Alles auf Anfang - Nicolaus Heinen - E-Book

Alles auf Anfang E-Book

Nicolaus Heinen

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Beschreibung

Auf der Shortlist zum Wirtschaftsbuchpreis 2017 SCHEITERN ALS CHANCE: EIN NEUER EURO MUSS HER Der Euro wird scheitern, prognostizieren drei junge Experten für Geldpolitik. Zu groß sind die Spannungen in Wirtschaft, Politik und Finanzsystem. Es wäre jedoch falsch, zu nationalen Währungen zurückzukehren. Sie sehen die Chance, einen neuen Euro zu schaffen, der die Konstruktionsfehler der Vergangenheit überwindet und die Vorteile einer gemeinsamen Währung erhält. Mit einer Europäischen Zentralbank, die sich auf ihre Kernkompetenz in der Geldpolitik beschränkt, mit strikter Gläubigerhaftung und einer intelligenten Bankenregulierung. Die Autoren gehören zu den jungen Vordenkern, die Europa nach der Krise braucht. Sie verlieren sich nicht in Untergangsszenarien, sondern liefern die Blaupause für die Währungsordnung von morgen. "Dieses Buch bietet eine schonungslose Analyse der Schwächen der Europäischen Währungsunion und warnt die Politik davor, den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, dass es schon gutgehen wird. Die Autoren sprechen unbequeme Wahrheiten aus und liefern überzeugende Vorschläge zur Schaffung eines stabileren Euro." Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts

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Nicolaus Heinen, Jan Mallien, Florian Toncar

ALLES AUF ANFANG

Warum der Euro scheitert –und wie ein Neustart gelingt

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

SCHEITERN ALS CHANCE: EIN NEUER EURO MUSS HER

Der Euro wird scheitern, prognostizieren drei junge Experten für Geldpolitik. Zu groß sind die Spannungen in Wirtschaft, Politik und Finanzsystem. Es wäre jedoch falsch, zu nationalen Währungen zurückzukehren. Sie sehen die Chance, einen neuen Euro zu schaffen, der die Konstruktionsfehler der Vergangenheit überwindet und die Vorteile einer gemeinsamen Währung erhält. Mit einer Europäischen Zentralbank, die sich auf ihre Kernkompetenz in der Geldpolitik beschränkt, mit strikter Gläubigerhaftung und einer intelligenten Bankenregulierung. Die Autoren gehören zu den jungen Vordenkern, die Europa nach der Krise braucht. Sie verlieren sich nicht in Untergangsszenarien, sondern liefern die Blaupause für die Währungsordnung von morgen.

Vita

Nicolaus Heinen, geb. 1980, leitet die Global Intelligence Services der Linde AG in München. Zuvor war er als Europavolkswirt für die Deutsche Bank AG tätig. Der Autor mehrerer Wirtschaftsbücher ist Lehrbeauftragter für Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik an der Universität Bayreuth.

Jan Mallien, geb. 1982, ist geldpolitischer Korrespondent des Handelsblatts in Frankfurt. Zuvor war er als Politikredakteur in der Onlineredaktion tätig. Der Diplom-Volkswirt ist Absolvent der Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalismus.

Florian Toncar, geb. 1979, ist als Rechtsanwalt in Frankfurt tätig und auf den Bereich Bankenaufsicht spezialisiert. Zwischen 2005 und 2013 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Als Vorsitzender des Finanzmarktgremiums sowie Mitglied im Haushaltsausschuss war er maßgeblich mit der politischen Bewältigung der Finanz- und Staatsschuldenkrise befasst.

