Allein gegen Goliath - Caroline Bono-Hörler - E-Book

Allein gegen Goliath E-Book

Caroline Bono-Hörler

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Beschreibung

Dr. iur. Caroline Bono-Hörler war eine stolze Mutter und erfolgreiche Juristin. Sie war kerngesund, sehr sportlich und wusste, was sie wollte. Doch dann machte ein einziger Augenblick alles zunichte. Ihr Auto stand vor einer Ampel, als es von hinten gerammt wurde. Ihre Verletzungen waren derart gravierend, dass die folgenden Jahre für sie zum Albtraum wurden. Gänzlich arbeitsunfähig, verlor sie ihre Stelle, ihr ganzes Einkommen und - das absolut Schmerzvollste - musste zwei ihrer vier Kinder weggeben. Die Juristin, die rundumversichert war, als das Schicksal zuschlug, hat bis heute weder von einer Versicherung noch von der staatlichen Invalidenversicherung die ihr zustehenden Leistungen erhalten. Sie wurde von Sozialhilfe abhängig und verlor zwei Prozesse, die sie in ihrem Kampf um Gerechtigkeit focht. Und sie verlor ihren Glauben an unseren Rechtsstaat, und zwar gründlich. In ihrem Buch "Allein gegen Goliath" erzählt sie aufwühlend, schonungslos und fesselnd über ihre dramatischen Erlebnisse. Aber auch darüber, wie es ihr gelang, aus der Spirale der Negativität auszubrechen, den Schmerz zu ertragen und das Glück wieder zu finden. Ein ganz neues Glück diesmal. Ein Glück, das weder auf Geld noch auf Wohlstand gründet, sondern auf der Gewissheit, dass Zufriedenheit sich aus dem Fokus aufs Positive ergibt und daraus, (sich) nicht aufzugeben.

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Allein gegen Goliath

Caroline Bono-Hörler

Allein gegen

Goliath

Wie mein rundumversichertesLeben zum Albtraum wurde

Bearbeitet von Marc Zollinger

Dieses Buch gründet auf Caroline Bono-Hörlers Tagebuchnotizen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte von natürlichen und juristischen Personen wurde ein großer Teil der Namen und Ortsangaben geändert. Alle im Buch verwendeten Zitate sind so übernommen, wie sie aufgezeichnet wurden, samt ihren Fehlern in Grammatik und Orthografie.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen desauszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2010 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Juristisches Lektorat: Dr. Georg Gremmelspacher, Rechtsanwalt, BaselLektorat: Jürg Fischer, Zürich; Andrea Leuthold, ZürichKorrektorat: Andrea Leuthold, ZürichUmschlaggestaltung: Thomas Jarzina, HolzkirchenFoto Buchcover: Marcel Studer, ZürichLayout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung, AarauDruck und Bindung: CPI books, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-013-6E-Book ISBN 978-3-03763-506-3

www.woerterseh.ch

Dieses Buch widme ich meinen wundervollen Kindern.Ich liebe Euch über alles.

Whatever the question, love is the answer.

Inhalt

Vorwort

Der Tag, der mein Leben veränderte

Auf der Notfallstation

Die erste Nacht

Der erste Tag

Der zweite Tag

Der dritte Tag

Der vierte Tag

Der sechste Tag

Im Krankenhaus

In der Rehabilitationsklinik

Wieder zu Hause

Ein Jahr danach

Zwei Jahre danach

Drei Jahre danach

Vier Jahre danach

Fünf Jahre danach

Sechs Jahre danach

Sieben Jahre danach

Jetzt

Nachwort

Besonderer Dank

Vorwort

Was sind die Ursachen für die Misere, in die Verletzte nach Kopf- und Halstraumen geraten, und wer ist mitschuldig am traurigen Schicksal dieser Verletzten? Ist es nur das Versicherungswesen? Ist es nur die Justiz? Meine Antwort lautet: Es ist auch die Medizin und dort der wissenschaftliche Forschungsstand auf dem Gebiet des Kopfgelenkes, und es sind wir Ärzte, insbesondere die, welche den oder die Unfallverletzte primär behandeln.

Distorsionsverletzungen der Halswirbelsäule (HWS) und Schädeltraumen sind inflationsartig angestiegen. Paradoxerweise spielt die Sicherheit im Fahrgastraum moderner Pkws eine Rolle. Wo früher tödliche Verletzungen resultierten, werden Aufpralle heutzutage durch Knautschzonen aufgefangen. Die Verletzungshäufigkeit an der HWS aber ist dadurch in die Höhe geschnellt. Der Fahrer, angeschnallt auf seinem Sitz, wird großen impulsartigen Beschleunigungen ausgesetzt, die am Rumpf beginnen und sekundär über die HWS auf den Kopf übertragen werden. Es kommt zu starken Relativbewegungen zwischen Rumpf und Kopf, die von der Muskulatur des Halses kaum gebremst werden können und zu einer Distorsion der HWS führen. Dabei kommt in vielen Fällen auch noch ein stumpfes Schädeltrauma hinzu.

Der wissenschaftliche Stand, insbesondere bei der Beurteilung der möglichen Folgen eines HWS-Schleudertraumas, ist absolut unbefriedigend. Für diese Problematik gibt es zurzeit mehr als 10000 wissenschaftliche Publikationen, die zum Teil kontrovers diskutiert werden. Das betrifft besonders das Atlantooccipital-Gelenk – also die Verbindung zwischen Körper und Kopf des Menschen. Die große Frage ist: Welche Schäden sind bei der Verletzung dieses Kopfgelenkes im Bereich des zentralen Nervensystems überhaupt möglich und wie sind sie wissenschaftlich begründbar? Dass bei schwersten Verletzungen der HWS der Tod oder eine komplette Querschnittslähmung mit schlimmsten Folgen für den Verletzten, wobei der Rollstuhl noch das geringere Übel ist, auftreten, wird nicht diskutiert. Und für die Folgen von mittelschweren oder leichteren Verletzungen der HWS gibt es extrem unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen.

Man hat versucht, HWS-Verletzungen, bei denen keine Frakturen oder massivere Verletzungen des Halsmarkes vorliegen, zu klassifizieren. Die Klassifizierungen sind allesamt umstritten. Das Gleiche gilt für biomechanische Gutachten. Bei Kollisionen spielen außer der Geschwindigkeit des Aufpralles und der damit verbundenen mechanischen Veränderung an den Kraftfahrzeugen viele andere Faktoren eine Rolle, Faktoren wie Überraschungseffekt, Muskeltonus im Halsbereich, Kopfstellung, allgemeine Muskelkonstitution, Alter und so weiter. Doch man hätte ein Instrument in der Hand: Die modernen Untersuchungstechniken, zum Beispiel das Audio-EEG und die Video-Elektronystagmografie, erlauben nicht nur die Objektivierung von Schäden, sondern auch ihre Lokalisation, und dies unabhängig von der Kooperation des Patienten – die Ergebnisse werden computertechnisch aufgezeichnet und nachvollziehbar dokumentiert.

