Alleine - Klaus Biedermann - E-Book

Alleine E-Book

Klaus Biedermann

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Beschreibung

Tagebuch einer Quarantäne - Band 1 Als Lisa nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter aus Portugal im Birkenhof ankommt, in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, erkrankt sie an COVID. Ausgerechnet diesmal hat sie ihr Ladekabel vergessen, sodass sie sparsam mit ihrem Smartphone umgehen muss. Ihr IPad hat sie einer Kollegin ausgeliehen, die auf dem Schiff bleiben musste. Das Telefon im Haus der Großmutter funktioniert nicht. Von der Außenwelt abgeschnitten, beschließt sie nach Abklingen der Symptome, ihre Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken in einem Tagebuch festzuhalten und hofft auf einen negativen zweiten Test. Während die Zeit vergeht, hat sie irgendwann das Gefühl, in dem Haus nicht alleine zu sein.

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Für Maria, die in einem Moment mehr an mich geglaubt hat, als ich selbst.

Ich danke all meinen Kunden, Mitarbeitern, Klienten, Patienten, Studenten und Freunden, die das INNENREICH Zentrum in Ruhstorf a.d. Rott mit Leben gefüllt haben.

Diese Jahre von 1989 - 2003 gehören zu den wertvollsten meines Lebens.

Stellvertretend möchte ich nennen: Maria Schätz †, Erhard F. Freitag †, Prof. Dr. Breuer, Christine, Doris, Kathi, Sepp, Theresa, Sonja, Britta, Bettina und An dreas Zimmermann, der diese Arbeit ganz in der Nähe auf eine wunderbare Weise fortführt.

Da Liebe durch den Magen geht, danke auch an Dieter, Marina, Norbert und Marianne.

Wir kommen alleine und wir gehen alleine.

„Wie kann man einen Menschen beweinen, der gestorben ist? Diejenigen sind zu beklagen, die ihn geliebt und verloren haben.“

(Helmuth von Moltke)

„Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn nie mand mehr an ihn denkt.“

(Bertolt Brecht)

„Was für ein herrliches Leben hatte ich!

Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.“ (Colette)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Prolog

Margarete Wellner war gestorben. Mit den Altbauern vom Steinerhof und der treuen Seele Magdalena hatte sie noch mit ihrer Enkelin auf das neue Jahr angestoßen.

„2020“, hatte sie zu Lisa gesagt, „wird ein großartiges Jahr werden … du wirst sehen, mein Engel.“

Nicht viel später war sie selbst ein Engel. Es war schnell gegangen und genau so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie ist in ihrem eigenen Bett eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Die Frau, von der jeder gedacht hatte, dass sie ewig leben wird.

Die Nachricht vom Tod ihrer Großmutter hatte Lisa auf dem Schiff erreicht, sodass sie an der Einäscherung nicht teilnehmen konnte. Aus Portugal kehrt sie auf den Birkenhof zurück, erkrankt dort an Covid 19 und muss in Quarantäne.

Kapitel 1

Tag 9

Vielleicht habe ich mich im Taxi angesteckt. Die Inkubationszeit, von der man berichtet, spricht zwar dagegen, aber wer weiß schon Genaues, wenn es um das Virus geht. Vielleicht bin ich ja im Krankwerden genauso schnell wie im Heiraten oder Berufe wechseln.

Der Fahrer, ein stämmiger Türke, hatte unter seiner Atemschutzmaske ständig gehustet, jedoch gemeint, ich brauche keine Angst zu haben, das sei nur eine Pollenallergie. Er hatte akzentfreies Deutsch gesprochen, und nachdem er mich zu Hause abgesetzt hatte, kannte ich seinen Lebenslauf. Angefangen von seiner Geburt in Köln, wo sein Vater als einer der ersten Gastarbeiter am Fließband bei Ford gearbeitet hatte, bis hin zu zwei gescheiterten Ehen mit drei inzwischen erwachsenen Kindern, samt vier Enkeln und seiner Mutter, die Analphabetin ist und bis heute kaum ein Wort Deutsch spricht. Die Fahrt hatte sich für ihn gelohnt, denn vom Flughafen bis zum Birkenhof sind es gut hundert Kilometer.

Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wäre ich länger als einen halben Tag unterwegs gewesen, so selten wie die zur Zeit fahren. Außerdem wollte ich schnell nach Hause. Ob ich von unserem Dorf dann noch ein Taxi für die letzten vier Kilometer bekommen hätte, konnte ich auch nicht wissen. Laufen wollte ich die Strecke mit meinem schweren Koffer jedenfalls nicht.

Eine lustige Anekdote hatte mir Ali dann bei einem Glas Wasser in der Küche erzählt. Wir hatten inzwischen beide unsere Masken abgenommen, nachdem ich ihn darum gebeten hatte. Endlich, nach Stunden der Enge wieder frei atmen. Was für ein Geschenk, unser Atem! Auch Ali war sichtlich erleichtert.

