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Mein Leben. Meine Hits. Meine Erfolgsgeheimnisse. Hitproduzent und DSDS-Juror Toby Gad verrät, worauf es ankommt – in der Musik wie im Leben. »Manch einer meinte zu mir: ›Toby, du kommst weinend zurück. Das wird niemals etwas in Amerika.‹ Fast schienen sie recht zu bekommen, doch ich habe im wahrsten Sinne des Wortes um mein Leben geschrieben – und am Ende die Grammys gerockt!« Toby Gad hat geschafft, wovon andere nur träumen: sich als Deutscher im US-Musikbusiness einen Namen zu machen. Künstler wie Beyoncé, Leona Lewis, Madonna oder John Legend schwören auf den »Hitman from Germany«. Trotz der vielen Nr. 1-Hits und Auszeichnungen hat er sich nie vom Ruhm blenden lassen, ist immer ein bodenständiger Mensch geblieben. Wie steinig der Weg von der bayerischen Provinz an die Chartspitze war, was er alles an der Seite der Stars erlebt hat und warum er sich heute für die Umwelt und den Schutz von Orang-Utans engagiert, erzählt der Hitschreiber und Juror von »Deutschland sucht den Superstar« in seiner Autobiografie. Außerdem verrät er, wie es uns gelingen kann, unsere Träume zu verwirklichen, und was wir beachten sollten, wenn wir nicht nur ein erfolgreiches, sondern auch ein glückliches und erfülltes Leben führen wollen.
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Seitenzahl: 296
TOBY GAD
MIT MARIO WEIDEMANN
TOBY GAD
MIT MARIO WEIDEMANN
Von Beyoncé bis John Legend – wie ich es als Songwriter und Produzent aus Deutschland an die Spitze der Charts geschafft habe
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Wichtiger Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
Originalausgabe
1. Auflage 2022
© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Silke Panten
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: Eda Dasdelen
Layout und Satz: Andreas Linnemann
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-2031-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1780-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1781-7
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
PROLOG
KAPITEL 1WER ES IN NEW YORK SCHAFFT …
MAN ON A MISSION
KAPITEL 2MEINE KINDHEIT
ANTIAUTORITÄRE HIPPIE-ERZIEHUNG MIT FOLGEN
KAPITEL 3MIT VOLLGAS AN DIE CHARTSPITZE
MEINE KARRIERE VON MILLI VANILLI BIS MADONNA
KAPITEL 4MEINE FAMILIE
ZWISCHEN GEBURT UND GRAMMYS
KAPITEL 5HEUTE HIER
… MORGEN DA?
EPILOG
Ich widme dieses Buch allen Songwritern und Produzenten, die wie ich in meinen Anfangsjahren am Fuße des Mount Everest der Musikwelt standen und sich wunderten, wie sie dort jemals hinaufkommen sollten.
Man sagt, es brauche drei Jahre, um in New York den ersten eigenen Dollar zu verdienen. Drei Jahre, die dich durch die Hölle gehen lassen. Drei harte Jahre, in denen du auf brutalste Art und Weise lernst, wer du bist und woraus du gemacht bist. Aber wenn du es in New York schaffst, schaffst du es überall.
Und ich habe es geschafft.
Als ich Deutschland verließ, meinten manche Verleger zu mir: »Toby, du kommst weinend zurück. Das wird niemals etwas in Amerika.« Fast schienen sie recht zu bekommen, doch ich habe im wahrsten Sinne des Wortes um mein Leben geschrieben. In meinem dritten Jahr in New York hatte ich bereits mehr als 300 Lieder mit amerikanischen Künstlern produziert, aber dennoch kaum einen Dollar verdient. Sogar »Big Girls Don’t Cry« hatte ich bereits mit Fergie geschrieben, aber es dauerte noch Jahre, bis das Lied das Licht der Welt sah und zu Amerikas »Song of the Year« wurde. Ich war zwischendurch so pleite, dass ich mich monatelang von Bagels und Instantsuppen ernährte. Ich hauste in einem kleinen, schimmligen Zimmer einer Wohngemeinschaft und fuhr Rollerblades, weil mir mein Fahrrad geklaut wurde und ich mir schlicht kein neues leisten konnte.
Doch ich arbeitete unermüdlich weiter an meinem Traum. Und irgendwann zahlte sich meine Hartnäckigkeit aus. Spätestens seit ich mit John Legend den Welthit »All of Me« geschrieben hatte, zweifelte niemand mehr daran, dass ich das Zeug dazu hätte, mir als Komponist und Produzent aus Deutschland in Amerika einen Namen zu machen.
Mein ehemaliger Assistent Josh bezeichnete meine Nähe stets als eine Art Realitätsverzerrungseffekt, weil ich mich noch heute mit allen Mitteln weigere, ein Nein zu akzeptieren. Ich sehe ein Nein eher als Motivation, jetzt erst recht noch einmal loszulegen. Aufs Ganze zu gehen. Josh meinte, viele meiner Visionen befänden sich auf der Grenze zwischen Inspiration und Größenwahn. Allerdings hat sich kaum eine meiner Ideen als Letzteres herausgestellt. Genau darum geht es in diesem Buch. Ich möchte nicht nur aus meinem Leben erzählen, sondern zeigen, dass es sich lohnt, für seine Träume zu kämpfen. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit Madonna und Leona Lewis, mit Beyoncé und Fergie und eben mit John Legend arbeiten würde. Doch Träume werden manchmal wahr.