Eine solch moderne radiologische Technik zur Abklärung struktureller Schäden ist eminent wichtig, aber – man kann funktionelle Schäden nach solchen Verletzungen, dazu gehören Hör- und Gleichgewichtsschäden und die Schmerzsymptomatik, auch damit nicht erfassen. Eine solide ärztliche Untersuchung ist daher unumgänglich. Diese, wie auch die entsprechende Therapie, wird von vielen Ärzten, die diese Verletzungen behandeln, aber leider nicht beherrscht.

Das ablehnende Urteil des Bundesgerichts im Fall von Frau Dr. Bono stützt sich weitgehend auf die Aufzeichnungen des oder der Ärzte, die sie kurz nach dem Unfall im Krankenhaus ambulant untersucht und behandelt haben. Wenn man diese sogenannten ersten Befunderhebungen liest, ergibt sich unweigerlich die Schlussfolgerung, dass die Mitschuldigen an dem medizinischjuristischen und versicherungsrechtlichen Leidensweg von Frau Dr. Bono der oder die erstbehandelnden Ärzte sind. Denn wären alle vorgebrachten Beschwerden von Frau Dr. Bono klar dokumentiert worden und wären entsprechende Untersuchungen und eventuell auch Behandlungen durchgeführt worden, hätte der Patientin ein langer Leidensweg erspart werden können.

Als Hals-Nasen-Ohren-Konsiliarius war ich über 25 Jahre an einer der größten Unfallkliniken Norddeutschlands tätig. Ich weiß, dass der erstbehandelnde Arzt nach offiziellem Dienstschluss oft ein unerfahrener Assistenzarzt ist, der Hemmungen hat, den übergeordneten Oberarzt zur Beratung hinzuzuziehen. Nach meiner Erfahrung würde aber ein kurzfristiger stationärer Aufenthalt des Patienten zur Beobachtung und zum Zwecke der Hinzuziehung weiterer Spezialisten enorm helfen. Dies hätte auch bei Caroline Bono helfen können.

Fazit: Bei Gericht ist man bekanntlich wie auf hoher See – nämlich in Gottes Hand –, aber die Justiz und auch die Versicherungen sind auf gut dokumentierte, wissenschaftlich begründete medizinische Befunde und Gutachten angewiesen. Im Fall Bono ist ein sträfliches diagnostisches und therapeutisches Fehlverhalten der erstbehandelnden Ärzte vorhanden. Denn werden zusätzliche Verletzungen zur HWS-Distorsion erst später erkannt, ist es für die Versicherten enorm schwierig, vor dem hohen Gericht noch zu ihrem Recht zu kommen. Aus medizinischer Sicht müssten die bei Frau Dr. Bono erst später erkannten weiteren organischen Verletzungen der HWS und des Hirns gleichwohl von den Gerichten und den Versicherungen anerkannt werden. Immerhin ist die Verschiebung des Dens axis auf dem ersten Röntgenbild nach dem Unfall sichtbar, die Hirnschädigungen, die Verletzung des Hirnstammes und des Rückenmarks sind heute noch nachweisbar.

Die Tagebuchaufzeichnungen von Frau Dr. Bono sind ein erschütterndes Dokument des Versagens der Medizin, der Justiz und des Versicherungswesens. Was diese tapfere Frau durchgestanden hat, wird jeden Leser tief beeindrucken. Mit ihrem Kampf ist sie ein Vorbild und ein Trost für alle, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben.

Prof. Dr. med. Hans Lamm,Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Gutachter für Berufsgenossenschaften, Unfallversicherer und Gerichte in Hannover

Der Tag, der mein Leben veränderte

Es ist Dienstag, der 19. November 2002. Ich befinde mich auf dem Weg nach Zürich in die Kanzlei von Hammer Kaltenbach Rechtsanwälte, wo ich als juristische Mitarbeiterin und Mediatorin angestellt bin. Ich habe dort ein Mediationsteam von Wirtschaftsanwälten aufgebaut, leite dieses und freue mich jetzt auf das Wochenende, denn ich habe mit meinen Kindern für den Samstagvormittag einen Einkaufsbummel in Deutschland und für den Nachmittag einen Besuch im Circus Conelli geplant. Am Sonntag wollen wir mit meinen Eltern in die Gueteregg wandern. Ich bin alleinerziehende Mutter von vier Kindern und werde durch das Au-pair Katrina unterstützt. Oliver ist fünfzehn, Larissa zwölf, Laura zehn Jahre alt. Rahel hat gerade ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Von meinem Mann Leonardo bin ich seit zwei Jahren getrennt, aber noch nicht geschieden.

Auf der Autofahrt zum Büro nehme ich ein ungutes Gefühl in der Bauchgegend wahr. Ich verspüre einen starken Drang, umzukehren und nach Hause zu fahren. Was soll das? Ich habe mir für heute so viel vorgenommen, und ich werde im Büro erwartet!

Erst am Tag zuvor habe ich das volle Arbeitspensum in der Kanzlei wieder aufgenommen, weil ich mich nach der schriftlichen Anwaltsprüfung im September zunächst noch meinem Lehrauftrag an der Universität St. Gallen widmen musste. Ich bin dort Dozentin, unterrichte Wirtschaftsmediation und habe ein neues Modul gestaltet, das im kommenden Dezember zum ersten Mal unterrichtet wird. Die Arbeit hat sich gelohnt, diesen Lehrgang werde ich noch viele Jahre unterrichten können. Darüber hinaus ist er ausbaufähig.

In der Kanzlei hat sich sehr viel angestaut. Ich werde voll arbeiten müssen, um bis Ende Januar 2003, wenn meine letzte Lernphase für die mündliche Anwaltsprüfung beginnt, mit der Arbeit durchzukommen. Vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass ich die schriftliche Prüfung bestanden habe.

Die Arbeit in der Kanzlei gefällt mir, wir sind wie eine kleine Familie – das mag vielleicht abgedroschen klingen, doch genauso empfinde ich es. Für meine Arbeit habe ich ausnahmslos Lob und Anerkennung erhalten. Ich gehe jeden Tag mit Freude an die Arbeit. Wer kann das schon von sich behaupten? Nicht zuletzt arbeite ich auch sehr gerne mit Alfred Risi zusammen, einem der Kanzleipartner. Wir sind ein Paar. Alfred ist ein genialer Jurist. Er ist reich an Ideen, und die Argumente, die er wählt, um einen Fall zu gewinnen, begeistern mich immer wieder aufs Neue.

