Alle Umwege führen zu mir - Ulrike Sebastian-Benz - E-Book

Alle Umwege führen zu mir E-Book

Ulrike Sebastian-Benz

4,8

Beschreibung

Die Isländerin Jorun fühlt sich ungewollt und zweifelt an ihrer Lebensberechtigung. Als einzige der Geschwister muss sie den elterlichen Bauernhof verlassen und kommt zu ihrer Tante in die Stadt. Und wenn ihr Lebensgefühl mit früheren Inkarnationen zu tun hätte? Nach einer gescheiterten Beziehung begibt sich Jorun auf die Suche nach der Lebensgeschichte einer Etruskischen Tänzerin, 400 v.Chr., und eines Genuesen, Anfang des 16. Jahrhunderts, und allmählich zeigen sich Verknüpfungen zum Heute. Wird sie die Erkenntnisse und Herausforderungen annehmen, und sich aus alten Machtstrukturen und Abhängigkeiten befreien können? Der Roman schildert drei Inkarnationen einer Person. Schicksalhafte Begegnungen und Prägungen durch Zeit und Kultur wirken von einem Leben zum nächsten.

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1 Die Etruskische Tänzerin

1 Vogelflug und Wirbelwind

2 Botschaften der Göttin

3 Aufs offene Meer

4 Die Zeichen stehen auf Sturm

5 Ein Schmuckstück

6 In Grimmulfs Hand

Teil 2 Fernando aus Genua

7 Geschwister

8 Fort von daheim

9 Mit Mönchen unterwegs

10 Coronado meine Sonne

11 Lieber eine Genueserin?

Teil 3 Die Isländerin Jorun

12 An Kindes statt

13 Der Tanz mit Madox

14 Der Sohn der Berglöwin

15 Das Schicksalsnetz

16 In Zukunft

Danksagung

Personenregister

Literaturverzeichnis

Alle Umwege führen zu mir

„…ich möchte Sie, so gut ich kann bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. … es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“

R.M. Rilke

Teil 1: Die Etruskische Tänzerin

Mit meinem kleinen, grünen Peugeot fahre ich durch den St.Gotthard-Tunnel, die italienische Küste hinunter, bis nach Tarquinia, nördlich von Rom. Die Stadt liegt oben auf einer schrägen Felsplatte, ihre Türme ragen in den blauen Himmel.

Ich will zur Nekropole mit den bemalten Grabkammern, die zum UNESCO Weltkulturerbe gehört. In den Kleinbus, der durch die Altstadt fährt, steigen Rentner mit Stock oder Gehhilfe. Der Bus prescht durch enge Gassen, an Mauern vorbei, über holpriges Pflaster, und nach einer Viertelstunde ist er wieder am Ausgangspunkt bei der Tourist Info. Ich gehe zum Busfahrer vor, und frage zweifelnd: „Nekropole?“ Bei der zweiten Runde gibt er mir ein Zeichen. Ich steige aus und folge der Straße bis an den Rand der Altstadt. Zwei Reihen von Olivenbäumen ziehen sich den Hang hinunter und ein aufgelassenes Feld ist rot von Mohnblumen. Im Westen das blaue Meer.

Oberhalb der Straße, auf dem hügeligen Gelände der Nekropole liegen weit zerstreut die überdachten Eingänge zu den Gräbern. Die Luft streicht durch schimmernden Windhafer, der Ginster duftet, es ist Mai. Zum Hinterland fällt das Gelände steil ab, und jenseits des Tales auf einem Höhenrücken liegt die Ruine des Tempels der Etruskischen Stadt Tarchna. Die grünen Hänge entlang tummeln sich kleine Schafherden, jeweils von zwei weißen Schäferhunden bewacht, und weit und breit kein Mensch.

Ich, Jorun die Isländerin, machte mich auf den Weg hierher nach Süden, nach dem ich Renate gefragt hatte:

„Woher kommt mein Gefühl, nicht existieren zu dürfen? Ich will doch leben!“

Renate hatte mir einen Klumpen Ton gegeben und gesagt:

„Stell dein Lebensgefühl dar.“

Kühl und anschmiegsam fühlte sich der Ton in meinen Händen an. Ich knetete und drückte, fügte Tonklümpchen an, und verstrich sie mit dem Daumen: ein Kopf deutete sich an, eine Figur entstand mit Armen, Beinen und einem schwingenden Umhang.

Eine Tänzerin? Taumelt sie? Schaut sie zum Himmel?

Renate stellte die Figur behutsam auf eine Drehscheibe, und ließ sie langsam kreisen, so dass ich sie ringsum betrachten konnte.

„Versuch, dich in sie hinein zu versetzen, Jorun. Was tut sie?“

„Sie ist in Bewegung … sie tanzt … sie spürt den Boden kaum … es macht Angst … so eine große Leere … sie ist wie ein luftiges, durchsichtiges Gefäß, nach oben hin weit geöffnet … ein Rohr aus wirbelnder Energie … ein Blitz fährt hindurch…“

Ich schaute auf und holte tief Luft; unwillkürlich schlang ich die Arme um meinen Körper, um mich zu vergewissern, dass er noch da war.

„Wo tanzt sie? Wie ist die Umgebung?“, fragte Renate leise.

Mit geschlossenen Augen sah ich eine südliche Landschaft mit Laubwaldhügeln nicht weit vom Meer … dann plötzlich einen Fichtenwald … einzelne hohe Bäume auf einem Kultplatz, ein Feuer brennt, es ist Nacht. Die Luft ist klar und kalt, bärtige Männer sitzen im Kreis. Die Tänzerin dreht sich mit erhobenen Armen, die bunten Bänder an ihrem Gewand kreisen. Ein Mann mit glatten, schwarzen Haaren beugt sich lauernd vor. Sie ist nicht aus freien Stücken hier …

Ich richtete mich auf, es schüttelte mich.

„Sie ist ein Teil von dir, Jorun“, sagte Renate.

„Sie erinnert mich an ein Kalenderbild, das mich als Kind faszinierte“, sagte ich, „es war das Bild einer Etruskischen Tänzerin. Aber was hat sie mit meinem Lebensgefühl zu tun?“

„Vielleicht warst du in einer früheren Inkarnation diese Tänzerin und ihr Leben wirkt noch immer in dir nach.“

Das Bild ließ mich nicht mehr los, und ich beschloss, mich auf die Suche zu machen.

Ich atme den Duft des Ginsters ein, dann gehe ich zu einem der Grabeingänge, nehme die Sonnenbrille ab und steige eine schmale Treppe hinunter in das Erdreich. Die dunkle Grabkammer ist mit einer Fensterscheibe verschlossen. Als ich den Lichtschalter drücke, wird sie für Minuten beleuchtet. Ich staune über die Tänzer und Tänzerinnen. Sie taumeln betrunken zwischen Bäumen, die mit schwarzen Früchten und Schärpen behangen sind. Ich sehe eine Tänzerin im Rüschenkleid mit Tupfenmuster und einem ärmellosen Umhang. Eine Hand streckt sie nach der Hand eines Tänzers im kurzen, lichtblauen Gewand, die andere schwebt über ihrem ekstatisch zurückgebogenen Gesicht.

Das Licht geht aus. Niemand außer mir ist hier unten – es ist Vorsaison. Ich setze mich auf eine Treppenstufe und drücke den Lichtschalter – Herzklopfen. Die Tänzerin in der Grabkammer tanzt und tanzt seit 2400 Jahren. Ich schließe die Augen; sie öffnen sich der Vergangenheit.

1 Vogelflug und Wirbelwind

In der Etruskischen Stadt Tarchna ging Manto, kaum konnte sie auf den Beinen stehen, jedem Flötenklang nach. Sie streckte die Ärmchen aus, wippte mit dem Po, wippte noch eifriger, bis sie das Gleichgewicht verlor und auf den Boden plumpste. Goia scherzte, während sie den Hühnern Getreidekörner hinstreute.