Wir Songschreiber und Produzenten sind die Menschen, die in der Regel hinter der Bühne stehen. Mit diesem Buch möchte ich zum ersten Mal selbst raus ins Rampenlicht treten und meine Geschichte erzählen.
Jede Oktave besteht bekanntlich aus acht Tönen beziehungsweise aus zwölf Halbtönen, und jeder schreibt diese Töne anders, interpretiert sie für sich, erfindet sie neu. Meine Oktave des Lebens besteht aus vielen eher leisen Tönen. Und aus ebenso vielen Zwischentönen. Ich habe mich ein paarmal verspielt, sicherlich, aber am Ende habe ich doch die Grammys gerockt. Was zählt, ist, was du der Welt zu sagen hast.
Dieses Buch bin ich. All of Me.
Toby Gad!
Wenn ich den Singvögeln im Garten zuhöre und ich mich in ihren melodiösen Gesängen verliere, scheint es mir, dass diese Melodien manchmal nur ihrer eigenen Freude und Unterhaltung dienen. Dann frage ich mich, ob ihre Freude an der Musik vielleicht die gleiche ist wie meine.
Da stand ich nun, völlig durchgefroren und mit zittrigen Fingern, an der 5th Avenue in New York und versuchte, einen Flyer mit einem Stückchen Klebeband irgendwie an dieser Ampel zu befestigen. Meine Finger fühlten sich längst taub an, jede Berührung war wie ein Nadelstich. Es war bitterkalt an jenem Januarmorgen im Jahr 2001. Es hatte geschneit. Und damit meine ich nicht diese idyllische Winterromantik wie bei mir zu Hause in Bayern, wenn der Schnee sich wie Puderzucker über die Erde verteilt und eine besinnliche Stille in der Luft liegt. Schnee in Manhattan bedeutet Sturm. Schneeregen. Ein eisiger Wind, der dir gnadenlos ins Gesicht peitscht. Dieses Wetter ist typisch für eine Insel wie New York. Auf der einen Seite ist der East River, auf der anderen Seite der Hudson River, dazu die Nähe zum Meer. Diese hohe Luftfeuchtigkeit zieht dir im Winter binnen Sekunden den Rest deiner Wärme aus dem Körper. Aber von diesen Temperaturen ließ ich mich nicht aufhalten. Ich war schließlich nicht nach Amerika gekommen, um vor der Kälte zu kapitulieren. Ich war hier, um meine Träume zu leben. Ich war auf meiner eigenen Mission. Ich war ein »Man on a Mission«. Was sind da schon ein paar blaue Fingerkuppen?!
Die ersten 50 Flyer waren verteilt, noch weitere 250 steckten in meiner Tasche. Von der 5th Avenue ging’s über die 46th Street rüber zur 6th Avenue, danach hakte ich die 47th ab, klapperte die Ampeln und Litfaßsäulen entlang des Broadways ab bis zum Times Square. Ich war querbeet unterwegs, war überall dort, wo sich viele Menschen tummelten und wo ich Talente vermutete, wie in Musikschulen, Tanzschulen und Musikgeschäften. Überall hinterließ ich meine Flyer, in der U-Bahn, vor Clubs und vor Restaurants. An Ampeln und Kreuzungen, Pinboards und an den Wänden der College-Eingangshallen. Ich hatte auch einen dieser kleinen Tacker dabei, aber die meisten Sachen in New York sind nun mal aus Stahl. Also blieb es bei der Kombi aus Klebeband und kalten Fingern. Die Flyer hatte ich davor mit dem Computer selbst kreiert, klassisch mit Word, das war nichts Besonderes:
Are you a singer? Between 18 and 30 years old? Young European producer has studio in Midtown, looking for talent.
Mehr als diese drei Sätze standen nicht darauf. Es war diese Art von Zettel, auf die man mehrfach seinen Namen und seine Telefonnummer schreibt und danach mit der Schere einzelne Fransen reinschneidet, die einfach abgerissen werden können. Beim Copyshop um die Ecke hatte ich 300 Kopien machen lassen, das sollte erst einmal reichen. Mit jedem neuen Flyer wuchs meine Euphorie. Ich war nicht einen Moment lang skeptisch. Im Gegenteil: Ich habe schon immer diesen blinden Optimismus gehabt. Wenn ich etwas erreichen möchte, wenn es große Träume sind, gibt es kein Zurück mehr. Dann arbeite ich wie mit Laserfokus so lange darauf hin, bis ich es packe. Diese 300 Abrisszettel, mit denen ich letztlich halb Manhattan tapezierte, waren ein Weg dahin. Der andere Weg, um Talente zu finden, führte über die Open-Mic-Events. Wörtlich übersetzt bedeutet es »offenes Mikrofon«, genau diese Beschreibung trifft es in der Tat am besten.