Die Weihnachtstage werde ich mit meinem Sohn in New York verbringen. Gleichzeitig wird es auch eine geschäftliche Reise sein, weil ich gemeinsam mit den amerikanischen Trainern Gary Friedman und Jack Himmelstein zusätzlich zur Grundausbildung ein neues Weiterbildungskonzept für von uns ausgebildete Mediatoren entwickle. Mit den beiden Einkommen aus der Anwalts- und der Lehrtätigkeit werde ich endlich am Ziel angelangt sein. Es wird meinen Kindern an nichts mangeln.

Heute muss ich die Konvention für ein Ehepaar mit sehr komplexer güterrechtlicher Auseinandersetzung fertigstellen, es geht um nicht weniger als 35 Liegenschaften. In der ersten Sitzung hatten die beiden noch den Eindruck gemacht, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. In der zweiten Sitzung gifteten sie sich an, und in der dritten beschimpften sie sich aufs Heftigste. Es war eine harte Arbeit. Ich hätte damals nicht gedacht, dass die beiden sich einigen können. Doch jetzt kooperieren sie; alle Punkte sind ausgehandelt, und sie können anständig auseinandergehen. Es bleibt nur noch, alles in eine klare, juristisch durchdachte Vereinbarung zu packen. Ein so strittiges Scheidungsverfahren hätte sich, wäre es vor Gericht gekommen, über viele Jahre hingezogen.

Ich liebe meinen Beruf. Es macht einfach Sinn, die Vergangenheit aufzuräumen und möglichst schnell gute, einvernehmliche Lösungen zu finden, die allen Beteiligten besser dienen, als wenn der Richter einen Entscheid fällen muss, der nur eine Partei zufriedenstellt – oftmals nicht einmal das.

Gegen Abend ruft mich meine Freundin Virginia an und möchte mich auf einen Kaffee treffen, um mir die Tickets für ihr nächstes Konzert zu übergeben. Virginia ist Opernsängerin. Wir verabreden uns in der Nähe der Kanzlei. Ich bin sehr zufrieden mit der heute und gestern erledigten Arbeit. Wenn ich so weitermache, komme ich bis zur nächsten Lernphase bestens durch. Obwohl ich noch eine Stunde arbeiten wollte, verlasse ich das Büro mit einem guten Gefühl. Ein Schwatz mit Virginia ist jetzt genau das Richtige. Sie hat immer Spannendes zu erzählen.

Nachdem ich mich von Virginia verabschiedet habe, begebe ich mich zu meinem Auto. Es steht auf den Parkplätzen von Hammer Kaltenbach. Der Seniorpartner unserer Kanzlei überlässt mir oft seinen Parkplatz, wenn er nicht im Hause ist. Wenn ich keinen Parkplatz habe, fahre ich mit dem Zug zur Arbeit.

Ich biege auf den Bürkliplatz ein, mein Auto steht zuhinterst in der Kolonne bei der Ampel vor der Quaibrücke Richtung Bellevue auf der linken Spur. Es ist zwischen sechs und sieben Uhr abends. Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich hänge meinen Gedanken nach und lasse das Gespräch mit Virginia Revue passieren, während ich auf die Weiterfahrt warte. Wie gewöhnlich in solchen Situationen liegt mein Kopf auf der rechten Handfläche. Den rechten Ellbogen habe ich auf die Armlehne des Autositzes gestellt. Der Oberkörper lehnt nach vorne, der Blick ist nach vorne gerichtet, zum Rotlicht. Ich bin in Gedanken versunken, als es auf einmal einen lauten Knall gibt.

Das Geräusch habe ich noch heute in den Ohren, wie wenn es gestern geschehen wäre: das ohrenbetäubende Geräusch von Metall, das zerquetscht wird. Ich wurde nicht gewarnt. Vor dem Knall gab es keine Bremsgeräusche.

Danach ist alles um mich dunkel.

Wie viel Zeit vergeht, bis ich wieder bei Bewusstsein bin, weiß ich nicht. Wann und wie ich aus dem Auto gestiegen bin, weiß ich nicht. Wie ich mich hinter mein Auto begeben habe, weiß ich nicht. Meine Erinnerung setzt dort wieder ein, als ich neben einer Frau stehe und sehe, dass ein Fahrzeug ins Heck meines Wagens gedrückt ist.

In diesem Moment habe ich keine Ahnung davon, dass mein bisheriges Leben soeben beendet wurde. Es wird nie mehr so sein wie vorher.

In meinem Leben davor war ich eine »Powerfrau«. Eine, die all das erreichte, was sie sich wünschte. Und noch mehr. Als kleines Mädchen träumte ich davon, Kinder zu haben und eine gute Mutter und Ehefrau zu sein. Nun bin ich glückliche Mutter von vier Kindern. In meinem Leben davor habe ich mein Studium der Rechtswissenschaften mit Auszeichnung abgeschlossen, schrieb eine Dissertation, hatte eine gute Stelle bei einer renommierten Zürcher Anwaltskanzlei, war eine Pionierin der Mediation in der Schweiz und unterrichtete Wirtschaftsmediation. In meinem Leben davor scheiterte nur eines, dies dafür gründlich. Die Ehe zwischen mir und Leonardo, dem Vater meiner vier Kinder. Und damit scheiterte einer meiner größten Wünsche. Der nach einer harmonischen Elternschaft. Für eine Trennung gibt es immer tausend Gründe. Bei Leonardo und mir mag einer der entscheidenden der gewesen sein, dass ich erreicht habe, was ich mir vorgenommen hatte, und von Erfolg zu Erfolg flog, während er nicht so diszipliniert war. In meinem Leben davor hätte ich nie geglaubt, dass ich einst das Opfer eines »Krimis« werden würde. In meinem Leben davor glaubte ich noch an die Rechtschaffenheit der Schweizer Versicherungskonzerne, und ich glaubte daran, in einem Land zu leben, in dem alles mit rechten Dingen zugeht. In meinem Leben davor war ich ziemlich naiv.

Bereits staut sich eine lange Kolonne hinter uns, mehrere Autofahrer hupen verärgert, was mir unerträgliche Schmerzen in den Ohren bereitet. Die rechte Spur ist befahrbar, die Autos auf unserer Spur müssen dorthin ausweichen. Während die Frau auf mich einredet, nehme ich den Geruch von Alkohol in ihrem Atem wahr. Sie hat eine »Fahne«. Diese Folgerung kann ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht ziehen, da ich völlig verwirrt bin. Trotzdem registriert mein Gedächtnis den Geruch. Mich selber nehme ich außerhalb meines Körpers wahr. Es ist, als würde ich neben meinem Körper stehen und der Szene von außen zusehen.