„Deine Enkelin wird bestimmt eine Tänzerin“, riefen ihr die Leute zu.

Nach Mantos Geburt hatte der Seher Avile Kalkas das Neugeborene untersucht, dessen Rücken von Muttermalen gesprenkelt war, als habe jemand eine Handvoll winziger Samenkörner ausgeworfen.

„Dieses Kind wird nicht sesshaft werden“, sagte er, während er mit dem Zeigefinder dem Schwung der Pünktchen folgte.

Mantos Mutter Vega schaute betreten zu Boden, und die braunen Locken fielen ihr übers Gesicht; der Vater ihrer Tochter war ein Händler aus dem Norden. Er war weitergezogen. Goia hob fragend die Hände. Sie selber war so gerne an dem Ort, an dem sie seit Ihrer Geburt lebte.

Im nächsten Jahr verschwand Vega spurlos, und Manto blieb bei der Großmutter zurück. Goia weinte aus Kummer über ihre Tochter. Sie machte sich Vorwürfe, nicht auf Vorzeichen geachtet zu haben: ein Vögelchen war an ihre Brust geflattert, und dann mit einem Schrei in Windeseile davon geflogen, und erst neulich hatte eine Windböe Wollflocken aufgewirbelt, und auf dem Weg vor sich her getrieben, wo sie mit stacheligen Blättern und Sand verknäulten.

Vega gehörte als Halbfreie wie auch Goia und Manto zu Aviles Leuten. Als sie verschwand, blieb er gelassen, obwohl er mit ihr eine Arbeitskraft verlor. Alter und Schicksalsschläge hatten ihn milde gestimmt. Seine Familie gehörte zu den angesehensten der Stadt; aus ihr waren in jeder Generation Haruspize hervorgegangen, die die Bücher der Riten und der Weissagungen studierten. Sie konnten den Willen der Götter an der Ausformung der Leber geopferter Schafe deuten. Sie wussten um die Zeichen von Farbe, Form und Einschlag der Blitze, und sahen die Zukunft im Flug der Vögel durch den Götterhimmel voraus.

Vor Jahren jedoch, hatte eine Seuche alle Familienmitglieder bis auf ihn dahingerafft, und auch unter seinen Halbfreien und Sklaven gewütet. Die Nachbarsfamilien fürchteten sich und opferten der Göttin Uni Tonfiguren, um verschont zu bleiben.

Nun war auch Vega gegangen. Außer Manto und ihrer Großmutter gab es noch Mantos Onkel und dessen Familie. Sie bestellten die Felder, hielten die Hütten in Stand und hüteten die Schaf- und Ziegenherden.

Nachdem Aviles Ehefrau und die anderen aristokratischen Frauen der Familie gestorben waren, hatte Goia das Weben von Aviles Gewändern übernommen. Diese ehrenvolle Aufgabe erfüllte sie mit Stolz. Nach der Schur brachte ihr Sohn ihr die Schafsvliese, die sich sodann in ihrer Hütte türmten. Es roch nach Wollfett. Früh morgens schlug sie ein Vlies in ein Tuch, schulterte es und stieg die Treppenstufen bis zum Brunnen hinunter, an dem sich im Frühsommer die Wollwäscherinnen versammelten. Die eingefasste Quelle floss in ein großes Steinbecken. Goia legte das Vlies ins Quellwasser, um es vom größten Schmutz an Bauch- und Beinpartien zu reinigen, und fuhr mit den Fingern durch die Schulterlocken.

Die Nachbarinnen ereiferten sich: „Das muss ja eine heiße Liebe sein, die Vega nach Norden zieht!“, sagte eine Frau mit durchdringenden Augen.

„Wie kann man sein Kind einfach zurücklassen! Fufluns, der Sohn der Erdgöttin, muss ihr den Kopf verdreht haben, du solltest ihm ein Opfer bringen, einen Krug Wein, damit deine Tochter zu Verstand kommt!“

„Der Fluch, der über der Familie liegt“, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand.

„Vielleicht ein Sklavenhändler!“

Manto lauschte indessen den Flötenklängen, die vom Tempel herüber wehten und tapste hin und her. Goia nahm sie hoch, drückte ihr Gesicht in den Flaum ihrer Haare, und atmete den feinen Duft ein. Dieses Kind wollte sie schützen, solange ihre Kräfte es erlaubten.

In der Hütte am Rande der Stadt nahm das Leben seinen Lauf: Goia buk Fladenbrot, webte und kochte. Ihre Hände kamen nicht einmal im Gebet zur Ruhe, um alle Nöte und allen Dank auszudrücken.

„Komm, ich bringe dir das Spinnen bei“, sagte sie zu ihrer Enkelin. Manto sah die sich drehende Spindel und drehte sich selbst wie ein Wirbelwind, bis die Hühner auseinander stoben.

Eines Tages hob Avile Manto hoch und deutete zum Himmel, wo die Schwalben zirpend durch die Luft schossen:

„Schau“, sagte er, „wie flink und wendig sie sind; die Göttin hat Freude an ihnen.“

Er konnte den Vogelflug deuten, und die Menschen kamen zu ihm, um Rat für ihre Sorgen und Ängste zu bekommen. Was sollten sie tun, um im Einklang mit den Göttern zu leben, und sie nicht zu erzürnen?

„Wo ist meine Tochter Vega, werde ich sie wiedersehen?“, fragte Goia.

Avile stand reglos da, während sein Blick über den Himmel schweifte, und sagte:

„Du wirst sie nicht wiedersehen, aber Manto wird ihr eines Tages begegnen.“

„Sie lebt also, ist sie denn glücklich?“, fragte Goia.

Avile wandte sich ab, brummte etwas Unverständliches, stellte Manto wieder auf die Füße, und ging in sein Holzhaus. Goia schauderte: Was hatte er gesehen? Was wollte er nicht sagen?

Manto wuchs zu einem grazilen Kind heran. Jeden Morgen flocht Goia ihre hellbraunen Locken zu Zöpfen. Oft zog es sie zum Tempel, wo die Tänzer übten. Eine junge Tänzerin nahm das kleine Mädchen an die Hand, und zeigte ihr die Schrittfolgen. Manch einer blieb im Vorübergehen stehen und wunderte sich über ihre biegsamen Bewegungen.

„Eines Tages wird sie davon schweben“, sagten die Leute.

Wenn Goia die Enkelin zum Bohnen aushülsen oder zum Essen rief, wusste sie, wo sie sie finden konnte. Manchmal lief sie selber zum Tempel, öfters aber schickte sie einen Nachbarsjungen.

In ihrem neunten Sommer wurde Manto schwer krank. Das Fieber stieg, bis sie glühte und fantasierte: mit zittrigen Händen wehrte sie unsichtbare Gestalten ab, die zu Tür und Fensteröffnung hereindrangen. Sie wimmerte und versteckte sich unter ihrer Decke, die sie im nächsten Moment schweißüberströmt von sich schlug. Goia wickelte feuchte Tücher um ihre Glieder, um das Fieber zu senken. Sie blieb im Haus, und flößte ihr Thymian- und Salbeitee ein. Vor allem wollte sie nicht hören, was die Nachbarn redeten. Sie betete am Hausaltar in der Wandnische vor den Tonfiguren der Ahnen, und strich mit ihren rauen Händen beschwichtigend über sie, stellte ihnen ein Schüsselchen Milch hin, etwas Mehl und Locken weicher Schafwolle.