INHALT

DER TAG DER ENTSCHEIDUNG

Kapitel 1Der Euro: ein Drama in fünf Akten

ERSTER AKT: HOFFNUNG. EIN JAHRHUNDERTPROJEKT FÜR EUROPA

ZWEITER AKT: STEIGERUNG. EUROLAND AUF ERFOLGSKURS

DRITTER AKT: SCHICKSALSWENDE. FINANZKRISE, WIRTSCHAFTSKRISE, EUROKRISE

VIERTER AKT: VERZÖGERUNG. DIE EZB WIRD ZUM EURORETTER

FÜNFTER AKT: KATASTROPHE? DIE UHR TICKT

Kapitel 2Euroland am seidenen Faden

RISKANTER BALANCEAKT

Die EZB verzerrt die Märkte

Die EZB heizt Spekulationsblasen an

Die EZB macht sich abhängig – Zinsänderungsrisiken steigen

DIE EZB INTERPRETIERT BESTEHENDE INSTRUMENTE NEU

NATIONALE ALLEINGÄNGE UNTERGRABEN DIE GELDPOLITISCHE AUTORITÄT DER EZB

DIE FOLGE: RISSE IM WIRTSCHAFTLICHEN FUNDAMENT EUROPAS

TOTGESAGTE LEBEN LÄNGER – DIE PLANWIRTSCHAFT KEHRT ZURÜCK

LANGFRISTIGE FOLGEN

Europas Stern sinkt wirtschaftlich

Der gesellschaftliche Frustrationspegel steigt

Populisten profitieren von Perspektivlosigkeit

Kapitel 3Vertrauenskrise und Zäsur

DIE LÜCKE IM SYSTEM

DIE FOLGE: DIE EZB IST ZUNEHMEND ÜBERLASTET

AUTORITÄTSVERLUST UND VERTRAUENSKRISE

RUHE VOR DEM STURM

ENDSPIEL, KONTROLLVERLUST, ZÄSUR

Szenario 1: Machtspiele, Blockade, Austritt einzelner Länder

Szenario 2: Vertrauensverlust und Marktpanik durch globale Schocks

NEUANFANG – ABER WIE?

Kapitel 4Die zweite Chance

NATIONALE WÄHRUNGEN: ZU SCHWACH FÜR DIE GLOBALISIERUNG

TRANSFERUNION UND ZENTRALSTAAT: TRÜGERISCHE SICHERHEIT DURCH GEMEINSAME HAFTUNG

ALTERNATIVE GELDORDNUNGEN: LUFTSCHLÖSSER FÜR EUROPA

DIE WÄHRUNGSUNION MUSS KRISENFEST WERDEN

WEGE AUS DER VERTRAUENSKRISE

DREI BAUSTEINE FÜR EINE ZWEITE CHANCE

Kapitel 5EZB entpolitisieren und transparenter machen

URSACHEN DES VERTRAUENSVERLUSTS

Die EZB ist zu mächtig

Die EZB ist Spielball nationaler Interessen

Die EZB ist kaum rechenschaftspflichtig

Die EZB ist zu intransparent

AUGENWISCHEREIEN UND SACKGASSEN

Keine Lösung: Nationale Stimmgewichtung im EZB-Rat

Keine Lösung: Inflationsziel aufweichen

Keine Lösung: Die Unabhängigkeit der EZB beenden

DIE EZB ENTLASTEN UND UMBAUEN

ERSTER SCHRITT: ZURÜCK ZU DEN KERNAUFGABEN

ZWEITER SCHRITT: GELDPOLITIK ENTPOLITISIEREN

EZB-Rat verkleinern

EZB-Rat entnationalisieren und professionalisieren

Weg vom Konsensprinzip: Gruppendenken schadet

DRITTER SCHRITT: RECHENSCHAFT VERBESSERN

Kontrollgremien verschlanken

Parlamentarier besser unterstützen

Prüfungslücke bei der Bankenaufsicht schließen

Interne Kontrolle verbessern

VIERTER SCHRITT: TRANSPARENZ ERHÖHEN

Abstimmungsverhalten offenlegen

Insiderregeln verbessern und ausweiten

Wirkung ausweiten: Empfängerkreis verbreitern

Kapitel 6Zurück zur Haftung

FALSCHE HOFFNUNGEN

Weitere Regeln und Zentralismus machen die Eurozone nicht solider

Niedrigzinsen beheben keine Strukturprobleme

KLARE HAFTUNGSREGELN BEGRENZEN ÜBERMÄSSIGE NEUVERSCHULDUNG

VERTRAUEN ENTSTEHT DURCH AKTIVE INSOLVENZVORSORGE

STUFE EINS: ÜBERMÄSSIGE NEUVERSCHULDUNG PRÄVENTIV VERHINDERN

Staatsanleihen mit Eigenkapital unterlegen

Großkreditobergrenze für die EZB gegenüber Staaten

Schuldenbremse in Staatsanleihen

STUFE ZWEI: FREIWILLIGE SELBSTKONTROLLEN STÄRKEN INVESTORENVERTRAUEN

Haushaltsentwürfe freiwillig zur Prüfung an den ESM

Stresstests für Staaten

Maximales Vertrauen herstellen: Transparency Bonds

STUFE DREI: KONTROLLIERTE UMSCHULDUNG IM INSOLVENZFALL

Automatische Verlängerung der Laufzeiten

Pflichtwandelanleihen: Umschuldung gegen zusätzliche Sicherheiten bei Solvenzproblemen

