Das Tal von Tenchálin - Klaus Biedermann - E-Book

Das Tal von Tenchálin E-Book

Klaus Biedermann

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Beschreibung

Das kosmische Gleichgewicht war in einer gefährlichen Art und Weise aus den Fugen geraten. Das hatte den Rat der Welten, von dem kein Mensch gewusst hatte, veranlasst einzugreifen. Als einen letzten verzweifelten Ausweg für das Weiterbestehen der Menschheit hatte man eine Teilung der Welt beschlossen. Von den Überlebenden hatte jeder entscheiden können, in welchem Teil der Erde und nach welchen Prinzipien er und seine Nachkommen leben wollten. So hatten die Menschen - nicht ganz freiwillig – die Wahl ihrer unterschiedlichen Lebensformen in einem Ewigen Vertrag besiegelt, in dem jegliche Einmischung oder Kontaktaufnahme mit dem jeweils anderen Teil strengstens untersagt worden war. 700 Jahre später begegnen sich beide Welten in Gestalt einer Frau und eines Mannes. Der Roman beschreibt die Heldenreise zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Bei der Erfüllung ihrer Mission, in der sie Gegner sind, erhalten beide Hilfe, und dennoch sind sie im entscheidenden Moment auf sich alleine gestellt.

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Seitenzahl: 633

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Meinen Eltern und Geschwistern

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Wir vertrauen darauf dass die Zeit linear verläuft, dass sie auf ewig gleichförmig voranschreitet, bis in die Unendlichkeit. Aber die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nichts als eine Illusion. Gestern, Heute, Morgen folgen nicht aufeinander, sie sind in einem ewigen Kreis miteinander verbunden - alles ist miteinander verbunden.

____________________________

„Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume. Ich bin in Euch und geh´ durch Eure Träume.“ (Michelangelo)

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Prolog

Prolog

Die Welt hatte sich auf dramatische Art verändert. Nicht einmal die pessimistischsten Vorhersagen führender Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts hatten diese Veränderungen auch nur annähernd erahnen können. Nach Regierungsumstürzen in vielen Teilen der Welt, dem Zusammenbruch der Börsen, Terroranschlägen, verheerenden Kriegen, sowie geologischen Katastrophen, die bis weit in das 22. Jahrhundert hineingewirkt hatten, war im 23. Jahrhundert nichts mehr wie zuvor gewesen.

Hatte es im 21ten Jahrhundert noch Elf Milliarden Menschen weltweit gegeben, waren es zwei Jahrhunderte später nur noch ungefähr Fünf Milliarden. Das kosmische Gleichgewicht war in einer gefährlichen Art und Weise aus den Fugen geraten.

Das hatte den Rat der Welten, von dem bis dahin noch niemand gehört hatte, veranlasst einzugreifen. Für ihr Überleben hatten die Menschen einer Teilung der Welt notgedrungen zustimmen müssen. Man konnte wählen, in welchem Teil der Erde und nach welchen Prinzipien man leben wollte. Diese Entscheidung wurde in einem Ewigen Vertrag besiegelt. Jegliche Einmischung oder Kontaktaufnahme mit dem jeweils anderen Teil der Welt war für die Zukunft strengstens untersagt.

Damit war es zu einer letzten gigantischen Völkerwanderung gekommen. Die Organisation und logistische Umsetzung hatte noch in den Händen einer sich auflösenden UNO gelegen.

Die Ressourcen des Planeten waren nahezu erschöpft gewesen. Sogar um Wasser hatte es Krieg gegeben. Die Verschmutzung der Erde als Folge verantwortungsloser Industrialisierung und Ausbeutung hatte zu massiven klimatischen Veränderungen beigetragen. Aus all dem war ein Flächenbrand geworden, der sich auch über die Länder ausgedehnt hatte, die bis dahin von Naturkatastrophen weitgehend verschont geblieben waren.

Stürme, Überflutungen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, sowie Verschiebungen der Erdplatten und Pandemien hatten das Bild der Erde verändert. Ganze Länder waren vollkommen oder teilweise verschwunden. Auch das Schmelzen der polaren Eiskappen und der damit verbundene Anstieg der Meeresspiegel hatte dazu beigetragen, dem Planeten ein neues Gesicht gegeben. Wieder hatten dabei Millionen Menschen ihr Leben verloren oder waren obdachlos geworden. Hitzeperioden und Trockenheiten hatten fruchtbare Gegenden für immer unbewohnbar gemacht.

Seit dem Jahr 2167 war jeder Teil für sich selbst und die Einhaltung des Vertrags verantwortlich.

Nach der Trennung lebten die Menschen der Neuen Welt in dem Gebiet, welches vom nord- und südamerikanischen Kontinent bewohnbar geblieben war. Man setzte dort weiterhin auf technologische Entwicklung, aber es hatte auch radikale Umstellungen der politischen Systeme gegeben. Nur so, nahm man an, würde man den Fortbestand der Menschheit sichern können.

Der andere Teil vertraute auf natürliche erneuerbare Ressourcen, alten Werte und Traditionen. Er wurde Alte Welt genannt. Er umfasste die Gebiete, die vom europäischen und asiatischen Kontinent übrig geblieben waren. Man lebte mit den Kräften der Natur im Einklang. Sonne, Wind und Erdwärme lieferten die Energie, die man zum Leben brauchte. Die Bewohner der Alten Welt hatten ihren Ländern und Orten die ursprünglichen Namen zurückgegeben

Kapitel 1

Effel Eltringham musste acht geben, um im Zwielicht des anbrechenden Tages nicht über eine der zahlreichen Wurzeln oder herumliegenden Äste zu stolpern. Schon ein verstauchter Fuß konnte das Ende seiner Mission bedeuten, oder Schlimmeres.

An diesem Julimorgen im Jahre 2866 schickte die Sonne ihre ersten Strahlen in die Baumwipfel. Wie Diamanten glitzerte der Tau an fein gewobenen Spinnennetzen geheimnisvoll durch zarte Nebelschleier. Verschlafen klangen die ersten Rufe der Vögel des Waldes von Elaine, dessen älteste Bäume seit mehr als tausend Jahren dort standen. Manche von ihnen waren hoch wie Wehrtürme und so dicht belaubt, dass die Sonne nur in den Mittagsstunden bis zur Erde reichte. Riesige Farne, dichtes Unterholz und dunkle Höhlen boten vielen Lebewesen Schutz. Auf dem Boden wuchsen dichte Dornbüsche die das Gehen zusätzlich erschwerten und herumliegendes, von Moos und Pilzen bewachsenes Totholz, bildete fast undurchdringliche Barrieren. Hin und wieder machten die Bäume einer Lichtung Platz, in der ein kleiner See träumte. Pfeilkraut, Binse, Rohrkolben und hohes Schilf waren ein idealer Platz für die Kinderstube der Wasservögel.

Die Nacht hatte er in einer hohlen Eiche verbracht, die zu umfassen sicher zwanzig Männer nötig gewesen wären. Das Lager aus Moos und trockenem Laub, das der Wind in ihrem Inneren im Laufe der Zeit gesammelt hatte, war weich und warm gewesen. An den leicht modrigen Geruch hatte er sich nach kurzer Zeit gewöhnt. Er liebte es, in freier Natur zu übernachten und hatte nach den Anstrengungen des Tages wie in tiefer Ohnmacht geschlafen. Er hatte sehr lebhaft geträumt und obwohl er sich bemüht hatte, hatte er sich nicht mehr an alle Einzelheiten des Traumes erinnern können. Er hatte etwas Zeit gebraucht, um wirklich wach zu werden, daher hatte er noch eine Weile aus dem weichen Lager der Baumhöhle der Dämmerung zugeschaut, die den neuen Tag ankündigte. Nach der Morgenwäsche an dem nahen Bach, hatte er sich wieder auf den Weg gemacht.

Ein großer Wolfshund trottete neben ihm her. Sam hatte am Vortag noch das Vielfache der Wegstrecke zurückgelegt, denn die Wildspuren waren zu verlockend gewesen. Die Freude, mit von der Partie zu sein, hatte ihm unsichtbare Flügel geschenkt. Jetzt sagte ihm sein sicherer Instinkt, dass es sinnvoll sein würde, die Kräfte einzuteilen.

Effel Eltringham hatte die Gelegenheit, die sich ihm geboten hatte, begeistert ergriffen. Nicht, dass er sich zu Hause nicht wohl gefühlt hätte, das war ganz und gar nicht der Fall. Er liebte sein Leben in Seringat. Wenn er eine Wahl gehabt hätte, hätte er allerdings einen anderen Zeitpunkt ausgesucht. Aber er hatte keine Wahl gehabt.