Jeder Gastarbeiter aus der Türkei hatte wohl damit gerechnet, eines Tages in die Heimat zurückzukehren und sich dort mit dem in Deutschland verdienten Geld ein Haus zu bauen. Dafür hatte man im Laufe der Zeit alle möglichen Elektrogeräte angeschafft. Mixer, Kaffee- und Küchenmaschinen, Staubsauger, elektrische Messer und vieles mehr für den täglichen Gebrauch. All´ diese Geräte stapelte man in ihren Originalverpackungen in einem Zimmer der Wohnung. Erst vor fünf Jahren hätten seine Eltern endlich die Geräte ausgepackt, allerdings nicht in Amarat sondern in Nippes.

Er hatte sich seinen Bauch gehalten vor Lachen, während er mir das erzählte.

„Und wissen Sie, was das Beste daran ist? Die meisten dieser Sachen sind total veraltet“, meinte er mit Tränen in den Augen und fügte mit ernsterer Mine hinzu: „Die meisten meiner Landsleute haben sich bis heute nicht richtig integriert, weil ihr sie ‚Gastarbeiter‘ genannt und zugesehen habt, wie sich überall Parallelgesellschaften gebildet haben. Und wir sind bereits in der dritten Generation hier. Den gleichen Fehler macht ihr mit den Migranten schon wieder.“

Ich hatte erst einmal kein Gegenargument, weil er aus seiner Sicht so recht hatte. Dann fielen mir die ‚Boatpeople‘ aus Vietnam an, die sich doch sehr gut integriert hätten. Tausende waren in den Siebzigern bei uns gelandet. Auf dem Gymnasium hatte ich zwei Klassenkameraden, deren Eltern damals geflohen waren. Natürlich haben wir auch diesen Krieg im Unterricht behandelt und sogar heute habe ich das Bild vor Augen, das ein damals neunjähriges Mädchen zeigt, das von einem Napalmangriff schwer verletzt worden war. Es wurde eines der bekanntesten Fotos aus dieser Zeit.

Das könne man nicht vergleichen, hat Ali gemeint, außerdem habe er davon noch nie etwas gehört. Auf seinem Smartphone hat er das dann sofort gegoogelt und mir dann staunend vorgelesen, dass der Fotograf Nick Út damals, 1972, die schwer verletzte Phan Thi Kim Phúc ins Krankenhaus gebracht hatte, wo sie gerettet worden war. Dreißig Prozent ihrer Körperoberfläche waren verbrannt gewesen und sie konnte erst nach zwei Jahren und vielen Hauttransplantationen nach Hause zurückkehren. Später hat sie sogar in Kuba Medizin studiert und war dann nach Kanada emigriert, wo sie auch heute noch mit Mann und zwei Söhnen lebt. Wenn es mir nicht so schlecht gegangen wäre, hätte ich mich sicher auf eine Diskussion mit Ali eingelassen. Großmutter hätte bestimmt heftig mit ihm diskutiert. Warum? Darauf komme ich vielleicht später noch zurück. Nur soviel dazu: Ali hatte eine kleine grüne Flagge am Innenspiegel seines Wagens hängen.

Auf Anraten unseres Schiffsarztes rief ich gleich am nächsten Morgen in unserer Dorfpraxis an. Mit dem Festnetz hatte ich keinen Anschluss bekommen, aber etwas Akkuleistung war noch auf dem iPhone. Man hatte das Schiff nur mit negativem Test verlassen dürfen. Darauf hatten die Portugiesen natürlich bestanden. Wie inzwischen klar sein dürfte, hatte ich das Virus da bereits.

Dr. Kraft war in voller Schutzkleidung zum Birkenhof gekommen. Ich erkannte ihn zunächst nur an seiner Stimme. Er hatte leider nicht viel Zeit zum Reden. Über Großmutters plötzlichen Tod war er genauso überrascht gewesen, wie ich.

„So hat sie ihn sich gewünscht“, hatte er gemeint, „ernsthaft krank war sie meines Wissens nie gewesen, jedenfalls nicht in den letzten dreißig Jahren.“

Ein paar Stunden später hatte er dann angerufen und mir mein Ergebnis mitgeteilt.

Das Fieber war über Nacht gekommen und ein bisher so nicht gekannter Husten, der fast unerträglich war und mit Atemnot daherkam. Ich dachte, es würde mir die Brust zerreißen. Der Doc hatte sehr ernst geklungen … obwohl er immer ernst geklungen hat. Großmutter hatte sich oft über ihn lustig gemacht, wenn er bei seinen routinemäßigen Hausbesuchen wieder nichts gefunden hatte, was zur Besorgnis Anlass gegeben hätte. Obwohl ich glaube, dass sie ihn geliebt hat … irgendwann einmal, in grauer Vorzeit und lange nach dem Tod ihres Mannes. Ich hatte vor ein paar Jahren darauf bestanden, dass der Doc regelmäßig Großmutters Blutdruck misst und sie untersucht. Von selbst wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich durchchecken zu lassen. Nicht bevor sie mit ihrem Kopf unter dem Arm herumlaufen würde. Originalton Grete.