Ich schaue mich um. Mein Auto wurde gerammt. Von hinten betrachtet, steht das Auto der Frau etwas nach rechts verschoben da, sodass es mit seiner linken Vorderseite bis etwa zur Mitte der Rückseite von meinem reicht. Es steht außerdem schräg zu meinem. Weil ihr eingedrücktes Auto an der rechten Hinterseite meines Wagens klebt, ist gar nicht ersichtlich, ob mein Auto einen Schaden hat. Die Frau fährt ihres deshalb einige Meter zurück. Nun sehe ich, dass mein Auto kaum beschädigt ist. Und ich bin erleichtert, dass mir selbst nichts passiert ist, wie ich damals zu Unrecht annehme. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe: Ihr Auto sieht schlimm aus, meines nicht. Die Motorhaube ihres Wagens ist auf der linken Seite nach oben und hinten gedrückt, steht seitlich auf, liegt nicht mehr auf dem Rahmen auf und ist wie eine Handorgel zusammengedrückt. Die Front ist vorne links bis etwa in die Mitte stark zerbeult, ebenfalls ist das Scheinwerferglas zerschlagen.

Hinter uns hupen immer mehr verärgerte Autofahrer, was für mich unerträglich ist. Mein ganzer Kopf dröhnt, pocht und hämmert. Jedes Geräusch ertönt tausendmal lauter und gelangt ungefiltert in meine Ohren. Ich habe nur einen Wunsch und einen Gedanken: Weg von diesem unerträglichen Lärm, und zwar sofort! Mein Kopf droht zu zerbersten.

Nun brüllt die Unfallverursacherin, den unerträglichen Lärm übertönend und mit den Armen gestikulierend: »Wir müssen sofort wegfahren, wir blockieren den ganzen Verkehr! Wir müssen weg!«

An Hals und Nacken nehme ich ein leichtes Brennen wahr – dort, wo sich der Kopf mit der Wirbelsäule verbindet. Ich berühre diese Stelle mit der Hand, worauf mich die Frau fragt: »Warum halten Sie sich den Nacken? Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen dort?«

»Ich weiß nicht, was ist«, antworte ich und füge an: »Ja. Etwas stimmt nicht.«

Ich schaue der Frau in die Augen, die Hand immer noch am Nacken. »Hier schmerzt es«, sage ich. Es ist kein starker Schmerz, eher ein leichtes Brennen, nicht beunruhigend. Gleichzeitig ist da ein Gefühl, als wäre der Kopf nicht mehr mit dem Körper verbunden. Es fühlt sich an, wie wenn man den Fuß verstaucht hat, aber den damit verbundenen Schmerz im ersten Moment noch nicht richtig spürt. Doch wird auch dieser Vergleich meiner Wahrnehmung nicht ganz gerecht. Es ist schwierig, etwas zu beschreiben, was man zuvor noch nie erlebt hat. Der Schmerz ist jedenfalls tief auf der Schmerzskala, es ist eher die Wahrnehmung, dass etwas anders ist. Es ist, wie wenn man sich geschnitten hat. Man spürt den Schmerz noch nicht richtig, aber man spürt den Schnitt durch die Gewebeschichten. In meinem Fall ist es, als existiere der Nacken nicht mehr, als sei die Verbindung zwischen Körper und Kopf unterbrochen.

Die Lenkerin drückt mir eine Visitenkarte in die Hand und sagt: »Wir müssen hier weg! Es stauen sich schon so viele Autos! Mein Auto ist bei der AVG versichert. Mein Mann arbeitet bei dieser Versicherung und wird das regeln. Sie können mir vertrauen, es ist klar, dass ich schuld bin!«

Aus der hintersten Ecke meines Gedächtnisses meldet sich eine warnende Stimme, die wie durch mehrere Schichten Watte durchzudringen versucht: Du musst etwas machen, ein Unfall ist passiert. Du musst etwas unternehmen. Tu etwas!

Bloß, was?

Ich erhalte keine Antwort. Ich kann nicht logisch denken. Ich nehme mich außerhalb von mir wahr, zugleich dröhnt mein Kopf, es rauscht und pfeift. Und die Geräusche, die von der Umgebung in meine Ohren dringen, sind nach wie vor unerträglich laut. Das alles lässt keinen klaren Gedanken zu.

Doch dann dringt doch etwas durch: Du musst dir den Ausweis zeigen lassen und aufschreiben, wer die Unfallverursacherin ist. Ich lasse mir von der Lenkerin also einen Ausweis zeigen und schreibe die erstbeste Nummer, die ich entdecke, auf die Visitenkarte. Die Nummer lautet U726.8335.U20.

Mein Gehirn ist überfordert. Ich kann mich auf nichts konzentrieren. Ich will nur weg von diesem unerträglichen Lärm. Die Lenkerin sagt noch zu mir: »Ich mache mir Sorgen wegen Ihres Nackens. Rufen Sie mich doch morgen an. Die Büronummer steht auf der Visitenkarte.«

Ohne auf ihre Bemerkung zu reagieren, setze ich mich ins Auto, schließe die Fahrzeugtür und fahre los, endlich weg von hier.

Ich fahre vom Bürkliplatz zum Bellevue und dann weiter die Bellerivestraße entlang. Ich registriere meine Umgebung nicht richtig, es fällt mir schwer, mich auf den Verkehr zu konzentrieren.

Mir ist schlecht. Ich verspüre Brechreiz. Also biege ich in den Parkplatz vor der Badeanstalt Tiefenbrunnen beim Zürichhorn ein, um anzuhalten. Seit dem Unfall müssen etwa zwanzig bis dreißig Minuten vergangen sein. Ich spüre nun auch zunehmende brennende Schmerzen im Nacken, vorerst nur auf der rechten Seite. Mittlerweile ist alle Kraft aus meinem Körper gewichen. Ich bin müde wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich lasse die Rückenlehne etwas herunter und versuche mich ein wenig auszuruhen. Stattdessen wird es mir immer schlechter. Ich steige aus, gehe etwas umher und nehme dabei wahr, dass mir die Umgebung entgegenschwankt. Ich verstehe nicht, was mit mir los ist. Ich bin völlig verwirrt. Eine Stimme sagt mir: So schnell wie möglich nach Hause fahren! An die darauf folgende Fahrt habe ich keine Erinnerung.

Zu Hause angekommen, habe ich Schmerzen im Nacken und Hinterkopf, welche sich bis vorne zu den Wangen ziehen. Ebenfalls habe ich ziehende Schmerzen im Schultergürtel rechts und auch zwischen den Schulterblättern.

