verabredeten Höhe!“

Schmitt war im Gegensatz zu Herkenrath überhaupt nicht nervös.

KAPITEL 5

Herkenrath ist ein schwanzgesteuerter Idiot, dachte Schmitt am nächsten Tag. Und es ist völlig in Ordnung, dass er abkassiert wird. Aber Auftrag ist Auftrag. Er stieg in seinen Peugeot, bog von der Falkensteinstraße rechts in die Hermannstraße, fuhr diese bis zum Brunnenplatz und dann weiter durch die Schillerstraße. Schließlich war er in dem Viertel, in dem das Haus der Rufs stand.

Der Neufelsring stieg langsam an und schlängelte sich dann in langen Kurven auf den Hügel mit den Villen der Chefärzte, Intendanten, Profiteuren großer Betrügereien und Steuerhinterziehungen nebst den hilfreich dazu die Hand reichenden Rechtsanwälten. Verleger, Vorstände großer Unternehmen, Erben großer Vermögen, stilles und lautes Geld, alles Schmitts Lieblinge aus der sogenannten besseren Gesellschaft dieser Stadt. Am Beginn des Aufstiegs dieser Straße sowie der Karrieren standen die kleineren Einfamilienhäuser wie das von Sonja und Gernot Ruf. Auf den ersten Höhenmetern bereits die wuchtigeren Häuser mit den schickeren Autos davor und danach, wie gesagt …

Das Grundstück der Rufs im Neufelsring drei war verblüffend groß, nicht protzig groß, aber mehr als hinten und vorne nur ein Rasen in Handschuhbreite. Die Fenster des Erdgeschosses, soweit von der Straße aus zu sehen, waren altmodisch geschnitten mit je zwei gleichgroßen Flügeln. Die Eingangstür war aus Holz, jedenfalls wirkte das von Schmitts geparktem Auto aus so, mit einem kleinen verglasten Guckloch auf Augenhöhe. Schmitt nahm an, dass man auf den hinteren Teil des Grundstücks über eine Terrasse gelangte. Das erste Ober geschoss wies ähnlich geschnittene, wenn auch kleinere Fenster auf.

Das Dach, ein Flachdach mit leichter Neigung, war mit Sonnenkollektoren zugepflastert. Da bin ich aber überrascht, dachte Schmitt sarkastisch. Er schätzte die Wohnfläche auf gut und gerne 160 qm, rund 80 unten und 80 oben. Eine Garage mit Kipptor und ein Carport wiesen auf zwei Autos hin. Alles in allem eine gutbürgerliche Ausprägung aus den sechziger Jahren in solider und gehobener finanzieller Ausstattung. Beachtenswert für ein Musiklehrerehepaar mit der einen oder anderen Mucke, stellte Schmitt fest. Das liegt durchaus über dem Durchschnitt der Einkommen von Musikern, die sich mit Unterricht und kleineren Konzerten über Wasser halten müssen. Aber was soll’s, sofern nicht Gernot Ruf ein einträgliches Nebeneinkommen als professioneller Erpresser hat, geht mich das schließlich nichts an, sagte sich Schmitt. Da er nichts Besseres zu tun hatte, lümmelte er sich in seinen Fahrersitz, soweit es sein lädierter Rücken zuließ und nahm sich den Volksboten vor, die dünne, örtliche Zeitung, über deren ständige Schludrigkeiten in Text und Nachricht er sich merkwürdigerweise über alle Maßen ärgern konnte.

Auch heute wieder an der Ankündigung eines Konzertes mit Cello, Violoncello und Klavier. Was, bitte schön, ist der Unterschied zwischen einem Cello und einem Violoncello, sinnierte Schmitt. Oder hier: Ein „Trio-Konzert mit xy (Viola) und blablabla (Violine)“! Ein Trio? Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Und dann auch noch „der aus Peking stammende Pianistin Soundso“. Und das alles auf einer Seite derselben Ausgabe. Schmitt war so in Rage, dass er begann, die Druckfehler zu zählen.

