Allein in Paris - Barbara Cartland - E-Book

Allein in Paris E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Ein Brief Ihres Vaters ruft die schöne Una Thoreau aus der Klosterschule in Italien in sein Malerstudio im Montmartre zurück. Doch dort angekommen, stellt sie entsetzt fest, dass er in der Zwischenzeit gestorben ist. Mittellos, ist sie plötzlich allein auf sich gestellt, in einem Ort der der Mittelpunkt des Fin de Siècle und der Sündenpfuhl von Paris ist. Der Kunsthändler Philippe Dubucheron, Agent ihres Vaters, nimmt sich ihrer an und versucht Profit aus ihrer Verbindung zum Maler Thoreau zu machen. Besonders dem reichen Duke von Wolstanton, der in Paris Ablenkung von seinen Problemen in England sucht, möchte Dubucheron mit Una in eine Affäre locken. Am Anfang glaubt der Duke in Una eine gute Schauspielerin vor sich zu haben – doch bald verliebt er sich unsterblich in sie.

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I ~ 1892

Die Bremsen kreischten als der Zug bei der Einfahrt in den Bahnhof die Geschwindigkeit drosselte. Die Gouvernante, deren Obhut die drei Mädchen anvertraut waren, wandte sich an Una.

»Wird jemand auf dem Bahnsteig sein, der Sie abholt?« fragte sie mit ihrer wohlklingenden, aber unsicheren Stimme.

»Ja, ich denke, mein Vater wird dort sein«, erwiderte Una. »Ich habe ihm in der vergangenen Woche geschrieben und ihm die Ankunftszeit des Zuges mitgeteilt.«

»Dann ist es gut«, sagte die Gouvernante.

Die Erleichterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Zu Beginn ihrer Reise nach Frankreich hatte sich Mademoiselle große Sorgen gemacht. Schließlich sollte sie die Verantwortung für drei junge Damen übernehmen - ein Gedanke, der ihr schlaflose Nächte bereitet hatte.

Aber dann war doch alles besser gegangen, als sie befürchtet hatte, denn Una erwies sich als ein so umsichtiges, hilfsbereites Mädchen, daß Mademoiselle sie direkt ins Herz geschlossen hatte. Una war es zu verdanken, daß aus der gefürchteten Bahnfahrt sogar ein richtiges Vergnügen geworden war, das alle vier aufs Höchste genossen hatten.

Dabei waren die beiden anderen Mädchen, Töchter des Comte de Beausoir, eigentlich sehr schwierige, weil ein wenig arrogante und eingebildete kleine Persönlichkeiten, denen die Aussicht, mit Mademoiselle zusammen die Ferien verbringen zu müssen, ganz offensichtlich nicht behagte.

Die Jüngste aus der Familie des Comte, Marie-Celeste, die erst fünfzehn war, hatte auf der ganzen Reise nichts anderes zu tun gehabt, als hinter dem Rücken der Gouvernante Grimassen zu schneiden und sie nachzuäffen. Außerdem durfte man sie keine Sekunde lang aus den Augen lassen, weil stets die Gefahr bestand, daß sie irgendetwas Schlimmes anstellte.

Wäre Una nicht gewesen, die auf die kleine Landplage einen sehr wohltuenden Einfluß ausübte, Mademoiselle hätte bereits in den ersten Stunden der Fahrt einen Nervenzusammenbruch erlitten.

Una hatte sehr schnell gemerkt, daß Mademoiselle, die nicht mehr die Allerjüngste war, großen Wert auf ihre Stellung im Hause des Comte legte. Vermutlich hatte sie sich daran gewöhnt und verspürte keine Lust, in einer anderen Familie noch einmal von vorne anzufangen.

Aus diesem Grund drückte Mademoiselle bei der Ausübung ihrer Pflichten häufig ein Auge zu und gab den Launen und Wünschen der beiden Mädchen auf fast beschämende Weise immer wieder nach, weil sie es mit keinem von ihnen verderben wollte. Vor allem Marie-Celeste nutzte Mademoiselles Schwäche weidlich aus, und die Reise von Italien nach Frankreich wäre für die Ärmste gewiß ein Alptraum geworden, wäre Una nicht gewesen, in deren Hände die kleine Teufelin sanft und formbar wie Wachs zu sein schien.

Nun fuhren sie in den Bahnhof von Paris ein, und Una mußte an den Abschied denken. Seltsamerweise fiel er ihr von der Frau mit dem kleinen, verängstigten Gesicht schwerer als von den beiden Mädchen, die in den letzten drei Jahren auf der Klosterschule ihre Mitschülerinnen gewesen waren.

Ja, drei Jahre hatte sie in Italien gelebt. Drei Jahre, in denen sie von ihrem Vater nie ein Lebenszeichen erhalten hatte.

Seltsam, dachte sie, und dann plötzlich schickt er als Antwort auf meinen letzten Brief ein Telegramm mit dem Wortlaut:

Komm sofort!

Nr. 9, Rue de l'Abreuville Montmartre, Paris

Una war mit dem Telegramm sofort zur Mutter Oberin gegangen, die beim Lesen der Anschrift deutlich erkennbar die Stirn gerunzelt hatte.

»Dein Vater wohnt auf dem Montmartre?« hatte sie gefragt.

»Ja, Ehrwürdige Mutter. Wie Sie wissen, ist mein Vater Maler.«

Die Ehrwürdige Mutter preßte die Lippen zusammen, und es schien sie große Überwindung zu kosten, dem Mädchen nicht kundzutun, was sie über Maler im Allgemeinen und über den Montmartre im Besonderen dachte.

»Ich hatte Papa geschrieben, Ehrwürdige Mutter«, sagte Una höflich. »Ich hatte ihn daran erinnert, daß ich inzwischen achtzehn bin und das Geld, das Mama für meine Ausbildung und Erziehung bestimmte, aufgebraucht ist. Gleichzeitig bat ich ihn darum, mir mitzuteilen, wie er sich meine weitere Zukunft vorstellt.«

»Und dies ist die Antwort«, sagte die Mutter Oberin mit einem etwas verächtlichen Blick auf das vor ihr liegende Telegramm.

