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O du verfluchte, schon wieder Weihnachten. Und wieder nichts mit Besinnlichkeit, stattdessen Dominosteine ab September im Supermarkt, Glühweinkopfschmerz und Gänsebraten-Overkill. Dazu noch diese lästigen Verwandten, das ganze Patchwork-Gesindel. Saufen uns den Keller leer, und zum Dank gibt es alte Schokolade und schiefen Gesang. Wenn die sich wenigstens um Oma kümmern würden. Ständig drückt sich die nervige Schwiegerfamilie vor der Verantwortung. Aber dieses Mal können die was erleben. Alle Jahre Oma ist einfach zu viel.
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Das Buch
Helene Kreienbohm musste ins Seniorenheim umziehen, nur wegen dieses blöden Unfalls. Eigentlich funktioniert das Gehen mit dem Rollator schon wieder ganz gut, aber ihre Kinder wollen sie an Weihnachten nicht zu sich holen: »Schon dich, Mutter.« So ein Blödsinn, die führen doch was im Schilde.
Und wo ist eigentlich Helenes heißgeliebter Hund Mozart? Die können was erleben. Gegen die Heimleitung, die Familie und die Polizei: Oma gibt noch lange nicht auf.
Die einen packen ihre Geschenke nicht aus, die anderen glauben an den Nikolaus, manche wollen Frieden, andere suchen Streit: Hans Scheibner erzählt herzerfrischend bösartig und doch versöhnlich neue Weihnachtsgeschichten.
Der Autor
Hans Scheibner, ausgezeichnet mit der Biermann-Rathjen-Medaille und mit dem Osterwold-Hörspielpreis, ist Kabarettist, Liedermacher, satirischer Sänger und Poet. Mit seinen Theater- und Liederprogrammen begeistert er ganz Deutschland.
Hans Scheibner
Alle Jahre Oma?
Neue Weihnachtsgeschichten
Mit Illustrationen von Heidrun Boddin
List
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ISBN 978-3-8437-1154-8
Umschlaggestaltung:
Wildes Blut, Atelier für Gestaltung
Stephanie Weischer
Umschlagmotiv und Illustrationen im Innenteil: © Heidrun Boddin
© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Oma gibt nicht auf
»›Will ich nicht‹ gibt es nicht! Und ›Kann ich nicht‹ liegt aufm Friedhof!«, brummte Helene Kreienbohm vor sich hin.
Dann drehte sie zum zehnten Mal mit ihrem Rollator in ihrem Zimmer um und schob wieder los in Richtung Tür.
»Frau Kreienbohm, lassen Sie die Gehhilfe doch bitte noch stehen. Das können Sie noch nicht. Das ist viel zu früh für Sie. Wenn Sie zum Mittagstisch wollen, holen wir Sie lieber noch im Rollstuhl ab!«
»Von wegen ›geht noch nicht‹«, sprach sie wieder vor sich hin.
»Ich hasse diese blöde Gehhilfe doch sowieso. Aber was soll ich machen? Ich war mal Langstreckenläuferin, ihr dusseligen Hühner. Was wisst ihr denn schon von mir!«
Ja, ja, es war ihr klar: sie meinten es ja alle nur gut mit ihr. Und das bekam sie auch mindestens zwanzigmal am Tag zu hören: »Frau Kreienbohm, wir wollen Ihnen doch nur helfen, wieder ganz gesund zu werden. Aber dann dürfen Sie sich auch nicht überanstrengen.«
Blablabla. Und am blödesten immer diese scheinheilige Fröhlichkeit:
»Haben wir denn auch brav unsere Tabletten alle genommen?«
»Wieso denn wir?«, hatte sie zurückgefragt. »Brauchen Sie auch schon diese Pillen?«
»Nein, Entschuldigung, Frau Kreienbohm, ich meinte natürlich: ob SIE Ihre Pillen schon genommen haben?«
»Aber natürlich«, hatte Oma Kreienbohm zurückgegeben.
»Ich bin ganz scharf auf die Dinger. Die roten fürs Herz, die gelben für die Verdauung, die weißen, damit ich besser schlafen kann, die grünen für die Nieren. Oder war das umgekehrt? Die roten für die Nieren, die grünen zum Schlafen und die weißen für die Verdauung?«
Seit sie gemerkt hatte, dass sie von dem ganzen Pillensalat nur Durchfall bekam und Herzklopfen und trotzdem nicht einschlief, hatte sie sich entschlossen, die Drops jeden Morgen, wenn die Pflegerin Sandra gegangen war, ins Klo zu werfen. (Für Helene waren übrigens alle Pflegerinnen Schwestern. Sollte Sie etwa »Pflegerin Sandra« oder »Pflegerin Hildegard« zu ihnen sagen?)