In vielen Clubs in New York gibt es an manchen Abenden diese Open Mics, bei denen junge Amateurkünstler die Chance bekommen, ihre eigenen Kompositionen vorzustellen oder einfach nur ihre Stimme zu zeigen. Auch Comedians treten auf, genau wie Poetry-Slammers. Eben jeder, der etwas zu sagen hat und ein Publikum sucht, das gewillt ist zuzuhören. Die meisten Sänger hier hatten ihre ersten Gigs bei solchen Open-Mic-Veranstaltungen. In der wöchentlichen Zeitung The Village Voice waren sämtliche Open-Mic-Events gelistet. Keines davon hatte ich verpasst. Die »Ashford & Simpson’s Sugar Bar« an der 72th Street war einer der Clubs, in denen Open Mic Nights stattfanden, meist an diesen Abenden total überfüllt. Genau wie das berüchtigte Apollo Theater in Harlem, in das das Publikum leider häufig nur ging, um möglichst laut »Buuuh« zu rufen. Ich mochte Ron Grants »Village Underground« am liebsten. In diesem Club Ecke 130 West und 3rd Street traten jeden Sonntag und Montag ab Mitternacht die besten Sänger auf, die ich je gehört habe. Gegen 23.30 Uhr, nach dem Standardprogramm des Clubs, konnte man sich am Eingang in eine Liste eintragen. Anschließend wurde man der Reihe nach auf die Bühne gerufen, um sich und sein Können zur Schau zu stellen. Das gab es in vielen Clubs, aber im »Village Underground« war dies ein völlig anderes Niveau. Viele der Künstler waren spirituelle Sänger, sie sangen allein für Gott und ihren Glauben, nicht aber für den kommerziellen Markt. Es fühlte sich manchmal an wie in einer Gospelkirche, das war Gänsehaut pur. Auch deshalb, weil das ganze Publikum mitsang. Jeder in diesem Laden konnte singen, das war unglaublich. Es fehlte lediglich ein Produzent. Und dafür war ich ja hier. Falls ich es nur irgendwie schaffen würde, mich entsprechend vorzustellen, und so vielleicht die Chance bekommen würde, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Shaliek Rivers war eines der ersten Talente, die ich dort sah. Er hatte eine beseelte Stimme mit einem schier endlosen Stimmumfang und so vielen Emotionen. Samtig in den leisen Tönen, klar und kräftig in den lauten Tönen, explosiv wie ein Feuerwerk. Er war gerade mal 17 Jahre alt, supercharismatisch und so authentisch, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte – ein absolutes Naturtalent! Von so einem Künstler hatte ich in Deutschland seit jeher geträumt. Nachdem er gesungen hatte, gab es Standing Ovations. Das ganze Publikum stand auf, johlte und applaudierte euphorisch. Shaliek bekam später einen Vertrag mit Universal Records. Auch Ryan Shaw, der Jahre später sogar einen Grammy gewann, hörte ich in diesem Club singen. Ich kann es manchmal bis heute nicht fassen, dass ich solche Talente persönlich mitentdecken durfte. Melonie Daniels, die Backgroundsängerin von Mariah Carey, nutzte diese Bühne ebenfalls regelmäßig für sich. Es waren wirklich alles überbegnadete Musiker, die dort auftraten. Dass ich Stammgast im »Village Underground« war, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Das »Village Underground« war mein Mekka. Mein musikalisches Herz hat sich hier entwickelt. Hier habe ich gelernt, was man mit Stimmen überhaupt machen kann. Hier habe ich gelernt, wie man aus Künstlern das Beste herausholen kann. Genau wie die drei »Host-Sänger« des »Village Underground«, Ron Grant, Melonie Daniels und Cheryl Pepsii Riley, das Beste aus den Gasttalenten herausholten. Wenn ein Künstler etwas Unterstützung brauchte, kam dieses Trio auf die Bühne und sang mit, um somit jeden Song zu einem unvergesslichen Event zu machen. Dieser Club stand im krassen Gegensatz zum Apollo Theater in Harlem, wo schwächere Sänger brutal von der Bühne runtergepfiffen wurden.
Als ich mit meinen Flugzetteln in der Tasche versuchte, nach den Sternen zu greifen, war ich genau drei Wochen in New York. Es war der Beginn meines neuen Lebens, meines größten Traums. Und seit ein paar Tagen hatte ich auch mein Studio wieder, denn mein Container aus Deutschland war endlich im Hafen von New York angekommen. In dieser riesigen Blechdose steckte mein gesamtes Equipment. Ich hatte mir wochenlang Sorgen gemacht, weil das Containerschiff im Atlantik in einen Sturm geraten war und sich deswegen um einen halben Monat verspätete. Die Schiffereigesellschaft meinte zwar gelassen, so etwas komme vor. Aber das war keinerlei Trost für mich. Ich hatte mir schon ausgemalt, dass alles, was mir wichtig war, am Boden des Atlantischen Ozeans enden würde. Mir kamen daher die Tränen, als ich den Lastwagen mit meinem Container in der 5th Avenue in Midtown Manhattan langsam um die Ecke biegen sah. Es war ein surreales Bild, das ich mir seit Wochen in Gedanken ausgemalt hatte. Der gleiche Container, den ich in München mit all meinen wertvollsten Dingen sorgfältig bepackt hatte, stand nun vor meiner Tür in Amerika. Es war ein unglaubliches Gefühl. Meine USA-Karriere konnte endlich beginnen.