»Ich freue mich sehr darauf, wieder bei Papa zu sein«, erklärte Una glückstrahlend. »Außerdem bin ich inzwischen auch etwas zu alt für die Schule geworden, nicht wahr?«

»Der Gedanke, daß eine von meinen Schutzbefohlenen auf dem Montmartre leben wird, gefällt mir überhaupt nicht. Besonders wenn sie noch so jung ist wie du, mein Kind«, sagte die Mutter Oberin.

Bei diesen Worten schaute sie Una an und dachte, daß zu diesem Thema eigentlich noch eine ganze Menge zu sagen sei.

Unerträglich und qualvoll der Gedanke, jemanden, der so schön und anziehend war wie das junge Mädchen vor ihr, inmitten dieses moralischen Sumpfes, unter all den Künstlern, Tänzern, Lebemännern und Halbweltdamen zu wissen! Schließlich gab es auf der ganzen Welt keinen Platz, der verrufener, unmoralischer und lasterhafter war als der Montmartre in Paris.

Als gute Katholikin und Braut Christi wußte die Mutter Oberin natürlich, daß sich auf dem Hügel hoch über der Stadt ein Gotteshaus erhob, das dem Allerheiligsten Herzen Jesu geweiht war und gleichsam das Zentrum dieses Sündenbabels darstellte.

Aber selbst diese Tatsache genügte - dem Himmel sei's geklagt - nicht, die himmelschreienden Geschichten über Tanzhallen, Kabaretts und andere, noch dubiosere Etablissements des Vergnügens und des Lasters, die in Europa ihresgleichen suchten, aus der Welt zu schaffen.

Das jedoch waren Dinge, die man unmöglich mit einem unschuldigen Mädchen wie Una besprechen konnte.

Entsetzlich für die Mutter Oberin, denn alles, in ihrem Herzen drängte danach, Una die Reise nach Paris und den Aufenthalt bei ihrem Vater auszureden.

Aber das Mädchen war aus dem Alter heraus, um noch länger auf der Klosterschule bleiben zu können, die ausschließlich der Erziehung junger Ladys diente. Außerdem war die Geldsumme, die Unas Mutter zu diesem Zweck in ihrem Testament festgelegt hatte, aufgebraucht, und zu verschenken hatten auch die frommen Schwestern nichts.

Die Mutter Oberin hatte es sich zum Prinzip gemacht, nie nach den familiären Hintergründen ihrer Schülerinnen zu fragen, doch es gab für sie keinen Zweifel, daß Unas Lebensverhältnisse recht ungewöhnlich waren.

Offensichtlich hatte Unas Mutter in ihrem Letzten Willen bestimmt, daß ihr kleines Vermögen ausnahmslos für die Erziehung und Ausbildung ihrer Tochter verwendet würde. Einen Monat bevor sie starb, hatte sie an den Konvent Unserer Lieben Frau in Florenz geschrieben und um Auskünfte gebeten.

Man hatte ihr geantwortet, daß es sich bei der Schule nicht nur um die angesehenste Einrichtung zur Ausbildung adliger Mädchen handelte, sondern daß auch der Unterricht, der hier erteilt wurde, weit über dem üblichen Niveau lag. Natürlich hatte die Mutter Oberin nicht unterlassen, nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß diese Tatsache nicht hoch genug veranschlagt werden könne in einer Zeit, da sogar die reichsten Familien Europas der Ausbildung ihrer Töchter nur einen äußerst geringen Wert beimaßen.

Es gab da allerdings gewisse Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. So taten sich die französischen Mädchen deutlich besser als die englischen, und in der Klosterschule Unserer Lieben Frau kam die Mehrheit der Schülerinnen aus Frankreich und Italien.

Die wenigen Engländerinnen, die es dort gab, hatte man ihrem mangelhaften Wissensstand entsprechend in Klassen eingestuft, für die sie eigentlich schon zu alt waren.

Una allerdings hatte eine Ausnahme gebildet.

Dank ihrer außergewöhnlichen Intelligenz holte sie ihre französischen und italienischen Altersgenossinnen sehr bald ein und errang in kurzer Zeit den Namen der Klassenbesten.

Nun fragte sich die Mutter Oberin besorgt, was das hochtalentierte Mädchen in Zukunft wohl mit seiner Begabung anfangen würde.

Sie war immer der Meinung gewesen, daß Künstler im allgemeinen heruntergekommene und unordentliche Menschen seien. Menschen ohne besondere Fähigkeiten und Qualitäten, ausgenommen natürlich ihr Talent als Maler oder Bildhauer.

Daß Unas Vater nicht ganz in dieses Schema hineinpaßte, war ihr bekannt. Sie wußte, daß er als Offizier bei den Grenadier Guards gedient hatte, bevor er England verließ und das Malen zu seinem Beruf machte.

Die Mutter Oberin hatte nie eines seiner Bilder zu Gesicht bekommen, aber sie hatte einmal einen Artikel über seine Arbeiten gelesen, nicht in einer der zahlreichen Kunstzeitschriften, die sie grundsätzlich nicht in die Hand nahm, sondern in einer angesehenen Tageszeitung, in der gelegentlich auch über Ausstellungen und über die neuen Trends der Malerei berichtet wurde.

Im Kopf der Mutter Oberin hatte sich daher der Eindruck festgesetzt, Julius Thoreau sei ein Gentleman, dem es Spaß mache, in der Welt der Kunst die Rolle des begabten Dilettanten zu spielen.

Und während sie das Mädchen betrachtete, das vor ihr stand, konnte sie nur hoffen, daß er sich Una gegenüber auf seine Verantwortung als Vater besann.

Das Mindeste, was er für seine Tochter tun konnte, war, Montmartre zu verlassen und mit ihr in einen der nobleren Wohnbezirke außerhalb von Paris umzuziehen. Wie die Mutter Oberin sich noch deutlich erinnerte, hatte sein Brief damals vor drei Jahren, in dem er Una als Schülerin anmeldete, eine wesentlich akzeptablere Anschrift getragen.