Oh ja, es war jetzt wohl sechs Wochen her, dass ihre liebe Familie sie hier in dieses Seniorenheim gesteckt hatte. Erst mal nur zur Probe.
»Wenn du gesund bist, Mutter, kannst du ja wieder in deine kleine Wohnung mit dem Stolperteppich zurück.« Sie wollte doch um keinen Preis jemals in ein Altersheim. Aber was blieb ihr übrig? Sie konnte sich ja nicht wehren. Einmal nicht aufgepasst, schon lag sie in ihrer kleinen Wohnung auf dem Flur neben der Kommode, hatte sich den Kopf gestoßen, und das Bein tat weh wie Hölle. Dieser verdammte Teppich war schuld. Na ja, und dann: Krankenhaus und Diagnose: Oberschenkelhalsbruch. Ach, wie hatte ihr Schwiegersohn Manfred da besorgt geguckt! Er wisse ja Bescheid. »Oberschenkelhalsbruch – damit ist nicht zu spaßen!«, hatte er gleich gesagt. »Hatte doch meine Mutter auch!«
Wie zartfühlend von ihm. Konnte sich grad noch verkneifen, hinzuzufügen: »Und dann Lungenentzündung und dann Beerdigung.«
Aber erstens war Oma Kreienbohm erst ganze zweiundachtzig Jahre alt und nicht dreiundneunzig wie seine Mutter damals – und zweitens hatte sie sich im Unterschied zu diesem vorlauten Schwätzer längst im Internet informiert: Oberschenkelhalsbruch ist auch nicht mehr das, was er mal war! In einfachen Fällen setzen die Chirurgen einen Plastikknochen ein. Mit ein bisschen Glück kann der Patient sich nach sechs Wochen schon an dem verflixten Rollator gleichmäßig fortbewegen. Na gut, es waren noch nicht ganz sechs Wochen – aber der Professor hatte es ihr ja bestätigt: »Alles im grünen Bereich!«, hatte er gegrinst. »Sie sind ja eine eiserne Lady! Sie werden wieder fast normal laufen können. Nur Mut!«
Und den hatte sie. Nicht nur Mut, sondern auch einen ziemlichen Zorn. Ihre Tochter Jessica hatte nämlich schon angefangen, ihr das Seniorenheim schmackhaft zu machen:
»Sieh dir doch mal die Bilder an: Sieht doch aus wie in einem guten Hotel. Da hast du alles, was du dir nur wünschen kannst. Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken und Abendbrot. Und jeden zweiten Tag gibt es im großen Saal ein Unterhaltungsprogramm. Das ist fast so, als wenn du im Urlaub wärst. Und so teuer ist es auch nicht. Du hast doch deine Rente. Und deine Ersparnisse. Mach es dir doch noch ein bisschen schön und gemütlich an deinem Lebensabend. In dem Seniorenheim wirst du auch versorgt, wenn du einmal krank bist. Da sind doch so viele gute Schwestern, die auf dich aufpassen und die dir helfen können. Und du bist nicht mehr allein wie in deiner Wohnung.«
Aber da hatte sich Jessica geschnitten. »Ich bin noch kein Fall fürs Seniorenheim, meine Liebe. Ich kann mich noch sehr gut allein versorgen.«
Oh Gott ja: Sie hasste es, abhängig zu sein. Aber das würde sich ja alles vielleicht noch zum Besseren wenden.
Und was sollte nun aus Heiligabend werden?