Sein Großvater Benjamin, den alle nur Benni nannten, hatte früher mehr als einmal zu ihm gesagt:

„Ein Mann sollte hinaus in die Welt, um seinen Horizont zu erweitern. Er sollte wissen, wie andere Menschen leben und ... was noch wichtiger ist, woran sie glauben. Hast du eine Ahnung, wieviele Kriege wegen des Glaubens geführt worden sind? Unzählige! Man sollte einige Zeit in der Fremde leben, nur so wird man lernen, die Menschen, deren Kultur und Lebensgewohnheiten zu respektieren. Vorurteile sind immer ein Zeichen für Mangel an Vernunft und zeugen von geistiger Engstirnigkeit.“

Benjamin Eltringham hatte oft von seinen spannenden Reisen berichtet. Von seltsamen Menschen und ihren wunderlichen Bräuchen, von wilden Tieren und Wüsten, in denen man am Tag verdursten und in der Nacht erfrieren konnte. Unzählige Male hatten seine Enkel auf seinem Schoß oder zu seinen Füßen am Kamin gesessen und mit roten Wangen und leuchtenden Kinderaugen gebannt seinen Geschichten gelauscht. Großvater Benjamin konnte so lebendig und anschaulich erzählen, wie kein anderer. Seine ruhige, tiefe Stimme hatte den kleinen Effel in all diese fernen Länder mitgenommen. Wenn er dann später in seinem Bett nicht einschlafen konnte, hatte er das Gefühl gehabt, wirklich gerade dort zu sein.

Er war aber stets mit erhobenem Zeigefinger und gütigem Lächeln darauf hingewiesen worden, dass er es nicht dabei belassen dürfe, Geschichten anzuhören, sondern dass er, wenn er eines Tages alt genug sein würde, seine eigenen Erfahrungen machen sollte.

„Durch diese Erfahrungen, Effel, wirst du weise. Alter alleine ist keine Garantie für Weisheit, die Erfahrungen sind es, die Erfahrungen und die Reflektion!“

Vor zwei Monaten hatte er seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert - ein Fest, bei dem ihm nicht so sehr zum Feiern zumute gewesen war. Es hatte sich eine leichte Wehmut eingeschlichen und eine innere Stimme hatte ihm zugeflüstert, dass es mit der Jugend jetzt endgültig vorbei sei. Als er das Mindevol erzählt hatte, hatte der nur schallend gelacht und ihm auf die Schulter geklopft.

„Effel! Wenn die Fünfzig kommen, wirst du mit völlig anderen Gefühlen auf den heutigen Tag zurückblicken.“

Er hatte in das Lachen seines Mentors eingestimmt, Saskia auf die Tanzfläche geführt und mit ihr eine flotte Polka aufs Parkett gelegt.

Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, hatte er seinen Rucksack gepackt und sich auf den Weg gemacht. Auf Fairytale hatte er verzichten müssen, da er ja nicht wissen konnte, wohin ihn die Reise führen würde. Soko versorgte jetzt seinen Lieblingshengst und die anderen Pferde. Saskia würde sich um Haus und Garten kümmern.

Der Abschied von der Familie und den Freunden hatte sich lange hingezogen. Soko war sogar das Feuer in der Schmiede ausgegangen, was bisher nur während seiner Bergtouren vorgekommen war, und bei dessen Umarmung hatte er für einen Moment Angst um seine Rippen gehabt.

Die Bewohner Seringats hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt, um Lebewohl zu sagen, und die Kinder hatten ihn später lärmend, mit vielen Fragen und gut gemeinten Ratschlägen, ein Stück des Weges begleitet. Zum Schluss hatte er sich von Saskia verabschiedet, die tapfer mit den Tränen kämpfend seine Hand nicht hatte loslassen wollen. Das war ihm besonders schwer gefallen, aber umzukehren war für ihn selbst in diesem Moment nicht in Frage gekommen. Ohne sich noch einmal nach dem Dorf umzublicken, das bislang sein Zuhause gewesen war, hatte er sich auf den Weg gemacht.

Es war etwas geschehen, was sich niemand hatte vorstellen können. Aber diese Mission war vielleicht auch ein Anlass, den Rat seines Großvaters in die Tat umzusetzen. Effel spürte die Verantwortung als angenehme Last, denn er liebte Herausforderungen und Optimismus war eine seiner Stärken.

Die Sonne wärmte bereits die noch feuchte Erde und kleine Wolken feinen Nebels standen in den Furchen der frisch gepflügten Felder. Dort würde schon bald die nächste Saat, wie Grünkohl oder Rote Beete ausgebracht werden. Ab und zu tauchte der Kopf einer Krähe auf, die mit stakkatoartigen Bewegungen nach Futter suchte, was durch die Nebelschleier unwirklich aussah.

In der letzten Nacht hatte es geregnet, wovon Effel in seiner Baumhöhle allerdings nichts bemerkt hatte. Zu beiden Seiten dehnte sich Acker- und Weideland über sanfte, mit Buchen und Eichen bewachsene Hügelketten aus. Der Wald erstreckte sich bis an die steilen Küsten und weiten Strände Flaalands. Der breite Weg wurde auch von Fuhrwerken benutzt. Tiefe Spurrillen zeugten von schwer beladenen Wagen. Seit alten Zeiten verlief hier die Verbindung zwischen West und Ost. Sam schlabberte gierig Wasser aus einer Pfütze. Die Regenwolken hatten sich verzogen und standen nun wie wilde und zerlumpte Gespenster weit im Norden, als wenn sie dem Blau des Himmels nur widerwillig Platz gemacht hätten.

Auf einem Baumstamm, der am Wegesrand lag, gönnte Effel sich nach drei weiteren Stunden eine Pause. Sam legte sich hechelnd ins Gras.

Seinem Rucksack entnahm Effel ein Päckchen aus Ölpapier, das ihm Saskia beim Abschied noch zugesteckt hatte. Er musste lächeln, als er sah, wie liebevoll es mit einer roten Schleife verschnürt war.

„Typisch Saskia“, sagte er leise. Bei der Erwähnung dieses Namens wedelte Sam freudig mit dem Schwanz. Effel packte zwei Wurstbrote aus.

„Schau her, an dich hat sie auch gedacht ... hier nimm das ... es ist für dich.“

Er hielt dem Hund ein Stück vor die Nase, das der vorsichtig nahm und verschlang. Während er seinen Anteil aß, musste er an die Abschiedsworte seines Mentors Mindevol denken.

„Niemand kann wissen, wie lange deine Reise dauern wird. So viel hängt von dieser Mission ab, wahrscheinlich mehr, als wir uns vorstellen können. Du wirst sicher Hilfe erhalten. Von Menschen und von Wesen, die du noch nicht kennst. Vertraue deiner Intuition und achte auf die kleinsten Zeichen. Sei offen für Neues. Hier durftest du Fehler machen, und das war sogar wichtig, denn du hast aus ihnen gelernt. Dort draußen werden sie dir sicher nicht verziehen.“

In Mindevols Umarmung beim Abschied hatten Wärme und Kraft gelegen. Der Dorfälteste hätte weder einen Bart noch weiße Haare haben müssen, die Weisheit leuchtete aus seinen Augen.

Inzwischen jagte Sam einen Fasan, den er aufgestöbert hatte. Nachdem dieser aber mit lautem, schwerem Flügelschlag das Weite gesucht hatte, kam er mit hängender Rute zurück. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel.

Im Laufe der nächsten Stunden kamen sie an dem Marktflecken Verinot vorbei. Effel sah die Menschen, von denen er viele kannte, auf den Feldern bei der Arbeit. Einige der Pferdewagen waren bereits hoch mit Heu beladen, auf anderen wurde das trockene Gras noch geschichtet. Er konnte den Gesang der Frauen und Männer hören, die im Rhythmus ihrer Lieder die Sensen schwangen. Gerne wäre er zur Mittagszeit im Wirtshaus ´Zum Lamm' eingekehrt.

In den ersten Stunden hatten ihn entgegenkommende Reiter, Fussgänger oder Menschen in Kutschen, die er kannte, freundlich gegrüßt.

„Viel Glück, Effel Eltringham, zeig´s ihnen“, oder „mach ihnen die Hölle heiß“, hatte er mehr als einmal gehört.

Kapitel 2

Etwa zur gleichen Zeit erwachte Nikita Ferrer einige tausend Meilen weiter westlich aus einem kurzen Schlaf. Es war sechs Uhr. Dank der Aktivpillen, die an jedem Kiosk zu kaufen waren, brauchte sie meist nur noch zwei bis drei Stunden Schlaf.

Das hatte sie sich während ihrer Examen angewöhnt und sie griff darauf zurück, wenn das Arbeitspensum hoch war - und das war es praktisch immer. Sie träumte selten, aber dann so intensiv, dass sie nach dem Aufwachen einige Minuten brauchte, um in die Realität zurückzufinden. Es war meist der gleiche Traum, an dessen Ende sie vor einem großen schwarzen Tor stand, das sich nicht öffnen ließ, obwohl sie es immer wieder verzweifelt versuchte. Schweißgebadet war sie jedes Mal aufgewacht. Sie konnte dieses Traumbild nicht deuten, war sich aber sicher, dass in dem Traum ihr Leben davon abhing, durch das Tor zu gelangen. Als sie einmal ihrer Freundin Chalsea Chromway davon erzählt hatte, hatte die nur gelächelt.

„Niki, wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir die Bedeutung unserer Träume erkennen, hätte er sie nicht in den Schlaf verbannt.“

Von dieser Seite war also auch keine Hilfe gekommen.

„Frühstück in einer halben Stunde“, sagte sie und setzte damit ihre kleine Küchenmaschine in Gang. Das Gerät begann seine Arbeit. Die Zeit würde ausreichen, sich für einen langen Arbeitstag fertig zu machen. Sie räkelte sich und genoss noch für einen Augenblick die Wärme ihres Bettes. Vor neun Uhr am Abend würde sie sicher nicht aus der Firma herauskommen. Sie hatte sich oft gefragt, wie die Menschen es früher trotz ihrer Berufstätigkeit geschafft hatten, solch zeitraubende Tätigkeiten wie die Zubereitung einer Mahlzeit zu erledigen. Dann noch Zeit für Hobbys zu haben, erschien ihr schlichtweg unmöglich.