Dabei übersah er beinahe den jungen Mann, der das Haus der Rufs verließ. Er war neunzehn, zwanzig Jahre alt, etwas dicklich, etwas plump, etwas weniger hübsch, auch wenn er diesen Eindruck durch Kultklamotten zu überspielen suchte. Er trug eine trendige Umhängetasche und bewegte sich Richtung Straßenbahnhaltestelle.

Schüler war er wohl nicht, schloss Schmitt, denn jetzt um zehn Uhr begann an keiner Schule der Unterricht. Eher ein Student, der zur Universität oder einer der Hochschulen ging. Und offensichtlich ein Bewohner des Hauses Ruf. Sohn, aufgenommener Austauschstudent, angenommenes Kind, naher Verwandter, gerettetes Straßenkind …

Schmitts Gedanken schweiften ab und er rief sich zur Ordnung. Natürlich der Sohn des Hauses und Bruder von Silke Ruf. Er musste Herkenrath fragen, ob er mit dieser Vermutung richtig lag und warum er, Herkenrath, ihm nichts davon erzählt hatte. Denn das war nachgerade ein idealer Kandidat für diverse Fotoaufnahmen. Die Rufs besaßen zwar offensichtlich zwei Autos, aber ebenso offensichtlich nur sie und er, denn die Wagen fehlten. Für den Sohn war kein Parkplatz vorhanden. Vielleicht durfte er hin und wieder mal mit Mamas oder Papas Auto fahren, dachte Schmitt gallig. Und ein Motorrad oder eine der trendigen Vespa-Nachbauten waren auch nicht zu sehen. Möglicherweise wollte der Junge diesen Zustand bald durch eine größere Einnahme ändern.

Nicht weit von hier hatte Schmitt auf der Herfahrt einen Kiosk entdeckt. Eventuell lohnte es sich, mit dem Eigentümer zu plauschen. Außerdem spürte er ein Hungergefühl, denn sein Frühstück hatte heute Morgen wie jeden Morgen seit der Trennung und Scheidung von seiner Frau nur aus zwei Tassen Kaffee bestanden, wenn auch ohne die früher üblichen zwei Zigaretten. Und dann waren auch noch die betreuten oder beschützenden oder beschützten Werkstätten oder wie immer sie heißen mochten, der Arbeiterwohlfahrt oder Caritas oder von wem zum Henker hier in der Nähe. Die wollte er sich zunächst mit dem gebotenen Abstand mal genauer anschauen.

KAPITEL 6

Schmitt wendete und bog vom Neufelsring nach wenigen Metern rechts in die Schillerstraße ein, die nach etwa achthundert Metern in den Bismarckplatz mündete. Hier trafen sich zwei Straßenbahnlinien. Die eine führte ins Zentrum, die andere zur Universität und sowohl zum Theater als auch zum verhältnismäßig neuen Konzerthaus, dem „Klangpalast“ der Stadt. Schmitt konnte direkt bei seinem Ziel parken, einem größeren Kiosk mit Stehtischen an der Seite und davor, einigen Sonnenschirmen und einem breiten Angebot an Druckerzeugnissen und Süßigkeiten jeder Art, einigen kleineren warmen und kalten Speisen sowie Getränken in breiter Palette. Genau so, wie es sein musste. Viel Betrieb war nicht. Schmitt als einziger Kunde sah sich einem rundlichen jovialen Mann Anfang sechzig gegenüber mit mehr Kahlheit als Haaren auf dem Schädel, aber einem herrlichen Schnauzbart und neugierig blickenden Augen.

„Tag“.

Der Schnauzbart offenbarte einen Mund, der sich zuvor darunter verborgen hatte.

„Morgen“, erwiderte Schmitt. „Ich hätte gerne eine Flasche Apfelschorle und …“ Er inspizierte die ausgelegten Brötchen „ … eine Käsesemmel.“

„Ein Glas zur Flasche?“, fragte der Bart.

Schmitt nickte, erhielt das Gewünschte, zahlte und dachte wehmütig an die Zeiten zurück, als er gut ein Bier zum Brötchen vertrug und Getränke wie Apfelschorle noch nicht mal ignorierte.

„Na, viel los ist ja nicht“.