Mir ist speiübel, ich kann mich kaum auf den Beinen halten, meine Arme nicht anheben, fühle mich wie gerädert, lege mich aufs Bett.

Mit den Eindrücken um mich herum bin ich überfordert. Die Bilder überlagern sich. Das Licht ist zu hell, die Geräusche, die aus der oberen Etage von meinen Kindern kommen, sind zu laut. Sobald ich meinen Oberkörper anhebe, schwanken mir die Zimmerwände entgegen, sodass ich mehrere Versuche unternehmen muss, um aufzustehen. Ich will wegen des Brechreizes ins Badezimmer. Doch ich schaffe es nicht. Ich spüre ein starkes Kribbeln wie Ameisenlaufen oder leichte Nadelstiche in der rechten Hand, vor allem in den äußeren Fingern. Später erfahre ich, dass man dies Kribbelparästhesien nennt.

Ich versuche nochmals aufzustehen, wobei ich mich an den Möbeln und Wänden festhalten muss, weil mir die Wände immer noch entgegenkommen und die Umgebung und der Boden schwanken. Endlich schaffe ich es bis zur Toilette. Mir ist sterbenselend. Es würgt mich, aber ich erbreche mich nicht. Als ich meinen Kopf über die Schüssel neige, schießen leuchtende hellblaue Blitze in mein Blickfeld. Ich taste mich an der Wand entlang zurück ins Schlafzimmer und lege mich ins Bett.

Einige Zeit später betreten Larissa, Laura und Rahel mein Zimmer. Sie reden auf mich ein, was mir unerträgliche Ohren- und Kopfschmerzen bereitet. Ich bin völlig verwirrt. Die Kinder sprechen mit mir, ich registriere aber nicht, was sie sagen. Ich versuche sie zu verstehen, erkenne aber keinen Sinn in ihren Worten.

Auf der Notfallstation

Meine Kinder bitten mich mehrmals, in die Notfaufnahme des Krankenhauses zu gehen. Irgendwann gebe ich nach. Das Kribbeln in der rechten Hand, das taube Gefühl im rechten Arm und die Kraftlosigkeit in beiden Armen beunruhigen mich.

Larissa und Laura begleiten mich; das Kreisspital Männedorf liegt nur drei Minuten von unserem Zuhause entfernt. An die Fahrt ins Krankenhaus erinnere ich mich nicht. Katrina, unser Au-pair, hat uns dorthin gefahren. Meine Erinnerungen setzen erst ab dem Zeitpunkt wieder ein, als wir in der Notfallstation des Krankenhauses eintreffen und die Kinder mich links und rechts stützend zu einer Liege führen.

Ich liege im letzten Untersuchungszimmer der Station. Ich muss dort zwischen 19.30 und 20.30 Uhr eingetroffen sein. Die Schmerzen im Nacken haben zugenommen, sind aber immer noch erträglich. Viel stärker sind die Kopfschmerzen, die von der Stelle unten am Hinterkopf, an welcher der Nacken in den Schädel übergeht, über den Hinterkopf hinauf bis zum Scheitel und von dort bis zu den Wangenknochen ausstrahlen. Ebenfalls spüre ich ein Ziehen zwischen den Schulterblättern. Es ist ein stetig zunehmender Schmerz.

Meine Töchter sprechen miteinander, und ich muss sie auffordern, leiser zu sprechen, weil ich die Geräusche nicht aushalte. Doch auch das Flüstern ist unerträglich. Ich bitte sie darum, einfach still zu sein, sich auch nicht zu bewegen. Ich ertrage nicht einmal das Rascheln ihrer Kleidung. Die Schwester kommt ab und zu, misst Puls und Blutdruck. Die Geräusche, die sie dabei macht, dröhnen im Kopf wie Messerstiche. Ich bin auch sehr lichtempfindlich, weshalb die Schwester das Licht löscht und nur eine kleine Lampe brennen lässt, deren Strahl von mir weggerichtet ist.

Es dauert sehr lange, bis ein Arzt kommt. Im Liegen kann ich mich etwas erholen, und die Übelkeit verschwindet. Der Assistenzarzt lässt sich kurz ins Bild setzen, was geschehen ist, und veranlasst, die Halswirbelsäule zu röntgen. Wegen des Schwindels stützt mich eine Schwester und begleitet mich ins nächste Zimmer, wo die Aufnahmen gemacht werden, und wieder zurück. Ich bin froh, dass ich mich wieder hinlegen kann. Der Arzt kommt zurück, schaut sich die Röntgenbilder an und stellt Fragen. Unter anderem will er wissen, ob ich auf den Unfall gefasst war und ob ich nach vorne geschaut hätte. Ich verneine die erste Frage, bejahe die zweite und frage mich, warum er mir solche Fragen stellt. Ich möchte lieber wieder in Ruhe gelassen werden.

Im Liegen spüre ich keine Übelkeit mehr, die Wände bewegen sich nicht mehr, und auch das Kribbeln in der rechten Hand hat nachgelassen, was ich dem Arzt mitteile. In seinem Bericht wird er festhalten, dass jetzt keine Kribbelparästhesien mehr vorhanden seien. Das Thema Kribbelparästhesien wird später wichtig werden, weil sie das Symptom einer Nervenquetschung an der Halswirbelsäule sein können.

Jetzt muss ich mich aufsetzen und den Kopf auf beide Seiten drehen sowie ihn nach vorne und nach hinten neigen. Diese Bewegungen sind sowohl für den Nacken als auch für den Kopf sehr schmerzhaft, aber ich führe sie aus, wie es mir der Arzt aufgetragen hat. Er untersucht meinen Nacken, misst Puls und Blutdruck, zündet mit einer Taschenlampe in meine Augen und prüft auch die Reflexe an Ellbogen und Knie. Ich darf mich sogleich wieder hinlegen.

Der Arzt teilt mir mit, dass ich ein Schleudertrauma erlitten habe. Der medizinische Ausdruck dafür laute HWS-Distorsion und bedeute, dass die Bänder an der Halswirbelsäule (HWS) überdehnt worden seien. Ich hatte den Ausdruck früher schon einmal gehört, weil ein Partner unserer Kanzlei HWS-Verletzte vertritt. Ich weiß aber nichts Genaueres darüber. Der Assistenzarzt verschreibt mir ein muskelrelaxierendes Medikament, Sirdalud 6 mg, und das Schmerzmittel Ponstan. Er teilt mir mit, dass ich eine Woche Bettruhe brauchen werde. Wenn ich Glück habe, könne ich danach wieder zur Arbeit gehen. 95 Prozent aller Schleudertraumata würden innerhalb einer Woche ausheilen. Er selber habe auch einmal eine HWS-Distorsion erlitten, und nach einer Woche habe er bereits wieder voll arbeiten können. Wenn ich aber nach vier Tagen noch Schmerzen haben sollte, müsse ich mich beim Hausarzt melden oder wieder in den Notfall kommen. Er schreibe mich, sagt er, vorerst für vier Tage arbeitsunfähig. Gleich wird mir das Schmerzmittel verabreicht, weil meine Kopfschmerzen stetig zunehmen. Ich beurteile sie als absolut unerträglich – allerdings mache ich mir keine Vorstellung darüber, was noch auf mich zukommen wird.