»Ich hoffe sehr, Una«, sagte sie nun mit ihrer ruhigen wohltönenden Stimme, »daß dein Vater dich in die Gesellschaft einführen wird. Und ich bin sicher, er ist mit mir einer Meinung, daß der Montmartre für ein Mädchen wie dich nie und nimmer die passende Umgebung ist.«

»Als Mama noch lebte«, erwiderte Una, »waren wir sehr glücklich in dem kleinen Haus außerhalb der Stadt. Papa pflegte im Garten zu malen. Als er dann später nach Paris ging, blieben Mama und ich zu Hause.«

»Das war sehr vernünftig«, lobte die Mutter Oberin. »Und ich glaube bestimmt, daß es ganz im Sinne deiner Mutter ist, wenn du deinen Vater überredest, zu einem solchen Leben zurückzukehren.«

Ihre Stimme nahm einen geradezu beschwörenden Ton an, als sie fortfuhr: »Vor allem, Una, weiß ich, wie sehr du das Landleben liebst und daß dir ein Leben in der Großstadt nach den vielen beschaulichen Jahren in unserem Haus schwerfallen wird.«

Una antwortete nicht. Sie war nämlich der Auffassung, daß Paris eine sehr starke Faszination auf sie ausüben und ein Leben dort ihr ungeheure Freude machen würde. Und außerdem war sie sicher, daß ihr Vater das pulsierende Leben der berühmtesten Stadt der Welt dem ruhigen, ereignislosen und ein wenig stumpfsinnigen Dasein, das sie in der Vergangenheit geführt hatten, vorziehen würde.

Einer der Hauptgründe, weshalb ihre Mutter nur selten nach Paris fuhr, war der, daß sie sich solche Fahrten nicht leisten konnten.

Schon als Kind hatte Una erkannt, daß sie jeden Penny umdrehen mußten und daß ihr Vater den größten Teil des Geldes für sich ausgab.

Dabei war es eigentlich das Vermögen ihrer Mutter.

»Es wurde mir von deinem Großvater hinterlassen«, erklärte sie Una, »und es ist ein Glück, daß er so gut zu mir war. Hätte er mich nicht damit bedacht, ich weiß nicht, was aus uns geworden wäre.«

Una war fast fünfzehn gewesen, als sie zum ersten Mal davon erfuhr, daß ihr Vater England und sein Regiment wegen eines Skandals hatte verlassen müssen.

Einzelheiten vermochte sie nicht herauszufinden - bis auf den Umstand, daß es um einen Ehrenhandel ging und daß ein älterer Offizier mit in die Sache verwickelt war.

Jedenfalls hatte ihr Vater seine Entlassung einreichen müssen, um der Verurteilung durch ein Militärgericht zu entgehen.

Danach hatte er verbittert und voller Zorn England verlassen und das Mädchen mitgenommen, mit dem er heimlich verlobt gewesen war.

Wie Una erfuhr, hatten die Eltern das Verlöbnis geheim gehalten, da der Vater ihrer Mutter die Heirat strikt verboten hatte.

Als sich seine Tochter seinem Willen widersetzte und mit dem Mann davonlief, der in seinen Augen eine »Kanaille« war, verstieß er sie aus seinem Leben und gab jede Verbindung mit ihr auf.

Una wurde also in Frankreich geboren, und weil ihre Mutter ihr Heimweh nicht verbergen konnte, wenn sie von England erzählte, erschien Una dieses Land wie das Paradies. Kein Wunder, daß sich in ihr der Wunsch festsetzte, wenigstens einmal in ihrem Leben die Insel zu besuchen und dort so glücklich zu sein, wie es ihre Mutter in den Tagen ihrer Kindheit gewesen war.

Der unerwartete Tod der Mutter war für Una ein harter Schlag gewesen, und eigentlich litt sie unter dem Verlust jetzt noch stärker als vor drei Jahren.

Während der Zeit, die sie auf der Klosterschule verbrachte, war ihr bewußt geworden, wie einsam sie war und wie allein sie im Leben stand. Alle ihre Mitschülerinnen hatten Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Kusinen und Vettern. Una hatte nur noch ihren Vater, und der kümmerte sich eigentlich kaum um sie.

Wie sehr vermisste sie die Mutter! Wie viele Dinge gab es, die sie mit ihr hätte besprechen, wie viele Fragen, auf die sie eine Antwort hätte haben mögen!

Aber Mrs. Thoreau stahl sich ganz plötzlich aus dem Leben, und ehe Una noch begriff, was mit ihr geschah, befand sie sich bei den Schwestern Unserer Lieben Frau in Florenz.

Da sie sich für alles interessierte, was irgendwie mit ihrer Mutter zusammenhing, galt ihr Hauptaugenmerk dem Englischen: der englischen Geschichte und der englischen Sprache.

Vor allem freundete sie sich mit englischen Mädchen an, und da diese meistens aus den Familien des Hochadels kamen, erfuhr Una viel über die englische Lebensweise, die sie dann mit derjenigen der Franzosen und Italiener verglich.

Una war eine scharfsinnige Beobachterin und äußerst kritisch im Umgang mit Menschen. Und während der Blick der Mutter Oberin auf dem Mädchen ruhte, dachte sie, daß Una bereits von einer Feinfühligkeit und Empfindsamkeit war, die den meisten ihrer Altersgenossinnen noch völlig abging.

Was mag wohl aus ihr werden? fragte sich die Schwester besorgt.

Laut sagte sie: »Ich hoffe, du wirst mir schreiben und mir über dein neues Leben genau berichten, mein Kind. Ich bin dir immer eine mütterliche Freundin gewesen, und ich werde dir auch in Zukunft helfen, soweit es in meinen Kräften steht.«

»Sie sind sehr freundlich, Ehrwürdige Mutter«, antwortete Una, »und ich möchte Ihnen danken für alles, was Sie mich gelehrt, für jede Hilfe, die Sie mir in der Zeit meines Aufenthalts gewährt haben.«

»Hilfe?« fragte die Mutter Oberin erstaunt.