Diesmal ging es um mich. Ich dürfe in den nächsten zwei Wochen in keinem Fall das Grundstück verlassen, hatte der Doc noch gemeint.

„Du kannst mich natürlich jederzeit in der Praxis anrufen, wenn du etwas brauchst, Lisa. Doch wie ich deine Großmutter kenne, bist du bestens versorgt.“

In Quarantäne hätte ich sowieso gemusst, denn das galt für jeden, der aus dem Ausland eingereist war, das unisono zum Risikogebiet erklärt worden war. Mehr als zehntausend Deutsche warteten zu der Zeit überall auf der Welt auf ihren Rückflug, der von der Bundesregierung organisiert worden war - logistisch sicher eine Mammutaufgabe.

Mit diesen hässlichen Symptomen in Quarantäne zu sein, war doppelt unangenehm. Dr. Kraft musste meine Erkrankung dem Gesundheitsamt melden. Eine Mitarbeiterin von dort, ich habe ihren Namen nicht verstanden, hatte dies kurz darauf bestätigt. Meine Quarantäne würde kontrolliert werden, hatte sie mit strenger Stimme gesagt, und wenn sich die Symptome verschlimmern würden, sollte ich mich sofort an den Notdienst wenden, um mich in eine Klinik bringen zu lassen. In frühestens zwei Wochen würden Mitarbeiter für einen zweiten Test zu mir nach Hause kommen.

Ich war von Anfang an zuversichtlich gewesen, denn ich gehöre nicht zur Risikogruppe, wenn man den Nachrichten aus dem RKI glauben kann, die sich allerdings häufig ändern, was in der Wissenschaft aber nicht unüblich ist. Außerdem bin ich Optimistin. Andernfalls bin ich sowieso geliefert, denn wie soll ich ohne Telefon den Notdienst rufen, wenn der Akku bis dahin leer sein sollte?

Und der wird bald leer sein.

Kapitel 2

Ich liebe die Abgeschiedenheit des Birkenhofs. Den nahen Wald mit seinem würzigen Duft, das flüsternde Geräusch des Windes, wenn er mit den Blättern der Birken und den Zweigen der Trauerweide am Teich spielt, den Gesang der Vögel, das Summen der Insekten und die Stille der Nacht … normalerweise.

Obwohl es nie so einsam war, wie jetzt, wo Großmutter nicht mehr da ist und zwar unwiederbringlich. Dieser Platz, auf dem ich aufgewachsen bin, ist mein Kraftort. Hier tanke ich in wenigen Stunden meine Batterien auf, wenn ich aus der Betriebsamkeit meines beruflichen Alltags komme. Wie ich auf unbestimmte Zeit in dieser speziellen Situation, in der die Welt auf dem Kopf steht, damit umgehen werde, kann ich allerdings im Moment nicht sagen.

Die letzten Tage, an denen ich krank war, waren auf eine andere Art schwieriger als die, die jetzt noch kommen werden. Ich weiß gar nicht, ob ich gut alleine sein kann, da ich es nie über einen längeren Zeitraum hindurch erlebt habe. Es war immer jemand da. Gerade in der letzten Woche hätte ich mir aber die Gesellschaft meiner Großmutter gewünscht oder die von Magdalena samt ihrer so schmackhaften Hühnersuppe.

Bestimmt habe ich abgenommen, jedenfalls sagt mir das meine Jeans, und die lügt nie. Wie soll man von Zwieback und Kräutertee auch zunehmen? Großmutter würde jetzt ihre Hände über dem Kopf zusammenschlagen und rufen: „Engelchen, du musst was essen, sieh dich nur an!“

Wenn das Telefon im Haus wieder funktioniert, wird das Leben einfacher sein. Bis jetzt hatte ich keine Lust zu telefonieren, woran sicher das Fieber schuld war. Inzwischen bin ich fieberfrei und auch der Husten hat nachgelassen. Bei schönem Wetter werde ich mich im Garten aufhalten. Arbeit gibt es dort genug, wenn ich wieder zu Kräften gekommen bin. Mein Gott, wie lange war ich schon nicht mehr hier! Sylvester zähle ich nicht, das waren nur drei dunkle, kalte Tage mit viel Schnee und fünfzehn Minusgraden in der Nacht gewesen. Drei Meter lange Eiszapfen hingen plötzlich über Nacht von den Dächern und mahnten zur Vorsicht. In der Hofchronik wird von einem tragischen Unfall im Jahre 1956, einem der härtesten Winter des letzten Jahrhunderts, berichtet. Im Februar sollen es unter 30 Minusgrade gewesen sein. Einem gewissen Hubertus Wenniger soll solch ein Eiszapfen den Schädel regelrecht gespalten haben, als der Unglücksrabe gerade dabei gewesen war, die Wasserleitung am Haus zu reparieren, die durch den Frost aufgebrochen war. Es war, laut Chronik, sogar zu einer Gerichtsverhandlung gekommen, an deren Ende der Richter auf Höhere Gewalt entschieden hatte und nicht auf Verletzung der Sorgfaltspflicht des Hofbesitzers. Da hatte Grete Glück im Unglück gehabt. Gottseidank hatte Hubertus Wenniger eine gute Lebensversicherung, sodass die Witwe versorgt war.

