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Giuseppe Penone ist Skulpteur, Bildhauer, land artist – und einer der sonderbarsten Künstler der Gegenwart. Aber was genau macht er? Und was bedeuten uns seine Werke?
Mit tastender Vorsicht nähert sich Cees Nooteboom – auf dessen Gedichte Penone immer wieder Bezug genommen hat – dieser schillernden Welt aus natürlichen Materialien, pflanzlichen Gesten und geologischen Arrangements. Penones Winken folgend, durchschreitet Nooteboom den eigenen menorquinischen Garten, sondiert das Gepräge der Steine und der Bäume und des Wassers, den beharrlichen Eigensinn der Natur und die flüchtige Beschaffenheit der Jahre – das, woraus wir gemacht sind. Und so entsteht ein verblüffendes und aufschlussreiches Zwiegespräch zwischen der Kunst und dem Schreiben.
Was weiß die Natur von uns, was wir selbst nicht wissen? Wie verständigen sich die Steine? Haben Bäume eine Sprache? Und was heißt es, mit den Händen zu denken? Cees Nooteboom über Giuseppe Penone zu lesen – das bedeutet, sich auf das existenzielle Abenteuer des Beobachtens einzulassen.
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Seitenzahl: 93
Cees Nooteboom
In den Bäumen blühen Steine
Die erdachte Welt von Giuseppe Penone
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Bomen waarin stenen bloeien. De verzonnen wereld van Giuseppe Penone bei Uitgeverij Koppernik, Amsterdam.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© Cees Nooteboom 2023
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagabbildung: Giuseppe Penone, Idee di pietra – 1532 kg di luce (Ansichten eines Steins – 1532 kg Licht), 2010, Bronze, Flusssteine, ca. 1000 × 520 × 440 cm, Installationsansicht Forte di Belvedere (Detail), Florenz 2014, Foto: Archivio Penone, © Archivio Penone/VG Bild-Kunst, Bonn 2023
eISBN 978-3-518-77829-6
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
I
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Fotonachweise
Verzeichnis der abgebildeten Kunstwerke
Informationen zum Buch
In den Bäumen blühen Steine
Am 13. Juli 2022 erhielt ich eine Mail von Frau Suzanne Swarts vom Museum Voorlinden in Wassenaar bei Den Haag, das gerade eine große Einzelausstellung des italienischen Künstlers Giuseppe Penone vorbereitete. Sie berichtete mir, dass sie Penone in Turin besucht habe und dass dieser ihr eine Reihe meiner ins Italienische übersetzten Gedichtbände gezeigt habe. Voller Enthusiasmus habe er von einer lange zurückliegenden Begegnung mit mir in Stockholm erzählt und davon, dass er danach begonnen habe, meine Gedichte zu lesen. An eine Begegnung in Stockholm erinnerte ich mich nicht, wohl aber daran, dass wir einst gemeinsam in Genf in einer Jury für die Vergabe der Rolex Preise gesessen hatten. Gleichzeitig mit der Mail von Frau Swarts kam ein handgeschriebener, an mich gerichteter, auf Italienisch abgefasster Brief von Giuseppe Penone vom 8. Juli 2022, in dem unsere Stockholmer Begegnung nochmals erwähnt wurde, vor allem aber, dass er einige meiner Gedichte für den Katalog seiner Ausstellung im Museum Voorlinden ausgesucht habe. Ich schrieb ihm zurück, dass ich darüber sehr erfreut sei, dass wir uns nicht in Stockholm begegnet seien, sondern in Genf, und dass ich sehr von der Aussicht angetan sei, bei seiner Ausstellung nicht nur zugegen, sondern auch daran beteiligt zu sein.
Nicht lange danach traf eine größere Sendung aus Turin in meinem Haus auf Menorca ein, in dem ich für gewöhnlich meine Sommer verbringe. Darin befanden sich neben einem prachtvoll ausgestatteten Buch über sein Œuvre, The Inner Life of Forms, eine Reihe kleinerer, ebenfalls sehr ansprechend gestalteter Büchlein mit handgeschriebenen englischen Titeln, römisch durchnummeriert von I bis XI, allesamt verfasst von Daniela Lancioni und herausgegeben von Carlos Basualdo, von dem in The Inner Life of Forms auch ein langes, sehr interessantes Interview mit Penone steht. Alles war reich illustriert, ich konnte also loslegen, beflügelt durch die Tatsache, dass der Bildhauer etliche meiner Gedichte für den Ausstellungskatalog ausgewählt hatte und damit auf eine gewisse Verwandtschaft mit seinem Werk anspielte.
Bei der Rolex-Begegnung in Genf ging es darum, dass die dort versammelten Künstler – zehn an der Zahl – andere Künstler benennen sollten, die talentierte junge Menschen bei ihrer Karriere unterstützen könnten. Ich erinnere mich an unsere kurze Begegnung während der Tage in Genf noch sehr gut, auch weil wir uns sofort verstanden haben. Ich war kein wirklicher Kenner von Penones Werk, und das bedeutete eine echte Überraschung. Im Juli und August des vergangenen glutheißen Sommers hier auf meiner Insel hatte ich mich anhand der zahllosen Abbildungen und Fotos in The Inner Life of Forms, anhand von Interviews und Essays und vor allem mit Hilfe der Texte von Daniela Lancioni in den von mir so genannten Begleitbüchlein ausgiebig mit Penones Werk beschäftigt und begonnen, darüber zu schreiben. Es geht hier, sowohl für ihn als auch für mich, um einen Zeitabschnitt von über vierzig Jahren, für mich also eine gigantische Aufholjagd, das Einzige, was im Grunde noch fehlte, war der physische Kontakt mit seinen so unterschiedlichen Arbeiten, das musste noch bis Oktober im Voorlinden warten. Was ich darüber schrieb, hat Penone, der fließend Französisch spricht, in Form einer parallel dazu entstehenden französischen Übersetzung von Philippe Noble erreicht, woraus eine Korrespondenz entstand, die vorläufig noch andauert. Eine zusätzliche Überraschung für mich war hinten in The Inner Life of Forms ein langer Essay von Salvatore Settis, dem Direktor des Getty Institute in Los Angeles, der mich vor auch schon wieder vierzig Jahren eingeladen hatte, eine Saison in Los Angeles zu verbringen, ein Jahr, dem ich viel verdanke. Im – inzwischen vergriffenen – Katalog des Museums Voorlinden waren die Gedichte, die Giuseppe ausgewählt hatte, auf Englisch und Niederländisch abgedruckt, zusammen mit Fragmenten aus dem Buch, das jetzt vor Ihnen liegt.