Und als alles nichts half, eilte sie in der Dunkelheit, während Manto schlief, zum Tempel mit dem Kostbarsten, was sie besaß: einer bronzenen Gewandfibel, die mit einem Spiralmuster verziert war, und die sie an Festtagen trug. Sie legte die Fibel auf den Opferstein, und betete händeringend zur Göttin um das Leben ihrer Enkelin. Dann sank sie nieder, schlug die Hände vors Gesicht, und schluchzte bitterlich über die unzähligen Verluste der Familie. Am nächsten Morgen sank das Fieber, und die geschwächte Manto schlief Tag und Nacht. Goia atmete auf. Sie lief nochmals zum Tempel und opferte der Göttin - zum Dank für die Genesung - die einzige Schmuckkette, die sie besaß. Sie war aus Hornperlen, und hatte einen kleinen bronzenen Anhänger in Herzform. Goia hob die Kette an Stirn, Mund und Herz und legte sie behutsam auf den Opferstein. Ihr war, als habe sie sich einer schweren Last entledigt, so leicht und beschwingt fühlte sie sich auf dem Heimweg.

2 Botschaften der Göttin

„…reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen.“

R.M.Rilke

Ich, Manto, kann mich daran erinnern, dass mir nach der Krankheit der Milchbrei nicht mehr schmeckte, und ich auf wackeligen Beinen herumging. Die Geister, die mich bedrängt hatten, verschlugen mir die Sprache, und ließen mich verstört zurück. Ich sah alles deutlich um mich herum: den abbröckelnden Lehm am Türrahmen, das bunte Huhn, das den Kopf schief legte, die Nachbarin, die herüberschielte, aber ich fühlte mich fremd, getrennt von Menschen und Dingen, so, als stünde ich mit einem Fuß im Geisterreich. Ich wich meiner Großmutter kaum von der Seite, und buk Berge von Fladenbroten, die mein Onkel mit aufs Feld nahm. Ich trug schmutzige Kleidung zum Brunnen, weichte sie mit Asche vermengt ein, und schrubbte das Leinenzeug, so fest ich konnte. Bei den Wollsachen, die ich mehrmals auswrang, war ich vorsichtiger.

„Tanzt du denn gar nicht mehr?“, fragte Mela, eine Nachbarin, verwundert, „du wirst ja eine richtig tüchtige Hausfrau!“

Ich schüttelte den Kopf und blickte verlegen auf meine Hände. Die Röte stieg mir ins Gesicht, denn wie sollte ich erklären, was ich selber nicht verstand? Ich erstarrte unter den Blicken der Wäscherinnen und konnte erst wieder aufatmen, als sie weiterschwatzten.

In Wahrheit fürchtete ich mich vor dem Tanzen: anfangs bewegte ich mich leicht und schwebend, so wie früher, aber dann wurde ich in eine Dunkelheit gezerrt, der ich nicht entrinnen konnte. Kalter Schweiß lief mir über den Rücken, während mein Körper sich schneller drehte, und sich fremde, schreckliche Bilder aufdrängten. Wenn sich schließlich der Griff der Geister lockerte, stand ich mit hängenden Armen da, ausgelaugt und außer Atem, und hatte nur noch das Bedürfnis, mich auf mein Lager zu verkriechen.

Einmal sah ich eine fremde Landschaft mit dunklen Bäumen, von der ein eisiger Hauch ausging. War das der Norden?

Ein anderes Mal sah ich, wie die kränkelnde Nachbarin Mela starb, umgeben von den weinenden Kindern. Ich konnte der Nachbarin, von der alle meinten, sie würde bald wieder gesund, nicht mehr ins Angesicht schauen, und wich ihr aus, wenn ich ihr zufällig begegnete.

Dann erschreckte mich die Vision einer Hütte, die in Flammen aufging. Männer schlugen mit Decken auf die überspringenden Funken, Frauen zerrten Kinder ins Freie und rannten nach Wasser. Ich sah die sich rächende Göttin, die Flammen auf das Schilfdach schleuderte.

Als einige Wochen später jene Hütte in der Nacht wirklich brannte, rissen mich die Schreie der Menschen aus dem Schlaf. Das Entsetzen lähmte mich: war ich schuld an dem Unglück? Während die Großmutter hinauseilte, um zu helfen, fühlte ich mich so einsam, als gäbe es niemanden auf der Welt, der mich jemals würde trösten können.

Ich verlor den Appetit und schlich in der Gegend herum. Goia machte sich Sorgen, bekam aber nichts aus mir heraus. Da rief Avile mich eines Tages zu sich; er saß auf einem Schemel und ich blieb mit gesenktem Kopf vor ihm stehen. Er legte mir die Hände auf die Schultern und sagte:

„Schau mich an!“

Seine Stimme erschütterte mich durch und durch, und ich wusste, dass ich meinen Schrecken nicht mehr verbergen konnte.

„Hörst du die Zukunft oder siehst du sie in Bildern?“, fragte er.

„In Bildern“ hauchte ich.

„Hast du gewusst, dass das Haus brennen würde?“

„Ja, es ist schrecklich, die Göttin Uni war erzürnt, und Mela wird sterben!“

Meine Worte überstürzten sich:

„Ich will nicht in die Fremde, wo die Bäume dunkel sind.“

Avile schüttelte mich:

„Manto, du hast die Gabe den Willen der Göttin zu empfangen. Wenn du die Begabung verleugnest, wird Uni zornig und macht dich krank.“

„Eine Gabe der Göttin Uni?“

„Du bist nicht schuld an dem, was passiert. Du wirst den Menschen helfen können.“

„Ich? Helfen können?“

„Ja, indem du tanzt“ sagte Avile „und die Bilder aushältst. Sag der Göttin Dank, Manto.“

„Warum ich, eine Halbfreie?“

„Die Götter lieben unseren Tanz“, sagte der alte Mann. „Erzähl mir, was du siehst. Und die übrige Zeit hilfst du deiner Familie, du bist schon recht tüchtig.“

Ich errötete vor Freude über das Lob, und spürte doch mein Herz ängstlich klopfen.

Ich erzählte Goia alles, und sie sagte:“Meine liebe Kleine, liebe Manto, ich hatte gehofft, die Göttin Uni würde dich wieder frei geben, aber nun wirst du ihr dienen müssen. Wir wollen um ihren Segen bitten.“

Wir nahmen Mehl und Früchte mit zum Tempel und übergaben sie dem Priester. Während ich auf der Steinstufe stand und Gebete sprach, schwankte mein Oberkörper leicht vor und zurück, als habe ein Windhauch ihn ergriffen, und die Angst fiel von mir ab.

„Ja“, konnte ich nun sagen, „ja, meine Göttin, ich werde für dich und die Menschen tanzen und deine Botin sein.“

Befreit breitete ich die Arme aus.

Um die Nachbarin Mela aber machte ich nach wie vor einen Bogen.

Schon vor Sonnenaufgang ging ich auf eine Anhöhe mit weitem Blick über Laubwaldhügel und Getreidefelder. Schafherden folgten grasend dem welligen Gelände mit fließender Bewegung. Ich betete zur Göttin, und tanzte mit den Strahlen der Morgensonne. Abends tanzte ich bei untergehender Sonne, und stieg in die verborgene Welt der Bilder hinab.

Es gab auch freudige Botschaften: ich sah wie eine Frau, die vergeblich auf Nachwuchs wartete, einen Neugeborenen im Arm hielt. Natürlich lief ich gleich zu ihr. Sie wusste nicht, ob sie es glauben sollte, hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung und der Angst vor Enttäuschung. Als ihre Blutung ausblieb, sprach sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer herum.