Kein Wunder, dass es soweit kommen musste, hatte sie einmal gedacht. Sie wusste, dass früher Herz- und Kreislauferkrankungen zu den häufigsten Todesursachen gehört hatten. Im Jahr 2866 war aber alles in Ordnung und sie war sehr froh darüber. Gebäude und Infrastruktur ihrer Heimatstadt mussten damals, nach den letzten großen Katastrophen des 23ten Jahrhunderts, wieder aufgebaut werden. Bushtown, das früher Washington hieß, war schöner als je zuvor. Der Phönix war der Asche entstiegen, wie man mit Recht behaupten konnte.

Nikitas Welt hatte sich im Laufe der letzten sechshundert Jahre zum Guten entwickelt. Das Leben war äußerst angenehm, denn es war für alles gesorgt. Routinearbeiten, sowie viele Dienstleistungen wurden von Computern und Robotern erledigt. Aus genetisch perfekten Lebensmitteln erfanden Fooddesigner ständig neue Produkte, die jeden Geschmack bedienen konnten.

Den Menschen wurde unmittelbar nach der Geburt hinter dem Ohr ein hauchdünner Mikrochip eingesetzt. Der ICD berechnete unter anderem genauestens, welche Nährstoffe der Körper benötigte. Die Abkürzung ICD stand für Identification Certain Diseases.

Die passenden Mahlzeiten wurden in der eigenen computergesteuerten Küche oder einem Automatenrestaurant zubereitet. Es gab zwar auch traditionelle Restaurants und Cafés, die hatten allerdings ihren Preis.

Durch den ICD war man mit einer Klinik verbunden, die in Echtzeit alle gesundheitsrelevanten Daten überwachte. Man wurde sofort informiert, wenn etwas aus dem Gleichgewicht geraten war. Dann berichtigten Nanocomputer in der Blutbahn alle aus dem Lot geratenen Werte. Selbst Organtransplantationen waren inzwischen ohne Probleme möglich. 3D Drucker hatten das gewünschte Organ im Handumdrehen aus körpereigenen Zellen ausgedruckt.

Die Geburtenkontrolle, die durch die erhöhte Lebenserwartung nötig geworden war, wurde strikt eingehalten.

Sobald man über ein Bankkonto verfügte, bekam man einen zweiten Chip in den Oberarm injiziert. Alle Geldgeschäfte wurden auf diese Weise sehr bequem erledigt.

Die Kleidung war meist synthetisch. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hatten sich die Allergien so weit verbreitet, dass die meisten Menschen peinlich genau darauf achten mussten, mit welchen Materialien ihre Haut in Berührung kam.

Die politische Landschaft war sehr übersichtlich. Als Modell für die Staatsform hatte das antike Rom gedient. Die vom Volk gewählten Senatoren bestimmten für einen Zeitraum von jeweils vier Jahren das Staatsoberhaupt. Der Präsident, der seit sechzehn Jahren an der Spitze der Regierung stand, war Dean Wizeman, ein hochgewachsener Mann mit grünen Augen und der Figur eines Footballspielers. Dass er 65 Jahre alt war, sah man ihm nicht an.

Kirchliche Institutionen gab es nicht mehr, denn sie waren durch die Glaubenskriege aufgerieben worden. Die wenigen Priester, Rabbiner, Imame und Prediger, die überlebt hatten, waren damals in den Untergrund gegangen. Dort wirkten ihre Nachfolger weiter. Von der Regierung wurde es geduldet, nachdem man gemerkt hatte, dass es keinen Sinn ergab, Religionen zu verbieten. Solange sie im privaten Raum blieben, konnten sie keinen Schaden anrichten. Man hielt allerdings ein sehr wachsames Auge auf ihre Aktivitäten.

Zum anderen Teil der Welt bestand kein Kontakt, so wie es damals durch den Ewigen Vertrag besiegelt worden war. Im Bewusstsein der Menschen existierte sie, wenn überhaupt, nur noch am Rande, und wenn man sie erwähnte, wurde sie in einem eher verächtlichen Tonfall alte Welt genannt. Man gab ohnehin jenem Teil die Hauptschuld an den Zuständen, die letztlich zur Teilung geführt hatten. Im Grunde aber, kümmerte man sich nicht darum.

Nikita hatte zu Beginn ihres Studiums auch Vorlesungen in Geschichte besucht. Daher wusste sie einiges über diese längst vergangenen Zeiten, auch weil sie in der Bibliothek ihres Vaters viel Literatur darüber gefunden hatte.

Begonnen hatte es, als Einwohner großer Städte Europas, Südamerikas und Asiens plündernd und marodierend durch die Bezirke der Wohlhabenden gezogen waren. Wenig später hatte in einem anderen Teil der Erde eine gewaltige Fluchtwelle eingesetzt.

Migranten aus afrikanischen Staaten und dem Mittleren Osten waren über den Landweg oder in Schiffen, die ihren Namen kaum verdienten, an den Küsten Europas gelandet, um in einem der reichen Länder Asyl zu erlangen. Viele von ihnen waren politisch verfolgt gewesen, andere waren vor Kriegen geflohen und wieder andere hatte der Hunger aus der Heimat vertrieben. Die mächtigen Nationen Europas hatten die Herkunftsländer dieser Menschen seit dem 19ten Jahrhundert unterjocht und ausgebeutet.

Von Polizei- und Militäraufgeboten, durch Mauern und Zäune war versucht worden, den Flüchtlingsstrom aufzuhalten.

Es hatte viele Mahner gegeben. Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Historiker und auch einige Politiker. Die Hunderttausende, die zu Beginn des 21ten Jahrhunderts über die Grenzen der reichen Nationen geströmt waren, waren nur die Vorhut gewesen.

Millionen waren ihnen gefolgt. Irgendwann hatte auch der letzte Gegner der Flüchtlingsströme sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass niemand diesen Zug mehr aufhalten konnte. Es sollte nie mehr ein Zurück in die Beschaulichkeit geben.

Wenn die Flüchtlinge und Migranten irgendwann in überladene und seeuntüchtige Boote gepfercht worden waren, hatten sie nur noch beten können, lebend über das Meer zu kommen. Natürlich hatten sie um die Gefahren der Überfahrt gewusst, aber sie hatten sie in Kauf genommen, um dem fast sicheren Tod zu entgehen.

Die Bewohner der wohlhabenden Länder Europas hatten sich dieser Entwicklung anpassen müssen. Nach mehr als zweihundertjähriger Ausbeutung war nun Teilen angesagt. Man hatte in Europa zwar Mauern aufrichten können, um seinen Reichtum zu verteidigen, aber diese hatten dem Andrang von Abermillionen auf Dauer nicht standhalten können.

Die Europäische Wertegemeinschaft hatte sich heillos überfordert gezeigt. Das politische Europa war zerfallen. Verheerende Naturkatastrophen hatten in der Folge das Antlitz der Erde verändert und weitere unzählige Opfer gefordert.

Fasziniert war Nikita von der logistischen Meisterleistung, die damals vollbracht worden war. Durch die Teilung der Welt gemäß des Ewigen Vertrags war es zu einer letzten Völkerwanderung gekommen. Man hatte nur ein Jahr Zeit gehabt, sich zu entscheiden, in welchem Teil man leben wollte. Diese Wahl war nicht mehr rückgängig zu machen. Es hatte zwar immer Völkerwanderungen gegeben, aber diese war die größte gewesen. Immerhin waren fast Zwei Milliarden Menschen in Bewegung gesetzt worden. Nikita war wirklich froh, in ihrem Teil der Welt zu leben.

Nach einer heißen Dusche kleidete sie sich an, wie meist ganz in Schwarz. Sie nahm ihre Tasse, trat an das Panoramafenster und genoss den Ausblick. Sie konnte weit schauen, was um diese Jahreszeit selten vorkam, weil an den warmen Tagen früh morgens Nebelschwaden vom Fluss aufstiegen. Wie kristallene Stalagmiten reichten die Gebäude bis an den Horizont, und wie ein Heer von flinken Ameisen, die einer geheimnisvollen genauen Ordnung folgten, floss unten der Verkehr.

Sie fand es herrlich. Während sie den heißen Kaffee schlürfte, schweiften ihre Gedanken zum gestrigen Abend, den sie im Kreise einiger Kollegen in Tonys Bar verbracht hatte. Die Gespräche hatten sich wieder einmal ausschließlich um die Firma gedreht, was kein Wunder war, denn die Bar lag praktisch um die Ecke und andere Gäste waren dort eher selten anzutreffen.

Dr. Will Manders spekulierte auf den frei gewordenen Posten des Abteilungsleiters und hatte den ganzen Abend lang argumentiert, warum er dafür geeignet sei. Sein Fleiß und seine Forschungsergebnisse könnten an oberster Stelle nicht übersehen werden, hatte er selbstsicher gemeint.

Sie wurde auch jetzt noch das Gefühl nicht los, dass er vor allem wegen ihr so angegeben hatte.