»Diesmal, Oma, kommen wir alle zu dir!«, hatte Jessica verkündet. »Inge und Klaus und Manfred und ich – und unsere Kinder. Und zwar kommen wir nicht Heiligabend, sondern am ersten Weihnachtstag am Vormittag. Wir bringen sogar einen kleinen Tannenbaum mit. Ist das nicht schön?«
»Wieso, warum könnt ihr mich denn nicht Heiligabend zu euch holen? Klaus und Inge wollten doch, dass ich diese Weihnachten wieder zu ihnen komme.«
»Aber nein, Oma. Das ist doch noch viel zu anstrengend für dich. Deine Operationswunde ist doch noch gar nicht richtig verheilt. Ist doch viel schöner, wenn wir diesmal alle zu dir kommen.«
Als Jessica das vor drei Wochen sagte, war Helene Kreienbohm tatsächlich noch ziemlich schwach von der Operation. Ein bisschen hatte sie noch protestiert: »Sonst habt ihr doch immer gesagt: Heiligabend ohne Oma ist kein Weihnachten. Und jetzt wollt ihr mich hier im Heim allein lassen?«
»Aber nein, Oma. Wir kommen doch am ersten Weihnachtstag. Heiligabend machen die hier im Gemeinschaftsraum einen ganz feierlichen Abend mit Liedersingen und so. Das ist doch auch schön für dich.«
»Ach geht mir doch weg – mit Liedersingen und vielleicht noch bunter Teller mit Spekulatius. Da geh ich nicht hin. Ich will bei euch und den Kindern sein.«
»Tut uns leid, Oma. Du hattest nun mal diese Operation. Jetzt musst du auch mal artig sein. Es ist doch alles nur zu deinem Besten!«
Oh, wie sie diesen Spruch inzwischen hasste! Alle wollen sie nur das Beste für mich. »Auch mal artig sein.« Nicht auszuhalten. Als wenn man noch ein kleines Kind wäre.
Einmal hatte sie einer Schwester geantwortet: »Ach, was Sie nicht sagen. Den Gefallen, dass ich nicht wieder gesund werde, möchte Ihnen auch gar nicht tun.«
Aber auch das hatten sie ihr nicht übelgenommen.
»Sie sind mir aber eine!«, hatte Schwester Gerda nur gesagt. Ach ja, alte Leute und Geisteskranke werden gnadenlos höflich behandelt.
Heiligabend bei jeweils einem ihrer Kinder, das war immer ein wunderschönes Erlebnis für sie gewesen. Bis vor drei Jahren war sie ja auch noch gebraucht worden: zum Braten der Weihnachtsgans. In den letzten beiden Jahren war es ihr aber schon zu anstrengend geworden. Alle waren immer begeistert gewesen vom Ergebnis: »Die Weihnachtsgans kannst eben nur du so zart und mit dieser krossen Kruste zubereiten, Oma!«
Aber gut, in Ordnung – dann musste sie eben mal stillhalten.
Sie hatte sich schon damit abgefunden.
Doch dann – mitten in der Nacht – sie lag noch und grübelte vor sich hin – da ging ihr plötzlich vor Schreck ein Licht auf! Sie setzte sich im Bett auf und knipste die Nachttischlampe an:
»Jetzt weiß ich, warum ihr mich nicht haben wollt!«, rief sie aus. »Mozart! Es ist wegen Mozart!«
Es war ihr auf einmal völlig klar: Ich habe Jessica nur gefragt; wie es ihm geht. Ob sie gut mit ihm klarkommen.
Und Jessica? »Mach dir keine Sorgen, Oma. Es geht ihm gut!«
Was haben sie mit Mozart gemacht?
Warum hatte Jessica ihn nicht ins Heim mitgebracht?
Sie hatte sich doch schon so auf den Burschen gefreut.
»Ehrlich gesagt, Oma, ich hab nicht dran gedacht. Ich glaube auch, man darf hier im Seniorenheim keinen Hund haben.«
Da stimmte etwas nicht.
Und sofort erinnerte sie sich, dass Jessica ja schon bei ihrem ersten Besuch hier etwas Merkwürdiges gesagt hatte: »Was würdest du denn davon halten, Mutter, wenn wir ihn in ein gutes Tierheim geben? Du kannst ja doch nicht mehr mit ihm spazieren gehen. Und du weißt, dass Manfred und ich arbeiten müssen. Frederica ist bis zum März in Kanada, Max ist den ganzen Tag in der Schule. Wir wissen da ein Tierheim, da muss man zwar ein bisschen was bezahlen, aber da hat er es richtig gut.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, hatte Helene nur knapp gesagt und damit war die Sache für sie erledigt. Aber wenn sie es nun einfach, ohne ihr etwas zu sagen, getan hatten? Ihr erster Gedanke war: Gleich morgen früh anrufen und Jessica fragen, ob sie den Hund weggegeben hat. Aber, nein, das würde sie dann wahrscheinlich nicht zugeben. Also musste sie es unbedingt schaffen, morgen an Heiligabend zu Jessica und Manfred zu fahren. Nicht wegen Max, sondern wegen Mozart.
»Ich muss mich überzeugen, dass sie ihn noch haben!«
Inzwischen war sie mindestens zwanzigmal mit dem Rollator langsam in ihrem Zimmer vom Fenster zur Tür und wieder zurück gegangen. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Aber es klappte. Zweimal tat es noch ziemlich weh an der Hüfte – aber nur, wenn sie wenden musste. Dann stöhnte sie jedes Mal ein bisschen auf.
