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Lord Melburne war von seiner derzeitigen Mätresse zutiefst gelangweilt, sowie von Lady Romaynes Versuchen, ihn dazu zu verlocken, sie zu heiraten. Seine plötzliche Verstrickung in die Geschicke der schönen Clarinda jedoch war alles außer langweilig. Doch Clarinda brachte ihren Haß auf ihn deutlich zum Ausdruck, obwohl er nicht wußte, aus welchem Grund sie so fühlte. Sie wollte es ihm nicht sagen, nicht einmal als er sie vor dem sicheren Tod und den Machenschaften eines satanischen Clubs rettete. Erst als er sich Hals über Kopf in sie verliebte, sollte er die Wahrheit erfahren.
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Seitenzahl: 187
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2016
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Lord Melburne gähnte.
Dabei merkte er, daß er nicht müde war, sondern sich langweilte. Der Anblick der diskret verschleierten, rundlichen Putten auf dem Kaminsims, die rosafarbenen, mit seidenen Borten und Quasten verzierten Satinvorhänge und überhaupt der ganze, stark duftende und überheizte Raum ödete ihn an.
Sein Blick glitt über seinen Anzug aus feinstem blauen Stoff, der auf einem Stuhl lag, und seine weiße Musselinkrawatte, die achtlos auf die überfüllte Frisierkommode zwischen Fläschchen, Lotionen, Salben und Parfüms geworfen worden war. Der Gedanke, daß er aufstehen und diese Sachen anziehen sollte, ließ ihn nochmals gähnen.
„Du bist müde, mon cher“, sagte eine sanfte Stimme neben ihm.
Er sah zur Seite, in zwei dunkle Augen, die zu ihm aufschauten, und zwei rote, herausfordernd gespitzte Lippen und wußte, daß auch sie ihn langweilten.
Es war ein unglücklicher Augenblick für Seine Lordschaft, als er entdeckte, daß seine Mätresse ihn nicht mehr interessierte. Als sie so neben ihm lag, trug sie nur ein Rubin-Collier, für das er eine Unmenge Geld ausgegeben hatte, und rote Satinschuhe, die farblich zu den Steinen paßten.
Er konnte sich kaum noch vorstellen, daß er sie vor nicht mehr als einem Monat heiß umworben hatte. Dabei hatte es eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, daß die betreffende Dame - Mademoiselle Liane Defroy - gezögert hatte, sich zwischen dem Marquis of Crawley und Sir Henry Stainer zu entscheiden.
Vielleicht hatte der Marquis die höhere gesellschaftliche Stellung, aber Sir Henry Stainer war zweifellos der Reichere. Beide waren außerordentlich großzügig, beide gehörten dem Freundeskreis des Prince of Wales an und hielten sich oft in Carlton House auf.
Daß Lord Melburne diesen beiden Liane sozusagen vor den aristokratischen Nasen weggeschnappt hatte, hatte nicht nur ihn befriedigt, sondern auch den Prince of Wales zum Lachen gebracht - er erklärte ihn für unwiderstehlich, sobald es um die Liebe ginge.
Mit gerunzelter Stirn dachte Lord Melburne nun, daß es eben diese Unwiderstehlichkeit war, die das Leben so unglaublich langweilig machte. Der Kampf war immer zu kurz, der Sieg immer der Gleiche.
Er machte eine Bewegung, um aufzustehen, aber Lianes kleine Hände griffen nach ihm.
„Non, non!“ rief sie. „Steh nicht auf. Es ist noch früh, und wir haben uns noch so viel zu sagen.“
Ihre Lippen waren den seinen nah, und er spürte den Duft ihres Parfüms überdeutlich. Er hatte es schon vorher für zu süß gehalten, jetzt verstärkte es nur sein Gefühl des Abscheus.
Er schüttelte ihre Arme ab und erhob sich.