Ein guter Freund von mir, Julian Feifel, den ich schon seit meiner Jugend kenne, war extra zu mir nach New York geflogen, um mir beim Aufbau meines Musikstudios zu helfen. Er stand neben mir am Straßenrand und beklatschte mit mir laut jubelnd die Ankunft des orangefarbenen Containers mit dem schwarzen Hapag-Lloyd-Logo. Plötzlich waren wir wieder wie Kinder, aufgeregt über das neue Spielzeug, das sie nun auspacken durften. Julian ist ebenso Musiker wie ich. Seit ich 14 Jahre alt war, hatten wir in mehreren Bands zusammen gespielt. Er wusste um meine Leidenschaft und ich wusste um sein Können. Die nächsten Tage bauten wir Stück für Stück das Studio zusammen, bastelten Möbel, versuchten, den perfekten Sound herauszukitzeln. Damals war das noch ein Riesenaufwand, so ein Musikstudio zusammenzubauen. Heute kann man bereits mit einem Laptop eine ganze Platte produzieren. Damals benötigte man ein großes Mischpult, endlos viele Kabel, mehrere Keyboards, ein riesiges Rack mit Effekten, kurz gesagt, einen ganzen Container voll Technikzeug.
Bereits im November 2000 war ich für drei Wochen nach New York gereist, um mir für meinen Neustart ebenjene bezahlbare Räumlichkeit für mein Musikstudio zu suchen und dazu einen Platz zum Schlafen. Den Entschluss, in die Staaten zu gehen, fasste ich sogar schon 1997. In all den Jahren dazwischen erklärte ich sämtlichen Freunden immer wieder vehement: »Ja, ich werde nächstes Jahr nach Amerika gehen.« Letztlich hatte ich den Sprung dann aber immer wieder nicht geschafft, da am Ende eines jeden Jahres, nachdem alle Steuern bezahlt waren, nie genug Geld übrig geblieben war, um die besagten drei einkommenslosen Übergangsjahre in Amerika zu überbrücken. Doch Ende 2000 war es tatsächlich so weit. Ich fand gerade den Bescheid von der GEMA im Briefkasten, dass eine große Nachzahlung von Tantiemen aus der Musik für die Fernsehshows mit Andreas Türk und Arabella Kiesbauer akzeptiert wurde. Ich würde also bald genug Geld bekommen, um endlich meinen großen, seit Jahren gehegten Traum zu beginnen. Ich buchte noch am gleichen Tag den nächstbesten Flug nach NYC.
Ich gab mir für die Wohnungs- und Studiosuche in New York drei Wochen Zeit. Ein ehrgeiziger Plan, der mich 21 Tage lang zu Fuß durch sämtliche Straßen in Manhattan, Brooklyn, Queens, Hoboken, Staten Island, der Bronx und Harlem jagen ließ. In jedem Café fragte ich nach, ob jemand ein Zimmer vermietet oder jemanden kennt, der einen netten Mitbewohner sucht. Ich stöberte sämtliche lokalen Zeitungen durch, studierte jede noch so kleine Annonce, sammelte jedes Flugblatt auf und wuselte mich durch alle handgeschriebenen Zettel an den Pinnwänden, die in dieser vordigitalen Zeit vor Facebook und Craigslist noch an jeder nur erdenklichen Ecke angebracht waren. Irgendwo musste es doch einen Platz für mich geben. Ich wollte zwar unbedingt nach Manhattan ziehen, aber mir war klar, dass ich mir das eigentlich niemals leisten konnte. Es sei denn, es geschähe ein Wunder. Also schaute ich mich erst mal in den umliegenden boroughs um. Ich fand vieles, was sich auf den ersten Blick interessant anhörte, sich dann aber als Reinfall entpuppte. Eine vielversprechende Souterrainwohnung hatte letztendlich eine so niedrige Decke, dass ich nur gebückt darin herumlaufen konnte. Eine »wunderschöne Altbauwohnung« war schließlich nur ein Teil des Arbeitszimmers eines Architekten, das ich auch nur dann hätte benutzen dürfen, wenn der Architekt es nicht bräuchte.
Zehn Tage später fand ich die perfekte Wohnung. Ein großes, neu renoviertes industrielles Ziegelstein-Loft für 2000 Dollar im Monat. Ich machte den Vertrag mit dem Vermieter direkt per Handschlag klar. Auf dem Heimweg aber kamen mir die ersten Zweifel, ob diese Gegend eine kluge Wahl war, so mitten in Bedford-Stuyvesant, einer der damals berüchtigtsten Ecken von New York. Es ließ mir keine Ruhe, und so ging ich gegen Mitternacht noch einmal zurück zum Loft. Als ob ich es geahnt hätte, sah ich gegenüber vom Gebäude einen tobenden Menschenpulk. Ein Polizist sprach von einer Messerstecherei und riet mir von dieser Gegend dringend ab. Anschließend beobachtete ich, wie zwei Männer mit Brecheisen in einen Laden einbrachen. Ich schaute weg und lief schnellen Fußes durch den schmatzenden Schneematsch in Richtung U-Bahn-Station. »Nur weg von hier«, dachte ich. Kurz vor den rettenden Stufen in Richtung Gleise kam mir ein Passant mit einer Bandage am Arm entgegen. Er erzählte mir, dass er hier eine Woche zuvor überfallen worden sei und ich verrückt sei, hierher zu ziehen. Am nächsten Morgen ging ich zum Vermieter und cancelte meinen Handschlag-Mietvertrag.