Danach warte ich, weil der Notfallarzt noch einen Kurzbericht für den nachbehandelnden Arzt schreiben will, wofür er den Raum verlässt. Ich kann so lange im Notfall liegen bleiben. Die Schmerzen in der rechten Körperhälfte verschlimmern sich. Nehmen im Bereich Nacken, Schultergürtel, oberer Rücken, rechter Arm zu.

Schließlich erhalte ich von der Schwester Bescheid, dass ich nun nach Hause gehen kann. Weil die Schmerzen so zugenommen haben, bringt sie mir ein Glas Wasser, damit ich eine weitere Tablette schlucken kann.

Der Notfallbericht wird vom Assistenzarzt, der mich an jenem Abend betreut, unterzeichnet – nicht jedoch vom diensthabenden Oberarzt, den wir auch nicht zu Gesicht bekommen.

Die Mädchen begleiten mich nach draußen. Katrina wartet bereits vor der Tür. Als ich aufstehe, beginnt es erneut in der rechten Hand und nun auch im Oberarm zu kribbeln, das Taubheitsgefühl stellt sich auch wieder ein, ebenfalls der Brechreiz. Ich bin jedoch überzeugt, dass ich in einer Woche wieder arbeiten kann.

Die erste Nacht

Zu Hause nehme ich das verordnete Sirdalud und lege mich ins Bett. Im Liegen ist es mir nicht mehr schwindlig, und auch das Kribbeln in der rechten Hand verschwindet wieder. Ich nehme das Buch auf meinem Nachttisch zur Hand und beginne zu lesen. Gewöhnlich schlafe ich dabei ziemlich schnell ein. Ich merke jedoch, dass ich mich überhaupt nicht konzentrieren und nichts aufnehmen kann. Ich muss immer wieder zurück zu der Stelle, wo ich zu lesen begonnen habe. Es gelingt mir nicht, die Bedeutung der Wörter zu erfassen. Nach mehreren Anläufen lege ich das Buch zur Seite.

Ich bin völlig erschöpft und schlafe schnell ein. Kurze Zeit später erwache ich wegen der Schmerzen und will in der Küche etwas zu trinken holen. Es ist mir jedoch so schwindlig, dass ich mich sofort wieder hinlegen muss. Schwindel kenne ich nur aus meiner Kindheit, als ich einmal eine Mandelentzündung mit hohem Fieber hatte. Auch auf den früheren Bergtouren war ich immer schwindelfrei; doch jetzt habe ich ein Gefühl, als ob mir die Wände entgegenkommen und der Boden hin- und herschaukeln würde – wie in einem Albtraum. Trotzdem kann ich wieder einschlafen.

Um halb sechs Uhr morgens erwache ich allerdings erneut wegen des intensiven Schmerzes. Rechtsseitig habe ich starke Nacken-, Rücken-, Kopf- und Schulterschmerzen. Meine Umgebung nehme ich übermäßig scharf wahr, so, als schaute ich durch eine zu starke Brille. Die Bilder vor meinen Augen überlagern sich. Jede Bewegung der Augen ist schmerzhaft. Darum halte ich sie nun geschlossen. Ich fühle mich unglaublich schlapp, wie mit hohem Fieber. Dann schlafe ich wieder ein, erwache abermals. Ich habe großen Durst. Die Kraft reicht aber nicht, um aufzustehen. Im Liegen sind vor allem die Schmerzen in der rechten Schulter sehr stark. Die Schmerzen im Kopf und im Nacken sind erträglich, solange ich keine Bewegung mache und auch die Augen ruhig halte. Für die rechte Schulter finde ich keine Liegeposition, welche die Schmerzen lindert. Ich versuche mich auf die linke Seite zu drehen, da mir das Schlafen auf dem Rücken schwerfällt. Das ist jedoch zu schmerzhaft, sodass ich mich wieder auf den Rücken zurückdrehen muss. Nur ganz flaches Liegen auf dem Rücken mit geschlossenen Augen und gelöschtem Licht ist einigermaßen erträglich.

Der erste Tag

Erst nach mehreren Anläufen schaffe ich es, das Bett zu verlassen. Ich setze mich an mein Pult und mache mich daran, den Unfallhergang niederzuschreiben. Ich unterbreche jedoch immer wieder, weil die Schmerzen zunehmen und mir schwindlig ist. Mir fehlt jegliche Orientierung im Raum. So liege ich fast den ganzen Tag mit heruntergelassenen Jalousien im Bett. Es ist mir auch nicht möglich, etwas zu essen. Da ich keinen Hunger habe, ist es nicht schlimm. Mit den Armen kann ich mich kein bisschen aufstützen, ohne sogleich starke Schmerzen im Schultergürtel zu bekommen. Die Kopfschmerzen sind mittlerweile migräneartig. Immer noch sehe ich übermäßig scharf. Jegliches Drehen der Augen, nach links, rechts, oben oder unten, löst Schwindel aus und ist schmerzhaft. Wenn ich aufstehe, wird mir sofort übel. So schlafe ich bald, tauche immer wieder für mehrere Stunden ab.

Gegen Abend stehe ich nochmals auf und rufe die Nummer an, die auf der Visitenkarte der Unfallverursacherin steht. Die Frau heißt Eva Schilling. Ich erzähle ihr, dass es mir gar nicht gut geht und dass ich am Abend zuvor im Krankenhaus war. Ich teile ihr auch die Diagnose des Arztes mit. Ich weise sie darauf hin, dass sie den Unfall der Versicherung melden muss, worauf sie zögert. Ich versuche, sie zu überzeugen, erkläre ihr, dass dies nicht nur deshalb notwendig sei, weil ich verletzt wurde und auf der Notfallstation war, sondern auch, weil ihr ganz erheblicher Sachschaden gedeckt werden müsse und ich dafür nicht verantwortlich sei. Darauf sagt sie unvermittelt: »Wissen Sie, Frau Bono, nicht der ganze Schaden an meinem Auto stammt vom Unfall gestern. Ich hatte vorher schon einen Unfall, und ich bin ja nur mit dreißig bis vierzig Stundenkilometern in ihr Auto gefahren. Eine solche Geschwindigkeit kann kein Schleudertrauma verursachen. Sie müssen sich aber keine Sorgen machen, ich habe den Unfall bereits der AVG gemeldet.«

Das Ganze kommt mir eigenartig vor, ich bin jedoch immer noch nicht fähig, klar zu denken. Und schließlich bestreitet Schilling ja auch nicht, dass sie den Unfall verursacht hat. Ich teile ihr dann noch mit, dass ich einen Polizeirapport erstellen lassen möchte. Vorsichtshalber halte ich das Gesagte nach dem Gespräch stichwortartig fest.