Avile rief nach mir, wenn er den Vogelflug deuten wollte. Wir gingen zum Tempel hinauf: der Himmel wölbte sich über uns, das Meer glitzerte bis zum Horizont, und nach Norden, Süden und Osten lag das hügelige Land bis in bläulicher Ferne. Avile sang mit Inbrunst Gebete. Ich kniete mich hin, und hielt eine Taube in meinen Händen. Auf ein Zeichen meines Lehrers hob ich die Arme zum Himmel und öffnete die Hände wie einen Blumenkelch, so dass der Vogel entflog, und Avile seine Bahn durch die Himmelsfelder der verschiedenen Gottheiten beobachten und deuten konnte. Mit der Zeit lernte ich die Gesänge. Bei meinen Visionen achtete ich auf den inneren Bilderhimmel, der den Himmelsfeldern der Götter entsprach. Nachdem sich der Bauch der Schwangeren rundete, kamen die Menschen zu mir, um sich Rat zu holen, und ich nahm ihre Fragen und Bitten in meine Tänze auf.

Meine Freundin Neirinna und ich steckten die Köpfe zusammen; wir saßen auf der Bank vor der Hütte und schwatzten. Ihre schwarzen Haare kringelten sich auf Stirn und Schläfen, und ihre Augen blitzten, wenn sie den Jungs nachschaute. Vor allem Diges hatte es ihr angetan.

„Ich will viele Kinder haben und du?“, fragte sie.

Ich blickte sie erstaunt an:

„Ich tanze“, sagte ich, „ ich weiß nicht, ich habe es noch nie überlegt.“

„Ich wollte, ich könnte so anmutig tanzen, wie du. Aber weißt du, wo ich war? Im Wald bei Vollmond, in der Felsschlucht, auf dem Fest zu Ehren des Fufluns“.

Sie kicherte:

„Ich hab Wein getrunken, und mit Diges getanzt, wild, wie die Waldgeister.“

Vor Aufregung kniff sie mich in den Arm.

„Aber weißt du, was mir eine Frau gesagt hat? Deine Freundin Manto hat Feinde bei den aristokratischen Familien, denn das Wahrsagen ist allein ihr Vorrecht.“

Ich runzelte die Stirn: ich konnte doch nicht anders als tanzen!

Ich achtete genauer auf das, was die Leute sagten. Trotz aller Bewunderung, dem Dank und auch der Angst, die Menschen vor mir hatten, wuchs der Neid. Manch schräger Blick, das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand und spitze Bemerkungen ließen mich aufhorchen. Was sollte ich machen? Viel Schutz hatte ich nicht: meine Verwandten waren nur Halbfreie, und Avile, dem wir dienten, musste sich auf meinen Arm stützen, wenn wir zum Tempel gingen.

Ich spürte die Last meiner Fähigkeiten und die Einsamkeit. Nach wie vor ging ich jeden Morgen und Abend auf die Wiese oberhalb der Stadt, verneigte mich vor den Baumgeistern und der Quelle, tanzte und empfing die Botschaften der Göttin. Im Spiegelbild des Wassers sah ich mein Gesicht, ich war kein Kind mehr.

Eines Abends umringten mich plötzlich die drei Söhne der Familie Fultum und verhöhnten mich:

„Ah, die tanzende Dienstmagd! Was hat sie denn jetzt schon wieder gesehen? Wie sie guckt! Wahrscheinlich hat sie von uns geträumt“, rief Vibius.

Ignaz riss die Bänder aus meinen Zöpfen. Sie lachten und zogen ihren Kreis enger. Tagon zerrte an meinem Gewand. Ich erstarrte vor Schreck. Ignaz zerriss den Ausschnitt meiner Tunika und griff nach meiner Brust, Tagon rieb sein Geschlecht an mir, und schrie heiser:

“Jetzt tanz mit mir!“

Einige Frauen, die vom Feld kamen, ließen ihre Körbe fallen, zerrten die Jungs fort. Ohrfeigen klatschten. Sie schimpften:

“Ihr Elenden, die Göttin strafe euch! Es ist eine Schande, wie die Hunde über das Mädchen herzufallen!“

Bevor er im Wald verschwand, drehte sich Tagon um und rief wütend:

„Wir kommen wieder, verlass dich darauf!“

Ich zitterte am ganzen Leib, während die Frauen sich ereiferten, auf mich einredeten, und versuchten das Kleid zu befestigen. So gelangten wir zu Goias Hütte. Der Hals schwoll ihr an, als sie hörte, was passiert war. Sie war wütend auf die Jungs, aber auch auf mich, weil ich nicht einfach sein konnte wie andere Mädchen meines Alters. Mutlos ließ sie sich auf einen Schemel fallen, denn sie wusste, dass mit Familie Fultum, der mehrere Haruspize angehörten, nicht zu spaßen war.

Avile suchte gemeinsam mit Goia und mir Familie Fultum auf. Wir wurden hochmütig empfangen. Thefaru Fultum sagte:

„Muss das Mädchen mit gelösten Haaren auf der Wiese tanzen und die Jünglinge verführen? So tun, als sei sie eine Seherin, unverschämt! Es steht ihr als Dienstmagd nicht zu, Lügnerin!“

Avile legte ein Wort für mich ein und sagte, meine Visionen würden erstaunlich genau zutreffen.

Thefarus Frau sagte: „So ein Nichts, ein dahergelaufener Vater, eine weggelaufene Mutter, das ist doch zum Lachen.“

Damit war die Unterredung beendet. Avile und Goia stützten sich aufeinander wie ein altes Ehepaar, ich folgte ihnen.

Tagon schlich hinterrücks an mir vorbei:

„Wir sehen uns wieder, du Schlange“ zischte er und kniff mir zwischen die Beine.

Erschrocken schlug ich um mich, und traf seine empfindlichste Stelle. Ich sah, wie er die Hände auf sein Glied presste mit schmerzverzerrtem, von den Ohrfeigen verquollenem Gesicht. Da musste ich plötzlich lachen und konnte nicht mehr aufhören. Tagons Eltern starrten mich fassungslos an, Goia zog mich schnell am Arm mit sich fort.

Goia schärfte mir ein, nur noch in der Nähe der Hütte zu tanzen, und keine Weissagungen mehr zu machen. In ihrer Sorge um mich, sagte sie den Nachbarn, ich hätte meine Begabung verloren, aber niemand glaubte ihr.

Also tanzte ich unter dem großen Ahornbaum in der Nähe der Hütte, und wusste nicht wohin mit der inneren Bilderflut. Einige Frauen sagten: wir wollen dir nicht schaden, Familie Fultum ist erbost und wird sich rächen wollen. Ihre Söhne sind zur Stadtbelustigung geworden. Aber wir brauchen deinen Rat. Wir kommen bei Dunkelheit in deine Hütte.

Die Jahreszeiten folgten einander mit frischem Grün im Frühling, reifen Weizenfeldern im Sommer, verbranntem Land im Herbst. Es war mein dreizehnter Winter.

An einem stürmischen Abend, an dem man am liebsten am Feuer kauerte, trat ein Mann, in einem Mantel gehüllt, rasch zur Tür herein, und zog sie hinter sich zu. Mein Herz machte einen Satz, als ich Tagon erkannte. Er legte den nassen Mantel ab und wischte sich den Regen aus Gesicht und Haaren. Ich war von meinem Schemel aufgesprungen, warf einen Blick zu Goia, die Wolle spann, und schaute den Besucher unsicher an. Tagon, der ein Jahr älter war als ich, sagte eindringlich:

„Manto, ich war unverständig, ich hoffe, du trägst es mir nicht nach. Ich brauche deinen Rat, und wüsste nicht, wer mir sonst helfen könnte. Sag nicht, dass du keine Voraussagen mehr machst“, fügte er hinzu, als ich, Einhalt gebietend, die Hand hob, „alle wissen, dass die Leute nachts zu dir kommen, sie reden darüber.“ Er legte eine Fibel aus Bronze auf den Tisch. Wollte er mir eine Falle stellen? Und warum spürte ich solch eine Glut in mir hochsteigen?