Bereits am Abend des zweiten Januars hatte ich in Gran Canaria meinen Kollegen Fred ablösen müssen, und da herrschten fast sommerliche Temperaturen.

Ostern wollte ich eigentlich bei Großmutter verbringen. Allerdings ist Ostern längst vorbei und Großmutters Asche ist in einer Urne. Dieser Gedanke gefällt mir bei aller Trauer aber immer noch besser, als mir vorstellen zu müssen, wie ihr Körper langsam in der kalten Erde verwest und dabei von Lebewesen verzehrt wird, vor denen sie sich immer geekelt hat, als sie noch lebte.

Ein paar Wochen vor ihrem hundertsten Geburtstag hat sie aufgehört zu atmen. Das wünsche ich mir auch - rüstig und in geistiger Klarheit alt zu werden und dann einfach gehen zu können, ohne großes Buhei. Zwei Tage vor ihrem Tod hat sie zu Magdalena gesagt: „Ich denke, es ist jetzt genug. Ich bin bereit für etwas Neues.“ Das hat mir Maggi am Telefon erzählt. Das war jedenfalls das, was ich durch ihr ständiges Schluchzen verstanden habe.

Ich erinnere mich gerade, wie ich als kleines Mädchen durch den Garten gesprungen bin und ihre selbst bemalten Ostereier gesucht habe, die sie dort sehr übersichtlich „versteckt“ hatte. Besonders die Schokoladenhasen und die Marzipaneier, die Magdalena besorgt hatte, ließen mich vor Freude tanzen. Grete wollte nämlich nicht, dass ich so viel Zucker esse. Ich war manchmal beleidigt, weil die beiden mich so offensichtlich unterschätzt hatten. Ein Blinder hätte die Eier gefunden. Heute liebe ich sie dafür.

Ganz alleine in dieser Einöde … musste mir das ausgerechnet jetzt passieren? Doch ich war zu schwach, ein Taxi zu rufen um zu meiner Freundin Stefanie zu fahren, in deren großem Haus ich ein kleines Apartment bewohnen kann, wenn ich in Deutschland bin und Stadtluft atmen möchte. Sie hätte sich gefreut, wie sie mir vor ein paar Tagen versichert hat, zumal ihr Mann, ein Manager von IBM, in den USA festhängt.

Ich glaube, ich hätte es riskiert. Trotz Kontrollen, einer hohen Geldstrafe und weiteren Strafandrohungen, bis hin zum Knast. Jetzt ist es sowieso unmöglich und ich bin heilfroh, dass ich es nicht gemacht habe. Da war mein Körper schlauer.

Das Haus meiner Kindheit und Jugend ist, seitdem ich vor fünf Jahren aufs Schiff gegangen bin, wieder mein offizielles Zuhause. Nach einer kurzen Schulung der Reederei hatte ich den Job als Reiseleiterin zunächst einmal nur austesten wollen. Immerhin sind aus dieser Probezeit einige Jahre geworden. Damals dachte ich ‚mach das mal für eine kurze Zeit, die Uni läuft nicht weg, ob solch ein Angebot noch einmal kommt, weiß niemand‘.

Mit erstem Wohnsitz bin ich also auf dem Birkenhof, einem für diese Gegend typischen Vierseithof gemeldet, deswegen musste ich vom Flughafen aus direkt hierher fahren. In dem zweistöckigen Haupthaus, das, bis auf den Steinsockel, zum großen Teil aus Eichenholz besteht, habe ich mein schönes geräumiges Zimmer, einen großen Garten mit Gewächshaus, einen verträumten Teich, meine alte Schaukel, meine Erinnerungen und mehr als genug zum Essen.

Die Nachbarn fehlen mir allerdings. Ben und Ruth vom Steinerhof, mit denen wir das neue Jahr begrüßt hatten, sind inzwischen bei ihrer Tochter Edith in der Schweiz. Die beiden haben nach Bens zweitem Herzinfarkt vor drei Jahren mit der Landwirtschaft aufgehört, da es auf absehbare Zeit keinen Nachfolger gibt. Ediths Kinder sind erst acht und sechs Jahre alt.

Mit Edith war ich eng befreundet. Wir haben zusammengeklebt wie die Kletten, vielleicht auch, weil wir die einzigen weiblichen Hoferben der ganzen Gegend waren. Der Steinerhof hielt, neben Gänsen und Enten, hauptsächlich Schafe und Ziegen, und Ruth machte einen hervorragenden Käse aus der Milch. Steiners waren die ersten in der Gegend, die einen Bio-Hofladen eröffnet hatten.