»Und jetzt versuche ich, bis in den Empfang im Erdgeschoss zu kommen. Und dann vorn zur Tür hinaus!
Zur Probe erst mal. Auf in den Kampf!«
Auf dem Flur im dritten Stock begegnete ihr Lieschen Trautwein, die alte Meckerliese.
»Was ist das denn, Frau Kreienbohm? Sie dürfen doch noch gar nicht allein am Rollator gehen!«
»Ich darf alles!«, gab Helene nur zurück.
Und dann wunderte sie sich selbst: sie schaffte es bis zum Fahrstuhl, es gelang ihr auch das riskante Manöver, rückwärts in den Fahrstuhl zu gehen, den Wagen rückwärts ziehen, den Knopf E drücken – und schon war sie im Erdgeschoss.
Raus aus dem Fahrstuhl und in Richtung Eingangshalle.
Eine andere »Mitgefangene«, wie Helene sich immer ausdrückte, kam ihr entgegen: »Hallo, Frau Kreienbohm, da staune ich aber. Ich denke, Sie liegen noch mit Gips im Bett!«
»Ich war mal Marathonläuferin!«, rief Helene, jetzt schon ziemlich fröhlich. »Und das schaff ich wieder!«
Sie bog um die Ecke zur Halle – da stand ja schon ein wunderschöner großer Weihnachtsbaum. Elektrische Kerzen brannten, und er war mit bunten und silbernen Glaskugeln geschmückt.
Schon fuhr sie mit ihrem Gehhilfe-Automobil in Richtung Ausgangsportal und sah: Draußen hatte es wohl etwas geschneit. Aber da ging es los: Ein Entsetzensschrei hinter ihr:
»Ja, um Gottes willen! Halt, halt, Frau Kreienbohm! Was machen Sie denn da! Sie können doch nicht … Das dürfen Sie doch gar nicht. Bleiben Sie stehen, bleiben Sie stehen!«
Plötzlich war sie von drei Weißkittel-Schwestern und dem Walross Bertha Fischer, der Heimleiterin, umzingelt.
»Was haben Sie sich dabei gedacht! Wie sind Sie denn überhaupt hierhergekommen?«
Helene richtete sich ganz gerade auf: »Zu Fuß!«, sagte sie. »Wie Sie sehen. Und jetzt gehen Sie mir bitte aus dem Weg. Ich will nur mal probieren, ob ich schon in den Garten kann.«
Den drei Wachhunden blieb der Mund offenstehen. Dann griff das Walross ein: »Sofort zurück auf Ihr Zimmer! Marsch, Marsch!«
Zu dritt hielten sie sie fest, eine nahm ihr den Rollator weg, sie fassten ihr unter die Achseln und wollten sie wegtragen.
Helene Kreienbohm schrie: »Lassen Sie mich sofort los! Das ist Freiheitsberaubung!«
Aber da kam Seine Majestät der Anstaltsdoktor schon dazu.
»Loslassen!«, sagte er. Und dann zu Helene: »Donnerwetter. Sie sind mir ja ein Wunderkind! So was gibt es ja gar nicht. In Ihrem Alter. Aber, liebe Frau Kreienbohm, Sie müssen uns doch auch verstehen. Wir können Sie noch nicht einfach so alleine laufen lassen. Das ist zu gefährlich für Sie. Und dann werden wir dafür verantwortlich gemacht. Das verstehen Sie doch. Oder?«
»Ich bin kein Kind mehr, Herr Doktor. Ich weiß, was ich mir zutrauen kann!«
»Eine Woche noch, Frau Kreienbohm. Im neuen Jahr, da können sie hier meinetwegen ihren Dauerlauf machen. Aber noch nicht heute!«
Helene war wütend. Sie wollte es doch heute nur probieren.
Aber was sollte sie schon machen. Dann musste sie also erst mal wieder auf ihr Zimmer zurück.
Die drei Wachhunde führten sie wieder zum Fahrstuhl. Es hatte sich eine ganze Traube von Muttis, Opis und Omis versammelt, die empört durcheinanderredeten. »Wie kann sie nur!« – »Einfach nur unvernünftig!« – »Die ist ja wohl völlig verrückt geworden.« Sie brachten sie wieder in den dritten Stock in ihr Zimmer. Hagen Reimann aber – ein großer grauhaariger Rentner mit Krückstock war ihnen gefolgt und stand plötzlich mitten in Helenes Zimmer.