„Ich muß früh zu Bett gehen“, bemerkte er und griff nach seiner Krawatte. „Ich fahre morgen aufs Land.“
„Aufs Land?“ wiederholte Liane mit erhobener Stimme. „Aber warum? Warum läßt du mich allein? Das ist verrückt! London ist so lustig, es gibt so viel, um sich zu amüsieren. Warum willst du fort?“
Seine Lordschaft band sich die Krawatte mit der geübten Hand eines Mannes, der sich hervorragend ohne die Hilfe eines Dieners anzukleiden versteht.
„Ich muß einen alten Freund meines Vaters besuchen“, antwortete er. „Ich wollte schon letzte Woche reisen, aber du hast mich gegen mein besseres Wissen überredet, in London zu bleiben.“
„Das ist unmöglich!“ protestierte Liane und setzte sich auf.
Die Rubine an ihrem Hals funkelten im Kerzenlicht.
„Hast du die Gesellschaft morgen abend vergessen, zu der wir alle eingeladen sind, das ganze Corps de Ballet? Es wird sehr lustig und vergnügt und wird dir bestimmt gefallen.“
„Das bezweifle ich“, antwortete der Lord und zog seinen Mantel an.
Er blieb einen Augenblick stehen und sah auf sie hinab, auf ihr langes, pechschwarzes Haar, das ihr bis zur Taille reichte, das kleine, aparte Gesicht mit der Stupsnase und dem großen Mund, der ihm noch vor ein paar Wochen so einladend erschienen war. Sie war eine kluge Tänzerin, die ihre wenigen Talente geschickt auszunutzen wußte.
Aber nun fragte er sich, wie er jemals ihr Geplapper, ihre gekünstelten Handbewegungen und die kokette Art, mit der sie sich bemühte, geheimnisvoll zu wirken, ertragen hatte.
In Wirklichkeit gab es kein Geheimnis. Das hatte Lord Melburne erkannt.
Sie schaute zu ihm auf und stellte wieder einmal fest, wie gut er aussah.
Es war nicht nur sein Äußeres, dachte sie, wie so viele Frauen vor ihr, das so anziehend war; nicht nur das markante Kinn oder die grauen Augen, die so durchdringend blickten.
Nein, Liane begriff plötzlich, daß es die zynischen Linien waren, die von der Nase zum Mund liefen, der Schwung der Lippen, die selbst in glücklichen Momenten spöttisch zu lächeln schienen, und das Blinzeln seiner Augen, die diesen Eindruck Lügen straften, wenn man es am wenigsten erwartete.
Ja, er war unwiderstehlich! Mit einem Lächeln streckte sie ihm die Arme entgegen.
„Bleib nicht zu lange fort“, sagte sie leise. „Ich warte auf dich, Cheri. Das möchtest du doch, oder?“
„Ich bin nicht - sicher“, antwortete Lord Melburne langsam, und während er sprach, merkte er schon, daß er einen Fehler gemacht hatte.
Die Szene, die nun folgte, war laut, unerfreulich und doch nicht zu vermeiden. Er verließ Liane, die hysterisch in die Kissen schluchzte, und fragte sich, warum er nie in der Lage war, eine Affäre so ruhig zu beenden wie andere Männer seiner Bekanntschaft. Bei ihnen war es leicht - eine bloße Frage von Geld, vielleicht noch einen oder zwei Diamanten - aber nie ein böses Wort.
Bei ihm gab es immer Tränen, Proteste und das unvermeidliche „Was habe ich getan? - Warum bedeute ich dir nichts mehr? - Gibt es eine andere?“.
Er kannte diese Fragen nur zu gut.
Es war schön gewesen, eine Tänzerin zu haben, mit der man in den Park fahren konnte, sie mit einem eigenen Wagen und Dienern auszustatten und von ihr zu erwarten, daß sie treu blieb bis zum Ende der Liaison. Aber wenn dieses Ende bei anderen Männern freundschaftlich und unkompliziert war, so war es für Lord Melburne leider ganz anders.
Immer gab es Tränen und herzzerreißende Briefe, Bitten um Erklärung und Weigerungen, an sein Desinteresse zu glauben.