Manchmal geschieht so etwas, man hat Dinge in aller Unschuld geschrieben, und Jahre später hat ein italienischer Bildhauer sie gelesen und einen Zusammenhang mit dem entdeckt, was er selber macht. Das verwundert einen und macht einen froh. Die Gedichte waren zu lange allein geblieben. Mit Penone hatten sie einen anderen, neuen Leser gewonnen. Und ich betrachte Bäume jetzt mit anderen Augen.
Mein Haus auf der Insel ist umgeben von Mauern aus aufeinandergeschichteten Steinen. Von Ost nach West, von Mahón nach Ciudadela, ist die Insel vierundvierzig Kilometer breit und ungefähr fünfzehn Kilometer lang von Süd nach Nord, und überall stehen diese Mauern. Sie sind das Gesicht der Insel, ein gigantisches Netz steinerner Wälle. Es müssen Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Steinen sein, im Laufe vieler Jahrhunderte aus dem Boden geholt von Menschen, die es schon lange nicht mehr gibt. Die Mauer, die entsteht, wenn sie die Steine aufeinanderlegen, heißt pared seca, trockene Mauer. Weder Zement noch Wasser sind dafür erforderlich, ich habe oft gesehen, wie sie es machen. Da liegt ein großer Haufen Steine, rohe, schartige Formen mit scharfen Kanten. Neben dem Haufen stehen die Männer. Sie packen einen Brocken, Haut berührt Stein, sie halten ihn einen Augenblick in die Höhe, schauen, prüfen, schätzen die Form ab. Gleichzeitig schauen sie zu der im Entstehen begriffenen Mauer, suchen mit dem Blick in Sekundenschnelle eine Stelle aus und legen den Stein dorthin. Manchmal schlägt einer der Männer mit einem Meißel oder einem Hammer ein Stück von dem Stein ab, damit er besser passt. Selbst bei Sturm steht eine solche Mauer wie ein Haus. Penone schreibt von der Bewegung in Bäumen, wie das Holz atmet, wächst, sich bewegt, lebt. Was geschieht in Steinen?
In dem Land, aus dem ich komme, gibt es solche Steine nicht. Ein Gedichtband, den ich einmal schrieb, trägt den Titel Offen wie eine Muschel, geschlossen wie ein Stein. Dieses Buch konnte ich erst schreiben, nachdem ich die Steine hier gesehen hatte. Penone legt Steine auf Bäume wie große, nicht essbare Früchte. Die Bäume umarmen sie, als wollten sie sie wachsen lassen. Ich habe seine Bäume mit ihren Steinen einmal im Garten des Rijksmuseums in Amsterdam gesehen, musste dabei an den Titel eines amerikanischen Liedes denken – Strange Fruit – und überlegte mir, dass nur Kunst das kann: Steine in Bäumen wachsen lassen.
Auf der Holzplatte meines Arbeitstisches hier auf der Insel liegen acht Steine. Sie haben nichts mit den Steinen zu tun, von denen ich gerade sprach, es sind zufällige Exemplare, irgendwann irgendwo aufgehoben und mitgenommen. Einer ist grau, ich denke, es ist Schiefer, bin mir aber nicht sicher. Durch die Mitte zieht sich eine weiße Linie von einer anderen Steinart. Hier muss Kraft im Spiel gewesen sein, mit extremer Gewalt wurden unterschiedliche Steinarten ineinandergerammt, buchstäblich eine Revolution. Daheim in Amsterdam habe ich Muscheln mit Namen, hier nur diese Steine, zudem namenlos. Sie tragen nur den ihrer jeweiligen Sorte. Einer hat tiefe Furchen, Linien, Schrunden. Wäre ich unendlich klein, so könnte ich in eine dieser Furchen hinabsteigen. Was würde ich lernen? Nachdem ich viel über Penones Werke und Gedanken gelesen habe, sehen Steine und Bäume für mich anders aus. Mein Stein ist kein Kunstwerk. Niemand hat ihn gemacht. Ich habe ihn einst irgendwo aufgehoben, seit Jahren liegt er nun schon hier, ich nehme ihn nicht mit nach Amsterdam, Monat um Monat verbringt er hier still auf dem Holz. Jetzt hebe ich ihn hoch. Unten ist er genauso hart wie oben. Die Farbe ist anders, vielleicht weil er immer auf dieser Seite liegt. Er ist präsent, und ebenfalls verändert. Das kommt durch Penones Werk. Ich habe gelernt, Steine mit anderen Augen zu betrachten. Wie, das weiß ich nicht. Wenn ich sentimental bin, frage ich mich, ob der Stein manchmal an mich denkt, so wie ich jetzt an ihn. Doch darauf kommt keine Antwort. Nicht von ihm.