Das ist wahrscheinlich etwas, was sich nie ändern wird, dachte sie, selbst intelligente Männer müssen einer ebenbürtigen Frau zeigen, dass sie besser sind.

Komisch, ja geradezu lächerlich, fand sie, dass sie nicht merkten, dass sie sich damit kleiner machten. Dabei war Will ein netter Mann, der auch gut aussah. Erst vor zwei Tagen hatte Chalsea sie wieder einmal auf ihn angesprochen.

„Niki, ich verstehe einfach nicht, wie du ohne Kerl leben kannst. Immer nur arbeiten ist ungesund ... dass ich gerade dir das sagen muss. Schau dich an, du bist jung, siehst gut aus und die Männer fliegen auf dich. Will ganz besonders, das sieht ein Blinder im Dunkeln. Vergiss Jan endlich! Eure Trennung ist über ein Jahr her und besonders gut behandelt hat er dich auch nicht immer, wenn du mich fragst.“

„Ich frag´ dich aber nicht“, hatte Nikita schnippischer geantwortet, als ihr lieb gewesen war. Sie mochte es nicht, an einem wunden Punkt berührt zu werden und die Trennung von Jan war ein wunder Punkt. Sie wusste selbst nur zu gut, dass sie ihren Teil dazu beigetragen hatte. Oft hatte er sich beschwert, dass sie zu wenig Zeit miteinander verbrachten, seitdem sie bei BOSST arbeitete. Er schien dabei zu übersehen, dass sie keine Studentin mehr war, sondern einen Beruf hatte, der sehr viel Zeit beanspruchte. Obwohl sie abends müde von der Arbeit gewesen war, hatte sie sich manchmal doch mit ihm getroffen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Dass solche Abende nicht das sein konnten, was sich beide gewünscht hatten, war ihr im Nachhinein auch klar gewesen. Oft endeten sie sogar in einem Desaster. Mehr als einmal hatte sie ihm vorgeworfen, nicht an seiner Karriere interessiert zu sein. Ihm aber hatte die Assistenzstelle in einer städtischen Klinik genügt.

„Der Beruf ist nicht alles im Leben, Nikita. Ich möchte Zeit für dich und meine Hobbys haben“, hatte er dann erwidert.

Nikita war eine der jüngsten Bewohnerinnen des 900 Yard hohen Donald-Crusst-Towers. Das höchste Gebäude der Stadt gehörte BOSST. Normalerweise konnte ein Berufsanfänger es sich nicht leisten dort zu wohnen. Aber Mitarbeitern, die man halten wollte, wurden die Wohnungen zu äußerst günstigen Preisen vermietet. Es war ein Privileg, hier zu wohnen und jeder wusste das. In diesem gigantischen Komplex hatten sich nicht nur die teuersten Geschäfte der Stadt angesiedelt, sondern auch Wellnesszentren, Kosmetiksalons, Fitnessclubs, Cafés und Restaurants. Da sich auch die besten Anwälte und Ärzte hier niedergelassen hatten, musste man als Bewohner den Tower nicht verlassen, und viele taten das auch nicht.

Ein paar Kommandos in die Sprechanlage genügten, damit lautlose Roboter jede Bestellung aus den Einkaufspassagen des Delice innerhalb kurzer Zeit direkt in die Wohnung lieferten. Die Tiefgaragen reichten bis 300 Yards unter die Erde. Für die Sicherheit war ein Wachdienst zuständig, der Delice-Security-Service, mit einer 100 Mann starken Truppe.

Nach dem Frühstück, das neben schwarzem Kaffee aus einem nährstoffreichen Brei und einer mit einer grünen Paste bestrichenen Scheibe Vollkornbrot bestand, setzte Nikita die neue Multifunktionsbrille auf und verließ ihr Apartment. Diese Brille war das erste große Projekt, an dem sie mitgearbeitet hatte. Leider hatte sie auf das Design keinen Einfluss gehabt. Sie stand ihr nicht, wie sie fand, aber ihr Chef hatte darauf bestanden, dass jeder Mitarbeiter sie trug. So würden eventuelle Fehler entdeckt und sofort korrigiert werden können.

„Es wäre seltsam, wenn wir unser Produkt nicht auch selbst tragen würden ... meinen Sie nicht auch?“, hatte Professor Rhin in einer Teamsitzung gesagt, und jedem war klar gewesen, dass das keine Frage gewesen war.

Wenn nicht der breite Nasensteg mit seinen unsichtbaren Sensoren gewesen wäre, hätte sie ausgesehen wie eine sehr altmodische Sonnenbrille. Professor Rhin war besonders stolz auf diese neueste Entwicklung. Sie brachte dem Unternehmen viel Geld ein, obwohl sie nicht käuflich zu erwerben war. Sie war nur an das Militär, die Polizei, den Geheimdienst und an staatlich zertifiziertes Wachpersonal ausgeliefert worden. Der Staat hatte sich diese Brille etwas kosten lassen. Fast zwanzig Prozent des jährlichen Militärhaushalts waren auf die Konten der Firma geflossen.

Bevor Nikita ihr Apartment im 80. Stockwerk verließ, orderte sie ihren Wagen und wartete. Eine Minute später kündigte ein leiser Summton an, dass ihr Auto jeden Moment aus den Tiefen des Gebäudes erscheinen würde. Sie hatte gerade in ihrem nagelneuen Coupé, einem Geschenk ihres Vaters zum Examen, Platz genommen, als sich die Tür am Ende des Ganges öffnete. Der Zubringer, auf dem sie gleich zu einer Fahrbahn gelangen würde, fuhr langsam aus. Das schwarze Automobil, das inzwischen seinen Namen wirklich verdiente, setzte sich nach einem kurzen Kommando geräuschlos in Bewegung, um sich reibungslos in den fließenden Verkehr einzureihen. Sie betätigte einen kleinen Sensor am rechten Brillenbügel und augenblicklich wurden ihr die neuesten Emails angezeigt. Es erschien eine Videonachricht ihrer Freundin Chalsea, die für den Abend einen Tisch in einem angesagten Lokal bestellt hatte und die Verabredung für 20:00 Uhr bestätigt haben wollte.

Die nächste Mail war von ihrem Chef, der um eine sofortige Unterredung bat. Sie sah ihm an, dass es dringend war. Worum es ging, sagte er allerdings nicht. Es musste sehr wichtig sein, denn Nikita wäre in einer Stunde ohnehin an ihrem Arbeitsplatz gewesen. Daher beschloss sie, direkt in die Firma zu fahren und nicht, wie geplant zum Friseur. Die Haare konnten warten, der Professor nicht. Ihr Chef war ein Fanatiker wenn es um Pünktlichkeit ging und besessen von seiner Arbeit. Von seinen Mitarbeitern erwartete er ebenfalls höchsten Einsatz. Wenn er sofort sagte, dann meinte er zwei Minuten vor sofort.

Typisch, dachte sie, da will ich mal etwas für mich tun ... den Friseur kann ich für heute vergessen, und Chal wird mir abends eine Standpauke halten.

„Zur Firma“, sagte sie und der Wagen bog in die nächste Seitenstraße ab.

„In zehn Minuten erreichen Sie Ihr Ziel“, meldete der Bordcomputer.

Das gab ihr Zeit zum Nachdenken. Nach dem Studium, das sie an der renommierten Bushtown-University an den Ufern des Potomac in den Fächern Physik, Neurobiologie und Psychologie mit summa cum laude abgeschlossen hatte, war ihr die Stelle bei BOSST angeboten worden. Jeder ihrer Kommilitonen hätte viel darum gegeben, in diesem Unternehmen arbeiten zu dürfen. Professor Rhin hatte sie nach einer seiner Gastvorlesungen angesprochen und gemeint, sie sei ihm mit ihren klugen Fragen schon mehrfach aufgefallen und er könne sich durchaus vorstellen, sie eines Tages als Mitarbeiterin begrüßen zu können. Sie solle sich in jedem Fall nach Beendigung ihres Studiums bei ihm melden.

„Das ist ein Ritterschlag, Niki“, hatte ihr Vater beim Abendessen ein paar Tage später stolz gesagt, als sie davon erzählt hatte, und ihre Mutter hatte hinzugefügt: „Das ist wunderbar, du kannst hier wohnen bleiben und sparst dir die teure Miete in der Stadt.“

„Mama“, hatte sie geantwortet, „wenn ich bei BOSST wirklich eine Stelle bekommen sollte, kann ich mir ein eigenes Apartment leisten. Du weißt doch, wie gerne ich in der Stadt leben würde. Hier in eurem noblem Vorort ist ja der Hund begraben. Während des Studiums ist das natürlich praktisch, auch weil ich Papas Bibliothek nutzen kann. Und ich bin euch auch sehr dankbar ... die meisten meiner Kommilitonen beneiden mich, aber …“, sie hielt mitten im Satz inne, weil sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter richtig gedeutet hatte.

„Uns gefällt es“, hatte die etwas pikiert geantwortet, „Papa ist froh, abends heimkommen zu können und seine Ruhe zu haben, stimmt doch, Paul? Und wenn ich in die Stadt möchte, bin ich mit der Bahn im Nu da.“ „Eva, denk mal daran was wir alles angestellt haben, als wir in dem Alter waren“, war der Senator schmunzelnd und mit einem Augenzwinkern seiner Tochter zur Seite gesprungen, was diese mit einem dankbaren Lächeln quittiert hatte.