Als er aus dem Haus trat, wartete der diskrete, geschlossene Wagen auf ihn, den er für nächtliche Besuche dieser Art zu nehmen pflegte. Der Kutscher war überrascht, Seine Lordschaft so früh zu sehen und zog mit einem Ruck die Zügel an. Der junge Lakai sprang, nachdem er die Wagentür hinter Seiner Lordschaft geschlossen hatte, auf und flüsterte dem Kutscher dabei zu: „Ich wette, das ist zu Ende.“
„Das kann nicht sein“, antwortete der Kutscher. „Er war nicht länger als einen Monat mit ihr zusammen.“
„Trotzdem ist es vorbei“, sagte der Lakai voller Überzeugung. „Ich weiß, wie er aussieht, wenn er gesagt hat ,Schluß‘ - und es ist Schluß! Die vorletzte hatte er nach drei Monaten satt“, meinte er mit einem Seufzer. „Ich frage mich, was ihn immer so schnell langweilt.“
In der Kutsche stellte sich Seine Lordschaft dieselbe Frage. Warum fand er plötzlich - und meistens unerwartet - eine Frau nicht länger begehrenswert?
Es hatte ihm gefallen, Liane seinen Freunden vorzuführen. Er war mit ihr in Spielhallen, bei Mott’s und in Vauxhall Gardens gewesen. Ihm war es so vorgekommen, als verblaßte neben ihr jede andere Frau. Sie war fröhlich, amüsant, voller Lebensfreude und von einer Vitalität, die jeden ansteckte, der mit ihr sprach.
„Du bist ein verdammt glücklicher Kerl“, hatte Sir Henry Stainer gesagt, und der Neid in der Stimme seines Freundes war äußerst befriedigend gewesen.
Er fragte sich nun, ob Sir Henry die Verlassene aufnehmen würde. Aber wenn es nicht Stainer wäre, dann gäbe es ein Dutzend andere, die nur zu bereit wären, um die Gunst einer Französin zu werben, die eine ganze Reihe junger Männer aus der Gesellschaft gefesselt hatte.
Und trotzdem will ich sie nicht länger, dachte Lord Melburne.
„Zur Hölle mit ihr“, sagte er laut. „Zur Hölle mit allen Frauen!“
Er wußte, es war absurd, daß er sich an der Szene schuldig fühlte, die gerade stattgefunden hatte. Er wußte, es war Liane, nicht er, die sich nicht an die Regeln hielt.
Das Abkommen zwischen einem Gentleman und seiner Mätresse sollte ein reines Geschäft sein. Man genoß die Gesellschaft des anderen; es war die Aufgabe einer Frau, so faszinierend wie möglich zu sein und mit allen erdenklichen Mitteln die größtmögliche Summe für ihre Gunst zu erzielen. Aber es hatte keine Liebe oder verletzte Gefühle zu geben.
Und doch - wenn es um Buck Melburne ging, wurden alle Regeln vergessen. Schon als kleinen Jungen hatte man ihn Buck genannt. Selbst seine Verwandten konnten sich kaum an seinen richtigen Namen erinnern.
Es war ein Spitzname, den er bekommen hatte, als er zum ersten Mal in einem Satinanzug mit Kniehosen erschien und diesen bereits im Alter von sechs Jahren so trug, daß ein Freund seines Vaters ausrief: „Er sieht schon jetzt wie ein Geck aus!“
Der Name war hängengeblieben, und er war zweifellos äußerst passend. Der Prince of Wales kleidete sich wie er, mit einfachen, gut geschnittenen Anzügen und sorgfältig gebundenen Krawatten.
Und auch aus anderen Gründen war sein Name bekannt: Niemand im ganzen Land konnte einen Wagen so gut lenken wie er; er saß im Sattel wie kein zweiter; er schoß und boxte wie ein Professioneller.
Buck Melburne war der gefragteste, am meisten beneidete und unwiderstehlichste Mann in London.
Im Berkeley Square verließ er den Wagen und betrat die Halle seines Londoner Hauses. Er übergab Hut und Stock dem Butler.