»Ich denke daran, wie unwissend ich war, als ich herkam«, erwiderte Una schlicht. Sie machte eine kurze Pause und fuhr leise fort: »Ich meine nicht nur die schulischen Dinge.«

»Ich weiß, was du sagen willst, Liebes.«

Die Mutter Oberin lächelte gütig.

»Ich habe oft daran gedacht, welch ein Glück es für mich war, daß Mama gerade diesen Platz für meine Erziehung aussuchte.« Una seufzte und setzte hinzu: »Ich glaube, ich kann von mir behaupten, daß ich meine Zeit hier nicht vertan habe, obwohl ich mir bewußt bin, wieviel es noch zu lernen gibt und wie unwissend ich im Grunde immer noch bin.«

Wieder lächelte die Mutter Oberin.

»Ich kann dir versichern, mein liebes Kind, daß du sehr fleißig gewesen bist und mehr gelernt hast als viele der Schülerinnen, die mir anvertraut waren. Aber ich bin froh, daß du erkennst, wieviel es für dich noch zu lernen gibt. Die meisten Mädchen deines Alters denken nach Beendigung der Schule nur noch ans Heiraten.«

»Auch ich werde eines Tages daran denken müssen, aber zunächst sollte ich mich wohl ein wenig um Papa kümmern.«

»Ja, das solltest du«, sagte die Schwester lebhaft.

Nachdem Una sie verlassen hatte verharrte die Mutter Oberin eine Zeitlang reglos an ihrem Schreibtisch.

Sie fragte sich, ob sie nicht noch etwas hätte tun können für dieses seltsame und ungewöhnliche Kind.

Ihr, der langjährigen und erfahrenen Erzieherin, war klar, daß Una sich zwar ein reiches akademisches Wissen angeeignet hatte, von der Welt draußen aber, besonders von den Männern, nicht die geringste Ahnung hatte.

Wie hätte es auch anders sein sollen, wenn man sich vor Augen hielt, daß sie erst fünfzehn war, als sie in dies Klosterschule eintrat und vorher, so nahm die Mutter Oberin, an, ein sehr behütetes Leben geführt hatte.

Behütet war ihr Leben auch in den letzten drei Jahren gewesen, obwohl es für Una drei entscheidende Jahre waren, in denen sie die Kindheit endgültig hinter sich gelassen hatte und zur jungen Frau herangereift war.

»Was mag aus ihr werden?« fragte sich die Mutter Oberin und betete, Una möge einen guten Mann finden, der sie heiratete oder sie wenigstens von diesem sündigen Montmartre wegholte.

Der Zug kam auf dem Bahnsteig zum Halten. Draußen eilten die Träger in ihren blauen Kitteln auf die Wagen zu und riefen lautstark und aufgeregt: »Porteur! Porteur gefällig?«

Una blickte aus dem Fenster und sah die Menschenmenge, die auf dem Bahnsteig wartete. Erschreckt fragte sie sich, wie sie unter all diesen Leuten ihren Vater finden sollte.

Dann, als Mademoiselle hastig und aufgeregt die Gepäckstücke zusammenraffte und zum Wagenausgang drängte, verabschiedete sich Una von ihren Reisegefährtinnen mit einem Kuß und versprach ihnen, sie nicht zu vergessen.

»Du mußt uns schreiben und ausführlich von deinem neuen Leben berichten«, sagte Marie-Celeste. »Und vielleicht treffen wir uns einmal, wenn Papa uns erlaubt, nach Paris zu fahren. Es wäre herrlich, dich auf dem Montmartre zu besuchen, obwohl Mama immer behauptet, das sei kein Ort für ein ordentliches Mädchen.«

»Nun komm schon, Marie-Celeste«, rief Mademoiselle, die bereits auf dem Bahnsteig stand, beunruhigt.

Das Mädchen schnitt eine Grimasse in ihre Richtung und küßte und umarmte Una noch einmal.

»Paß auf dich auf, Una«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast eine schöne Zeit mit all diesen Künstlern, die sicher wunderbare Bilder von dir malen werden.«

Mit einem Satz sprang sie aus dem Zug, winkte Una freundschaftlich zu und hüpfte hinter Mademoiselle und ihrer Schwester her.

Una nahm ihre Handtasche und den Wintermantel, der zu schwer war, um ihn bei der Wärme anzuziehen.

Der Bahnsteig hatte sich inzwischen schon ziemlich geleert, die Menschen strömten dem Ausgang zu. Langsam setzte Una sich in Bewegung. Während sie am Zug entlangging, hielt sie angespannt nach ihrem Vater Ausschau.

Sie hätte ihn sehen müssen, denn er war ein hochgewachsener, distinguierter Mann. Ein typischer Engländer, obwohl er manchmal eine recht seltsame und unkonventionelle Kleidung trug, die deutlich den Künstler verriet.

Una hatte fast das Ende des Bahnsteigs erreicht und befand sich in Höhe des Packwagens, als sie ihren braunen Reisekoffer erspähte, der eben ausgeladen wurde.

Am besten nehme ich ihn gleich mit, dachte sie und winkte dem Gepäckträger, der in ihrer Nähe stand und bereitwillig zu ihr trat.

Der Mann lud sich den schweren Koffer auf die Schulter und fragte: »Jemand holt Sie ab, M'mselle?«

Er sprach in einem sehr vertraulichen Ton mit ihr, aber Una wußte, daß dies keineswegs anzüglich gemeint war. Es war ihr mädchenhaftes Aussehen, das die Leute glauben ließ, sie sei noch ein Kind.

»Ich hoffe, mein Vater erwartet mich an der Sperre«, erwiderte sie. Der Gepäckmann nickte und ging voraus.

Aber auch an der Sperre war nichts von ihrem Vater zu sehen. Nachdem Una einige Minuten gewartet hatte, kam sie zu der Überzeugung, daß er wohl den Tag ihrer Ankunft vergessen hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er irgendwelche Termine durcheinanderbrachte. Er war schon immer sehr zerstreut gewesen.

»Oft habe ich den Eindruck, dein Vater hat einen Kopf wie ein Sieb«, hatte ihre Mutter manchmal halb verzweifelt, halb belustigt gesagt.