Emanuela Mendès, die Haushälterin, die mit ihrem Sohn im Anbau der Villa wohnte und von Nikita liebevoll MM oder Manu genannt wurde, war gerade aus der Küche gekommen.

„Jimmy mault auch immer rum, dass er lieber in der Stadt leben würde. Hier würden nur die Alten wohnen, meinte er einmal. Ich habe ihm gesagt, dass er das tun könne, wenn er endlich eine Arbeit oder wenigstens eine Ausbildung gefunden hätte, die ihn interessiert ... und zwar länger als fünf Minuten. Ich hoffe ja, dass das jetzt der Fall ist. Oder glaubt ihr, ich sei mit seiner Boxerei und diesem ganzen brutalen Kampfsport glücklich? Ich möchte wirklich wissen, von wem er das hat.“

In ihrem tiefsten Inneren wusste sie es natürlich.

„Manu, das ist doch nur sein Hobby ... es macht ihm Spaß und er ist wirklich gut darin“, hatte Nikita eingeworfen.

„Eine etwas zu blutige Freizeitbeschäftigung, wenn du mich fragst, Niki. Weißt du, wie oft ich ihn hier schon verarztet habe?“

„Was man so hört, Manu, gefällt ihm die Ausbildung und auch sein Chef ist sehr zufrieden“, hatte Eva Ferrer gemeint. Sie hatte Jimmy vor kurzem eine sehr begehrte Lehrstelle in einem der besten Hotels der Stadt vermittelt. Der Besitzer war ein ehemaliger Klassenkamerad und hatte ihr diesen Gefallen gerne getan.

„Ja, das sagt er mir auch, aber wer weiß, wie lange seine Begeisterung anhält, ihr wisst ja, wie das bei ihm ist. Nur fünf Prozent von seiner Sportbegeisterung würden mir schon genügen.“

Jedem in der Familie war klar, dass es Emanuela vor dem Tag graute, an dem ihr geliebter Sohn ausziehen würde. Sie hatte ihn ohne Vater aufziehen müssen, und er war ihr Ein und Alles. Sie war froh, dass der Senator für ihn eine Vaterfigur war. Von ihm ließ sich ihr Jimmy auch mal den Kopf zurechtrücken, was ihr noch nie gelungen war.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, meldete der Bordcomputer. Kurz darauf hielt der Wagen vor dem Haupteingang der Firma. Nikita stieg aus. Das kleine Coupé setzte sich in Bewegung und verschwand kurz darauf in der Einfahrt der Tiefgarage.

BOSST hatte sehr viel erreicht. Man arbeitete und forschte zum Wohle der Menschheit und konnte Ergebnisse vorweisen, die keinen Zweifel an der Integrität des Unternehmens aufkommen ließen, zumal es sich auch im sozialen Bereich großzügig engagierte. Zweimal im Jahr lud die Firma bedürftige Menschen zu einem Dinner ein und vor kurzem waren alle Schulen der Stadt mit den neuesten Tablets ausgerüstet worden.

Offiziell waren bei BOSST 7500 Menschen beschäftigt und damit war die Firma der größte Arbeitgeber der Stadt. Zahlreiche ihrer Erfindungen hatten das Leben für die Menschen leichter und angenehmer gemacht.

Nikita war stolz, in Professor Rhins Team zu sein. Er zählte zu den angesehensten Forschern, und für seine akademischen Preise brauchte er zu Hause einen eigenen Raum. Obwohl mancher daran zweifelte, dass er überhaupt ein Zuhause hatte. Er arbeitete viel und schlief oft in einem kleinen Apartment gleich neben seinem Büro. Er war die Kapazität auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie und Psychoneurologie, hatte mehrere Doktortitel und während seiner mehr als dreißigjährigen beruflichen Laufbahn viele wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten. Auf jedem Kongress war er ein gefragter Redner.

Nikita mochte ihren Chef, und sie hatte schnell gemerkt, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war unmittelbar nach ihrer Einstellung in sein neuestes Projekt, der MFB, involviert worden und hatte sich nicht mit irgendwelchen langweiligen Routinearbeiten herumschlagen müssen, mit denen man neue Mitarbeiter gewöhnlich erst einmal beschäftigte, um deren Frustrationstoleranz zu testen.

Sie konnte nicht wissen, dass der Professor von höchster Stelle gebeten worden war, sie unter seine Fittiche zu nehmen.

Kapitel 3

Verinot lag bereits ein gutes Stück hinter ihm. Da er vorankommen wollte, hatte er einen großen Bogen um den Marktflecken gemacht und seine nächste Rast so weit entfernt davon eingelegt, dass er nicht mehr in Versuchung kommen konnte, das Wirtshaus doch noch zu besuchen. Das Grummeln in seiner Magengegend hatte er ignoriert, bis er an einem wilden Aprikosenbaum vorbei gekommen war. Eine Handvoll der süßen Früchte lag jetzt neben ihm. Sam kam heran, schnüffelte an ihnen und legte sich seufzend ins hohe Gras.

„Die magst du nicht, aber ich um so mehr.“

Mit Soko war er oft in Verinot gewesen. Nicht nur an Markttagen sondern auch, wenn ein Pferd des Bürgermeisters Marenko Barak krank war oder es neue Hufeisen brauchte. Marenko war es egal, dass der Tierarzt Dr. Marat beleidigt war. Seine Frau Sonja war der Meinung, dass er gerade als Bürgermeister verpflichtet sei, Ortsansässige zu unterstützen.

„Im Grunde stimme ich dir zu“, hatte er erwidert, „und unser Doktor ist wirklich ein guter Tierarzt, aber an meine Pferde lasse ich nur den Besten. Weil einer zehn Jahre an der Universität in Onden war, heißt das noch lange nicht, dass er besser ist als jemand, der seit seiner Kindheit kranke Tiere gesund pflegt. Soko aus Seringat ist wirklich begnadet, was das angeht. Das musst du zugeben.“

„Dickkopf“, war ihre Antwort gewesen. Sie wusste, dass sie ihn in diesem Fall nicht umstimmen konnte.

Marenko liebte gutes Essen, was man ihm auch ansah und immer hatte er nach einem Besuch groß aufgetischt und gelacht.

„Wie gut, dass meine liebe Frau eine so gute Köchin ist.“

Im Wirtshaus 'Zum Lamm´ konnte der Schmied nach getaner Arbeit gut und gerne zwei Portionen eines reichlichen Mittagessens verdrücken.

Effel erinnerte sich noch sehr deutlich an den letzten Aufenthalt dort, woran wahrscheinlich sein Hunger schuld war.

Es war noch gar nicht lange her. Kurz nachdem der letzte Schnee getaut war und die ersten Sträucher und Bäume zartes Grün gezeigt hatten, waren sie morgens in aller Frühe losgefahren. Soko hatte gehört, dass an diesem Tag ein ganz bestimmter Händler aus dem Osten mit seinen hochwertigen Werkzeugen auf dem Markt erwartet wurde.

„Dieser Jagun kommt nur einmal im Jahr nach Verinot, wenn überhaupt, und seine Werkzeuge sind wirklich etwas Besonderes. So etwas bekommst du in unserer Gegend nicht. Müssen verdammt guten Stahl dort haben, wo der Bursche herkommt. Verrät er natürlich nicht. Meine Schmiedezangen, die Hufhämmer, die Nietenzieher … ach was, fast meine ganze Schmiede habe ich mit seinen Sachen ausgerüstet. Aber wenn ich nicht sehr früh da bin, haben sie ihm schon mittags alles aus den Händen gerissen.“

Effel hatte gerade eine junge hellbraune Haflinger Stute mit Namen Lotte, deren ruhiges und ausgeglichenes Temperament sie dafür geradezu prädestinierte, an die Kutsche gewöhnt. Es hatte dennoch relativ viel Zeit beansprucht, das Tier an die Doppellonge, die Stimmkommandos, das Geschirr, die Schweifriemen und das Kopfstück zu gewöhnen. Nun hatte er sehen wollen, wie sie sich auf einer längeren Strecke anstellen würde und Soko versprochen, ihn nach Verinot zu begleiten. Im Einspänner waren sie natürlich wesentlich schneller gewesen als er es jetzt zu Fuß war. Die Stute hatte sich großartig verhalten. Sogar als hinter einem Waldstück ein paar Rebhühner flatternd ihren Weg gekreuzt hatten, war sie ruhig im Geschirr geblieben.

Soko hatte später auf seine neue, matt glänzende Werkzeugkiste gezeigt und gestrahlt.

„Mein Freund, die Rechnung im Lamm geht heute auf mich.“

„Aber die Getränke zahlt Lotte“, hatte Effel lachend geantwortet und seinem Freund auf die Schulter geklopft.

Es hatte einen hervorragenden Rehbraten in Preiselbeersauce mit Rotkraut und Knödeln gegeben und die beiden hatten reingehauen wie die Scheunendrescher. Dazu hatte Soko zwei Krüge frisch gebrautes Bier getrunken. Er selbst hatte ein Glas von dem schweren, blutroten Wein probiert, der aus der Gegend von Angwat stammte und ihm vom Wirt wärmstens empfohlen worden war. Nach dieser reichlichen Mahlzeit hatte Soko sich mit dem Handrücken den Rest vom Schaum aus dem Schnurrbart gewischt, sich zurückgelehnt und nach einem „das war herrlich“, einen tiefen, lauten Rülpser vom Stapel gelassen, der die anderen Gäste von ihren Mahlzeiten hatte aufschauen lassen. Nicht alle hatten darüber lachen können.