„Setz dich“, sagte ich, „was willst du wissen?“

Ich fürchtete, mich im Klang seiner Stimme zu verlieren.

„Du weißt“, sagte er, „dass wir eine berühmte Familie von Sehern sind. Einige von uns sind in andere Städte und zu fremden Völkern gegangen, und haben Feldherren in Schlachten begleitet, um den Willen der Götter zu erkunden. Mein Vater will, dass alle seine Söhne Haruspize werden, aber es macht mir keine Freude, die Riten, Gebete und Gesänge zu studieren. Zu mir spricht die Göttin nicht, stattdessen hat sie sich ein halbfreies Mädchen ausgesucht.“

Er schaute mich von der Seite an und verzog das Gesicht, dann lächelte er. Meine Angst schmolz dahin, ich beugte mich vor, um ihm zu lauschen. Er holte tief Luft:

„Sag mir, ob die Göttin mir zürnt, wenn ich kein Seher werde, und wie ich sie beschwichtigen kann. Und wie kann ich meinen Vater umstimmen? Ich liebe Pferde: Pferdezucht, Pferderennen, das ist mein Leben!“

Er ergriff meine Hand und drückte sie leidenschaftlich:

„Tanz für mich! Bring mir eine Botschaft!“

Ich blickte zu Boden, um meinen Gefühlsaufruhr zu verbergen, stand auf und öffnete ihm die Tür. Er strich mir flüchtig über den Arm und verließ die Hütte.

„Oh, mein Mädchen, was wird das geben“, seufzte Goia, „sag ihm, dass du keine Botschaft für ihn hast, wenn er wiederkommt.“

Sie schöpfte sich einen Becher Wasser und ging zu ihrem Nachtlager. Auch ohne Visionen ahnte sie künftigen Kummer. Ich schlüpfte stumm unter meine Decke. Wie er mich angeschaut hatte! Ich wälzte mich vom Rücken auf die Seite und wieder zurück: sein Blick und seine Stimme hatten sich in meine Seele eingebrannt.

Als ich am Morgen aufstand, hatte ich kaum geschlafen und zögerte das Tanzen hinaus, denn ich hatte Angst. Ich setzte mich zu Goia, und säuberte Wolle von Grasspelzen und Kletten. Am Nachmittag stieg meine Unruhe, ich hielt es bei keiner Beschäftigung aus, und so verließ ich die Hütte. Ich betete zur Göttin und begann mit kreisenden Bewegungen, unter dem Ahorn zu tanzen. Die Nachbarinnen sahen, wie mir die Tränen über das Gesicht liefen, und ich mich vor Schmerz krümmte. Erschrocken fragten sie sich: Für wen ist die Weissagung? Würde eine Hütte brennen, ein junger Mensch sterben?

Nach dem Tanz verkroch ich mich im Haus und sprach kein Wort. Als Tagon in der Nacht die Tür öffnete, sah er mich zuerst nicht, so tief hatte ich mich in den Schatten zurückgezogen.

„Manto? Was ist? Was hast du gesehen?“

Da ich nicht antwortete, blieb er unschlüssig stehen. Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen und brach mit einem kläglichen Laut ab. Dann raffte ich mich zusammen, vergrub die Nägel in den Handflächen und sagte heiser:

„Um die Göttin zu versöhnen, sollst du dein Lieblingsfohlen mit dem weißen Stirnfleck opfern“. Er sog die Luft heftig durch die Nase ein. „Und das andere?“, stieß er hervor. Ich flüsterte:

„Du wirst deinen Vater versöhnen, wenn du eine Tochter der hochgestellten Familie Volna heiratest. Das wird ihm das verlorene Ansehen zurückgeben.“

Tagon keuchte; plötzlich riss er mich an sich, drückte mich so fest, dass es wehtat, und verschwand dann wortlos in der Nacht.

Eines Tages erfuhr ich von der bevorstehenden Opferfeier. Ich befestigte den ärmellosen Umhang über meiner blauen Tunika mit der bronzenen Fibel, die Tagon mir geschenkt hatte, und steckte die geflochtenen Haare hoch. Die Wolle meines Mantels hatte Goia mit grünen Nussschalen, Orange-Braun gefärbt und die Bordüre mit grünen und roten Fäden bestickt. Die Männer schauten mir nach, als ich zum Tempel ging. Ich erblickte Tagon mit dem geschmückten Fohlen in der Prozession auf der Tempelstraße. Er wirkte entschlossen und strich dem nervösen Fohlen, das ihn anstupste, über Hals und Nüstern. Auf dem Platz vor dem Tempel stellte sich die Menge in einen Halbkreis vor den Opferstein. Es gab mir einen Stich, als ich in vorderster Reihe die zwei hübschen Töchter der Familie Volna erblickte, die Gewänder in lebhaften Farben trugen, dazu Halsketten und Ohrgehänge aus Gold leuchtender Bronze und Bernstein. Sie tuschelten miteinander und lächelten, und auch sie verschlangen Tagon mit ihren Blicken. Welche von beiden würde seine Ehefrau werden?

Der Priester rief die Göttin Uni an, die Aulos-Spieler bliesen auf ihren Doppelflöten und Tagon opferte sein Fohlen, indem er ihm die Kehle durchschnitt. Es bäumte sich mit weit aufgerissenen Augen auf. Als das Blut aus dem Tierkörper spritzte, stieß ich einen Entsetzensschrei aus, und wurde von den Umstehenden mit Scherzen aufgefangen:

„Du bist doch nicht das Fohlen!“

Tagon warf einen Blick zu mir hinüber, bevor er sich daran machte, das Pferd zu zerwirken. Auch Deia und Tutan, die zwei Volna-Töchter, reckten die Hälse. Tagon legte eine Keule auf den Altar, wo sie zur Ehre der Göttin verbrannte, während Männer und Frauen mit großen Töpfen und Spießen bereitstanden, das übrige Fleisch für das Fest zu braten. Tagons Vater stand mit versteinertem Gesicht in der vordersten Reihe; die Absage seines Sohnes an das ehrenvolle Amt, empfand er als Schande und schlimmes Vorzeichen. Tagon löste die dampfende Leber aus der Körperhöhle des Fohlens und reichte sie dem Haruspiz, der sie sorgfältig untersuchte, wohlwollend schmunzelte und sagte:

„Die Göttin ist dir wohl gesonnen, mein Lieber, du wirst schon bald eine vorteilhafte Heirat machen, das wird deinen Vater versöhnen.“

Dieser blickte aufatmend zu den Töchtern der Familie Volna hinüber. Deia, die Ältere, war ein kluges, hochgewachsenes Mädchen, während die Jüngere, Tutan, recht lieblich in ihrer Art war. Die Eltern neben ihnen schienen Gefallen an dem jungen Aristokraten und seiner Vorliebe für die Pferdezucht zu haben, denn sie lächelten.

Neirinna hielt mich fest, und ich klammerte mich an ihren Arm. Tagon legte ein schönes Stück Fleisch auf eine mit frischem Weinlaub verzierte Schüssel. Er wandte sich den zwei wohlhabenden Mädchen zu, und ließ sich auf ein Knie nieder. Die Ältere zuckte zurück – Tagon war ein schöner Jüngling, und sicher hätte sie gerne … aber … Während sie noch innerlich mit sich rang, beugte sich die Jüngere vor, ergriff die Schüssel, sagte ein Wort des Dankes, und lobte die Schönheit des geopferten Fohlens.

„Du bist willkommen“, sagte sie, und das war schon ein Versprechen. Dem Vater des Mädchens war es recht, denn für die Ältere gab es vornehmere Verehrer. Deia hielt sich sehr gerade, und schaute wie von oben auf ihre Schwester herab, eine Geste des Zorns und der Eifersucht unterdrückend, dass die Jüngere ihr zuvor gekommen war.