Vor allem an Samstagen rannten die Kunden ihnen die Bude ein, so kann man das wirklich sagen. Viele kamen sogar aus der Kreisstadt, die immerhin fast dreißig Kilometer entfernt war. Neben dem Käse verkauften sie Biohühnchen, Kartoffeln, Obst und verschiedene Gemüsesorten, je nach Saison - vor allem Himbeeren und später Brombeeren, aus denen Ben auch einen sehr leckeren Wein gemacht hat. Sicher liegen davon noch einige Flaschen im Keller. Mir ist er zu süß, jedoch Großmutter als auch Magdalena mochten ihn.

An Weihnachten und St. Martin waren natürlich die Steinerschen Gänse beliebt. Als Edith älter geworden war, hat sie den Laden mit einer Aushilfe, die an Samstagen kam, alleine geführt. Nach dem ersten Herzinfarkt ihres Vaters hat Edith, die damals Kinderpsychologin werden wollte, ihr Studium abgebrochen und sich ganz dem Hof gewidmet, bis sie ihren Mann kennengelernt hatte und zu ihm in die Schweiz gezogen ist. Eine Entscheidung die ihr unendlich schwer gefallen war, obwohl ihre Eltern sie dabei sehr unterstützt hatten.

Ich hatte mehr als einmal mit ihr darüber gesprochen oder sie einfach in den Arm genommen, wenn sie geweint hatte. Wie sie mir bei ihrem letzten Besuch erzählt hat, möchte sie, wenn die Kinder größer sind, das Studium der Kinderpsychologie in Zürich fortsetzen, zumal ihre ehemalige Professorin aus Marburg inzwischen dort lehrt.

Es gibt zu Ben, der eigentlich Bernhard heißt, eine nette Weihnachtsanekdote mit seinen Gänsen, die Edith mir erzählt hatte. Jedes Jahr verkaufte er auf dem Weihnachtsmarkt in der besagten Kreisstadt seine Bioprodukte. Die Steiner-Gänse waren ein Verkaufsschlager, bis auf das Jahr, in dem Ben sie lebend in einem kleinen offenen Stall ausgestellt hatte.

Ein Schild verkündete: „Suchen Sie sich ihre Gans aus, wir schlachten sie an Ort und Stelle - frischer geht es nicht.“

Nur ein Türke und ein Deutsch-Russe haben von dem Angebot Gebrauch gemacht. Schon während der ersten Schlachtung hatte sich eine Menschentraube gebildet, die teilweise fasziniert, meist jedoch angeekelt zuschaute. Viele hatten sich beschwert und gemeint, das sei eine Zumutung, obwohl Ben die Tiere zunächst vor ihren Augen mit einem Elektrostab betäubt hatte. Ben hat den Empörten die Genehmigung der Stadt gezeigt und sie gefragt, ob sie dachten, ihre Weihnachtsgans käme aus der Kühltruhe. Jedenfalls war es bei diesen Schlachtungen geblieben, trotzdem kam Ben ohne Gänse zum Steinerhof zurück.

Was war geschehen?

Eine Studentin hatte spontan über Instagram und Facebook eine Spendenaktion gestartet und Ben die restlichen Gänse abgekauft. Dann hat sie dafür gesorgt, dass die ganze Schar zu einem Gnadenhof gebracht wurde. Eine tolle Aktion, wie ich finde.

Ein Jahr später fanden seine schon geschlachteten und ausgenommenen Gänse wieder reißenden Absatz.

Der andere Nachbar, ebenfalls ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Kühen, Federvieh, Maisund Getreidefeldern befindet sich in ähnlicher Entfernung in gut fünfhundert Metern Luftlinie. Diese beiden Höfe bilden mit unserem ein fast gleichseitiges Dreieck, wobei der Birkenhof die obere Spitze bildet und dem größten Waldgebiet des Landkreises am nächsten liegt.

Von meinem Zimmer aus kann ich den Waldrand in etwa hundert Metern Entfernung gut erkennen. Wirklich ausgemessen habe ich das nie, aber von einigen Leichtathletik-Events an der Schule, weiß ich ziemlich genau, was hundert Meter sind. Für einen mittelmäßigen Läufer mögen sie allerdings wie zweihundert Meter erscheinen. Ich war eine mittelmäßige Läuferin, deswegen kann ich da durchaus aus Erfahrung sprechen. Meine Passion galt Bällen.

Ich freue mich, wenn ich die Kerners nach meiner zweiten Testung, besuchen darf und sehe mich in meiner Erinnerung als Kind mit einer bunt bemalten Kanne dort Milch holen. Franziska, die Bäuerin hatte immer eine süße Leckerei für mich, die ich aber schon auf dem Rückweg verputzen musste. Wenn Großmutter mitbekommen hätte, dass Frau Kerner mir Süßes schenkt, hätte entweder sie eine deftige Standpauke bekommen oder ich hätte nicht mehr hin gedurft. Viele Jahre später hatte ich erfahren, dass Großmutter das sehr wohl gewusst hat.