„Tschuldigung, die Herrschaften“, hatte Soko laut gerufen und gegrinst. Wirklich böse war ihm aber niemand gewesen, dazu war der Schmied zu beliebt. Während der Rückfahrt am Nachmittag war er dann mit offenem Mund laut schnarchend eingeschlafen und erst vor seiner Schmiede wieder aufgewacht.

„Sind wir schon da?“, hatte er erstaunt gefragt und sich geräkelt, „Donnerwetter, das ging aber schnell. Deine Lotte ist ja ein richtiges Teufelspferd.“

Bei solchen Gelegenheiten hatte Effel Soko immer besser kennen gelernt. Der Schmied liebte die Natur, das Wandern durch den Wald und er erkannte dort alle Vogelarten an ihrem Gesang. Am meisten aber liebte er die Berge. Er hatte schon einige Gipfel des Agillengebirges im Alleingang bestiegen.

Hinter seiner Werkstatt hatte er mehrere Verschläge, kleine Ställe und Käfige gebaut, in denen er seit vielen Jahren kranke oder verletzte Tiere gesund pflegte. Sogar Leute aus den Nachbarorten brachten ihm zwei- und vierbeinige Patienten. Es gab Menschen, die sagten, er habe heilende Hände. Dieser Hüne hatte ein gutes Herz und würde mit einem Freund das letzte Stück Brot teilen.

Dass er manchmal so impulsiv reagierte, lag an der großen Hitze, in der er arbeitete.

„Das Feuer erhitzt auch mein Gemüt“, hatte er einmal gemeint, „deswegen hält es auch keine Frau lange bei mir aus. Ich bin wirklich froh, dass meine Mutter noch so rüstig ist, denn alleine würde ich das gar nicht alles schaffen mit der Werkstatt, den Tieren, dem Einkaufen und dem Kochen. In die Berge könnte ich wohl auch nicht mehr, wenn ihr etwas passieren würde. Die helfen mir nämlich, ins Gleichgewicht zu kommen.“

Dass der wortkarge Mann auf diese Weise über sich nachdachte, hatte Effel damals gewundert. Manchmal hatte er in der Schmiede geholfen und konnte deshalb gut nachvollziehen, was Soko gemeint hatte.

Sam war eingeschlafen. Das wilde Zucken seiner Pfoten deutete einen Traum an, in dem er vielleicht hinter einem Hasen her war. Effel musste lächeln. Wenn er jetzt Schokolade auspacken würde, säße Sam im nächsten Augenblick hellwach und mit großen Hundeaugen bettelnd und sabbernd vor ihm. Schokolade war das Höchste für ihn.

Dann kamen ihm erneut Abschiedsworte seines Mentors Mindevol in den Sinn.

„Ich weiß, dass dein jugendlicher Elan dich antreiben wird und du sollst diese Kraft auch genießen. Denke dabei immer an die goldene Regel, Schritt für Schritt vorzugehen. Wenn du dazu noch in der Lage bist, unter gewissen Umständen anders zu denken und dein Handeln danach auszurichten, wirst du erfolgreich sein.“

Er wollte diese goldene Regel unbedingt beachten. Er lehnte sich zurück und erblickte am Himmel zwei Bussarde.

Sie sind so aufmerksam, ging es ihm durch den Kopf, nichts entgeht ihnen. Ich hoffe, dass auch mir nichts entgeht. Ich werde keinen Fehler machen und den Eindringling bald finden, je eher, desto besser. Dann kann ich wieder nach Seringat zurück, ich habe noch so viel vor.

Er war vom Ältestenrat ausgewählt worden, um eine Mission zu erfüllen, von deren Ausgang nicht nur seine eigene Zukunft abhing. Dabei wurde er beseelt von einer tiefen Sehnsucht und dem absoluten Glauben an das Gelingen.

Er hatte die Menschen zurückgelassen, unter denen er aufgewachsen war. Sein Dorf Seringat in der Provinz Alur, und vielleicht würde er sogar Flaaland eines Tages den Rücken kehren müssen. Sein Haus war fast fertig. Er war so stolz gewesen, es allen zeigen zu können und wenn alles gut ginge, würde er bald einziehen. Er musste gerade daran denken, wie sehr Saskia sich auf diesen Moment freute.

Im letzten Jahr war er auf der Jagd in den Wäldern gewesen, die sich von der nördlichen Grenze Seringats bis nach Verinot und weit darüber hinaus bis tief in die Provinz Elaine erstreckten. Er war dabei auf einen mächtigen Findling gestoßen, der sicherlich zwei Meter hoch aus der Erde ragte. Eigentlich war es sein Hund gewesen, der ihn bei der Verfolgung eines Rehbocks durch dichtes Unterholz dorthin geführt hatte. Weil der Findling mit Ästen der umstehenden Bäume, von Gestrüpp und Brombeeren dicht überwachsen gewesen war, hatte ihn wohl noch niemand entdeckt. Als er sich den Stein genauer betrachtet hatte, war eine sehr detaillierte Vision von seinem Haus entstanden, das eines Tages dort stehen würde. Platz für Pferdeställe mit großer Koppel gab es auch genug. Die Tränke würde von der Quelle gespeist werden und der Waldrand konnte den Tieren an heißen Tagen Schatten spenden. Endlich hätte er seine geliebten Pferde, die damals noch bei Soko hinter der Schmiede untergebracht waren, in seiner Nähe.

Die Entdeckung hatte dem Rehbock das Leben gerettet. Effel war mit dieser Idee sofort zu seinem Bruder gelaufen, bei dem er damals noch gewohnt hatte. Da seine Freude ansteckend gewesen war, hatten die beiden gleich mit der Planung begonnen. Der Zeitpunkt war genau richtig gewesen, denn seine Schwägerin war im vierten Monat schwanger und mehr Raum würde bald benötigt werden. Außerdem hatte seine Freundin Saskia ihm schon mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass es an der Zeit sei, sich etwas Eigenes zu schaffen. „Ich wünschte, wir müssten nicht ständig zu meiner oder deiner Familie, so bequem das auch ist.“

Da er mit ihr einmal Kinder haben wollte, hatte er gleich groß genug gebaut. Der Findling war nun als Rückwand eines großen Kachelofens Teil des Hauses. Sieben Ochsen waren nötig gewesen, ihn über eine Strecke von etwa hundert Metern genau an die dafür vorgesehene Stelle zwischen Küche und Flur zu schleppen. Ihnas Mann, Jeroen, hatte ihm grinsend zum bevorstehenden Einzug eine große Ofenkachel geschenkt, die er kunstvoll mit dem Satz ´Was vom Gletscher übrig blieb' beschriftet hatte.

Die offene Feuerstelle mitten im Wohnraum war wohl seine beste Idee gewesen. Die mit Kupfer beschlagene Abzugshaube stammte aus Sokos Werkstatt und die Sitzgruppe aus weichem Leder war ein Geschenk seiner Eltern. In der Nähe eines grossen Fensters an der Nordseite stand ein weißer Flügel, den er von der ersten Decktaxe Fairytails gekauft hatte. Saskia hatte sich darüber gefreut wie ein kleines Kind, nachdem er sie zunächst mit verbundenen Augen in den Wohnraum geführt hatte. Sie war ihm um den Hals gefallen und hatte ihn geküsst, bis er dachte, keine Luft mehr zu bekommen.

Im Schlafzimmer hatte er einen zusätzlichen Kamin eingebaut. Dort hingen schon die weißen Vorhänge, die Saskia genäht hatte. Daneben lag das ganz in dunkelgrau und hellblau gekachelte Badezimmer. Wenn man in der Badewanne lag, hatte man aus dem bodentiefen, dreifach verglasten Fenster einen Blick auf das Dorf und wenn man nachts badete, konnte man durch das Glasdach, das man sogar aufschieben konnte, den Sternenhimmel betrachten. Dieses Schiebedach war die Idee seines Vaters gewesen und wurde von allen Freunden bewundert. In das obere Stockwerk führte eine kunstvoll gestaltete Treppe aus Olivenholz mit einem Geländer aus der Wurzel des Ahorns. Auf den vier Treppenpfosten hatte sein Bruder jeweils einen kunstvoll geschnitzten Pferdekopf angebracht. Jobol hatte nicht nur Großvaters Schreinerei übernommen sondern ganz offensichtlich auch dessen Talent geerbt.

„Das ist mein Einzugsgeschenk“, hatte er gesagt und ihn damit zu Tränen gerührt. In diesem Sommer hatte er vorgehabt, den Garten anzulegen, doch das musste jetzt warten, obwohl Saskia ihm angeboten hatte, schon einmal damit anzufangen. Wenn man auf der Südterrasse stand, hatte man einen phantastischen Blick. Sogar bis zur Schmiede konnte man schauen, und die lag am anderen Ende des Dorfes.

„Ich kann jetzt immer genau sehen, wann du arbeitest“, hatte er scherzhaft zu Soko gemeint, als dieser ihm das schmiedeeiserne Gartentor und die Abzugshaube für die Feuerstelle im Wohnraum geliefert hatte.