Schwaden von gebratenem und verbranntem Fleisch zogen über den Platz. Der Wind war böig aufgefrischt, entfachte die Altarflamme und drückte den Rauch mal hier-, mal dorthin. Frauen und Männer drehten die Spieße, trugen Körbe mit Fladenbroten herbei, füllten die Mischgefäße für Wasser und Wein, und redeten aufgeregt durcheinander. Die Kinder verscheuchten die Hunde, die um die Fleischtöpfe strichen.

Ich zog meine Freundin mit mir fort.

„Was ist los mit dir?“, fragte Neirinna.

Ich erzählte ihr von Tagons nächtlichen Besuchen. Sie versuchte mich zu trösten und sagte:

„Du solltest einmal zum Fest des Fufluns mitkommen, da tanzen alle zusammen im Wald, und der Wein lässt den Kummer vergessen. Du bist immer alleine, und tanzt für dich, das ist ja traurig.“

Dann fügte sie hinzu:

„Tagon habe ich auch schon dort gesehen, er scheint viel von dir zu halten. Wie er zu dir hinüber geschaut hat!“

„Aber hast du nicht gesehen“, entgegnete ich, „wie freundlich Tutan seine Gabe entgegengenommen hat?“

„Ja schon“, sagte Neirinna, „er wird sie heiraten und ihre Eltern werden zustimmen, weil sie einfältig ist. Aber was hat das schon zu sagen; dich als Halbfreie darf er nicht heiraten, er hat keine Wahl. Komm mit zum Fest des Fufluns, vielleicht sehnt er sich genauso nach dir.“

Ich war ganz durcheinander und erschöpft, nur eins wusste ich deutlich: ich wollte Tagon wiedersehen und mit ihm sprechen.

Daheim sagte Goia traurig:

„Bis jetzt habe ich versucht, dich zu schützen, aber dort im Wald kann ich dir nicht helfen.“

Die Empörung kochte in mir hoch: ja, geschützt hatte sie mich, aber eingesperrt, ans Haus gebunden, die Freude genommen. Ich lechzte nach Leben! Ich stampfte mit dem Fuß auf, funkelte meine Großmutter an, die mir alt und verschrumpelt vorkam, und rief: „Ich werde hingehen!“

Ich fieberte dem nächsten Vollmond entgegen. Neirinna erzählte mir von der Prozession im Wald mit Flöten und Zitherspielern.

„Wir singen zu Ehren des Fufluns, und alle tragen einen Kranz aus Weinblättern oder Efeu im Haar. Nach den feierlichen Riten und dem Trankopfer wird Wein ausgeschenkt und es beginnt der wilde Tanz. Du musst dich vorsehen, Männer und Frauen, die von Fufluns ergriffen werden, gebärden sich wie toll, haschen sich und wälzen sich zusammen im Unterholz. Trink am besten nicht mehr als eine Schale und bleib in der Nähe der Ausschenker, bis du Tagon siehst.“

Am Abend des Vollmondes zog ich meine Tunika mit den aufgestickten Blümchen an und den leichten Mantel. Im hochgesteckten Haar befestigte ich einen Kranz aus dunkelgrünen Efeublättern, und zupfte einige Locken in die Stirn. Rosige Wangen, leichtfüßiger Gang.

„Und wenn Tagon nicht kommt?“, fragte ich Neirinna. „Woher soll er wissen, dass ich heute da bin?“

„Lass uns an seinem Haus vorbeigehen“, schlug sie vor. Wir alberten herum, um von Tagon gehört zu werden. Aber als ich zum Fenster des Hauses spähte, begegnete mir nur der eiskalte Blick seines Vaters. Schlagartig verging mir das Lachen, und eine böse Ahnung beschlich mich.

Wir rannten los und schlossen uns außer Atem dem festlichen Zug an, der sich am Waldrand in Bewegung setzte. Fackeln brannten, der Mond schien über den Laubwaldhügeln. Ich konnte nicht erkennen, ob Tagon weiter vorne ging. Die Menschenschlange glitt die Waldschlucht hinab. Verknotete Efeustämme wanden sich die steile Böschung hinauf, und wir tauchten in eine geheimnisvolle Welt voller gespenstischer Schatten unter dem Blätterdach ein. Wir hielten einander fest, um auf dem abschüssigen Weg nicht auszurutschen. Im Tuffgestein entlang des Weges befanden sich Grabkammern, die einen verschlossen, die anderen noch leer. Ich fröstelte: sollte ich umkehren? Es war unheimlich in dieser Schlucht, und ich spürte noch immer den vernichtenden Blick von Tagons Vater. Die Gesänge wurden wilder. Heimlaufen zur Großmutter? Unmöglich!

Immer tiefer ging es in den Wald, dessen Laub nur hier und da einen Tupfen Mondlicht durchscheinen ließ. Dann weitete sich die Schlucht, bevor sie sich verzweigte, und bildete einen Platz mit hohen Bäumen zwischen den Felswänden. Ein Altarstein war mit Efeu- und Weinranken geschmückt, und daneben stand ein großes Mischgefäß aus Ton für Wasser und Wein. Während junge Männer das Wasser aus dem Bach schöpften, versuchte ich die Gesichter im Fackelschein zu erkennen. Ein Priester goss Wein für das Trankopfer in eine Schale, rief Fufluns an, beschwor ihn, das Leben der Ahnen im Jenseits zu erleichtern und zu erfreuen. Dann wurde der Wein ausgeschenkt. Auch ich ließ die Schale, die ich mitgebracht hatte, voll schöpfen und trank sie in meiner Aufregung schnell leer. Der Wein, obwohl mit Wasser vermischt, war kräftiger, als der, den ich manchmal bei meinem Onkel bekam.

Die Fackeln flackerten um den Altar herum, die Menge drängte sich um den Weinkrug, während das Flötenspiel hier und dort in schnellem Rhythmus erklang; die Tänzer begannen zu hüpfen und die Arme zu heben. Da spürte ich die Verzauberung des Augenblickes, Angst und Verzagtheit fielen von mir ab, mein Körper bewegte sich wie von selbst. Selig überließ ich mich der Musik, und nahm die anderen Menschen nur verschwommen wahr. Später holte ich mir noch eine Schale Wein und sah, wie Neirinna mit dem jungen Mann ihrer Träume im Wald verschwand.

Männer und Frauen mit wirren Haaren verrenkten sich in ekstatischem Tanz, stürzten wie von Sinnen übereinander her, stöhnten und zuckten auf dem Waldboden. Die Fackeln glühten und qualmten. Da torkelte ein Mann mit ausgestreckten Armen auf mich zu, lallte und lachte über das ganze Gesicht. Erschrocken floh ich den Schluchtweg zurück, doch er verfolgte mich. Es gab nur eins: dem Wald entkommen. Im Dunkeln stolperte ich weiter, ohne mich umzuschauen. Plötzlich sprang jemand vor mir auf den Weg, so dass wir heftig zusammenprallten. Ich schrie auf, kräftige Arme hielten mich fest, und ich hörte Tagons Stimme:

„Lauf mir nicht davon, mein Mädchen“.

Außer Atem keuchte ich:

„Warum… warum bist du hier?“

Er zog mich ins Mondlicht und sagte:

„Mein Vater hat mir verboten zu gehen, nachdem er dich gesehen hat.“

„Er ahnt also…?“, begann ich.

„Ja, er ahnt, dass die Weissagung von dir war, und er ahnt noch etwas anderes“, fügte er heiser hinzu. Er presste meine Hand auf seine Brust: „Fühl´, wie mein Herz für dich schlägt. Dann küsste er mich. Er drängte mich zu einer Tuffsteinhöhle. Ich wich zurück: „Das ist ein Grab!“

„Der Boden ist schön sandig“, sagte Tagon.