Wie es den Beiden wohl geht? Otto Kerner hat mir das Melken beigebracht. Er war meist ein wenig griesgrämig, doch ein Herz von einem Mann, was ich schnell realisiert hatte. Franzi und Otto sind inzwischen auch über siebzig und wenn sie eines Tages tot sind, wird den Hof sicher das gleiche Schicksal ereilen. Zumindest was die Landwirtschaft betrifft. Fremde Nachfolger sind schwer zu finden. Niemand will sich mehr für Minierträge krumm buckeln, und wie schwierig es für einen Landwirt ist, eine Frau zu finden, zeigt ja eine Sendung bei RTL in regelmäßigen Abständen mit großem Erfolg. Otto hat über diese Sendung geschimpft - richtig wütend ist er geworden. „Wir werden wie die letzten Idioten dargestellt, die auf verkommenen Höfen mit ihrer alten Mutter leben und nichts auf die Reihe bekommen. Wer heute Landwirtschaft betreibt hat meist studiert und muss sich in EDV und Computern bestens auskennen.“ Ich glaube nicht, dass Otto sich diese Sendung mehr als einmal angeschaut hat.

Ihr Sohn Gottfried, mit dem ich zur Schule gegangen bin, hat studiert, allerdings lebt er als Anwalt in München, ist verheiratet und hat drei Kinder. Wir haben uns nach dem Abitur aus den Augen verloren. Eng befreundet waren wir nie, obwohl wir jahrelang den gleichen Schulweg hatten und den auch oft zusammen gegangen oder gefahren sind. Dabei hat er sich hin und wieder darüber beschwert, dass er seinem Vater auf dem Hof helfen musste, anstatt lernen zu können.

Selbst dem Traktor fahren konnte er nichts abgewinnen, was ich für einen Jungen sehr erstaunlich fand. Ich hingegen fand es toll und bin später nicht mehr wegen der Milch, sondern wegen meiner Fahrstunden zu Otto. Dem hat es sichtlich Freude gemacht, jemandem das Trecker fahren beizubringen, der Spaß daran hatte. Nach ein paar Übungsstunden durfte ich schon zum Heuwenden aufs Feld, natürlich mit ihm auf dem anderen Sitz. Von da an, habe ich ihm in den Herbstferien bei der Ernte geholfen, beim Silage machen und noch später sogar beim Pflügen. Ich wurde ein Traktorprofi. Während der Semesterferien habe ich das fortgesetzt, wenn auf dem Birkenhof gerade nicht viel zu tun war. Otto hat mich dann sogar bezahlt. Von meinem ersten selbst verdienten Geld habe ich Magdalena und Großmutter in die Pizzeria eingeladen. Als die damals von meinen Fahrstunden erfahren hatte, hat sie gelacht und gemeint, dass an mir ein Junge verloren gegangen sei.

„Probier nur alles aus, kleiner Engel, wer weiß, wofür es eines Tages gut ist. Was du gelernt hast, kann dir niemand nehmen.“

Vielleicht war Otto manchmal schlecht gelaunt, weil sich schon in der Schule abgezeichnet hatte, dass die Landwirtschaft nie das Interesse seines einzigen Sohnes wecken würde. Großmutter meinte einmal zu mir, es muss kurz vor dem Abitur gewesen sein, ob ich denn nicht gemerkt hätte, dass Gottfried in mich verliebt sei. Nein, das hatte ich nicht, und ich merke auch heute erst als Letzte, wenn sich ein Mann in mich verguckt hat. Ich denke, dass dies mein Schutzmechanismus ist.

Ich habe damit begonnen, das beste aus der Situation zu machen und schreibe ein Tagebuch. Ich bin wieder gesund. Diese merkwürdige Grippe war wirklich hartnäckig, ähnlich der, die ich vor vier Jahren hatte. Diesmal war der hartnäckige Husten das Hauptproblem. Ich darf mir gar nicht vorstellen, wie es Menschen geht, die an Asthma oder ähnlichem leiden und sich mit diesem Virus anstecken. Angeblich sind die Intensivstationen ja voll, zumindest in Ländern wie Italien und Spanien. Da dort die sozialen Gepflogenheiten und Begegnungen andere sind als in Deutschland, ist auch die Gefahr der Ansteckung größer. Bei jeder Begrüßung wird sich umarmt und geküsst, und die alten Menschen leben in ihren Familien, nicht in Heimen, wie bei uns.

Ich hätte Großmutter nie in eine solche Einrichtung geben können, in der die Alten auf den Tod warten und vielleicht einmal im Monat einen Anstandsbesuch bekommen, der vielleicht nur wissen möchte, wann das Erbe fällig wird. Ich finde es beschämend für eine Gesellschaft, so mit den Alten umzugehen und zum Glück gibt es, besonders auf dem Land, viele Familien, die nicht im Traum daran denken, die Eltern oder Großeltern fremden Menschen zu überlassen.