„Nein, erst kurz vor Beginn des Unterrichts in der Schule und der Arbeitszeit, in den Schulpausen und den Mittagspausen, da ‚kracht die Schwarte’. Und auf den Heimwegen fällt auch noch was ab“, erklärte der Kioskbetreiber bereitwillig.

Und zwischendurch kommen dann Typen wie du, dachte er.

„Sind ja dann wohl eher Stammkunden.“

„Jepp“.

Und wie um das zu untermauern, tauchte jetzt eine Mittfünfzigerin auf, der der Bärtige unaufgefordert und mit einem fröhlichen Gruß eine Zeitschrift reichte, ihre Grußerwiderung und die Bezahlung entgegennahm, um sich dann wieder Schmitt zuzuwenden.

„Laufkundschaft habe ich allerdings auch. Der Platz und die Straßenbahnkreuzung sind ideal. Ich muss direkt aufpassen, nicht zu reich zu werden.“

„Dann will ich doch mal Ihren Reichtum mehren. Geben Sie mir wohl noch einen Kaffee? Schwarz und ohne Zucker bitte. Hier in der Nähe gibt es doch eine beschützende Werkstätte von der AWO oder von der Caritas oder so?“

„Nein, das ist eine, die von einer Kette namens LaboraVita geführt wird. Die ist schon noch ein Stück weit weg. Da vorne rechts in die Schützenstraße und dann nach etwa fünfhundert Metern wieder rechts in die Wohlgemuthstraße. Danach sind’s noch etwa dreihundert Meter. Wieso fragen Sie?“

„Da wird die Tochter eines Bekannten betreut, die Silke Ruf“, flunkerte Schmitt.

„Ach. Die süße Silke. So ein hübsches Ding und dann so zurückgeblieben. Eine Schande ist das. Übrigens: Ich heiß’ Robert Heinke. Freut mich, einen Bekannten von Gernot zu treffen.“

„Einen weitläufigen Bekannten“, ruderte Schmitt etwas zurück, „über einen gemeinsamen Bekannten, der auch Musiker ist. Mein Name ist Schmitt. Einfach nur Schmitt!“

“Gott sei Dank ist ja der Mischa normal, wie man so sagt”, fuhr Heinke fort. “Wenn er auch ganz im Vertrauen ein gewisses Früchtchen zu sein scheint. So‘n bisschen verkorkst ist er ja wohl. Kein Wunder, wo die Eltern ihre ganze Liebe der Silke geben. Aber das wissen Sie ja auch.“

Mannomann, dreimal hintereinander „Ja“ und dann noch dieses blöde, falschgesetzte „Wo“, dachte Schmitt. Immerhin wusste er jetzt, dass Mischa wohl der Sohn der Rufs war.

„Der Gernot bringt seine Silke sicher täglich mit dem Auto zu den Werkstätten“, fuhr Schmitt äußerlich unberührt von Heinkes Sprachverhunzungen und den neuen Informationen fort. „I wo. Gernot und seine Frau haben Silke den Weg antrainiert. Und wenn es nicht gerade Katzen hagelt, geht sie zu Fuß. Morgens hin, nachmittags so gegen fünf zurück. Und da müssten Sie mal seh’n, wie die Männer der Silke hinterher gucken. Die jungen wie die alten. Und ich nehme mich da nicht aus. Sie läuft ja direkt an meinem Kiosk vorbei.“ Heinke kicherte. „Und manchmal kommt sie mittags zusammen mit ein paar anderen aus dem Heim auf einen Happen zu mir, dann ist aber ein Betreuer dabei. Das ist vielleicht ein komischer Kerl. Ich hätt’ den nicht eingestellt.“

Robert Heinke war in Fahrt. Offensichtlich weiß er alles aus dem Viertel und lässt auch alle an seinem Wissen teilhaben. Die typische Plaudertasche, die darüber hinaus auch noch alles mitkriegt, dachte Schmitt.

Indes fragte er: „Was meinen Sie mit komisch?“

„Ja, ich weiß nicht so recht. So’n bisschen linkisch, fast tuntig. Also ich jedenfalls würde ihm meine Kinder nicht anvertrauen. Vor allem, weil ich keine habe“, witzelte Heinke. „Aber vielleicht tut das in so einer Einrichtung nichts zur Sache.“

„Sind da eigentlich nur geistig oder auch körperlich Behinderte?“ wollte Schmitt wissen.