Ja, es war seltsam. Verabredungen hielt er nicht ein, weil er sich den falschen Tag gemerkt hatte. Er kehrte aus der Stadt zurück und hatte vergessen, daß er etwas mitbringen sollte. Oder er hatte eingekauft, und es war das Falsche gewesen.

»Ich fürchte, mein Vater kommt nicht«, sagte Una zu dem Träger. »Er hat sich bestimmt die falsche Ankunftszeit notiert.«

»Machen Sie sich mal keine Sorgen, M'mselle«, erwiderte er, »ich werde Ihnen einen Wagen besorgen. Eine hübsche kleine Kutsche, die Sie sicher dorthin bringen wird, wo Sie hinwollen.«

Seine Stimme klang so väterlich und voller Fürsorge, daß Una ihn dankbar anlächelte.

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie und wußte, daß er bei der Wahl des Fahrers umsichtig vorgehen würde.

Sie, bedankte sich mit einem, wie sie glaubte, angemessenen Trinkgeld bei ihm.

Als Una ihm dann die Adresse ihres Vaters auf dem Montmartre angab, sah sie der Mann überrascht an. Er blickte noch hinter dem Wagen her, als dieser den Bahnhofsbereich verließ.

Una spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.

Welch eine Freude, wieder in Paris zu sein!

Es war ihr, als seien nicht drei Jahre, sondern eine Ewigkeit vergangen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Und doch kam ihr gleichzeitig alles so vertraut vor, daß sie das Gefühl hatte, nie fortgewesen zu sein.

Die hohen grauen Häuser mit ihren hölzernen Fensterläden, die belebten Boulevards, die Menschen in den Straßencafés an den kleinen runden Marmortischen, die Stände der Obsthändler und der Andenkenverkäufer - alles war noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte.

Während die Kutsche gemächlich dahinrollte, glaubte Una sogar den Duft des Kaffees zu riechen, der hier ein viel feineres Aroma hatte wie in Italien.

Die Straße begann allmählich anzusteigen, und als Una die Augen hob, sah sie hoch über sich die steil in den Himmel aufragenden weißen Türme von Sacré-Coeur.

Aus dem Unterricht wußte Una, daß ein Jesuit nach Frankreichs Niederlage bei Sedan die Idee gehabt hatte, das Land unter den Schutz des Göttlichen Herzens Jesu zu stellen.

Dieser Vorschlag war im Volk auf begeisterte Zustimmung gestoßen.

Von allen Kanzeln Frankreichs war plötzlich der Ruf ertönt: »Die Verehrung des Göttlichen Herzens Jesu wird Rom und Frankreich die Rettung bringen!«

In der Tat nutzte der italienische König Viktor Emmanuel den geschwächten Zustand Frankreichs schamlos aus und ergriff die Gelegenheit, Rom und damit auch den Vatikan unter seine Kontrolle zu bringen. Der Papst hatte sich daraufhin einen »Gefangenen des Vatikans« genannt.

Aber der Idee, in Paris eine Kirche zu Ehren des Göttlichen Herzens Jesu zu bauen, war ein durchschlagender Erfolg beschieden gewesen.

Millionen von Francs wurden gesammelt, und es war der Erzbischof von Paris, Kardinal Guibert, der entschied, daß die Basilika auf dem Montmartre errichtet werden solle.

»Hier ist der geeignete Ort«, rief der Kardinal in einer vielbeachteten Predigt aus, »um dem Allerheiligsten Herzen einen Thron zu weihen, von dem aus es alle an sich ziehen kann. Ja, laßt uns Ihm auf der höchsten Erhebung unserer Stadt einen Tempel errichten - zum Zeichen unserer religiösen Erneuerung und Wiedergeburt.«

Una blickte ergriffen zu den hohen Türmen auf, die von der Sonne in ein fast überirdisches Licht getaucht wurden. Und dieses Bild ließ in ihr die Überzeugung reifen, daß der Montmartre doch nicht verderbt und gottlos sein könne; wie die Mädchen auf der Klosterschule es behauptet hatten.

Una war nicht katholisch, denn ihre Eltern gehörten als Engländer der anglikanischen Kirche an.

Doch in Florenz war Una hauptsächlich mit katholischen Mädchen zusammen gewesen und hatte erlebt, wie wichtig ihnen ihr Glaube war und wie tief er ihr Leben prägte.

Sie war sicher: Wie lasterhaft der Montmartre in der Vergangenheit auch gewesen sein mochte, das Gotteshaus inmitten des Sündenbabylons würde alles Verdorbene und Gottlose vertreiben und das ganze Viertel mit einer Atmosphäre der Heiligkeit durchdringen.

Die Straße, die zum Montmartre hinaufführte, war gewiß so steil und mühevoll wie der Weg zum Himmel selbst.

Das Pferd ging langsamer; und es fiel Una auf, daß die Bewohner des Viertels sich in ihrem Äußeren auffallend von den Menschen unterschieden, die die Boulevards und Plätze unten in der Stadt bevölkerten.

Überall sah sie Männer in weiten Samtjacken, mit verwegen gebundenen Halstüchern und Schleifen. Die Frauen trugen meist Phantasiekostüme, Kleider, die auch nicht im Entferntesten von einer der augenblicklich herrschenden Moderichtungen beeinflußt schienen.

Diese phantastische Aufmachung wirkte eigenartig, aber zugleich aufregend und attraktiv.

Una machte sich ein Vergnügen daraus, die Menschen aufgrund ihrer Kleidung in bestimmte Klassen einzuordnen, und sie versuchte sich die Frage zu beantworten, wer von ihnen Laufbursche, Wäscherin, Verkäuferin, Ladenbesitzer oder Handwerker sei.

Sie bemerkte auch einige wild aussehende Männer, die offensichtlich zur Gruppe der berühmt-berüchtigten Apachen gehörten, und sie fragte sich, ob die Schauergeschichten von blutigen Messerstechereien und Pistolenkämpfen in engen, nachtdunklen Gassen, von denen sie gehört hatte, wirklich der Wahrheit entsprachen.