Der zweite Tag

Sirdalud und Ponstan 500 wirken wie eine Bombe auf mich. Die Medikamente versetzen mich auch am Abend des ersten Tages schnell in Schlaf. Doch bald schon wache ich wegen starker Kopfschmerzen wieder auf. Ich nehme eine weitere Tablette. Der Rücken schmerzt, jetzt beidseitig, von der Stelle unter den Schulterblättern über die Schultern bis zum Nacken. Von dort zieht es hinten über die Schädeldecke bis zu den Wangenknochen. Jede kleinste Drehung des Kopfes ist unerträglich, ebenfalls jede Erschütterung des Bettes, wenn ich die Beine bewege. Ich stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. Das ist auch für den Schultergürtel sehr schmerzhaft, weil ich mich dafür aufstützen muss. Vor meinen Augen tauchen wieder hellblaue Blitze auf. Unter dem linken Auge fühlt sich die Haut taub an. Ich habe einen so starken Druck im Kopf, dass es sich anfühlt, als würde die Schädeldecke gleich explodieren oder abheben. Irrsinnig weh tut die rechte Schulter, die linke schmerzt zwar auch, aber rechts ist alles noch schlimmer.

Fast jede Stunde wache ich erschreckt auf; ich träume immer wieder vom Knall des Aufpralles. So geht es die ganze Nacht, ich schlafe kaum. Am Morgen sind die Kopfschmerzen wieder migräneartig und ziehen sich vom Kopfansatz über den Hinterkopf bis zu den Augen, der Nacken brennt. Der beim Aufstehen auftretende Schwindel und die darauf folgende Übelkeit sind noch stärker als gestern. Jedes Anheben des Brustkorbes beim Atmen löst stechende Schmerzen aus. Außer Liegen geht gar nichts mehr. Schon der Gang zur Toilette ist eine Qual. Ich ertrage weiterhin kein Licht. Katrina will die Rollläden hochziehen, ich sage ihr, sie solle es lassen. Auch das Licht der Nachttischlampe ist mir zu viel. Später kommt Katrina in mein Zimmer und will staubsaugen. Ich schicke sie wieder raus. Sie ist beleidigt, und ich kann ihr nicht erklären, was mit mir los ist, weil ich es selber nicht verstehe. Immer wieder tauche ich weg.

Gestern war ich noch optimistisch und überzeugt, dass ich nächste Woche wieder arbeiten würde. Ich ließ meine Sekretärin alle Termine um eine Woche verschieben. Nun beunruhigt es mich, dass die Beschwerden zu- und nicht abnehmen. Ich hatte erwartet, dass es jeden Tag besser wird. Doch jetzt sind die Schmerzen längst an der Grenze des Erträglichen. Ich weiß noch nicht, dass es noch schlimmer kommen wird.

Am Mittag will ich meinen Kindern etwas sagen. »Mama«, antworten sie, »das hast du uns bereits mehrmals gesagt. Du brauchst nicht alles zu wiederholen. Wir machen ja, was du uns sagst.«

Eva Schillings Geschichte von den zwei Unfällen kommt mir wieder in den Sinn. Die einzigen Geschädigtenvertreter, die ich kenne, sind Rechtsanwalt Konrad Fischlin sowie ein Partner meiner Kanzlei, für den ich aber nie gearbeitet habe, weil wir, wie man so sagt, das Heu nicht auf der gleichen Bühne haben. Ich rufe Fischlin an und erzähle ihm, was passiert ist, insbesondere die befremdliche Geschichte vom bestehenden Autoschaden, und mandatiere ihn mit der Wahrung meiner Interessen. Fischlin rät mir, sobald wie möglich mit einem Tagebuch zu beginnen und dort alles genau festzuhalten.

Das war ein weiser Rat. Noch heute, sieben Jahre nach dem Unfall, leide ich unter Vergesslichkeit. Bilder, Gerüche und Geräusche des Unfallgeschehens haben sich aber untrüglich und unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Auf Zahlen, Kalenderdaten und Namen indes kann ich mich seit dem Unfall nicht mehr hundertprozentig verlassen. Dafür habe ich aber meine Notizen. Mein Tagebuch ist mein Gedächtnis.

Die kleinste mentale Anstrengung setzt mich für längere Zeit schachmatt. Dennoch mache ich, wann immer es geht, ein paar stichwortartige Notizen. Später finde ich drei Notizen über den Unfallhergang, weil ich sogar vergessen habe, dass ich ihn schon festgehalten hatte.

Am Nachmittag rufe ich die Stadtpolizei Zürich an und will den Unfall melden, damit sie einen Rapport erstellen und den Schaden am Auto von Eva Schilling fotografieren kann. Man verweist mich an die Kantonspolizei. Ich solle mit dem Polizeiposten in Männedorf, meinem Wohnort, Kontakt aufnehmen. Dort geht indes niemand ans Telefon. Ich will es später wieder versuchen, vergesse es aber, tauche wieder weg. Nach der Schule kommen die Kinder in mein Zimmer. Ich muss sie jedoch wieder hinausschicken, da ich noch immer absolut keine Geräusche ertrage und schon gar nicht Kinder, die gleichzeitig reden.

Der dritte Tag

Immer wieder drängt sich Eva Schillings Unfallgeschichte in mein Bewusstsein. Mir ist ziemlich mulmig zumute. Mir ist bewusst geworden, dass ich ja gar nicht beweisen kann, dass die Dame in mich hineingedonnert ist. Was mache ich, wenn sie den Unfallhergang abstreitet und behauptet, ich sei schuld? Ich habe kein Unfallprotokoll erstellen lassen, obwohl ich das unter normalen Umständen immer machen würde. Warum behauptet sie nun, der Schaden stamme von einem anderen Unfall? Ich habe ja gesehen, wie ihr Auto in meines verkeilt war. Außerdem wäre es gar nicht erlaubt, mit einem dermaßen lädierten Wagen, mit demoliertem Licht und eingedrückter Front, unterwegs zu sein.