Nach 15 schier endlos langen Tagen und wunden Füßen fand ich eine Annonce in der Village Voice. Dort stand: »Studio for rent. 700 dollars. 46th Street/5th Avenue. Manhattan.« Das klang zu gut, um wahr zu sein. Das Studio befand sich im zwölften Stock eines industriellen Hochhauses im Diamond District in der Mitte von Manhattan, einen Cityblock entfernt vom Times Square. Es hatte eine riesige Dachterrasse, allerdings ohne Geländer. Es gab nur diesen kleinen, etwa 30 Zentimeter hohen Vorsprung, der einen daran hindern sollte, diese zwölf Stockwerke hinunterzustürzen. Später hörte ich sogar Gerüchte, dass ein Diamantendealer tatsächlich mal rein zufällig von diesem Balkon gefallen war. Aber der Ausblick entschädigte für alles. Von hier oben konnte ich sogar das Empire State Building sehen. Die Location war genial. Gänsehaut! Es war der Wahnsinn. Bis Thomas, der Vermieter, mir offenbarte, dass er nur die Hälfte des Raumes vermieten würde. In der anderen Hälfte stünde seine Werkstatt. Weiterhin erklärte er mir, dass er werktags von 7 Uhr früh bis 16 Uhr nachmittags hier arbeiten würde, mit Bohrern, Schleifgeräten und all den staubigen, lauten Geräten, die man als Goldschmied nun mal benötigte, um Ringe und Juwelen herzustellen. Plötzlich klang dieses Angebot gar nicht mehr so gut. Das waren also 700 Dollar für ein halbes Zimmer von 16 Uhr bis 7 Uhr früh plus Wochenenden in einer lauten, staubigen Goldschmiedewerkstatt. Dennoch hatte dieser Raum etwas absolut Magisches, und ich bin ganz ehrlich: Mir gingen die Optionen aus. Ich überlegte mir, dass ich doch einfach zwei schwere soundisolierende Vorhänge quer durch den Raum hängen könnte, um so den Juwelenschmiedebereich von Thomas zu verstecken. Ich würde in diesem Industriegebäude nachts schließlich so laut sein können, wie ich wollte – und das war das Wichtigste. Ja, so würde es vielleicht gehen, dachte ich mir. Also unterschrieb ich den Mietvertrag. Trotz all dieser Widrigkeiten fühlte sich diese Unterschrift wie ein Sechser im Lotto an. Die letzten fünf Jahre hatte ich mich so sehr danach gesehnt, ein eigenes Musikstudio in Amerika zu haben. In New York. Und jetzt hatte ich einen Platz genau im Herzen von Manhattan gefunden. Mitten im Herzen der Welt! Mein Traum wurde an diesem Tag Realität.
Eine Wohnung zu finden, war zunächst leichter gewesen – wenn auch nicht günstiger. Für meine ersten drei Besuchswochen kam ich in einer Wohngemeinschaft bei einer Frau namens Wendy unter. Eine Freundin hatte mich vermittelt. Wendy arbeitete in einer Jazz Foundation und kümmerte sich liebherzig darum, dass alte verarmte Jazzmusiker ihre Arztrechnungen bezahlen konnten. Sie war ein wahrer Engel. In ihrer Wohnung hatte ich mir ein winziges Zimmer für 500 Dollar im Monat gemietet. Die Wohnung lag in der 103rd Street, Ecke Broadway. Wendy hatte einige Zimmer, die sie allesamt einzeln vermietete. Mein Zimmer war gerade groß genug für ein Bett und eine Toilette in der Ecke. Es sah aus wie eine Gefängniszelle. Heizung oder gar Klimaanlage? Fehlanzeige. Im Sommer war es hier drin brütend heiß, jetzt im Winter war es eiskalt. Ich legte mir eine Matratze auf den Boden, daneben stellte ich einen Beistelltisch, den ich im Sperrmüll auf der Straße gefunden hatte. Es war spartanisch, aber es erfüllte seinen Zweck. Dieser Raum war ursprünglich nur für diese drei Wochen gedacht, als Übergangslösung, bis ich eine richtige Bleibe finden würde. Aber ich mochte Wendy und ihre Wärme. Obendrein ging mir schließlich die Zeit aus, um nach einer anderen Wohnung zu suchen. So unterschrieb ich bei Wendy für weitere sechs Monate, flog zurück nach Deutschland und organisierte mir einen Container.