Sie sah Maler, die, mit einem Skizzenblock bewaffnet, auf Motivsuche waren, und andere, die ihre Staffelei mitten auf der Straße aufgestellt hatten und - umringt von zahlreichen Neugierigen - einen der vielen malerischen Winkel auf dem Montmartre verewigten.

Una spürte die Atmosphäre unbeschwerter Heiterkeit, die über diesem Stadtteil lag, und sie war davon so angetan, daß sie unwillkürlich den Atem anhielt.

Alles war so ungewöhnlich, so neu und erregend für sie. Sie konnte sich nicht satt sehen an dem bunten Treiben und hoffte, ihr Vater würde ihr erlauben, des Öfteren einen Bummel durch die Straßen oder einen Besuch im Atelier eines seiner hoffentlich zahlreichen Künstlerfreunde zu machen.

Una war so sehr mit Schauen beschäftigt, daß sie überrascht aufblickte, als die Kutsche vor einem mehrstöckigen Haus, dessen Äußeres dringend eines Anstrichs bedurft hätte, anhielt.

Das Gebäude wirkte heruntergekommen und trostlos, und Una verspürte ein leichtes Gefühl der Beklemmung oder gar der Unruhe.

»Da wären wir, M'mselle!« rief der Kutscher und schaute sie über die Schulter hinweg an.

»Danke«, sagte Una.

Ächzend stieg der alte, ziemlich beleibte Mann vom Kutschbock und öffnete ihr den Wagenschlag.

Dann nahm er ihren Reisekoffer und setzte ihn auf dem Bürgersteig ab.

Una zahlte, und der Kutscher fragte: »Soll ich Ihnen den Koffer ins Haus tragen, M'mselle?«

»Das wäre sehr freundlich«, antwortete Una.

Vor ihm schritt sie durch die offenstehende Tür und betrat ein enges, dunkles Treppenhaus.

»Zu welcher Wohnung wollen Sie, M'mselle?« fragte der Kutscher.

Zum ersten Mal wurde Una bewußt, daß ihr Vater in einem Mietshaus wohnte, in dem sich mehrere Ateliers befinden mußten. Bisher hatte sie einfach angenommen, daß er ein eigenes Haus bewohne.

Sie wollte schon antworten, daß sie keine Ahnung habe, als ihr Blick auf einige Namensschilder fiel.

Erleichtert stellte sie fest, daß auf einem davon der Name des Vaters stand.

Auch der Kutscher hatte inzwischen die Schilder bemerkt.

»Nun«, sagte er, »wenigstens wissen Sie jetzt, wo wer ist.«

»Mein Vater wohnt in Nummer drei«, antwortete Una.

»Das ist eine Etage höher«, stellte der Kutscher resigniert fest.

Er hob den Koffer auf die Schulter und stieg vor Una die Treppe hinauf. Sie hatte keinen Läufer und knarrte bedrohlich unter seinem Gewicht.

Die Tür auf der ersten Etage hatte ein Holzschild, auf dem mit schwarzer Farbe der Name aufgemalt war: JULIUS THOREAU.

Aufgeregt schob sich Una auf dem schmalen Podest an dem dicken Kutscher vorbei und pochte an die Tür.

Da keine Antwort erfolgte, drückte Una gegen die Tür.

Erstaunlicherweise war sie nur angelehnt, und das Mädchen stand vor einem riesigen Raum, in dem Chaos herrschte.

Zwischen Sofas, Stühlen und Tischen standen mehrere Staffeleien, die Bühne für das Modell, eine Fußleiter und zahllose, mit Leinwand bespannte Keilrahmen.

An den Wänden hingen ungerahmte Ölbilder, und auf dem Fußboden lagen wild durcheinander Bücher, Hanteln, reihenweise leere Weinflaschen und die verschiedensten Kleidungsstücke, die vorwiegend von Damen getragen wurden.

Bestürzt blickte das Mädchen sich um.

Der Kutscher setzte geräuschvoll den Koffer ab.

»Sieht aus, als wäre hier schon lange nicht mehr aufgeräumt worden, M'mselle«, sagte er schmunzelnd.

Noch bevor Una sich von ihrem Schreck erholt hatte und ihm antworten konnte, hatte er sich bereits umgedreht und das Zimmer verlassen. Seine schweren Schritte verhallten im Treppenhaus.

Unas Blick irrte fassungslos im Zimmer umher.

Sie fragte sich, wie ein Mensch in diesem Chaos leben konnte.

Dann entdeckte sie am anderen Ende des Raumes eine schmale Holzstiege und nahm an, daß sie ins Schlafzimmer hinaufführte.

Der Gedanke durchzuckte sie, ihr Vater könne vielleicht krank sein. Das wäre auch eine Erklärung dafür, daß er sie nicht vom Zug abgeholt hatte.

Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch die Unordnung, schob Stühle beiseite, schritt über die Scherben einer wertvollen Chinavase, hob ein halbfertiges Bild vom Boden auf und lehnte es gegen die Wand.

Sie stieg die enge Treppe hinauf und fand, wie erwartet, ein kleines Schlafzimmer. Ein breiter Diwan diente als Bett.

Ein Fuß der Kommode war durch Bücher ersetzt. Es gab mehrere zerbrochene Stühle, und die Wände waren mit Bildern von halbnackten Frauen in seltsam leuchtenden, kräftigen Farben behängt.

Una betrachtete sie eine Zeitlang und empfand ein Gefühl der Verlegenheit.

Da sich in diesem Raum niemand aufhielt, kam sie sich wie ein Eindringling vor, der irgendwelche geheimen Dinge ausspioniert. Rasch wandte sie sich ab und kehrte ins Atelier zurück.

Dieser Raum hatte ein großes Fenster mit Nordlicht, und auf der Staffelei stand ein unvollendetes Gemälde, des Una mit fast magischer Gewalt anzog.

Erneut bahnte sie sich einen Weg zwischen Bildern, Büchern und Kleidungsstücken hindurch und blieb gebannt vor dem Bild stehen.

Sie sah, daß es eine Arbeit ihres Vaters war, aber ganz offensichtlich hatte er neuerdings seinen Stil geändert.