»Ich bleib noch einen Augenblick bei ihr«, sagte er. »Wir sind befreundet.«
*
Helene musste sich einen Augenblick erholen von dem Drama. Sie ließ sich in ihren Sessel fallen. Dann erst bemerkte sie den älteren Herrn. Was war das denn für einer?
Ein Freund? Daran konnte sie sich nicht erinnern.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Helene. »Aber fangen Sie nicht auch noch an, mir zu erzählen, dass Sie es so gut mit mir meinen!«
»Danke schön«, sagte der Mann. »Ich bin Hagen Reimann. Ich lebe schon drei Jahre in dieser Irrenanstalt. Ich wollte Ihnen meine Hilfe anbieten.«
»Danke. Ich brauche keine Hilfe.«
»Ich denke doch. Sie wollen doch ausbrechen, wie ich eben mitbekommen habe. Dazu brauchen Sie Hilfe!«
Helene sah ihn sich genauer an. Kein unsympathischer Typ: graues Haar, listige blaue Augen, ziemlich gerötete Gesichtshaut – wohl vom Wein oder so –, gut rasiert und mit einem feinen Lächeln.
»Ich muss unbedingt zu meiner Familie. Die haben mich hier abgestellt. Und ich weiß auch, warum. Weil ich nicht merken soll, dass sie meinen Hund ins Heim gegeben haben.«
»Verstehe«, sagte der Mann. »Das ist ein schweres Verbrechen. Aber so einfach kommen Sie doch an den Irrenhauswärterinnen da unten nicht vorbei.«
»Ich bin so zornig!«, sagte Helene. »Mir kommen schon wieder die Tränen vor Wut. Wieso lassen die mich nicht raus? Ich bin zweiundachtzig Jahre alt, ist das immer noch nicht alt genug?«
»In einer Irrenanstalt«, sagte Hagen Reimann, »gelten keine normalen Gesetze. Das Walross da unten walzt alles nieder, was nicht auf sein Kommando hört.«
»Welches Walross denn?«
»Na, die blaue Dicke, die Sie so liebevoll in den Arm genommen hat: »Sofort zurück auf Ihr Zimmer! Marsch, Marsch!«
»Unglaublich!«, rief Helene. »Die hat ja einen Griff wie ein Olympiaringer!«
»Soll früher mal wirklich Gefängnisaufseherin gewesen sein. Aber bei der Altenpflege nehmen sie heute ja jeden.«
»Und was mach ich jetzt?«
»Jetzt machen wir einen Plan, Frau Kreienbohm. Aber vorher krieg ich einen kleinen Schnaps von Ihnen.«
»Aber gerne!«, sagte Helene. Sie war froh, dass sie nicht schon gleich wieder allein sein musste.
»Und ich brauche auch einen«, sagte sie. »Gehen Sie mal zur Kommode. Hinter den Büchern liegt eine Flasche Cointreau: Orangenlikör!«
Und Hagen Reimann schenkte ein.
»Auf Ihren Mut, Frau Kreienbohm!«, rief er. Sie stießen mit Wassergläsern an.
»Ich weiß was«, legte Helene los. »Neulich ist doch mal die arme Frau Reineke ausgekniffen. Die haben sie ja gleich wieder eingefangen, weil sie sich überhaupt nicht mehr zurechtfinden kann. Aber die ist aus der Waschküche raus. Schwester Sandra hat erzählt, da gibt es eine Tür in den Garten. Und die stand offen.«
»Denkste«, sagte Reimann, »die ist natürlich inzwischen verrammelt und verriegelt. So was darf doch nicht noch mal passieren.«
»Wissen Sie denn einen andern Ausgang?«
»Nein, wir müssen durch den Hauptausgang. Und dafür brauchen wir einen Plan. Ich denke da an Folgendes …«
Bis um 18 Uhr saßen die beiden zusammen. Reimann bediente sich noch zwei-, dreimal aus der Likörflasche.
Helene konnte da nicht mithalten. Aber dieser Herr Reimann wurde ihr immer sympathischer. Sein Plan war ja ziemlich waghalsig, aber gar nicht so dumm. Helene war zum Schluss ehrlich begeistert.
Sie kicherten und lachten zusammen.