„Nein, nein. Wohl nur geistig Behinderte, allerdings haben die teilweise auch körperliche Schäden. Und es sind alles Jugendliche so ab achtzehn oder junge Erwachsene wie die Silke. Aber jetzt muss ich in die Puschen kommen.“

Heinke deutete nach halbrechts, von wo eine ganze Gruppe auf den Kiosk zustrebte, bei der es sich offensichtlich um Büroangestellte handelte, die zu einer frühen Mittagspause kamen.

Schmitt sah ein, dass ein weiteres Gespräch, zumindest jetzt, nicht möglich war, weil Heinke diese Gruppe im Gegensatz zu den vorherigen vereinzelten Kunden nicht nebenbei bedienen konnte. Aber er hatte mehr erfahren, als er erhofft hatte. Sohn Mischa ein Früchtchen? Der Betreuer merkwürdig? Und Silke zog die Blicke aller männlichen Wesen des Bismarckplatzes auf sich. Das bedeutete, dass sie wahrscheinlich keine Kleidung trug, die ihre körperlichen Reize verbarg. Und auch nicht wie ein kleines Mädchen sprang und trippelte und bummelte. Dass sie vielleicht sogar die Blicke bemerkte, die sie auf sich zog? Und sie genoss?

Und was bringen mir diese Erkenntnisse, wenn es denn tragfähige sind, sinnierte Schmitt auf dem Weg zu seinem Peugeot und entschied nach einem Blick auf seine Uhr, sich doch noch auf einen Sprung zu dem Gebäude der Werkstätten zu machen. Er setzte kurz zurück und fuhr dann, wie von Heinke beschrieben, in die Schützenstraße und danach rechts in die Wohlgemuthstraße. Heinke konnte prima schätzen, bemerkte Schmitt anerkennend, denn fast genau nach dreihundert Metern fand er auf der gegenüberliegenden Straßenseite das tief nach hinten gezogene, zweigeschossige Anwesen der LaboraVita. Er parkte unmittelbar vor dem Haus. Und wartete.

Nach einer langen Weile öffnete sich der Haupteingang. Eine munter schwatzende Gruppe Jugendlicher trat auf die Straße. Mittendrin zwei Männer, die offensichtlich Betreuer oder Ausbilder oder ähnliches waren. Einer um die vierzig, schlank, das volle dunkle Haar kurz geschnitten, etwa 1,8o Meter groß. Der andere … Schmitt konnte es kaum glauben: Gerd Armbruster. Wie er leibte und lebte. Kaum älter geworden, obwohl Schmitt ihn das letzte Mal vor neun Jahren gesehen hatte. Nicht übermäßig groß mit seinen 1,75 Meter. Kompakt, breite Schultern, kein übergroßer Bauchansatz erkennbar. Immer noch fast schulterlanges Haar, jetzt hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, interessant graumeliert, dunkelbraun gebranntes Markantgesicht. Jeder Quadratzentimeter strotzte auf den ersten Blick vor Männlichkeit. Dazu natürlich passende Jeans, eng in Schritt und Hinterteil, lockeres T-Shirt und Boots. Herrgottnochmal, fluchte Schmitt in Gedanken, der Scheißkerl musste jetzt doch auch schon an die Fünfzig sein. Und ein kurzer Vergleich mit ihm brachte ihn fast zum Heulen. Gerd Armbruster. Der Kerl, dem er seinen Rausschmiss vor neun Jahren aus seinem Job bei der Versicherung zu verdanken hatte. Der ihn aus seinem ruhigen, okay: schon ein bisschen sehr spießigen Leben in dieses Schlamassel gebracht hatte. Der offensichtlich wieder auf die Füße gefallen war. Bester Laune, wie es aussah: fester Job, wieder mitten im Dasein. Allerdings war er wohl nie wirklich draußen gewesen, dieses Obermistschwein.