„Ich werde morgen vormittag um halb zehn nach Melburne fahren, Smithson“, sagte er. „Bestelle meinen Reisewagen und sage Hawkins, er soll mit dem Gepäckwagen vorausfahren.“
„Sehr wohl, Mylord“, antwortete der Butler. „Hier ist eine Nachricht für Eure Lordschaft.“
„Eine Nachricht?“ Lord Melburne nahm den Umschlag von dem silbernen Tablett, das ihm der Butler reichte.
Schon bevor er ihn an sich nahm, wußte er, von wem er kam. Er blickte finster vor sich hin, als er sich zur Bibliothek begab, wo er sich gewöhnlich aufhielt, wenn er allein war.
Ein Lakai eilte herbei, um ihm die Tür zu öffnen, und er betrat den langen, von Bücherborden gesäumten Raum, der mit seinen Lapislazuli-Säulen und den geschnitzten, vergoldeten Simsen einer der schönsten Räume Londons war.
„Wein, Mylord?“ fragte der Diener.
„Ich bediene mich selbst“, antwortete Lord Melburne.
Nachdem sich die Tür hinter dem Diener geschlossen hatte, stand Lord Melburne einen Augenblick da und starrte auf den Umschlag in seiner Hand. Er wußte nur zu gut, von wem er war, und er fragte sich, ob dies die Lösung der Probleme wäre, über die er in der Kutsche nachgedacht hatte. Sollte er heiraten? Würde dieser Zustand sich als erfreulicher oder zumindest ruhiger erweisen als der jetzige?
Langsam, fast zögernd öffnete er den Brief. Lady Romayne Ramseys Handschrift war elegant und weiblich, und doch würde jeder, der etwas von diesen Dingen verstand, bemerkt haben, daß eine gewisse Entschlossenheit aus den feinen Schriftzügen sprach.
Die Nachricht war kurz.
„Mein lieber Cousin,
ich hatte erwartet, Dich heute abend zu sehen, aber ich wurde enttäuscht. Es gibt viele Dinge, über die ich mit Dir sprechen möchte. Komme morgen um fünf Uhr. Dann werden wir allein sein.
Deine Romayne.“
Obwohl die Nachricht nichts enthielt, was den Ärger Seiner Lordschaft erregen konnte, knüllte er das Blatt Papier zusammen und warf es in die Flammen des Kamins.
In diesem Moment wurde ihm klar, daß Romayne Ramsey ihn zu heiraten beabsichtigte. Sie hatte ihre entfernte Verwandtschaft zum Anlaß genommen, ihn in ihren engsten Freundeskreis einzubeziehen, lange bevor er selbst wußte, ob er dies wollte oder nicht.
Aber man konnte nicht klagen, denn Lady Romayne war seit Jahren die schönste und beeindruckendste Frau in Carlton House.
Schon als Kind war sie mit Alexander Ramsey, einem reichen Gutsherrn, verheiratet worden, der jedoch auf der Jagd verunglückte, so daß sie noch vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag Witwe wurde. Vor Ablauf der offiziellen Trauerzeit hatte sie in London ein Haus eingerichtet. Sie war hübsch, lebhaft, gescheit - und reich, und sie hatte Buck Melburne zu ihrem Ehemann auserwählt.
Er war zu erfahren, um dies nicht zu bemerken. Sie würde zweifellos mit dem Melburne-Schmuck bezaubernd aussehen und sein Haus mit ihrer Eleganz bereichern.
Er war nahe daran gewesen, ihrer Versuchung zu erliegen, der unausgesprochenen Einladung in ihren Augen, der Art, in der sie ihn nach einer Gesellschaft noch in ihr Haus einlud, in dem Kerzen in der offenen Tür ihres Schlafzimmers brannten.
Aber die Falle war zu offensichtlich. Er wollte nicht genau das tun, was man von ihm erwartete, nicht einem Plan erliegen, der bis ins kleinste Detail vorbereitet war und dessen unvermeidliches Ende er nur zu gut kannte.
„Verflucht, ich will selber jagen“, sagte er einmal, nachdem er Lady Romayne verlassen hatte.
Sie sprachen nicht darüber und doch wußten beide, daß sie sich wie Duellanten gegenüberstanden. Sie hatte den Angriff übernommen, er verteidigte nicht sein Leben, aber seine Freiheit.
