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Arthur Daane, ein Niederländer in Berlin, streift mit der Filmkamera durch die verschneite Großstadt, auf der Suche nach Bildern für seinen Film. Aber dann lernt er die junge Elik kennen, eine Frau mit Geheimnissen, der er folgt - bis nach Madrid, bis zum Ende.
»Ein großer und ausgeruhter, ein europäischer und kosmopolitischer Roman.« Ulrich Greiner, Die Zeit
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Seitenzahl: 495
Arthur Daane, ein Niederländer in Berlin, hat seine Frau und seinen Sohn bei einem tragischen Unfall verloren und streift nun mit der Filmkamera durch die Großstadt im Schnee, auf der Suche nach Bildern für sein »ewiges Projekt«, seinen Film. Hier, in Deutschlands schillernder Metropole, fühlt er sich von neuen Freunden aufgenommen, diskutiert mit ihnen über die vielen Ereignisse der neunziger Jahre und über deren metaphysische Dimensionen – Gespräche, denen Ironie und Humor nicht fremd sind. Als Arthur freilich die junge Geschichtsstudentin Elik Oranje kennenlernt, bekommt alle Metaphysik plötzlich sehr konkrete Konturen. Elik wird zur Sirene, einer Frau mit Geheimnissen, auf die Arthur hört, der er folgt, bis nach Madrid, bis zum Ende. Und so entfaltet sich Allerseelen zum elegischen Liebesroman, in dem persönliche Geschichten von Menschen auf scheinbar zufällige Weise verwoben sind mit der Geschichte der Länder, in denen sie sich befinden.
»Nooteboom schreibt mit Allerseelen den Großstadtroman über die deutsche Wiedervereinigung.«
Harald Loch, Saarbrücker Zeitung
Cees Nooteboom, geboren 1933 in Den Haag, lebt in Amsterdam und auf Menorca. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel Allerzielen bei Uitgeverij Atlas, Amsterdam.
Umschlagfoto: Simone Sassen
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Erstausgabe im Suhrkamp Hauptprogramm, 1999.
© Cees Nooteboom 1999
Copyright der deutschen Ausgabe in der Übersetzung von Helga van Beuningen: © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1999
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73512-1
www.suhrkamp.de
Cees Nooteboom
Allerseelen
Roman
Suhrkamp
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe
als den Gesang, nämlich ihr Schweigen.
Franz Kafka, Das Schweigen der Sirenen
So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom –
und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.
F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby
Erst einige Sekunden nachdem Arthur Daane an der Buchhandlung vorbeigegangen war, merkte er, daß sich ein Wort in seinen Gedanken festgehakt hatte und daß er dieses Wort inzwischen bereits in seine eigene Sprache übersetzt hatte, wodurch es sofort ungefährlicher klang als im Deutschen. Er überlegte, ob das durch die letzte Silbe kam. Nis1, Nische, ein merkwürdig kurzes Wort, nicht gemein und scharf wie manche anderen kurzen Wörter, sondern eher beruhigend. Etwas, in dem man sich verbergen konnte oder in dem man etwas Verborgenes fand. In anderen Sprachen gab es das nicht. Er versuchte, das Wort loszuwerden, indem er schneller ging, doch es gelang ihm nicht mehr, nicht in dieser Stadt, die davon durchtränkt war. Es hatte sich in ihm festgehakt. In letzter Zeit ging ihm das so mit Wörtern, insofern war Haken der richtige Ausdruck: Sie hakten sich in ihm fest. Und sie hatten einen Klang. Selbst wenn er sie nicht laut aussprach, hörte er sie, manchmal schien es sogar, als schallten sie. Sobald man sie aus der Reihe der Sätze löste, in die sie gehörten, bekamen sie, falls man dafür empfänglich war, etwas Angsterregendes, eine Fremdheit, über die man besser nicht zuviel nachdachte, da sonst die ganze Welt ins Wanken geriet. Zuviel freie Zeit, dachte er, aber genau so hatte er sich sein Leben ja eingerichtet. In einem alten Schulbuch hatte er einmal von »dem Javaner« gelesen, der sich, kaum hatte er einen Viertelgulden verdient, unter einer Palme niederließ. Offenbar konnte man in jenen längst verflogenen Tagen von einem Viertelgulden sehr lange leben, denn dieser Javaner machte sich, so jedenfalls ging die Geschichte, erst dann wieder an die Arbeit, wenn der Viertelgulden aufgebraucht war. Darüber empörte sich das Buch, denn so komme man schließlich nicht voran, doch Arthur Daane gab dem Javaner recht. Er machte Fernsehdokumentarfilme, die er konzeptionell erarbeitete und anschließend realisierte, verdingte sich, wenn das Thema ihn interessierte, als Kameramann, und drehte gelegentlich, wenn es sich so ergab oder er wirklich Geld brauchte, einen Werbespot für die Firma eines Freundes. Machte er das nicht zu oft, war es spannend, danach tat er wieder eine Zeitlang nichts. Er hatte eine Frau gehabt, und er hatte ein Kind gehabt, doch weil sie bei einem Flugzeugunglück umgekommen waren, besaß er jetzt nur noch Fotos, auf denen sie jedesmal, wenn er sie anschaute, sich wieder etwas weiter entfernt hatten. Zehn Jahre war es jetzt her, sie waren einfach eines Morgens nach Málaga aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt. Eine Aufnahme, die er selbst gemacht, aber nie gesehen hat. Die blonde Frau mit dem Kind, einem kleinen Jungen, auf dem Rücken. Schiphol, in der Schlange vor der Paßkontrolle. Eigentlich ist das Kind schon zu groß, um an ihrem Rücken zu hängen. Er ruft sie, sie dreht sich um. Gefrier, Gedächtnis. Da stehen sie, eine Sekunde lang um neunzig Grad zu ihm gedreht. Sie hat die Hand gehoben, das Kind winkt mit kurzen Gebärden. Jemand anders wird die Ankunft filmen, die mitsamt Bungalow, Swimmingpool, Strand in der klumpigen, schwarzen, erstarrten Masse verschwinden wird, in der ihr Leben verschwunden ist. Er geht an der Schlange vorbei und gibt ihr die kleine Handkamera. Das war das letzte, danach verschwinden sie. Dem Rätsel, das die Fotos aufgeben, hat er sich verschlossen, es ist zu groß, er kommt ihm nicht bei. In manchen Träumen geschieht es, daß man sehr laut schreien muß und es nicht kann, ein Geräusch, das man nicht macht und doch hört, ein Geräusch aus Glas. Er hat das Haus verkauft, die Kleider und das Spielzeug weggegeben, als sei alles verseucht. Seit dieser Zeit ist er ein Reisender ohne Gepäck – mit Laptop, Kamera, Handy, Weltempfänger, ein paar Büchern. Anrufbeantworter in seiner Wohnung in Amsterdam-Nord, ein Mann mit Maschinen, Fax im Büro eines Freundes. Locker und fest, unsichtbare Drähte verbinden ihn mit der Welt. Stimmen, Nachrichten. Freunde, meist vom Fach, die das gleiche Leben führen. Sie dürfen sein Appartement benutzen, er das ihrige. Andernfalls kleine billige Hotels oder Pensionen, ein Universum in Bewegung. New York, Madrid, Berlin, überall, denkt er jetzt, eine Nische. Er ist noch nicht fertig mit diesem Wort, nicht mit dem kleinen, und mit dem großen, an dem es hängt und zu dem es gehört und nicht gehört, schon gar nicht.
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