Meine Ex-Freundin konnte es damals gar nicht glauben, dass ich wahrhaftig meine Zelte in Deutschland abbrach, um für immer nach New York zu gehen. Wir hatten anfangs den Traum vom Auswandern gemeinsam geträumt. Aber zu diesem Zeitpunkt waren wir seit gut zwei Jahren getrennt, lebten allerdings noch zusammen in derselben Wohnung. Als WG-Freunde. So blieb sie in München zurück, genau wie fast alles andere aus meinem früheren Leben. So ein Container wirkt nämlich nur auf den ersten Blick riesig. Ich musste mir ganz genau überlegen, was ich mitnehmen wollte. Die Schiffereigesellschaft hatte mir wärmstens empfohlen, den Container professionell von einer Firma packen zu lassen. Das hätte allerdings um die 7000 D-Mark zusätzlich gekostet. Sie hatten gesagt, dass sich bei einem starken Wellengang schnell mal ein Möbelstück lösen könne. Es genüge ein Stuhl, der sich selbstständig mache und bei einem Sturm in diesem Container wie eine Abrissbirne hin und her fliegen und alles darin zerschlagen würde. Ich entschied mich dennoch dagegen, auch wenn ich dadurch nicht versichert war. Mein Budget war knapp kalkuliert, damit es genau für drei Jahre reichen würde. Ich hatte in meinem Bekanntenkreis von jemandem gehört, der ebenfalls in die Staaten auswandern wollte und nach zwei Jahren aufgeben und heimkehren musste, weil ihm die finanziellen Mittel ausgegangen waren. Eine Horrorvorstellung. Das war für mich undenkbar!
Im Nachhinein war es trotzdem eine leichtsinnige Entscheidung gewesen, auf die Versicherung zu verzichten, weil das Schiff ja tatsächlich in einen Sturm geraten war. Aber in meinem endlosen Optimismus hatte ich mir einen Sturm einfach nicht vorstellen können. Ich verstaute also zuerst alle Teile meines Musikstudios, sorgfältig in Luftpolsterfolie verpackt, im Container, danach folgten Kleiderschrank und ein paar Kisten mit Klamotten sowie ein achteckiger Marmortisch, den ich mir Jahre zuvor gekauft hatte. Mehr passte nicht hinein. Als der Spediteur schließlich die Containertür zuknallte, das schwere Schloss verriegelte, zu dem nur er und ich den Schlüssel hatten, und mein Papa und ich dem Lastwagen samt meiner Fracht lächelnd aus der Eduard-Schmid-Straße 24 in München nachwinkten, stellte ich mit Erschrecken fest, dass ich mein geliebtes Fahrrad vergessen hatte. Es stand genau hinter dem Containerlaster, außerhalb meines Blickfelds. Aber es war zu spät. Der Container war weg. Mein Fahrrad verschenkte ich daraufhin, genau wie meine Windsurfbretter und alles andere, was zu sperrig und zu unwichtig war, um es mit über den großen Teich zu nehmen.
Ich hatte in der Zwischenzeit meinen Mietvertrag gekündigt, ebenso die meisten Versicherungen, einfach alles, was mich an meine alte Heimat band. Ich wollte einen Neuanfang ohne Hintertür. Das ging in meinen Augen nur ganz oder gar nicht. Darum verabschiedete ich mich ebenso von der deutschen Sprache. Ich beschloss, in New York nur noch Englisch zu sprechen, zu lesen, ja sogar zu denken. Ich würde nur noch englische Songs im Radio hören und würde auch mit meinen deutschen Freunden und Verwandten nur auf Englisch kommunizieren. Wenn du diese Sprache verinnerlichen willst, und wir reden hier nicht von Touristenenglisch, sondern davon, ein native speaker und Textautor zu werden, dann musst du die Sprache leben. Zu 100 Prozent. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ausnahmslos.
Mein Vater brachte mich zum Flughafen in München, um mir Auf Wiedersehen zu sagen. Ich sah seltene Tränen in seinen Augen, als wir uns zum Abschied lange umarmten. Auch mir kamen die Tränen. So hatte ich meinen Vater noch nicht gesehen. »Auf Wiedersehen« sollten so ziemlich meine letzten deutschen Worte für die kommenden 21 Jahre werden. Es wurde mir klar, dass dies ein Abschied von meinem Heimatland für immer war. Schließlich saß ich im Flieger mit einem One-Way-Ticket nach Amerika. In meine neue Traumheimat. Manhattan, New York.
Ich war von Anfang an wahnsinnig verliebt in diese Stadt, anders kann man es nicht beschreiben. New York ist wie der Nabel der Welt. Auch deshalb, weil hier sämtliche Kulturen vertreten sind. In dem Straßenblock, in dem mein Studio war – 46th Street zwischen 5th und 6th Avenue –, habe ich innerhalb von wenigen Tagen so gut wie alle Gesichter kennengelernt. Von den Restaurant- und Ladenbesitzern über die Türsteher bis hin zu meinen Nachbarn. Nach den ersten Wochen bin ich bereits von vielen mit »Hi Toby, how are you?« begrüßt worden. Es leben zwar mehr als acht Millionen Einwohner in dieser Stadt, aber jeder Straßenblock ist ein Mikrokosmos für sich, in dem man sich überraschend schnell einlebt. Ich war jetzt einer von ihnen. Einer in diesem Ameisenhaufen.