Trotzdem schlief Lord Melburne gut und war überraschend guter Laune, als er sich am nächsten Morgen auf den Weg nach Melburne machte. Er freute sich, das Haus seiner Kindheit, das ihn stets von neuem entzückte, wiederzusehen.
Das große Haus war von seinem Vater fast völlig neu aufgebaut worden und stand neben älteren, kleineren Herrenhäusern, die ganze Generationen von Melburnes beherbergt hatten.
Melburne! Es war seltsam, daß der eigentliche Grund seines Kommens nun Sir Roderick Vernon war, sein nächster Nachbar und ein alter Freund seines Vaters.
Sir Roderick war ein wichtiger Bestandteil seiner Kindheit gewesen. Kaum ein Tag war vergangen, an dem nicht Sir Roderick mit seinem Sohn Nicholas nach Melburne kam oder Buck seinen Vater nach Priory begleitete. Die beiden alten Männer hatten zwar über ihre Ländereien und Grenzangelegenheiten gestritten, waren aber doch Freunde geblieben bis zum Tode seines Vaters.
Sir Roderick mußte nun fast zweiundsiebzig Jahre alt sein. Lord Melburne hatte gehört, daß Sir Roderick kränkelte und fragte sich, ob er vielleicht bereits im Sterben liege. Nun machte er sich Vorwürfe, daß er nicht schon früher gefahren war. Der Brief schien dringend zu sein, und doch war ihm Liane wichtiger erschienen.
Er versuchte, sich an den Brief zu erinnern. Er war von einer Frau geschrieben, Clarinda Vernon. Wer war sie?
Sir Roderick hatte keine Tochter, und als er das letzte Mal auf Priory gewesen war, hatte er dort nur den alten Mann angetroffen. Nicholas verließ London nur selten, um nach den Ländereien zu sehen, die er einmal erben sollte.
Er war eine Enttäuschung für seinen Vater gewesen. In London war er in schlechte Gesellschaft geraten. Lord Melburne sah ihn fast nie - und wenn, dann versuchte er, ihm aus dem Weg zu gehen.
Wie hatte sie in dem Brief geschrieben?
„Mein Onkel, Sir Roderick Vernon, ist krank und möchte Sie dringend sehen. Darf ich Sie um Ihren Besuch bitten, sobald er Ihnen genehm ist?
Ihre ergebene Clarinda Vernon“
Das sagte ihm nicht viel, außer, daß der alte Mann krank war.
Ich hätte schon letzte Woche fahren sollen, dachte Lord Melburne und trieb die Pferde an.
Ohne in Melburne zu halten, begab er sich nach Priory. Die Auffahrt bildete eine Allee mit sehr alten Eichen, deren Zweige einen grünen Tunnel formten.
Plötzlich bemerkte Lord Melburne, daß ihm jemand entgegenkam. Es handelte sich um eine Frau zu Pferde, die ausgezeichnet ritt und keinerlei Anstalten machte, ihm auszuweichen.
Zu seiner Überraschung zügelte sie sogar ihr Pferd und wartete auf ihn, ohne auch nur die Hand zu heben, in einer Art, die ihn irritierte. Nachdem er dem Impuls, einfach über den Rasen an ihr vorbeizufahren, nicht stattgegeben hatte, brachte er seinen Wagen ebenfalls zum Stehen.
Ohne Hast ritt sie nun auf ihn zu.
Auf den ersten Blick erstaunte ihn ihre Schönheit. Ihm fiel auf, daß sie ein altmodisches Kleid trug, das trotz seines verblichenen grünen Samtes das reine Weiß ihrer Haut hervorhob.
Lord Melburne dachte, daß er noch nie eine Frau mit solch weißer Haut gesehen hatte, doch nach einem Blick auf ihr Haar verstand er. Es war rot oder nein, es war golden - er war nicht sicher. Er hatte eine solche Farbe noch nie zuvor gesehen. Es war die Farbe reifen Korns, durchsetzt mit dem lebhaften Rot der Flammen eines Holzfeuers - es schien in der Sonne zu leuchten. Im Nacken war es zu einem schweren Knoten zusammengefaßt. Sie trug keinen Hut.