Mein Rücken brennt großflächig vom Kopfansatz bis unter die Schulterblätter. Immer noch ist jeder Atemzug schmerzhaft. Im Kopf zieht es bis zu den Nasenflügeln. Es hämmert und pocht. Jegliche Bewegung des Kopfes ist unerträglich. Ich kann ihn weder nach links noch nach rechts drehen. Weiterhin geht es am besten, wenn ich ganz flach liege und mich nicht bewege.

Meine Hände sind zittrig. Zum Glück schlafe ich immer wieder, sodass der Tag schnell vergeht. Wenn ich wach bin, finde ich im Bett keine Stellung, die die Schmerzen lindern würde. Ich nehme mir vor, ein heißes Bad zu nehmen.

Als ich dann tatsächlich ins Bad will, das sich im oberen Stockwerk befindet, muss ich mich am Treppengeländer festhalten, weil ich starken Schwindel habe und mich auf die Schritte auf der Treppe konzentrieren muss. Katrina hilft mir. Ich lege mich dann auf Lauras Bett, weil ich es nicht aushalte, so lange zu stehen oder zu sitzen, bis das Wasser eingelassen ist. Als ich nach einer Weile wieder ins Bad trete, sehe ich, dass es keinen Tropfen Wasser in der Wanne hat. Ich habe vergessen, den Hahn aufzudrehen, obwohl ich ja vorhin nur deswegen im Badezimmer war. Was ist nur los mit mir? Unverrichteter Dinge gehe ich zurück in mein Bett.

Am Nachmittag versuche ich, im Bett zu lesen. Ich kann immer noch nichts aufnehmen. Nach zwei Zeilen muss ich wieder von vorne beginnen, und obwohl ich jetzt dreimal begonnen habe, kann ich dem Text nicht folgen. Außerdem beginnt der Schultergürtel sofort zu schmerzen und zu brennen, bloß weil ich das Buch in den Händen halte.

Später erinnere ich mich daran, dass ich nochmals bei der Polizei anrufen muss, damit ein Unfallprotokoll erstellt und der Schaden am Auto der Unfallverursacherin fotografiert wird. Ich werde von Gemeinde zu Gemeinde verwiesen. Irgendwo spreche ich aufs Band.

Am späteren Nachmittag ruft mich ein Polizist namens Thomas Storchenegger vom Posten in Zumikon, dem Wohnort von Eva Schilling, an. Er fragt: »Trifft es zu, dass Sie einen Polizeirapport aufgrund eines Unfallereignisses erstellen lassen wollen?«

Hilft mir endlich jemand? Ich nehme an, dass der Polizist auf meine Nachricht reagiert, die ich auf Band hinterlassen habe. Thomas Storchenegger bietet sich an, den Rapport zu erstellen. Ich erzähle ihm die ganze Geschichte. Ich schildere den massiven Schaden am anderen Auto; berichte, dass die Frau nach Alkohol gerochen hat; dass mein Hirn nicht richtig funktioniert hat, dass ich verletzt wurde, und schließlich informiere ich ihn auch über die eigenartige Geschichte mit den vermeintlichen zwei Unfällen. Ich bitte Storchenegger zudem, ein Foto von Eva Schillings Wagen zu machen. Ich erkläre ihm dabei, dass das Auto vorne links stark beschädigt und auch die Front bis zur Mitte eingedrückt war und dass die Haube wie eine Handorgel gefaltet war. Er verspricht mir, ein Protokoll unseres Gesprächs zu machen und mit Eva Schilling Kontakt aufzunehmen.

Eine Weile später ruft der Polizist wieder an und sagt, Eva Schilling habe meine Aussage nicht bestätigt. Sie habe mir gegenüber nie von einem Vorschaden gesprochen. Sämtliche Beschädigungen an ihrem Auto stammten vom Unfallereignis. Jedoch habe sie bestätigt, mit dreißig bis vierzig Stundenkilometern von hinten in meinen Wagen gefahren zu sein. Nun ist ja das Wesentliche in Ordnung, denke ich. Eva Schilling hat zugegeben, den Unfall verursacht zu haben, und kann dies nun nicht mehr abstreiten.

Ich bitte Storchenegger, diese Aussagen, aber auch die Widersprüche in einer Aktennotiz festzuhalten. Er verspricht mir, dies zu tun, und fügt an, dass er alle telefonischen Aussagen protokollieren werde. Zum Schluss bittet er mich, wenn es mir möglich sei, auf den Polizeiposten zu kommen, um ein ausführliches Unfallprotokoll zu erstellen.

Ich lasse die Sache vorerst auf sich beruhen. Ich gehe davon aus, spätestens in einer Woche wieder auf den Beinen zu sein. Diese zwei Telefongespräche haben mich allerdings so angestrengt, dass ich anschließend für zwei Stunden wegtauche und danach den ganzen Abend vor mich hindöse. Die Schmerzen werden beim Aufstehen größer. Der sicherste Ort ist das Bett.

Gestern muss Bella angerufen und mitgeteilt haben, dass sie mich heute Abend besuchen kommt, nachdem sie erfahren hat, dass ich einen Unfall hatte. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, mit ihr gesprochen zu haben.

Nun ist sie also da, und ich freue mich über ihren Besuch. Ich habe Bella schon sehr lange nicht mehr gesehen. Wir sind beide alleinerziehende Mütter und finden kaum Zeit füreinander. Sie erzählt mir, dass sie gestern ganz erstaunt war, dass ich sie am Telefon nicht erkannt habe. Das ist wirklich eigenartig, denn wir kennen uns seit meinem dreizehnten Lebensjahr, also bereits seit 26 Jahren. Sie ist die Patentante von Larissa, meinem zweitältesten Kind. Sie will mir gestern am Telefon auch geschildert haben, wie sie ihren neuen Freund kennen gelernt hat. Auch davon weiss ich überhaupt nichts. Wir beginnen zu lachen, finden es urkomisch, dass ich ausgerechnet die langjährige Freundin aus dem Gedächtnis gelöscht habe. Wir machen auch Witze über die Geschichte mit dem Badewasser, das ich nicht einlaufen ließ.

Weder Bella noch ich erkennen den Ernst der Lage.

Der vierte Tag

Es ist Samstag. Ich wache auf und kann es kaum glauben, dass die Schmerzen nochmals zugenommen und sich großflächig ausgedehnt haben. Ich kann nicht länger als ein paar Minuten vom Bett wegbleiben. Ich habe nun aber Hunger und bitte die Kinder, mir etwas zu essen ans Bett zu bringen. Mein Zimmer ist im untersten Stock. Die Kinder und Katrina sind vor allem in den zwei oberen Stockwerken. Katrina schläft in der Regel bei ihrem Freund.

Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass Eis auflegen gegen das extreme Brennen hilft. Die Kinder kaufen weitere Hot-Cold- Packs in der Apotheke.