»Großartig, dass Sie das für mich tun wollen!«
»Kein Problem. Für schöne Frauen muss man schon mal was riskieren!«
»Sie Draufgänger, Sie!«
»Ich freu mich drauf. Die werden schön dumm gucken, wenn Sie weg sind, Frau Kreienbohm!«
»Sie dürfen Helene zu mir sagen!«
»Und mein Name ist Hagen! Wäre doch gelacht, Helene, wenn wir das nicht schaffen!«
Als es an die Tür klopfte, versteckte Helene die Likörflasche schnell unter der Bettdecke – Hagen stellte die Gläser auf die Fensterbank. Das Abendbrot wurde für Helene gebracht. Schwester Sandra fiel es nicht weiter auf, dass Herr Reimann sich Helenes Rollator geschnappt hatte und und damit hinausging. Am Rollator und ein bisschen wackelig bewegten sich ja die meisten Alten hier durchs Haus.
»Bis morgen!«, sagte Reimann und versuchte noch, mit dem Rollator eine fesche Kurve hinzulegen.
»Bis morgen!«, sagte Helene, musste lachen und zwinkerte ihm zu.
*
Am nächsten Tag – dem Heiligen Abend – wurde Helene von Schwester Sandra um 15 Uhr zum Weihnachtskaffee abgeholt.
»Na, Frau Kreienbohm, haben wir den Schreck von gestern gut überstanden?«
Helene natürlich wieder: »Ich ja. Ob Sie sich erholt haben, weiß ich ja nicht.«
Diesmal musste die Schwester sogar lachen. Sie wunderte sich auch überhaupt nicht darüber, dass Helene sich völlig widerstandslos im Rollstuhl nach unten fahren ließ.
In der Empfangshalle herrschte schon Heiligabendbetrieb.
Paketboten stürmten rein und raus, Besucher für die Heimbewohner mit der ganzen Familie kamen, Kinder bestaunten den großen Weihnachtsbaum, Mitglieder des Kirchenchors gingen in die Bibliothek, wo um 16 Uhr das Kaffeetrinken mit dem Liedersingen stattfinden sollte. Aus den Saalbeschallungslautsprechern kam gedämpfte Weihnachtsmusik. Die Rezeption wurde von mehreren Personen belagert, das Telefon läutete ununterbrochen.
Helene hatte versucht, sich mit dem Rollstuhl noch näher an den Eingang heranzurollen. Aber das war wirklich noch zu schwer für sie, der Rollstuhl rührte sich nicht.
Sie war jetzt doch ziemlich aufgeregt. Dieser Hagen Reimann war ein völlig Verrückter.
Hoffentlich würde sein Plan funktionieren.
»Wichtig ist, dass Tumult entsteht«, hatte er erklärt.
»Viel Zeit bleibt dir nicht, Helene. Wenn es losgeht, musst du entschlossen handeln. Guck auf die Uhr. Ab 15.30 Uhr werden die Alten alle zur Bibliothek strömen, um ihren Weihnachtskaffee zu kriegen. Genau um fünf Minuten vor vier geht es los, das verspreche ich dir. Handelt sich um ein Problem der Statik. Ich war Statiker auf dem Bauamt, musst du wissen. Und dieser Tannenbaumfuß, das habe ich gleich gesehen, ist ein statisches Höchstrisiko. Du wirst es sehen: 15:55 Uhr kippt der Baum um. Und das ist deine Chance.
Es war 15:50 Uhr, und nichts war zu sehen. Oma Helene hatte sich zum Eingang hin gedreht – und da sah sie ihren Rollator. Schon aufgeklappt stand der draußen vor der Tür. Genau wie Hagen es versprochen hatte.
15:52 Uhr, 15:53 Uhr, 15:54 Uhr – da! Der Baum. Als wenn eine unsichtbare Kraft an seinem oberen Teil zog, fing er an zu zittern. 15:55 Uhr – ein Schrei – Helene erkannte sofort Hagens Stimme: »Vorsicht, der Baum fällt um! Achtung, Achtung!«
Und tatsächlich: Der vielleicht vier Meter große Weihnachtsbaum neigte sich immer mehr, zwei oder drei Heiminsassen stießen ebenfalls Schreckensrufe aus und konnten dem fallenden Baum gerade noch ausweichen.