Typisch für ihn war die Art gewesen, wie er in seinen Bildern die Lichter setzte und den Farben Leuchtkraft verlieh. Seine Arbeiten besaßen eine ungeheure Brillanz, die die Aufmerksamkeit des Betrachters festhielt und ihn in ihren Bann zog.

Una versuchte zu verstehen, was er in diesem Bild mitteilen wollte, denn er hatte ihr einmal erklärt, daß ein wirklicher Künstler nicht das male, was er mit den Augen sehe, sondern das, was er hinter der sichtbaren Gestalt vom Wesen der Dinge erahne und erspüre.

Doch je länger sie das Bild auf der Staffelei vor sich betrachtete, desto unverständlicher und unbegreiflicher wurde es für sie. Das, was sie da vor sich sah, war nur eine gestaltlose, abstrakte Fülle in sich zerfließender Farbflächen und Linien, ohne daß darauf auch nur die Spur eines Gegenstandes oder einer Figur zu erkennen war.

Papa wird es mir erklären müssen, dachte sie.

In diesem Augenblick vernahm sie Schritte im Treppenhaus. Ihr Herz schlug schneller, und erwartungsvoll wandte sie sich zur Tür.

Vater, dachte Una. Endlich würde sie ihn wiedersehen, und alles, was sie im Augenblick noch beunruhigte und ängstigte, würde gut werden.

Ihre Lippen formten bereits das Wort »Papa«, als sie sah, daß der Mann, der das Atelier betreten hatte, nicht ihr Vater war.

Der Fremde, ein Mann Mitte Vierzig, war nach der neuesten Mode gekleidet. Der hohe Zylinder saß ein wenig schief auf seinem Kopf, und in seiner Krawatte blitzte eine große Perle. Sein Anzug war aus feinstem Tuch, und der goldene Knauf seines Malaccastöckchens schwang nervös auf und ab.

Ein Mann wie aus dem Ei gepellt, aber in der heillosen Unordnung des Ateliers wirkte er irgendwie fehl am Platz.

So, als sei er hier zu Hause, bahnte er sich einen Weg durch das Zimmer. Er schien Una, die reglos vor der Staffelei stand, nicht bemerkt zu haben. Seine ganze Aufmerksamkeit galt einem Bild, das gleich bei der Stiege hing.

Erst als er das Bild schon fast erreicht hatte, schien er zu merken, daß er nicht allein im Raum war.

Er blieb stehen und wandte den Kopf in Unas Richtung.

Sie stand im Licht des großen Atelierfensters, und die goldene Lockenpracht ihres Haares umgab sie wie eine Aureole.

»Wer sind Sie denn?«

Die Stimme des Mannes klang scharf und autoritär, und Una antwortete ein wenig unsicher: »Ich ... ich warte auf meinen Vater.«

»Auf Ihren Vater?«

»Ja, er ließ mich nach Paris kommen, und ich hoffte, er würde mich vom Zug abholen - aber vielleicht habe … habe ich ihn verfehlt.«

»Ihr Vater ist Julius Thoreau?«

Die Stimme des Gentleman klang zögernd, so, als überlegte er sich jedes einzelne Wort, das er sprach.

»Ja, ich bin seine Tochter Una.«

»Und er ließ Sie nach Paris kommen? Wie lange ist es her, daß er Ihnen geschrieben hat?«

»Acht... nein, neun Tage. Er schickte mir ein Telegramm, zum Konvent der Schwestern Unserer Lieben Frau nach Florenz.«

»Vor neun Tagen! Ja, das könnte möglich sein!«

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Ist Papa krank?«

Der Gentleman kam auf sie zu. Er mußte einen Stuhl umrunden, auf dem die Scherben eines Tongefäßes und ein Karton mit schwarzen und weißen Straußenfedern lagen.

Una rührte sich nicht von der Stelle. Kein Muskel an ihr bewegte sich. Nur die Augen leuchteten groß und fragend in ihrem kleinen Gesicht:

»Was ist geschehen? Stimmt etwas nicht?« erkundigte sie sich, als der Gentleman vor ihr stand.

»Ich bedaure, es Ihnen sagen zu müssen«, sagte der Unbekannte sanft, »aber Ihr Vater ist gestern beerdigt worden.«

»B ... beerdigt? «

Sie brachte das Wort nur mühsam hervor, dann fuhr sie fort: »Aber wie ist das möglich?«

In den Augen des Gentleman flackerte es unruhig. Es schien, als sei er sich nicht schlüssig, ob er dem Mädchen die ganze Wahrheit sagen solle.

»Ihr Vater stürzte«, erwiderte er. »Dabei muß er sich so erschreckt haben, daß sein Herz aussetzte. Als man ihm zur Hilfe eilte und ihn aufheben wollte, war er bereits tot.«

Es gibt keinen Grand, dachte er bei sich, diesem unschuldigen Kind zu sagen, daß sein Vater im volltrunkenen Zustand einen Streit angefangen hatte, dabei die Treppe hinuntergestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.

Una faltete die Hände.

»Wie konnte etwas so ... so Furchtbares nur geschehen?« fragte sie flüsternd.

»In irgendeiner Weise war es ein sehr barmherziger Tod«, sagte der Gentleman tröstend. »Ihr Vater brauchte nicht mehr zu leiden.«

»Das ... das ist eine große Beruhigung für mich.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Sind Sie ein Freund von Papa?«

»Ich kannte Ihren Vater viele Jahre«, erwiderte der Gentleman. »Und ich glaube sicher, er würde auf diese Frage antworten, daß ich sein Freund war. Tatsächlich bin ich es, der jedes seiner Bilder verkaufte. Allerdings geschah das viel zu selten - leider.«

Una stieß einen kleinen Schrei aus.

»Jetzt weiß ich, wer Sie sind«, sagte sie. »Sie sind Monsieur Philippe Dubucheron!«

»Richtig. Hat Ihr Vater Ihnen von mir erzählt?«

»Ich kenne Ihren Namen von Mama«, erwiderte Una. »Sie pflegte zu sagen: ‚Geh zu Monsieur Dubucheron, Julius! Sag ihm, daß du ein Bild fertig hast!‘«

Ihre Mutter hatte; dann immer hinzugefügt: »Wir brauchen dringend Geld, hörst du!« Aber das verschwieg Una wohlweislich.