Schuldentilgung über Notenbankgewinne

PERSPEKTIVE: SOLIDITÄT UND VERTRAUEN

Kapitel 7Höhere Finanzstabilität durch bessere Bankenregulierung

DAS SCHICKSAL VON BANKEN UND STAATEN IST VERKETTET

DIE BANKENUNION BLEIBT UNVOLLENDET

Die gemeinsame Bankenaufsicht ist zersplittert

Der Bankenabwicklungsmechanismus bleibt zahnlos

Die Einlagensicherung ermutigt Fehlspekulationen

MEHR MARKTWIRTSCHAFT: STAATSBANKEN SIND NICHT KLÜGER

BANKEN UND STAATEN ENTFLECHTEN

Obergrenzen für Kredite an Staaten

Bessere Kontrolle von staatlichen Banken

Volle Bankenaufsicht für alle Förderinstitute

Landesbanken konsolidieren

Verwaltungsräte professionalisieren

ROBUSTE UND ABWICKLUNGSFÄHIGE BANKEN

Angemessene Regeln zum Eigenkapital von Banken

Auch Gläubiger müssen notfalls haften

BANKEN MÜSSEN BESSER BEAUFSICHTIGT WERDEN

Eine Bankenaufsicht ohne Interessenkonflikte

Einheitlichen Abwicklungsmechanismus institutionell stärken

Fehlanreize in der Einlagensicherung beseitigen

WETTBEWERB UND STABILITÄT ERGÄNZEN SICH

Kapitel 8Alles auf Anfang

GEGEN ZENTRALISMUS UM JEDEN PREIS

FÜR VIELFALT UND VERANTWORTUNG

BLICK NACH VORNE

KRISENFEST – NICHT KRISENFREI

ANMERKUNGEN

1 DER EURO: EIN DRAMA IN FÜNF AKTEN

2 EUROLAND AM SEIDENEN FADEN

3 VERTRAUENSKRISE UND ZÄSUR

4 DIE ZWEITE CHANCE

5 EZB ENTPOLITISIEREN UND TRANSPARENTER MACHEN

6 ZURÜCK ZUR HAFTUNG

7 HÖHERE FINANZSTABILITÄT DURCH BESSERE BANKENREGULIERUNG

8 ALLES AUF ANFANG

DER TAG DER ENTSCHEIDUNG

Wie lange wird das noch gut gehen? Wer in diesen Tagen auf die Europäische Union (EU) und die Eurozone blickt, stellt sich unweigerlich diese Frage. Wir schauen auf eine Staatengemeinschaft, die über Verteilungsfragen streitet und kaum mehr zustande bringt als den kleinsten gemeinsamen Nenner. Statt Wohlstand zu schaffen, facht der Euro immer neue Konflikte an. Wir beobachten Volkswirtschaften, die seit Jahren unter Niedrigwachstum ächzen und trotzdem wichtige Reformen verschleppen. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Euroländern wachsen und sind kaum noch korrigierbar. Wir sehen Gesellschaften, die sich radikalisieren, weil sie den haltlosen Versprechen selbst ernannter Heilsbringer glauben. So ist im Jahr 2016 passiert, was niemand für möglich hielt: Die Briten stimmten für den Austritt aus der EU. Und jenseits des Atlantik wählten die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Beide Ereignisse stehen für eine Zeitenwende: die Abkehr von der vertrauten Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf internationaler Zusammenarbeit durch freien Handel und Kooperation auf Augenhöhe zum Nutzen aller Beteiligten beruhte. Diesen Multilateralismus stellen Populisten infrage. In vielen europäischen Ländern drängen sie an die Macht. Selbst in Frankreich, wo sich mit Emmanuel Macron bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 ein gemäßigter Kandidat durchsetzen konnte, haben über 40 Prozent der Wähler Populisten am linken und rechten Rand gewählt. Man kann über die Ursachen streiten, doch die Diagnose ist eindeutig: Europa steckt in seiner größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.