Helene hätte vor Aufregung fast vergessen, dass sie jetzt unbedingt nach draußen zu ihrem Rollator musste. Sie befreite sich aus dem Rollstuhl, stand jetzt praktisch frei, hatte nur ihren Krückstock als Halt. Sie hatte Angst. Aber sie riss sich zusammen und schaffte es tatsächlich mit drei, vier Schritten aus der Glastür hinaus – die sich elektrisch immer von selber öffnete – und dann mit zwei Schritten zu ihrem Rollator. Und nun nichts wie weg – so schnell es eben ging. Sie warf noch kurz einen Blick zurück in die Halle: Da war nun tatsächlich das große Chaos ausgebrochen. Sie hörte noch Hagen rufen: »Hilfe! Ich bin unter dem Baum begraben! Was ist denn das für ein Wahnsinn!«, aber da war sie schon um die Hausecke herum, niemand hatte sie gesehen, sie musste nur noch den kurzen Weg hinter den Rhododendronsträuchern vorbei zur Straße. Es ging zwar nur schrittweise, sie blieb einmal stehen und sah sich um: niemand folgte ihr.
Gott sei Dank! Die erste Phase ihrer Flucht war geglückt.
Jetzt musste sie nur noch nach einem Taxi winken und dann zu Jessica und Manfred – zu Mozart!
*
Bei den Kindern von Oma Kreienbohm liefen um diese Zeit natürlich die Vorbereitungen zur Bescherung.
Jessica hatte entschieden, dass es diesmal keinen Gänsebraten geben sollte. Endlich einmal wollte sie sich durchsetzen: Wir essen Heiligabend vegetarisch. Es gibt Kohlrouladen mit Fetafüllung und dazu Nussbratlinge. Manfred hatte nicht mal zu protestieren gewagt. Aber das hatte seinen Grund.
Er hatte sehr viel gutzumachen und ein verdammt schlechtes Gewissen Jessica gegenüber. (Jessica hatte nämlich eine Restaurantquittung für zwei Personen in seinem Jackett entdeckt mit einem Datum, an dem er angeblich in einer Redaktionskonferenz war. Aber davon soll ein anderes Mal berichtet werden.)
Was die Kinder anging: Sie wollten gern mit Kartoffelsalat und Würstchen zufrieden sein.
Jessica war daher eigentlich guter Dinge. Aber dann kam ein Anruf von Klaus.
Fing der doch tatsächlich wieder von dem Omaproblem an: »Wir fragen uns grade, ob das wohl wirklich richtig ist, Mutter ausgerechnet am Heiligen Abend sich selbst zu überlassen.«
»Was soll das, Klaus? Das haben wir nun wirklich ausgiebig besprochen. Ihr hättet sie ja nehmen müssen, aber wir sind alle der Meinung gewesen, dass es besser für sie ist, noch in ihrem Seniorenheim zu bleiben. Was sollten wir wohl machen, wenn sie ausgerechnet Heiligabend einen Rückfall bekommt und einen Arzt braucht.«
»Ja, ja, hast ja recht. Uns waren nur Zweifel gekommen, ob sie es überhaupt realisiert hat, als wir es ihr neulich eröffnet haben. Seit sie damals nach Mallorca abgehauen ist, weil wir sie gekränkt hatten, sind wir eben etwas vorsichtiger!«
»Ich glaub, mir kommen gleich die Tränen, lieber Bruder. Wer war es denn, der sie damals ausgeladen hat, weil ihm sein Geschäftsbesuch wichtiger war?«
»Ach bitte, Jessica, hör damit auf. Du bist ja die Gute, die Brave. Weißt du was? Du kannst mich mal!«
Und hatte aufgelegt. Na, das konnte dann ja morgen am ersten Weihnachtstag schön ungemütlich werden, wenn die beiden Familien im Seniorenheim zusammentreffen würden.
*
Ach du großer Gott: Ein Taxi am Heiligen Abend. Das hätte sie sich ja auch denken können, dass das zu einem Problem werden könnte. Sie hatte mühsam den Taxenstand erreicht.
Zum Glück nur etwa fünfzig Meter vom Heim entfernt. Aber das waren schon verdammt harte fünfzig Meter geworden. Immer wieder musste sie stehen bleiben. Die Hüfte begann zu schmerzen – und sie hatte Angst. Angst, erneut auszurutschen und wieder hinzufallen. Es lag eine leichte Schneedecke, sie hatte zwar in weiser Voraussicht ihre festen Stiefel angezogen – aber sie traute der Straße nicht. Ein falscher Schritt, und sie läge auf dem Hintern oder auf der Nase. Und das Ganze mit diesem blöden Rollator. Auwei – und es graute ihr vor dem Theater, das sie dann im Heim erleben würde.
Überhaupt: Es waren inzwischen mehr als zehn Minuten vergangen. Die mussten da doch inzwischen gemerkt haben, dass sie sich selbständig gemacht hatte.
Außerdem war sie nicht warm genug angezogen für diese winterlichen Temperaturen.