»Ich muß gestehen, ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß Ihr Vater eine Tochter besaß - und noch dazu eine wie ich betonen darf - so attraktive.«

Das Kompliment machte Una ein wenig verlegen, und Monsieur Dubucheron beobachtete voller Entzücken, wie eine zarte Röte die Wangen des Mädchens überzog und wie die längen seidigen Wimpern über den ausdrucksvollen Augen unruhig auf und nieder flatterten.

Es waren ungewöhnliche Augen, grün mit goldenen Sprenkeln darin, und zu seiner Überraschung ließen sie ihn an den poetischen Vergleich eines im Sonnenlicht funkelnden Stromes denken.

Dieses Mädchen war von einer Klarheit und Reinheit, wie er es bei einer Frau nur selten - wenn er ehrlich war, sogar noch niemals zuvor - gesehen hatte.

Allerdings gab es eine Erklärung, nämlich die, daß er in seinem Beruf und vor allem im Atelier Julius Thoreaus für gewöhnlich nicht mit unschuldigen Klosterschülerinnen zusammentraf. Die Frauen, denen man hier begegnete, gehörten zu einer ganz anderen Kategorie.

Monsieur Dubucheron schüttelte fast unmerklich den Kopf.

Plötzlich stand die Szene wieder vor seinen Augen, deren Zeuge er wurde, als er vor elf Tagen - oder waren es neun! - zu Thoreaus Atelier hinaufgestiegen war.

Er hatte den Treppenabsatz erreicht, die Tür war aufgeflogen und eine Frau aus der Wohnung gestürmt. Aus ihrem Mund kamen die gemeinsten Obszönitäten, und sie gebärdete sich wie eine Wahnsinnige. Ohne ihn zu beachten, rannte sie an ihm vorbei die Treppe hinunter.

Dubucheron betrat das Atelier und fand Julius Thoreau, einen abgebrochenen Pinsel in der Hand, vor seiner Staffelei.

Ein einziger Blick genügte dem Kunsthändler, um festzustellen, daß der Maler nicht in der besten Verfassung war.

Im Gegenteil; er befand sich in einem äußerst miserablen Zustand.

Er war betrunken. Sinnlos und auf die entwürdigendste Art betrunken - wie eigentlich ständig in den vergangenen drei Jahren, seit er diese Wohnung auf dem Montmartre bezogen hatte.

Dummerweise hatte Monsieur Dubucheron das Bild, an dem Thoreau arbeitete, bereits vor zwei Tagen bezahlt. Es war zu diesem Zeitpunkt bis auf wenige Kleinigkeiten fertig gewesen. Umso verärgerter war der Kunsthändler jetzt, als er feststellte, daß Thoreau in der Zwischenzeit keinen Pinselstrich mehr daran getan hatte.

Bei der Frau, die soeben schreiend und fluchend die Treppe hinuntergestürmt war, hatte es sich wohl um das Modell für die Figur im Vordergrund gehandelt.

»Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, Thoreau?« hatte Dubucheron den Maler zornig gefragt. »Sie haben mir versprochen, das Bild bis heute fertig zu machen. Der Kunde wartet darauf. Wie Sie wissen, hat er bereits bezahlt und wird heute abend Paris wieder verlassen.«

»Na, was denn«, erwiderte Julius Thoreau mit schwerer Zunge, »dann fährt er eben ohne das Bild.«

»Ich hasse nichts mehr, als wenn man ein gegebenes Versprechen nicht einhält«, gab Philippe Dubucheron zurück. »Und was noch schlimmer ist: Sie werden mir das Geld zurückgeben müssen, das Sie so notwendig brauchen.«

Bei diesen Worten wurde ihm bewußt, wie sehr letzteres zutraf.

Julius Thoreau war bekleidet mit einem zerrissenen Hemd, das unbedingt einmal gewaschen und geflickt werden mußte. Und seine Hosen waren von oben bis unten mit Farbe beschmiert.

Die Schuhe waren ausgetreten, die Absätze schiefgelaufen, und der Bart hatte schon seit Tagen kein Rasiermesser mehr gesehen.

Welch gutaussehender, distinguiert wirkender Mann war Julius Thoreau einmal gewesen!

Aber die ständigen Gelage hatten ihn zerstört und ihn zu einer Karikatur seiner selbst werden lassen.

Aus Thoreau ist ein Wrack geworden, eine menschliche Ruine, dachte Dubucheron angewidert und zugleich voll Mitgefühl.

Dick und aufgeschwemmt hockte der Künstler vor seiner Staffelei und stank wie eine Kloake.

»Na gut«, erklärte Monsieur Dubucheron. »Da Sie das Bild nicht pünktlich fertiggestellt haben, kann ich es Ihnen nicht abnehmen. Sie schulden mir Geld, Thoreau. Ich weiß, daß ich es abschreiben kann. Aber lassen Sie es sich gesagt sein, es war das letzte Mal, daß Sie von mir eine Vorauszahlung erhalten haben. Beim nächsten Mal - falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt - liefern Sie mir erst das Bild. Keinen Sou bekommen Sie von mir, ehe ich es nicht fix und fertig in Händen habe.«

»Mein Gott, was soll diese Aufregung?« stöhnte Thoreau. »Ich male das verdammte Bild zu Ende. Beruhigen Sie sich doch. Ich brauche höchstens noch ein paar Stunden.«

»Ohne Modell?« fragte Philippe Dubucheron.

»Zum Teufel mit dieser geldgierigen kleinen Hure! Alles, was diese Weiber von einem wollen, ist Geld. Francs, Francs und noch mehr Francs. Die von eben wollte mir nicht sitzen, bevor ich sie bezahlt hatte.«

»Auch sie muß sich ihren Lebensunterhalt verdienen«, gab Philippe Dubucheron scharf zurück. »Hören Sie auf, einen Narren aus sich zu machen, Thoreau! Sie können das Bild ohne Modell nicht fertigmalen. Also holen Sie sie schon zurück!«