Im Morgengrauen öffnete ich verstohlen die Tür der Hütte, und schlüpfte auf mein Lager. Ich hörte Goias Atemzüge. Schlafen konnte ich nicht: das Unfassbare war geschehen.

3 Aufs offene Meer

„…und das Schicksal selbst ist wie ein wunderbares, weites Gewebe, darin jeder Faden von einer unendlich zärtlichen Hand geführt und neben einen anderen gelegt und von hundert anderen gehalten und getragen wird.“

R.M. Rilke

Gegen Abend kam ein kleiner Junge angerannt, und drückte mir ein Geschenk in die Hand. Es war eine Halskette aus roten Glassteinen. Ich staunte über die Kostbarkeit.

„Von Tagon?“, fragte ich.

Er sagte verschmitzt:

„Du und deine Großmutter sollt sofort zum Tempel kommen. Bei der großen Zypresse wartet jemand auf euch.“

Wir wunderten uns. Mich trieb die Sehnsucht nach Tagon, aber weshalb sollte Goia mitkommen? Der Junge sagte, wir sollten zu niemandem etwas sagen, es sei eilig und geheim, habe der Mann gesagt. Was für ein Mann das war, wusste er nicht. Wir zogen unsere Mäntel über und gingen mit ihm. Unterwegs begegneten wir Neirinna, aber jetzt war keine Gelegenheit über die vergangene Nacht zu reden; ich winkte ihr zu und rief:

„Ich komme nachher bei dir vorbei!“

Auf dem Tempelgelände war es menschenleer. Wir umrundeten den Tempel auf der Prozessionsstraße.

Auf der der Stadt abgewandten Seite stand unterhalb der Anhöhe eine uralte Zypresse, in deren Schatten ein Mann wartete. An seiner Haltung sah ich, dass es nicht Tagon war. Kaum waren wir angekommen, ergriffen uns drei Männer, während der Junge wie ein Hase davon sprang. Es waren Wächter der Familie Fultum, die uns hart am Arm packten. Der Älteste von ihnen, namens Inigo, sagte:

„Bloß kein Geschrei!“

Sie stießen uns eilig den Weg hinunter, Richtung Wald; es war der Schluchtweg der letzten Nacht, der am Altar des Fufluns vorbei, dort, wo sich die Schlucht gabelte, Richtung Westen, zum Meer führte, ohne dass man die Stadt durchqueren musste.

Mein Herz hämmerte, als ich die Graböffnungen im Gestein sah, abgebrannte Fackeln, zertretenes Weinlaub, Schärpen im Geäst. War es ein schlechter Traum? Goia hatte Mühe so schnell zu laufen. Erst als die Stadt längst hinter uns lag, verlangsamten die Männer ihren Schritt. Als wir aus dem Wald heraus auf die Straße kamen, hoben sich Bäume und Gebüsch schwarz vom milden Gelb des Himmels ab, die Sonne war längst untergegangen. Wir gingen im Abendschein durch die reifenden Getreidefelder, deren Ähren im Wind raschelten. Nur ein verspäteter Bauer mit seinem Esel kreuzte uns. Er grüßte erstaunt unsere schweigsame Gruppe, die an ihm vorüberzog.

Ich kannte den Weg, denn mein Onkel hatte mich einige Male auf seinem Fuhrwerk zum Frühjahrs- und Herbstmarkt beim Hafen am Meer mitgenommen, wenn er für Avile Wollstoffe und Oliven verkaufte. Auf dem Handelsplatz im Tempelareal hatte ich gerne die Menschen beobachtet, die von weit her gekommen waren. Ich hatte Männer mit gewaltigen Schnauzbärten und zurückgekämmten hellen Haarsträhnen gesehen, deren Sprache ich nicht verstanden hatte. Der Onkel hatte gesagt, es seien Kelten aus dem Norden. Aber solch einer mit karierten Beinkleidern, hatte ich gedacht, kann unmöglich mein Vater sein, und mich auf Abstand gehalten. Lieber hatte ich die Keramikschalen bestaunt, die mit roten und schwarzen Figuren bemalt waren, bestickte Stoffe und Gewänder.

Der Onkel ging zuerst mit mir in den Tempel, um der Göttin Turan zu opfern. Er betete um einen günstigen Handelsabschluss, denn sie war nicht nur die Göttin der Liebe und der Schönheit, sondern auch die Göttin der Schifffahrt und des Handels. Ich liebte es, ihr schönes Bild zu betrachten, das sie mit einem geflochtenen Haarkranz, elegantem Gewand und einem Granatapfel in der geöffneten Hand darstellte. Auch konnte ich mich an den Votivfiguren aus Ton und Bronze nicht satt sehen. Der Onkel entlud unterdessen seinen Karren, begrüßte Bekannte, tauschte Waren und Neuigkeiten aus. Ich lief zwischen Marktständen, Eseln und streunenden Hunden ans Meer, tauchte die Füße in die Uferwellen, und staunte über die großen Schiffe, die im Hafen lagen. Wenn ich Hunger hatte, ging ich zum Onkel zurück, denn die Tante hatte uns Fladen und Linsenmus eingepackt. Dazu kauften wir eine frisch gebratene Dorade, die köstlich schmeckte. Bevor wir heimfuhren, erstanden wir Salz und eine Kleinigkeit für die daheim Gebliebenen, beteten wieder zur Göttin um Gesundheit für die Familie, und dankten ihr für den abgeschlossenen Handel.

Einmal hatte ein Handelspartner meines Onkels mir ein Bronzeschweinchen geschenkt, und gesagt:

„Opfere es der Göttin, es wird dir Wohlstand bringen.“

So etwas Hübsches hatte ich noch nie in Händen gehalten, und ich hatte es nicht fertiggebracht, es gleich wieder fortzugeben. Ich schaute es von allen Seiten an, fühlte es in meiner Hand, strich mit dem Finger über die glatte Oberfläche, und zeigte es daheim meiner Großmutter. Erst im folgenden Jahr stellte ich das Schweinchen schweren Herzens und doch stolz auf mein Opfer auf den Altar.

In Erinnerungen versunken merkte ich erst nach einer Weile, dass Goia sich immer schwerer auf mich stützte und Mühe hatte weiterzulaufen.

Ich sagte zu den Männern:

„Wir müssen Rast machen, meine Großmutter ist erschöpft.“

Die Wächter schauten sich fragend an, und Inigo sagte:

„Na gut, machen wir eine Pause, das Schiff fährt erst am frühen Morgen.“

Goia ließ sich am Wegrand nieder, und auch die Männer setzten sich ins Gras. Hier war die Landschaft noch hügelig, bevor sie zur Küstenebene abfiel; man sah bis aufs Meer hinaus. Der Mond war aufgegangen und spiegelte sich auf dem Wasser, ein Nachtvogel flötete, es lag ein Frieden ohne Ende über der Nacht. Sogar die Wächter wirkten weniger bedrohlich. Sie gaben uns eine Handvoll getrockneter Feigen.

Ich fragte schließlich:

„Warum werden wir fortgeschickt? Und wohin?“

Inigo entgegnete kauend:

„Der Vater Fultum hat es so bestimmt, er wird schon seinen Grund haben, verstanden?“

„Aber wir gehören doch zu Avile“, sagte Goia kleinlaut, die immer wieder daran denken musste, dass sie ihm sein Nachtmahl nicht hatte bringen können, dass sein Gewand auszubessern war, und dass die Hühner schutzlos herumliefen.

„Das ist nicht meine Sache“, sagte der Wächter kurz angebunden.