Ein Erlebnis fällt mir dazu ein. Ich war im Zug nach Hamburg unterwegs und mir gegenüber saß ein junger Mann mit seinem offensichtlich dementen Vater. Er kümmerte sich liebevoll um den alten Herrn, dem er vieles sicher zwanzigmal erklären musste. Ein Mitreisender fragte nach einer Weile: „Erkennt Ihr Vater sie eigentlich noch?“ Der junge Mann antwortete: „Das spielt keine Rolle, ich weiß ja, dass er mein Vater ist.“

Kapitel 3

Tag 10

Ich habe die alte Schreibmaschine, eine Olympia, auf der ich als Schülerin meine ersten Referate geschrieben habe, entstaubt und im Schreibtisch habe ich eine Menge Papier und sogar drei original verpackte Farbbänder gefunden. Ich hoffe sehr, dass sie nicht ausgetrocknet sind, ewig wird das aktuelle nicht halten. Allerdings möchte ich auch nicht ewig bleiben, obwohl ich seit langem weiß, dass das Leben sich nicht immer nach unseren Wünschen richtet.

Es wird eine Umstellung vom iPad auf das alte Schätzchen sein, auf dem das R klemmt. Meine Handschrift kann nicht einmal ich selbst lesen. Ein Graphologe hätte seine helle Freude an mir oder käme sogar an seine Grenzen. Wahrscheinlich würde er dann meine Einweisung in eine geschlossene Anstalt empfehlen, wegen einer multiplen Persönlichkeitsstörung oder etwas in der Art.

Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen längeren Text mit der Hand geschrieben habe. Wie auch immer, irgendwie muss ich mich ja mitteilen, wenn ich nicht depressiv werden will.

Vor zwei Stunden habe ich entdeckt, dass ich mein Ladekabel nicht dabei habe. Es ist sicher in der Kabine auf dem Schiff, und zwar wird es neben meinem Bett an der Steckdose hängen.

Auf dem Birkenhof werde ich wohl keines finden. Großmutter besaß gar kein Handy und Magdalena hatte nur ein altes Nokiagerät für Telefonate mit ihrer polnischen Familie. Dieser Handyknochen aus grauer Vorzeit mit einem Akku, der ewig gehalten hat, würde mir jetzt genügen.

Das Telefon im Haus ist offensichtlich abgemeldet. Daran wurde also gedacht, an das Abschalten des Stroms nicht, was ich gut finde, denn es deutet auf gefüllte Tiefkühltruhen hin. Ich kenne Magdalena nur als sehr gewissenhafte und gründliche Person. Natürlich war die Gesamtsituation für sie sehr belastend. Ich werde sehr sparsam mit dem iPhone umgehen müssen, denn ich weiß nicht, wann und ob mir Amazon das neue Ladekabel liefert. Ehrlich gesagt, habe ich da nur wenig Hoffnung, da solche Dinge zur Zeit sicher nicht auf deren Prioritätenliste stehen.

Falls jemand dieses Tagebuch einmal lesen sollte, entschuldige ich mich hiermit für Fehler, ich konnte mich nie mit der neuen Rechtschreibung anfreunden … mit der alten übrigens auch nicht. Auch geschieht es manchmal, dass meine Gedanken schneller sind als meine Finger. Dann kommt der zweite vor dem ersten Buchstaben oder andere Zeichen fehlen ganz.

Acer dus Geuhrn seoizt eh akkes rubchtig uzammen. (smile)

Wenn das Tagebuch später so aussieht wie mein kleines Apartment in Stefanies Haus nach nur zwei Tagen Aufenthalt, wird man jede Ordnung oder Struktur vergeblich suchen. Ich schreibe nämlich, neben den täglichen Ereignissen, immer das auf, was mir gerade so einfällt. Ein Psychoanalytiker hätte wahrscheinlich die helle Freude an meinen freien Assoziationsketten. Es kommt doch auf den Inhalt an und Deutsch war nicht mein Unterrichtsfach, als ich noch im Schuldienst war.

Wenn wirklich jemand das Tagebuch liest, bin ich wahrscheinlich gestorben und dann können mir Rechtschreibfehler erst recht egal sein.

P.S. Ich glaube, ich habe Großmutters schwarzen Humor geerbt.

Ich werde sie ab jetzt manchmal bei ihrem Vornamen nennen, weil sie das sehr gemocht hat. Es ist ein Glück, dass sie zur Kriegsgeneration gehört hat - jedenfalls aus meinem aktuellem sehr egoistischem Blickwinkel betrachtet. Grete hat nämlich für schlechte Zeiten vorgesorgt. Oft haben wir sie deswegen aufgezogen, doch sie ließ sich auch von den derbsten Späßen nicht beirren, sondern behielt immer die Ruhe.