Die Kälte kroch ihr langsam in die Knochen.
Der Taxenstand aber – war leer. Weit und breit kein Taxi zu sehen. Dann muss ich mir eins heranwinken. Leicht gedacht – aber wie? Mit dem Rollator am Straßenrand? Da hält doch kein Taxi an. Wer will eine alte Oma mit Rollator mitnehmen? Aber es kam ja auch gar keins. Die Beine taten ihr weh. Ihre jüngste Enkeltochter Frederica hatte ihr das Gehvehikel zusammen mit Jessica zum Geburtstag geschenkt. Das war vor über einem Jahr. Damals war Helene fast gekränkt gewesen. Wieso sollte sie jemals so eine Gehmaschine brauchen! Jetzt fiel ihr ein, dass Frederica ihr noch erklärt hatte, wie man das Monstrum feststellen kann, um sich auf einen Sitz zu setzen. Sie fummelte ein bisschen daran herum, dann hatte sie es heraus: ganz einfach einen Hebel umlegen – schon stand die Maschine und bildete eine Fläche zum Sitzen. Danke, Frederica! Sie musste sich auf den Sitz ihres Mehrzweckwagens setzen, um ein bisschen auszuruhen.
Schon war sie fast so weit, dass sie ans Umkehren dachte. Aber nein! Sofort fiel ihr wieder Mozart ein.
Ich muss unbedingt wissen, ob sie ihn wirklich ins Heim gegeben haben. Und wenn ich darüber erfriere! Verdammt noch mal! Der arme Hund! Jessica, die soll was erleben. Wie kannst du meinen Mozart einfach in ein Heim geben, ohne mich zu fragen. Das arme Tier. Sitzt jetzt in einem schrecklichen Drahtkäfig im Tierheim und ist traurig, ganz traurig. Dabei wusste Helene natürlich noch gar nicht, ob Mozart tatsächlich ins Heim abgeschoben worden war. Aber sie traute es Jessica ohne weiteres zu. Und das genügte, um voller Zorn auf sie zu sein.
Es kam und kam kein Taxi.
Aber dann geschah ein Wunder:
Direkt vor ihrer Nase, vor ihrem Sitz-Rollator blieb mit lautem Knall ein Märchenauto stehen. Wirklich ein absurdes Gefährt: knallgrün lackiert, klein, fast wie ein Auto vom Spielplatz – mit einer winzigen offenen Ladefläche, einem Führerhaus – sah aus wie für Kinder –, aber das Merkwürdigste: mit nur drei Rädern – eins ganz vorn unter der Motorhaube und zwei hinten. Aus diesem seltsamen Fahrzeug stieg auf der anderen Seite ein dicker Kerl in ebenfalls grünem Overall aus, eilte nach vorn und hob das Stück Blech hoch, das die Motorhaube bildete.
»Lanet olsun!«, schimpfte er vor sich hin.
Helene horchte auf. Das war doch Türkisch? Das kannte sie von ganz früher, als sie mal als Sekretärin in Istanbul stationiert war. Der Dicke drehte da offenbar etwas am Motor herum. Dann richtete er sich stöhnend auf, hielt sich das Kreuz und ließ die Motorhaube wieder runterknallen.
»Hallo, guten Tag, Murath«, rief Helene vom Straßenrand.
Der Dicke sah hoch – und lachte gleich laut.
»Du Frau von Abendrothsweg?«
»Ja, das bin ich. Hab doch immer in Ihrem kleinen Laden eingekauft!«
»Feta-Käse und Oliven! Aber du krank? Im Fahrstuhl!«
»Nein, Rollstuhl. Rollator. Kann nicht gut gehen. Warte auf ein Taxi, aber es kommt keins.«
»Heiliges Abend, Deutsche alle fahren zu Familia!«
Helene sah ihre Chance.
»Könntest du mich wohl ein Stück mitnehmen?«
»Weiß nicht, ob gut. Auto kaputt. Müssen erst probieren.«
Dann ging er kurz zu seinem Führerhaus zurück und holte ein Gerät, das wohl eine Kurbel war. Er bückte sich tief vor seinem grünen Dreiradauto, steckte das kürzere Ende der Kurbel durch die Haube in den Motor rein und begann zu drehen, als ob sein Wagen eine Uhr zum Aufziehen wäre. Dazu schnaufte er und fluchte wieder: »Lanet olsun, lanet olsun!« – dann gab es wieder einen Knall, aber der Motor sprang an. Toktoktoktoktoktok! Das Dreirad wackelte im Takt.
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