„Wenn du sonst nichts zu tun hast … aber täusche dich nicht, es qualmt auch, wenn meine Mutter kocht“, war dessen trockene Antwort gewesen.

Der Abschied von Saskia war ihm schwer gefallen, viel schwerer noch als der von seinen Eltern und Geschwistern. Sie hatte ihn noch ein Stück begleitet. Hätte sie entscheiden können, wäre sie mitgekommen, aber der Rat hatte es nicht erlaubt. Hand in Hand waren sie schweigend nebeneinanderher gegangen, mit der Schwermut des Abschieds und der Ungewissheit seiner Wiederkehr belastet. Er hatte ihre Tränen gesehen.

„Es wird alles gut gehen, du wirst sehen, ich komme heil zurück.“

Aber sie kannte ihn zu gut, deswegen war ihr seine leichte Unsicherheit nicht entgangen.

„Ich würde es so gerne glauben“, hatte sie mit fester Stimme geantwortet, „ich werde mit all meinen Gedanken bei dir sein und dir Kraft schicken.“

„Was soll dann noch schief gehen?“, hatte er versucht die Situation zu entkrampfen, aber gleich gemerkt, dass es ihm nicht gelungen war. Er hatte einen Arm um sie gelegt, sie eng an sich gezogen und lange geküsst.

„Ich werde ebenfalls an dich denken, du hast einen großen Platz in meinem Herzen, Saskia. Das wird mir die Kraft geben, die ich brauche.“

Im gleichen Moment waren zwei Tauben von einem Baum in verschiedene Richtungen davongeflogen. Er hatte gehofft, dass Saskia das nicht bemerkt hatte, denn sie hätte sicherlich ihre Schlüsse daraus gezogen.

„Danke, Liebster, für all die schönen Momente in meinem Leben. Du hast mir so viel gegeben. Das werde ich bewahren, egal was geschieht.“

Am Rande des Moores, in dem die Dorfbewohner ihren Torf stachen, hatten sie in einer langen und innigen Umarmung wortlos Abschied genommen. Dann hatte Saskia Sam über den Kopf gestreichelt.

„Du passt auf ihn auf, nicht wahr, mein Guter?“

Der Hund war an ihr hochgesprungen. Dabei hatte er ihr Gesicht mit seiner Schnauze wie zu einem Abschiedskuss berührt. Nach einem letzten langen Kuss hatte Effel seinen Rucksack aufgenommen und war dem Hund gefolgt, der schon losgelaufen war. Er war sich sicher gewesen, dass auch Saskia sich nicht mehr umdrehen würde.

Jetzt war er nicht mehr aufzuhalten und er hatte auch vorher nicht einen Augenblick daran gedacht, einen Rückzieher zu machen. Die Reise hatte begonnen und er konnte in der Tat nicht wissen, ob er jemals zurückkehren würde. Seine Gegner würden mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet sein, war die einhellige Meinung des Rats gewesen. Er würde sein Bestes geben, denn er liebte sein Heimatland. Im Norden wurde es von dem Agillengebirge beschützt, aus dem der mächtige Gork, ein noch aktiver Vulkan, herausragte und das im Frühjahr die kalten Nordwinde abwehrte. Im Westen bildete das Meer mit steilen Küsten und langen Stränden eine natürliche Grenze. Das Land war fruchtbar. Riesige Wälder beherbergten viele Wildarten. Auf den Feldern wuchs das Korn in Fülle und die fischreichen Flüsse und Seen brachten willkommene Abwechslung auf den Speiseplan. In der Regel waren die Winter kalt und schneereich, die Sommer warm und trocken.

Jedenfalls war das seine Vorstellung von Heimat gewesen, bis er dem Gaukler Malu begegnet war, der durch Flaaland reiste und eines Tages auch in Seringat aufgetaucht war.

Zuschauer hatten den Gaukler nach dessen Heimat gefragt und der hatte nur gelacht und geantwortet: „Meine Heimat ist überall.“

Wenn auch einige der Umstehenden verständnislos den Kopf geschüttelt hatten, war Effel, er war damals fünfzehn Jahre alt, an etwas erinnert worden. Er hatte in einem schon sehr abgegriffenem Buch, das er auf dem Dachboden im Hause seines Großvaters entdeckt hatte, den Satz gelesen:

Dort wo dein Herz ist, ist deine Heimat. Wenn du in deinem Herzen bist, bist du überall zu Hause.

Er hatte das Gefühl gehabt, dass es stimmte. Wenn er mit dem Gaukler zusammentraf, bekam er meist neue Denkanstöße. Fast war es so, als wüsste Malu, was in ihm gerade vorging.

„Oft sagst du etwas, das mich über vieles neu nachdenken lässt. Kannst du Gedanken lesen?“

Malu hatte ihn dann aus seinen wasserblauen Augen angeschaut und gelacht.

„Für dich mag es so aussehen, als hätte ich diese Fähigkeit. Wenn du die Gedanken deines Herzens meinst, hast du sogar Recht. Wenn ich dich erlebe, blicke ich in einen jüngeren Spiegel. Wir schauen nämlich immer nur in Spiegel. Manchmal gefällt uns, was wir dort sehen und manchmal eben nicht.“

Oft hatte der Gaukler ihn nach einer solchen Bemerkung einfach stehen gelassen und sich eine dieser kleinen Zigarren angesteckt, die furchtbar stanken, so als wolle er dem Inhalt der Aussage erst einmal Gelegenheit geben, zu wirken. Effel wusste inzwischen, dass das genau richtig war, wenn auch die meisten Leute Malu für arrogant hielten. Der aber schien auf das Urteil anderer wenig Wert zu legen. Dennoch gewann er die Herzen der meisten Zuschauer im Flug. Er hatte immer ein Lachen in den Augen und trotz eines unübersehbaren Bauches waren seine Bewegungen geschmeidig. Die Kleidung, die er trug, war auffallend bunt und irgendwie wollte nichts recht zueinander passen. Während seiner Aufführungen, in denen er humorvoll ganz alltägliche Situationen aus dem Leben spielte, musste er nur ein oder zwei Kleidungsstücke tauschen und schon wurde der Charakter einer anderen Rolle deutlich. Bis zu fünf Rollen konnte er mühelos gleichzeitig spielen.

„Andere Schauspieler haben eine Garderobe, in der sie sich umziehen, ich habe meine am Leib“, hatte er einmal nach den Aufführungen erklärt. Vor allem, wie er so etwas sagte, brachte ihm sofort einige Lacher ein. Während seines Schauspiels sah man aber auch sehr nachdenkliche Zuschauer, wenn sie sich in dem Spiegel erkannten, den er ihnen vorhielt. Seine besondere Stärke war, das Publikum spontan in die Vorstellungen mit einzubeziehen, indem er ihnen kleine Rollen zuwies. Wie sich dabei herausstellte, hatte er ein sehr gutes Gespür für Menschen.

Sein Alter war schwer zu bestimmen, er selbst verriet es jedenfalls nicht. Er meinte, Menschen, die ihre Lebensjahre zählten, würden sich auch altersgerecht verhalten.

„Was wir über das Altsein denken, ist wirkungsvolle Selbsthypnose“, hatte er einmal während einer Aufführung gesagt, „alt zu sein muss nicht zwangsläufig bedeuten, gebeugt zu gehen, krank zu werden oder bestimmte Dinge nicht mehr tun zu können.“

Seine kleinen Theaterstücke waren Lehrstunden, zumindest für diejenigen, die bereit waren, dies auch zuzulassen. Manchmal musste man zwischen den Worten lesen können.

Die Begegnung mit Malu hatte Effels Leben bereichert und ihm zu wichtigen Erkenntnissen verholfen. Er betrachtete die Menschen nun mit dieser neuen Spiegel-Erkenntnis, wie er sie selber nannte. Die Erfahrungen, die er dabei gemacht hatte, überraschten und erstaunten ihn.

Nach und nach war ihm klar geworden, welch großartiges Geschenk er sich selbst gemacht hatte, indem er sich auf eine solche Erfahrung einließ, zumal er mit Mindevol und seiner Frau Mira über diese Erkenntnisse reden konnte. Einfach war es damals für ihn mit dieser Spiegel-Technik nicht, oft war es unangenehm, manchmal auch nur peinlich gewesen. Es war ihm bewusst geworden, wie wenig er sich selbst annehmen konnte.

Von einem Geschenk konnte da noch keine Rede sein. Erst später sollte er erkennen, dass die großen Geschenke des Lebens meist nicht in Geschenkpapier eingepackt sind. Er hatte damals begonnen, anders zu denken. Besonders schwer war ihm das bei Menschen gefallen, deren Art er früher abgelehnt hatte. Bei Soko Kovaric, dem Schmied, den er wegen seines oft unbeherrschten Verhaltens gemieden hatte, oder Suna, der Nachbartochter, die sich über alles und jeden lustig machen musste. Ihna, Saskias beste Freundin, hatte er stets für oberflächlich gehalten.

Die alle sollen meine Spiegel sein?, hatte er sich so manches Mal gefragt. Es war eine harte Lehrzeit gewesen und es hatte durchaus Momente gegeben, in denen er sich gewünscht hatte, Malu nie begegnet zu sein. Schon bald sah er das natürlich vollkommen anders und Soko war inzwischen sogar sein bester Freund.