„Ihr habt keinen Krieg erlebt. Eines Tages werdet ihr mir dankbar sein“, hat sie dann nur gesagt und hinzugefügt: „Kauft ihr nur euer ungesundes Zeug im Supermarkt, ich weiß genau, was ich ernte und einmache.“

Offensichtlich ist dieser Tag der Dankbarkeit jetzt gekommen, denn ich konnte nicht einmal mehr im Supermarkt am Flughafen etwas einkaufen. Wenn ich den Zwölfuhr Nachrichten glauben soll, was ich tue, werden sie die Maßnahmen noch verschärfen. Der französische Präsident sprach in diesem Zusammenhang sogar schon von Krieg, denn es gibt inzwischen erhebliche Lieferengpässe.

Dazu passend gab es einmal eine Ermahnung von Grete. „Sagt das niemandem weiter, wirklich niemandem. Denn wenn es soweit kommen sollte, dass die Lebensmittel knapp werden, werden sie versuchen, euch alles wegzunehmen, sogar eure besten Freunde werden da kein Pardon kennen. Wenn es um das eigene Leben geht, gibt es keine Freundschaften mehr. Da ist sich jeder selbst der Nächste. Glaubt es mir, ich habe das selbst erlebt.“

Großmutter hat in diesem Fall hoffentlich unrecht, denn laut Medien sind die Regale in den Supermärkten doch noch einigermaßen gefüllt. Nur in Süditalien, teilweise in den USA, einigen südamerikanischen und afrikanischen Ländern soll es angeblich Plünderungen geben. Mir ist auch klar, warum die Amerikaner schon bald nach Eintreten der Krise Waffen gekauft haben. Und was haben wir gemacht? Wir haben uns darüber lustig gemacht.

Zunächst hieß es ja bei uns, die Maßnahmen des Lockdown würden bis nach Ostern dauern, indes nach Ostern war schon vor geraumer Zeit.

Ich habe schon am ersten Tag alles inspiziert, naja so gut es eben ging. Der Husten war anstrengend und das Fieber schwächend. Im Keller mit seinen dunklen Ecken, vor dem ich als Kind immer Angst hatte, wenn ich etwas holen musste, eine Flasche Wein oder ein Glas Kompott zum Beispiel, werde ich eine gründliche Inventur machen. Zeit dafür habe ich ja jetzt. Die Tiefkühltruhen hinter der Waschküche sind gut gefüllt, da hat ein Blick genügt. Ich möchte mir den Gestank nicht vorstellen, wenn der Strom abgestellt worden wäre. Da ich die Einzige aus der Familie bin, hat das wohl niemanden gekümmert. Magdalena, die Großmutter so treu und zuverlässig mehr als vierzig Jahre in Haus und Hof geholfen hat, ist sofort nach der Einäscherung Hals über Kopf in ihr Dorf gefahren, bevor die Grenzen zu ihrem Heimatland geschlossen wurden. Vielleicht hat sie das mit dem Strom und den Truhen auch so gelassen, weil sie gehofft hat, dass ich es vom Schiff herunter und nach Hause schaffe. Sie hat geweint, als sie mir von ihrer Heimreise am Telefon erzählt hat und sich tausendmal dafür entschuldigt, dass sie nicht die Stellung halten würde, jedoch hätte ihre Familie in Polen sie dringend gebraucht. Bestimmt hat sie Kerners Bescheid gegeben, dass sie alles leer räumen sollen, falls ich nicht nach Hause kommen sollte.

Mit Magdalena hatte Großmutter das große Los gezogen. Mein Großvater Erich Wellner war Ende 1949 krank aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt und schon 1953 an den Folgen gestorben. Zum Glück hatte es Kurt gegeben, einen Knecht, der schon meinem Urgroßvater gedient hatte. Bis in die Sechziger Jahre hat er hier auf dem Hof gearbeitet, danach kam Magdalena. Kurt war, laut Schilderung meiner Großmutter, ein Bär von Mann gewesen. Zwei Meter groß wog er über hundertdreißig Kilo und soll angeblich mit fast siebzig Jahren noch in der Lage gewesen sein, die schwere Kutsche, die heute räderlos als Blumenbank an der Hofeinfahrt steht, für einen Radwechsel alleine hochzuheben. Da er geistig behindert war, war er nicht zur Heimatfront eingezogen worden.

Großmutter war allerdings der Meinung gewesen, dass er diese Behinderung nur vorgetäuscht hat. Wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, war er hochintelligent. Er konnte nicht lesen und auch nicht schreiben, doch das ist kein Beweis für Mangel an Intelligenz. Das habe ich den Eltern meiner Schüler mit Lese- und Schreibschwäche mehr als einmal zu erklären versucht.

Wie sagte Harrison Ford einmal? „Ich hasse es, wenn Menschen Bildung mit Intelligenz verwechseln. Man kann ein Studium absolviert haben und trotzdem ein Idiot sein.“

Wenn Kurt seine Behinderung gespielt hat, so hat er das jedenfalls sehr konsequent durchgehalten. Auch noch, als der Krieg längst vorbei war. An