Sie ist reizend, unglaublich reizend, sagte sich Lord Melburne und zog seinen Hut.
Mit kalter Stimme und ohne zu lächeln, fragte sie: „Lord Melburne?“
„ Ja.“
„Ich bin Clarinda Vernon. Ich habe Ihnen geschrieben.“
„Ich habe Ihren Brief erhalten“, erwiderte Lord Melburne.
„Ich erwartete Sie schon letzte Woche.“
Ihre Worte klangen wie ein Vorwurf, und Lord Melburne fühlte, wie sich sein Körper spannte.
„Ich muß allein mit Ihnen sprechen.“
Überrascht sah er sie an. Dann fiel ihm der Diener ein, der hinter ihm auf dem Kutschbock stand.
„Jason“, sagte er, „geh nach vorne zu den Pferden.“
„Sehr wohl, Mylord.“
„Wollen wir hier reden, oder soll ich absteigen?“ fragte Lord Melburne.
„Was ich zu sagen habe, ist nicht für die Ohren eines Dieners bestimmt“, bemerkte Clarinda Vernon.
„Dann ist es wohl besser, ich komme herunter.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang Lord Melburne auf den Boden.
Clarinda folgte seinem Beispiel, und sie traten in den Schatten einer alten Eiche.
Sie war sehr klein, kleiner, als sie ausgesehen hatte, solange sie zu Pferd saß. Zwei Männerhände konnten ihre Taille leicht umfassen, und ihr Haar war wie Licht - ein Irrlicht, das die Männer ins Moor lockte.
Er lächelte über sich selbst.
Verflucht, ich werde romantisch, dachte er.
Er hatte wirklich nicht erwartet, eine solche Schönheit auf Priory vorzufinden.
„Ich muß mit Ihnen sprechen, bevor Sie meinen Onkel sehen. Er liegt im Sterben und ist nur noch von dem Gedanken beseelt, Sie zu sehen und Sie um etwas zu bitten“, sagte sie mit nervöser Stimme.
„Was wünscht er?“ fragte Lord Melburne.
„Mein Onkel hat seinen Sohn Nicholas enterbt. Er hinterläßt Priory und die Ländereien - mir. Und weil ihm sein Besitz so viel bedeutet und er nun im Sterben liegt, hat er nur noch einen Gedanken, von dem ihn niemand abbringen kann.“
„Und der ist?“
„Daß Sie - mich - heiraten.“
Ihre Wangen färbten sich rot, und ihre Stimme zitterte vor Nervosität. Lord Melburne war zu überrascht, um etwas zu antworten, und sofort fuhr Clarinda fort: „Alles, was ich von Ihnen verlange, ist, daß Sie ja sagen. Onkel Roderick stirbt vielleicht noch heute nacht. Sagen Sie ja. Das macht ihn glücklich, und für Sie - für Sie bedeutet es nichts.“
„Ich glaube nicht, daß das eine Sache ist, die man so leicht entscheiden kann“, bemerkte Lord Melburne, dem zum ersten Mal in seinem Leben die Worte fehlten.
Clarinda sah ihn mit haßerfüllten Augen an.
„Keine Angst, Mylord. Sie müssen Ihr Versprechen nach dem Tode meines Onkels nicht erfüllen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich Sie nie heiraten werde, und wären Sie der letzte Mann auf der Welt.“
Ihre Stimme war leidenschaftlich, und noch bevor Lord Melburne etwas erwidern konnte, rief sie ihr Pferd, bestieg es ohne Hilfe und galoppierte davon, als sei ihr der Teufel auf den Fersen.
Sir Rodericks müde, alte Stimme verstummte, und er schlief ein.
Der Arzt fühlte seinen Puls und meinte leise: „Er wird nun einige Stunden schlafen.“
„Ich komme später wieder“, sagte Lord Melburne.
Als er leise das Zimmer verließ, fand er sich zu seiner Überraschung einem Lakaien gegenüber, der am Schlüsselloch horchte. Beim Anblick Lord Melburnes richtete er sich auf, starrte ihn einen Moment unverschämt an, drehte sich dann um und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, den Korridor hinab.