Malu besuchte Seringat in letzter Zeit öfter. Die Leute im Dorf munkelten, dass Birja, die Lehrerin, der Grund dafür sein könnte. Sie hatte erst vor einigen Monaten ihren Mann Stanley verloren. Gegen jede Regel war der im tiefsten Winter alleine zur Jagd gegangen. Dabei musste er so schwer gestürzt sein, dass er, unfähig sich fortzubewegen, erfroren war. Suchtrupps hatten erst Tage später nur noch seine Leiche bergen können, weil durch Neuschnee alle Spuren verschwunden waren.

Mit einem leisen Bellen erwachte Sam aus seinen Träumen und holte Effel in die Gegenwart zurück. Die Sonne hatte Wald und Wiesen in ein sattes Grün getaucht. Dieser Anblick machte es ihm leicht, seinen Rucksack wieder aufzunehmen. Er rief Sam einige ermunternde Worte zu und brach auf. Es war inzwischen so warm, dass er froh war, am Waldrand ab und zu etwas Schatten zu finden. Sam war ein Stück voraus gelaufen.

Plötzlich blieb der Hund wie angewurzelt stehen, nur seine Flanken bewegten sich im Rhythmus des Atems. Effel stutzte und näherte sich langsam.

Das, was die Aufmerksamkeit des Hundes erregte, schien aus dem Wald oder dem Gebüsch am Wegesrand zu kommen. Als er die Stelle erreicht hatte, konnte er nichts Besonderes erkennen. Sam lag inzwischen flach auf dem Boden und wedelte heftig mit dem Schwanz. Dabei stieß er Laute aus, die man bei Menschen als Lachen bezeichnen würde. Er schien sich unbändig zu freuen.

Effel ging in die Hocke und beschloss, geduldig zu sein. Irgendwann einmal war ihm klar geworden, dass er weniger sah, wenn er sich anstrengte, etwas Verborgenes zu sehen. Auch wusste er, dass Tiere Dinge wahrnehmen können, die für Menschen unsichtbar waren. Es sollte ihnen, laut Mindevol, sogar möglich sein, sich mit den Naturgeistern in einer Sprache zu verständigen, die die Menschen verloren hatten. Effel beneidete sie um diese Gabe.

Kapitel 4

Bereits im Alter von zwölf Jahren hatte Nikita gewusst, was sie einmal werden wollte. Es sollte in jedem Fall etwas mit Menschen zu tun haben. Ihrer Mutter war schon wesentlich früher aufgefallen, wie sehr sie sich für menschliches Verhalten interessierte. Eine der häufigsten Fragen der kleinen Nikita hatte gelautet: „Mama, warum macht der das?“

Da Eva Ferrer sehr geduldig war, hatte sie sich stets bemüht, alle Fragen zu beantworten. Nikita war ihrer Mutter immer noch dankbar, dass ihre Antworten sie nur noch neugieriger gemacht hatten.

In der Schule waren Psychologie und Physik ihre Lieblingsfächer geworden. Ihr Vater hatte sich zwar gewünscht, dass sie, wie er, eine politische Laufbahn einschlagen würde, hatte aber bald eingesehen, dass er gegen seine willensstarke Tochter keine Chance hatte. Er war sehr stolz auf sie. Es gab Leute, die behaupteten, er vergöttere sie geradezu. Er versäumte es selten, sie vor seinen Freunden in den höchsten Tönen zu loben, was ihr unglaublich peinlich war, wenn sie das mitbekam. Dann verdrehte sie die Augen und stieß ein genervtes „Papa“ aus, worauf er mit einem „Ist ja schon gut“ antwortete. Es war fast ein kleines Ritual zwischen den beiden und wurde von den Freunden mit einem Lächeln quittiert.

Als sie vierzehn Jahre alt war, hatten ihre Eltern sie schweren Herzens in Sells angemeldet. Dort war die beste Schule für Hochbegabte und Nikita hatte die Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit geschafft. Da Sells mehr als 200 Meilen von Bushtown entfernt war, hatte sie in dem dort angeschlossenen Internat gewohnt. Sie sah ihre Eltern von nun an nur einmal im Monat für ein Wochenende, denn man legte in Sells Wert darauf, dass die Schüler auch an den schulfreien Tagen an Weiterbildungen teilnahmen. Das musste man allerdings niemandem ans Herz legen. Wer hier war, wollte sich Wissen aneignen. Sowohl das Freizeit- als auch das Sportangebot im Internat waren abwechslungsreich. Jeder Schüler erlernte während seiner Schulzeit mindestens ein Musikinstrument und die meisten taten sich in einer Sportart hervor. Nikita hatte damals schon Golf gespielt und auch in Sells hatte sich ihr die Gelegenheit dazu geboten. Ihr Talent war unübersehbar gewesen. Einer Profikarriere hätte sicherlich nichts im Weg gestanden. Jede freie Minute hatte sie auf dem Golfplatz verbracht, denn das Lernen war ihr leicht gefallen.

Dennoch hatte sie sich so manches Mal gewünscht, mehr Kontakt zu ihren Eltern zu haben. Besonders ihre Mutter fehlte ihr, die auch für ihre Alltagssorgen stets ein offenes Ohr hatte. Nikita war zwar von Freundinnen umgeben und sie hatte mit sechzehn Jahren auch ihren ersten Freund, aber wenn sie von Chalsea hörte, was diese alles mit ihren Eltern unternahm, war ihr klar geworden, dass sie etwas vermisste. Das Familienleben der Ferrers hatte sich auf die Schulferien konzentriert. In ihrem Ferienhaus am Lake Mountin hatten sie dann versucht, alles nachzuholen. Sie hatten Bootstouren unternommen, Nikita war mit ihrem Vater auf die Jagd gegangen und mit ihrer Mutter zum Golf spielen. Die Tage waren ausgefüllt und unbeschwert gewesen.

Chalsea hatte das allerdings ganz anders gesehen.

„Ich wäre froh gewesen, in solch einer Schule sein zu können mit den ganzen Freiheiten dort. Glaubst du, es war ein Vergnügen, jeden Abend erklären zu müssen, wo man war, mit wem und warum?“

„Nach dem Warum bist du auch gefragt worden“, hatte Nikita lachend gefragt.

„Mensch, Niki, du weißt genau, wie ich das meine.“

Wahrscheinlich vermisst man immer das, was man nicht hat, hatte sie während solcher Gespräche gedacht. Niemand war überrascht gewesen, dass ihr ein exzellenter Abschluss an der Universität gelungen war. Einer glanzvollen beruflichen Karriere stand nichts mehr im Weg.

Die Idee, Profigolferin zu werden, hatte sich da schon in Luft aufgelöst. Immer nur Golf zu spielen war ihr zu eintönig gewesen. Es hatte sie auch genervt, dass die Gespräche der meisten Spieler sich nur um das Thema Golf gedreht hatten.

Einige Firmen, die ihre Scouts regelmäßig an die Eliteuniversitäten des Landes schickten, waren schon während des Studiums mit lukrativen Angeboten an sie herangetreten.

Als Senator wusste Paul Ferrer, dass BOSST schon viele Regierungsaufträge bekommen hatte.

„Entweder machen die hervorragende Lobbyarbeit, oder jemand von der Regierung ist an diesem Unternehmen irgendwie beteiligt“, hatte eine Kollegin, eine Senatorin aus dem Innenausschuss, einmal geäußert.

Da Nikita alle wichtigen Dinge mit ihren Eltern besprach, hatte ihr Vater ihr geraten, das Angebot von BOSST anzunehmen.

„Da hast du einen sicheren Arbeitsplatz und eine Herausforderung dürfte es für dich allemal sein. Das Unternehmen ist solide und wird nicht untergehen ... und wenn du einmal Schwierigkeiten bekommen solltest, kann ich dir vielleicht helfen.“

„Papa, du weißt genau, dass ich es selber schaffen will und mich nicht auf deine Beziehungen verlassen möchte. Außerdem, … warum sollte es bei BOSST Schwierigkeiten geben? Zählt es nicht zu den erfolgreichsten Unternehmen unseres Landes?“

Kurz darauf hatte Professor Rhin sie überzeugt.

„Ich hätte Sie gerne in meinem Team, Frau Ferrer“, hatte er ihr bei einer Tasse Kaffee in einem der noblen Restaurants der Firma gesagt. Sie war damals seiner Einladung zu einer Besichtigung gerne gefolgt.

„Es ehrt mich natürlich, aber was hat Sie veranlasst, gerade mich einzuladen, Herr Professor?“ hatte Nikita gefragt.

„Weil Sie eine der Besten sind, Frau Ferrer. Ich habe Ihre Abschlussarbeiten gelesen und mir hat gefallen, wie Sie die Dinge anpacken. Sie haben den Mut, eigene Ideen zu entwickeln, und haben nicht, wie die meisten Ihrer Kommilitonen, nur den anerkannten Kapazitäten nachgeplappert. Das gefällt mir sehr.“

Professor Rhin hatte Kaffee nachbestellt.

„Und Sie fanden mich nicht überheblich? Professor Snyder hat einmal gesagt, ich solle auf dem Teppich bleiben. Ich hatte ihm spontan geantwortet, dass es wohl keine großen Entdeckungen gegeben hätte, wenn alle Menschen auf dem Teppich geblieben wären. Mich muss der Teufel geritten haben. In der nächsten Klausur hatte er mir dann eine Drei verpasst ... mit einem Minus dahinter.“