Goia rollte sich auf die Seite und schlief augenblicklich ein, und auch ich nickte ein, bis der Wächter mich an der Schulter rüttelte. Ich schaute in den Sternenhimmel, und flehte die Göttin Uni an, uns beizustehen. Helle Gräser mit durchscheinenden Spelzen und weiße Margeriten schimmerten am Wegesrand im Mondlicht. Bald würden wir den sumpfigen Küstenstreifen erreichen und im Morgengrauen den Hafen, wo der Tempel der Göttin Turan stand. Ich dachte an das Bronzeschweinchen und war traurig, so gar nichts aus der Heimat mitnehmen zu können, außer der Kleidung, die ich auf dem Leibe trug, der bronzenen Fibel, die Tagon mir geschenkt hatte, und der verräterischen Halskette, die uns aus dem Haus gelockt hatte.

In diesem Augenblick hörten wir den Hufschlag eines galoppierenden Pferdes, das uns schnell einholte, und so abrupt zum Stehen gebracht wurde, dass der Staub aufwirbelte. Es war Tagon, dem die Wut im Gesicht geschrieben stand. Er sprang vom Pferd, warf Inigo die Zügel zu, und sagte barsch:

„Ich muss mit Manto sprechen.“

Die Wachmänner zögerten und schauten sich an, denn Vater Fultum hatte ihnen eingeschärft, die Frauen mit niemandem sprechen zu lassen, aber schließlich war es der Sohn der Familie. Sie zuckten mit den Schultern und traten zur Seite.

Tagon fasste mich am Arm:

„Deine Freundin Neirinna hat nach dir gesucht und das Haus leer vorgefunden. Sie hat euch Kleidung und Schlafmatten zusammengepackt.“

Er zeigte auf sein Pferd.

„Das Schiff fährt bis Populonia; such dort eine Möglichkeit nach Velathri zu kommen, und frage nach dem Pferdezüchter Arnth Vivio, er kann dir weiterhelfen. Aber hüte dich vor den Sklavenhändlern. Merk dir den Namen: „Arnth Vivio“!“

„Geliebter“, flüsterte ich.

„Sag den Namen!“

„Arnth Vivio.“

Er beugte sich zu mir: „

Wir werden uns wiedersehen, das schwöre ich.“

Inigo drängte zum Weitergehen, das Schiff würde nicht auf uns warten. Tagon schwang sich auf sein Pferd, gab mir das Kleiderbündel herunter, und rief befehlend zu den Wächtern, bevor er davon preschte:

„Seid freundlich zu den Frauen!“

Diese schauten sich verblüfft an: das war etwas anderes, als Vater Fultum ihnen gesagt hatte. Nun ja, vielleicht hatte er seine Meinung geändert, verstehe wer wolle die Launen der Mächtigen.

Im Hafen wurde das Handelsschiff mit Ballen von Wollstoff und Segeltuch beladen. Die Keramik, die es aus südlicheren Gegenden gebracht hatte, war schon verkauft. Männer schleppten Proviant auf das Schiff. Inigo verhandelte mit dem jovialen Schiffskapitän. Natürlich war dieser gerne bereit uns mitzunehmen, wenn wir beim Kochen für die Mannschaft helfen wollten. Auch war Vater Fultum ein guter Kunde. Erst gestern hatte er Prunkschalen mit metallischem Glanz und einen großen Weinkrater mit schwarzem Firnis wegen der bevorstehenden Hochzeit gekauft. Attilius, der Kapitän, verbeugte sich immer wieder geflissentlich, rieb sich die Hände und machte einladende Gesten auf sein Schiff:

„Und sag Vater Fultum, dass ich auf der Rückfahrt die einzigartigsten Metallarbeiten mitbringen werde: Bronzestatuetten und Spiegel, kostbare Fibeln und hohe dreifüßige Leuchter, die den Glanz der Feier erhöhen, und die Gäste in Erstaunen versetzen werden. Es sind auch Geschenke für erlesene Gäste dabei. Die Hochzeit wird ihnen in bester Erinnerung bleiben, und man wird noch lange über die Großzügigkeit der Familie Fultum sprechen.“

„Gut“, sagte Inigo, „ich werde es ausrichten. Der Sohn hat befohlen, freundlich zu den beiden Frauen zu sein.“

Attilius zwinkerte ihm zu und sagte:

„Die Junge ist ja auch besonders hübsch, kein Wunder!“

Plötzlich ging Inigo ein Licht auf: deshalb mussten die Frauen fort, weil Tagon das Mädchen zu gern gehabt hatte und nicht weil es Verbrecherinnen waren. Er schmunzelte, da hatte er eine feine Geschichte für seine Freunde. Zu Attilius sagte er mit einer Verbeugung:

„Bestimmt wird Vater Fultum die Hochzeit seines Sohnes mit der Tochter der angesehenen Familie Volna besonders glanzvoll feiern wollen.“

Goia und ich suchten uns einen Platz an Deck zwischen den Stoffballen, und atmeten erst einmal auf. Wie gerne wäre ich in den Tempel gegangen, um vor dieser Reise ins Ungewisse zu Turan zu beten! Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel wurde hell. Ich fragte mich, ob meine Mutter auch mit dem Schiff davon gesegelt war. Traurig schaute ich zu Goia, die zusammengesunken und wie abwesend dasaß, und streichelte ihre schwielige Hand. Sie sagte nachdenklich:

„Vega ist damals spurlos verschwunden, dich kann ich wenigstens noch eine Weile begleiten.“

Da fielen wir uns weinend in die Arme, und konnten gar nicht mehr aufhören zu schluchzen.

Als das Schiff fertig beladen war, und aus dem Hafen herausgerudert wurde, standen wir an der Reling, um auf die heimatliche Küste zu schauen. Noch lange zeichnete sich der Tempel der Turan im ersten Sonnenlicht ab.

Dann schnürte ich das von Neirinna in Eile gepackte Bündel auf, und wir freuten uns über jedes Kleidungsstück, als sei es ein verloren geglaubter und wiedergefundener Freund. Goia stieß kleine Schreie aus, als sie ihre Spindel entdeckte, und mir kamen schon wieder die Tränen, weil in meinem Kleid eine Tonfigur der Göttin Uni eingewickelt war. Ich schloss sie fest in die Hand, drückte sie an meine Brust: der Schutz der Göttin, das war das Allerwichtigste. Würde sie mich auch an fremden Orten hören?

Neirinna hatte Fladenbrot, Käse und getrocknetes Fleisch eingepackt; wir merkten, wie hungrig wir waren. Während wir aßen, staunten wir über die Weite des glitzernden Meeres, die bläulichen Küsten, Berge und Inseln im Morgendunst.

Später halfen wir das Essen für die Mannschaft zu richten, der Kapitän schwänzelte breit lächelnd um mich herum. Als es wieder Nacht wurde, suchten wir unser Lager bei den Stoffballen auf. Das Schiff schaukelte uns auf und ab, und wir schauten in den Sternenhimmel. Der Wind frischte auf. Attilius strich in unserer Nähe herum, und sagte schließlich, während ich mich rasch aufsetzte:

„Drinnen bei mir ist es wärmer, mein Täubchen.“ Er beugte sich zu mir herunter, tätschelte mich vertraulich am Arm und gurrte:

„Ich habe schöne Trinkschalen aus Griechenland, vielleicht gefällt dir eine davon.“

„Lass mich los“, fuhr ich ihn an, und sprang auf.

Er wich gekränkt zurück: „Wer wird denn gleich…“

Sein Gesicht rötete sich. Aber er wollte sich die Geschäfte mit Familie Fultum nicht verderben lassen, schon gar nicht wegen so einer.

„Schon gut, schon gut“, murmelte er, „ich dachte nur, ihr wolltet es wärmer haben“, und ließ uns in Ruhe.

Einer der älteren Seeleute setzte sich zu uns und sagte: „Du bist doch Goia, oder?“

„Ja“, sagte sie überrascht, „woher kennst du mich?“

„Ich bin der Sergio, weißt du nicht mehr, wie wir als Kinder zusammen gespielt haben?“