Schmitt erinnerte sich so klar, als ob das alles erst gestern passiert wäre. Er war jahrelang als erfahrener Schadenssachbearbeiter bei der Garant-Versicherung AG zuständig für die Regulierung von Kraftfahrzeug-Unfällen. Gerd Armbruster wurde vorgeworfen, über einen Zeitraum von mindestens zweieinhalb Jahren Unfälle mit Autos fingiert zu haben, die alle bei der Garant versichert waren. Schmitt fiel wieder ein, dass Armbruster studierter Sozialarbeiter war, der mit straffälligen Jugendlichen zu tun hatte. Diese setzte er für seine Machenschaften ein. Dafür erhielten sie ein bisschen Kohle, viel Freiheit und vor allem immer außerordentlich gute Zeugnisse und Empfehlungen von Armbruster, ihrem Helden, ihrer Lichtgestalt, auch wenn sie wieder einmal anderweitig mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.

Ihm war in der Schadensabwicklung nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen, zumal die beteiligten Autos in aller Regel auf unterschiedliche Namen zugelassen waren. Aber in der Zentrale der Garant befasste sich wohl jemand damit, Muster in den tausenden und abertausenden Versicherungsfällen aufzuspüren, auch in den Verkehrssachen. Und dem fiel auf, dass bei etwa dreißig Unfallschäden nicht alles mit rechten Dingen zuging. Schmitt wurde der Vorwurf gemacht, dieses Muster nicht erkannt zu haben. Er hatte schwere Kritik einstecken müssen und eine heftige Abmahnung. Das war’s dann aber auch. Bis, ja bis herauskam, dass Armbruster als Kopf hinter allem steckte. Der aber machte einen Deal mit der Geschäftsführung, bevor eine Anzeige gegen ihn ergehen konnte. Er nannte seinen angeblichen Komplizen in der Versicherung, nämlich Schmitt („Sie werden ja wissen, dass ich eine solche langfristige und regelmäßige Betrügerei nie ohne Hilfe in Ihrer Versicherung durchführen konnte.“).

Aufgrund dieses Geständnisses und des hoch und heiligen Versprechens, den Gesamtschaden von damals rund einhundertzwanzigtausend Euro in höchstmöglichen Monatsraten abzubezahlen, verzichtete die Garant auf eine Strafanzeige. Ein öffentliches Strafverfahren wurde in solchen Fällen wegen der Negativwerbung allzu gerne vermieden. Und auch gegen Schmitt wurde aus denselben Gründen keine Anzeige erstattet. Aber er flog fristlos raus. Und musste sogar auf ein Zeugnis verzichten. Und damit er auch ja keine Kündigungsklage einreichte, wurde ihm großzügig die Beteiligung an der Rückzahlung des vermeintlich auch von ihm vorsätzlich verursachten Schadens erlassen. Zuckerbrot und Peitsche. Sein Anwalt, mit dem er damals noch befreundet war, riet ihm, dieses Angebot der Garant anzunehmen, da er gegen Armbrusters Geständnis nie und nimmer hätte anstinken können.

Armbruster war also wieder im Geschäft. Wieder mit Jugendlichen, diesmal mit behinderten. Schmitt hatte ein ungutes Gefühl. Ich werde doch nicht in ein Wespennest stechen, überlegte er.

KAPITEL 7

Schmitts Büro lag in der Langgasse, einer Seitenstraße der Hindenburgallee. Er ärgerte sich jeden Tag aufs Neue darüber, dass dieser Name nach wie vor die Straßenschilder verunzierte. Diesem Erzreaktionär und Antidemokraten wird im kollektiven Gedächtnis weiter gehuldigt, regte sich Schmitt regelmäßig auf. Und das Schlimmste ist, dachte er, dass es den meisten Mitbürgern egal ist und ein nicht geringer Teil der übrigen gar Sympathien für diese Namensgebung hegt. Das Gebäude war in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut worden und befand sich wie ein Großteil des Viertels in einem vernachlässigten Zustand. Die Miete jedoch bewegte sich im unteren Bereich; Schmitt konnte sie gerade noch aufbringen. Er rechnete allerdings täglich damit, einen Brief des jetzigen Eigentümers zu erhalten, das Gebäude sei in das Blickfeld einer Heuschrecke geraten und deshalb leider und so weiter und so fort.