In New York dreht sich in der Tat alles nur um den Job. Egal, wo du hinschaust, arbeitet jemand. Oder startet gerade jemand durch, insbesondere in der Musikbranche. Überall um einen herum sind Superstars und Vorbilder. Künstler, von denen man träumt. Plattenfirmen. Verlage. Alles ist da und man kann alles zu Fuß erreichen. Ich fühlte mich nun als Teil dieses ganzen Erfolgsgewebes. Diese Magie treibt dich an. Es ist, als ob dir die Stadt New York selbst jeden Tag einen Arschtritt gibt und sagt: »Hey, schau mal. Der hat es geschafft und der hat es geschafft. Jetzt bist du dran.« New York macht es dir leicht, dich zu Hause zu fühlen. Vor allem, wenn du eben zu Fuß unterwegs und offen für das ein oder andere Gespräch bist. Die meisten in New York gehen zu Fuß, selbst Milliardäre in ihren 20 000-Dollar-Anzügen gehören in Manhattan zum gemeinen Fußvolk. Es wird U-Bahn gefahren und gelaufen, egal, wie arm oder wie reich du bist, einfach weil es hier das schnellste und praktischste Fortbewegungsmittel ist. Die Straßen in Manhattan sind wegen des fast permanenten gridlock, wie die ganz spezielle Form von Stau hier genannt wird, sowieso meist unpassierbar. Auch ich war täglich mit der U-Bahn unterwegs. Im Sommer bevorzugte ich zwar das Fahrrad oder meine Rollerblades, schon allein, weil es in der U-Bahn keine Klimaanlage gibt und es unter der Straße einem stinkenden Glutofen gleicht. Fahrradfahren in New York macht zudem einen Riesenspaß, weil Manhattan so kompakt ist. Mit all seinen zehn- bis achtzigstöckigen Gebäuden wirkt die Stadt wie eine riesige Torte, die auf jedem Stückchen neue verlockende Geschmäcke zu bieten hat.
Es ist gleichzeitig aber auch ein Fressen und Gefressenwerden, denn jeder drängelt um etwas mehr Platz für sich selbst. Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Fuß in eine Seitenwand eines der aggressiven gelben Taxis kickte, da sie mich auf meinem Fahrrad ständig übersahen oder mir radikal den Weg abschnitten. Ich wollte mein Rad trotzdem gegen kein Auto der Welt eintauschen. Man fühlt sich wie ein Ranchero zwischen widerwilligen Ochsen, die einem den Weg versperren. Die endlosen Hupkonzerte bilden mit den Presslufthämmern obendrein eine ohrenbetäubende Symphonie des Stadtlebens, die einen stets wach und aufmerksam hält. Im Sommer fühlt es sich an, als ob die Hitze in den Straßen inmitten der turmhohen Hochhäuser durch die unzähligen Klimaanlagen tausendfach verstärkt wird. Je mehr kalte Luft diese surrenden Geräte in die Gebäude pumpen, desto kräftiger heizt sich die Straße auf. Im Winter aber, bei Schnee und Eis, bist du dankbar für die U-Bahn.
Von meiner Wohnung bis zum Studio war es eine Stunde Fußmarsch: 59 Straßenblocks durch Midtown und letztlich einmal quer durch den Central Park. Ich bin diese Strecke ziemlich oft gelaufen. Das mag ich auch so an New York: dass man sich nicht durch sein Auto definiert. Es ist anders als in Los Angeles oder in vielen anderen Städten der Welt, in denen die Reichen und Schönen mit Porsche, Ferrari oder Bentley über die Straßen rollen. In New York ist das kollektive U-Bahn-Fahren ein gigantischer Ausgleichsmechanismus, dem diese Stadt auch ihre Menschlichkeit zu verdanken hat. Selbst von meinem Studio konnte ich zu Fuß zu allen wichtigen Plattenfirmen dieser Welt gehen. Vier Blöcke nach Norden lag Atlantic Records, weitere drei Blocks nach Norden glitzerte das Logo von Sony Music in der Sonne. BMG Music war sogar nur einen Block westlich von meinem Studio. Die zentrale Lage meines neuen Arbeitsplatzes war wichtig, weil ich dadurch gegenwärtig war und ich obendrein ständig neue Gründe erfinden konnte, mal kurz wieder bei den Labels vorbeizuschauen. Um nach den Sternen zu greifen. Niemand könne schneller zu spontanen Meetings vorbeikommen und seine Demos präsentieren als ich, sagte ich mir. Dies machte das Klinkenputzen am Anfang um einiges leichter. Und ohne Klinkenputzen geht es nicht. Nicht wenn du wie ich aus Deutschland kommst – ohne Kontakte, nur mit deinem Können im Gepäck.
Ich hatte den letzten Flyer verteilt, meine Hände freudig in die Jackentaschen gekuschelt und wartete nicht nur darauf, meine verfrorenen Finger wieder zu spüren, sondern vor allem darauf, dass sich jemand auf meine Flugzettel melden würde. Ich war mir sicher, dass jemand anrufen würde. Das hier war schließlich New York. Jeder wollte hier weiterkommen. Noch einmal las ich den Text durch: Are you a singer? Between 18 and 30 years old? Young European producer has studio in Midtown, looking for talent. Und noch einmal bestätigte ich mir selbst, dass dies eine gute Idee war. New York hat über acht Millionen Einwohner. Es genügte mir vorerst, wenn nur einer von diesen zum Telefon griff.