Lord Melburne ging langsam zum Salon, wobei er bemerkte, daß sich das Haus in sehr schlechtem Zustand befand. Während Bilder und Möbel äußerst wertvoll waren, erschienen die Teppiche abgenutzt, die Vorhänge fadenscheinig, und viele der Stühle hatten eine neue Polsterung dringend nötig.
Clarinda saß an einem Schreibtisch vor dem Fenster. Bei seinem Eintritt sprang sie auf. Feindselig, aber auch fragend schaute sie ihn an.
„Ihr Onkel schläft“, sagte Lord Melburne.
„Haben Sie versprochen, worum er - gebeten hat?“
„Wir haben die Angelegenheit besprochen.“
Sie schien erleichtert zu sein, als hätte sie befürchtet, er könnte die Bitte ablehnen.
„Ich weiß nun, daß Sie nicht wirklich Sir Rodericks Nichte sind“, bemerkte er.
„Das stimmt. Mein Vater fiel schon vor meiner Geburt, und nachdem meine Mutter Sir Rodericks Bruder geheiratet hatte, adoptierte mich dieser. Ich hielt ihn für meinen Vater, und da er keine anderen Kinder hatte, vergaß er, glaube ich, oft, daß ich nicht wirklich seine Tochter war.“
Als sie so sprach, war ihre Stimme sanft geworden.
Doch plötzlich, als ärgere sie sich, daß Lord Melburne sie dazu gebracht hatte, so warm von ihrem Adoptivvater zu sprechen, sagte sie scharf: „Ich habe hier etwas für Eure Lordschaft.“
Dabei nahm sie ein Blatt Papier vom Schreibtisch, auf das sie geschrieben hatte:
„Ich, Clarinda Vernon, schwöre, daß ich unter keinen Umständen Lord Melburne dazu anhalten werde, Versprechungen, die er hinsichtlich Verlobung oder Ehe gegenüber meinem Onkel, Sir Roderick Vernon, gemacht hat, zu halten. Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte zeichne ich am Dienstag, 2. Mai 1802.“
Darunter folgte ihre Unterschrift und noch etwas tiefer, in unleserlichen Buchstaben, die Namen zweier Diener.
„Das ist sehr geschäftsmäßig“, meinte Lord Melburne. „Und nun sollte ich nach dem Grund fragen, warum Sie mich so verabscheuen.“
„Ich beabsichtige nicht, darüber zu sprechen, Mylord.“
Noch während sie dies sagte öffnete sich die Tür, und ein sehr junger, jedoch nach dem letzten Stand der Mode gekleideter Mann trat ein. Er durchquerte den Raum und küßte Clarinda die Hand.
„Ich bringe Ihnen ein paar Blumen“, sagte er und überreichte ihr den Strauß, den er in der Hand hielt.
„Orchideen“, rief Clarinda aus. „Oh, Julien, das hätten Sie nicht tun sollen.“
Dann, als erinnere sie sich ihrer Erziehung, wandte sie sich Lord Melburne zu.
„Darf ich Ihnen Mr. Julien Wilsdon vorstellen, Mylord. Julien, dies ist Lord Melburne, unser nächster Nachbar, wie Sie wohl wissen.“
Der junge Mann hatte Lord Melburne offensichtlich noch nicht gesehen, da er nur Augen für Clarinda hatte. Nun starrte er ihn ungläubig an.
„Was tut dieser Mann hier? Haben Sie nicht immer gesagt, Sie würden ihn nie in diesem Hause dulden? Hat er Sie verärgert?“
„Nein, nein“, erwiderte sie schnell. „Er ist auf Onkel Rodericks Wunsch hier. Ich werde Ihnen später alles erklären. Bitte, gehen Sie jetzt und kommen Sie heute nachmittag wieder.“
„Hätten Sie die Freundlichkeit, mir zu erklären, um was es hier geht? Es scheint doch auch mich zu betreffen. Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß über eine Verlobung zwischen Miss Vernon und mir verhandelt wird.“