Nach zwei Tagen kam dieser erste Anruf. Es war eine mütterliche Frauenstimme, sie klang sympathisch, wirkte aber etwas verunsichert. »Meine Tochter ist leider erst 16 Jahre alt. Noch nicht 18. Können wir uns trotzdem sehen?«, fragte sie mich zaghaft am Telefon. Die junge Künstlerin hieß Shanta. Ich traf sie das erste Mal gemeinsam mit ihrer Mutter. Shantas Mom war von der Karibik in die USA eingewandert, Shanta selbst war in New York City geboren. Sie lebte mit ihrer Mom und ihren vier Brüdern in einer Einzimmerwohnung in Brooklyn. Geld hatte sie keines, davon abgesehen brachte sie alles mit, um ein Star zu werden. Sie war bildhübsch, hatte diese sanfte Soulstimme, etwa wie Aaliyah, und sie war Leadsängerin in einem Chor. Shanta war jemand, der wie ich nach oben wollte. Sie trug dieses edgy, griddy, coole Lebensgefühl von New York in sich, den Zeitgeist dieser Stadt. Wie sie dachte, wie sie sprach, so etwas hatte ich gesucht. Ich wollte seit jeher authentische, zeitgerechte Musik mit Bedeutung kreieren. Shanta übertraf all meine Erwartungen! Zu unserer ersten Session brachte sie sogar ein eigenes Lied mit beziehungsweise eine Idee davon. Es war wie ein Gedicht. Sie nannte es »My Resistance«, also »Mein Widerstand«. Sie hatte auch schon eine Melodie dazu, und ich bekam Gänsehaut, als sie es mir vorsang. Ich programmierte einen Groove dazu und spielte ein paar Akkorde auf der Gitarre. Zusammen schrieben wir dann die Musik und die restlichen Textzeilen. Dieses Lied war der Beginn einer langen Zusammenarbeit. Von da an trafen wir uns jeden zweiten Nachmittag nach ihrer Schule in meinem Studio. Shanta ging dank eines Stipendiums auf die Juilliard. Die Juilliard School of Music ist die berühmteste Musikschule in New York. Ich war voller Ehrgeiz, einer ihrer Schülerinnen ebenfalls zu Ruhm zu verhelfen.
Ich fing meist gegen 14 Uhr mit meiner Arbeit an. Die ersten beiden Stunden saß ich mit Kopfhörern in meiner Hälfte des Studioraums, checkte E-Mails und kümmerte mich darum, neue Kontakte zu pflegen, während Thomas mit viel Staub bohrte, schliff und mit allerlei Geräuschen Gold und Silber bearbeitete. Dann, gegen 16 Uhr, wenn Thomas mir den Raum überließ, zog ich die Vorhänge vor seine Werkstatt und die Songwriting-Sessions gingen los. Es war eine magische Energie, und ich war der glücklichste Mensch der Welt, diesen Raum in der Mitte dieser Weltstadt dann ganz für mich allein zu haben. Aber das Beste war wie gesagt, dass dies eben ein reines Industriegebäude aus Ziegelstein, Beton und Stahl war und in diesem Block im Diamond District tatsächlich kein Mensch wohnte. Das bedeutete, dass ich bei offenen Fenstern meine großen Genelec-Lautsprecher aufdrehen konnte – so laut, wie ich wollte. Ich kaufte mir noch einen fetten Subwoofer und ließ es durch die ganze 46th Street hallen. Es klang wie in einer Diskothek.
Die Nächte waren unbeschreiblich inspirierend. Das imposante Empire State Building war direkt von meinem Arbeitsstuhl aus zu sehen und jeden Abend wechselten die Farben. Mal waren sie leuchtend grün am Saint Patrick’s Day, mal romantisch rot am Valentinstag. Bei jedem Gewitter schlugen zudem die Blitze in den Blitzableiter des Empire State Building ein, ein fantastisches Schauspiel. Ich arbeitete hier wie in einem Rausch, saß fast immer bis 4 Uhr früh am Mischpult, um meine Songs fertig zu mischen. Oft sogar auch bis 7 Uhr morgens. Ich hatte meinen Zyklus im Laufe der Zeit optimal dem des Juweliers angepasst. Wenn er in der Werkstatt mit der Arbeit begann, ging ich ins Bett. New York macht es dir leicht, nachts kreativ zu sein. Dass diese Stadt niemals schläft, ist keine Floskel. Jedes Mal wenn Shanta nach der Schule oder am Wochenende zu mir kam, hatte ich daher schon eine Songidee und einen Beat vorbereitet oder einen Refrain im Kopf. Wir produzierten in den folgenden Monaten um die 20 Songs. Mein Plan war nun, mit diesen Songs und mit dieser Künstlerin einen Anwalt zu finden, der uns die Türen zu den Plattenfirmen öffnen sollte. Mit Shanta hoffte ich auf meinen ersten Plattenvertrag in New York.
Ich hatte die Telefonnummern von genau drei Anwälten in meinem Adressbuch, und einer davon war bereit, mit uns zu arbeiten. Die ersten Meetings in den Plattenfirmen fühlten sich vielversprechend an, aber wahrscheinlich eher deswegen, weil Amerikaner nicht »Nein« sagen. Immer kam ein »Okay, you will hear from us« oder irgendeine andere vage Aussage, die uns allerdings Hoffnung machte. Wir trafen die wichtigsten Leute aller Top-Plattenfirmen: Atlantic, Arista, BMG, Columbia, RCA, Jive, Epic. Und wir bekamen letztendlich 100 Prozent Absagen.