Einer der Hauptakteure dieser Krise ist die Europäische Zentralbank (EZB) als oberste Währungshüterin. Bislang konnte sie jede noch so schwierige Lage mit immer neuen geldpolitischen Kunstgriffen ausbügeln. Immer wenn im Euroraum Fliehkräfte auftraten, sprang sie mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik ein. Anders als die Regierungen in Berlin, Paris oder Rom konnten die Technokraten der EZB schnell und ohne Rücksicht auf Wähler reagieren. Doch für die Rolle des Euroretters wurde die EZB weder geschaffen noch legitimiert. Und spätestens an diesem Punkt wird es gefährlich: Je mehr Aufgaben die EZB übernimmt und je bedeutender ihre Rolle wird, desto stärker überfordert sie sich. Wenn sie die Erwartungen, die sie schürt, jedoch nicht mehr erfüllen kann, verlieren die Menschen das Vertrauen in sie und ihre Geldpolitik. Für die Eurozone wäre dies das sichere Todesurteil.

Dass diese Politik des geldpolitischen Ausnahmezustands auf Dauer nicht gut gehen kann, hat uns bewogen, dieses Buch zu schreiben. Wir sind überzeugt, dass der Euro in seiner heutigen Form als gemeinsame Währung Europas nicht überleben wird. Wir halten die wirtschaftliche, politische und institutionelle Lage Europas für so verfahren, dass wir nicht mehr mit einem guten Ausgang der Eurokrise rechnen.

Diese Einsicht war für uns alles andere als leicht, denn wir sind befangen. Wir gehören zu der Generation, die mit Europa und dem Euro wie selbstverständlich aufgewachsen ist – und ihn in gewisser Weise auch lieb gewonnen hat. Wir, Jahrgang 1979, 1980 und 1982, haben Europa in unseren Jugendjahren nur von seiner besten und von seiner erfolgreichsten Seite kennengelernt: In unserer Kindheit fällt der Eiserne Vorhang. Die Grenzen zwischen Ost und West öffnen sich. Über Nacht kommen neue Mitschüler in unsere Klassen, und der Horizont endet nicht mehr hinter dem Grenzübergang Helmstedt. Zehn Jahre später führen zunächst elf EU-Länder den Euro als gemeinsame Währung ein – eine der ersten großen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, über die wir als Schüler diskutieren. Der Moment, als wir bei der Bank 20 D-Mark gegen das Starterkit mit neuen Euromünzen tauschen, ist uns noch in guter Erinnerung. Zum ersten Mal halten wir europäisches Geld in den Händen. Dann die EU-Osterweiterung: Erst acht, dann zehn weitere Länder treten der Gemeinschaft bei. Die Europäische Union ist damals ein Erfolgsprojekt, vor dem Länder Schlange stehen. Auch privat haben wir Europa zu schätzen gelernt: Reisefreiheit in jede Ecke unseres Kontinents. Schüleraustausche in Länder, die vor wenigen Jahrzehnten Kriegsfeinde waren. Und feuchtfröhlich vollzogene europäische Einigung in den Auslandssemestern unserer Studienzeit. Auch unsere beruflichen Lebenswege sind eng mit Europas Schicksal verwoben.

Wer erkennt, dass die Sache, für die er brennt, in Gefahr ist, diskutiert darüber mit seinen Freunden und Kollegen. So war das auch bei uns. Wir haben dabei festgestellt, dass die Menschen auf die Eurokrise unterschiedlich reagieren. In unserer Generation gehen die Meinungen besonders weit auseinander. Da sind die Gleichgültigen: Die Dauerkrise ödet sie an. Vielleicht haben sie sich auch an sie gewöhnt. Dies ist kein Wunder, denn die Krise mutet in all ihren Facetten doch recht technisch und abstrakt an. Und in den Medien ist sie so allgegenwärtig, dass viele Schlagzeilen kaum noch Neuigkeitswert haben. Dann gibt es die Optimisten: Sie glauben, die Institutionen und der politische Wille Europas seien stark genug, die Krise zu überwinden – sodass am Ende alles nicht so schlimm kommt. Und dann sind da die Empörten. Sie kennen und benennen die Missstände klar und deutlich. Mitunter vereinfachen sie allerdings und neigen zum Denken in Freund-Feind-Kategorien. Sie stützen sich selten auf konstruktive Argumente und geben sich manchmal fast schon auf triumphierende Weise Ressentiments und Untergangsszenarien hin.

Haben wir damit das gesamte Meinungsspektrum abgedeckt? Keinesfalls. Denn zu den drei durchaus präsenten Gruppen kommt noch mindestens eine weitere Fraktion, die in der heutigen Meinungslandschaft jedoch kaum wahrzunehmen ist: die Ängstlichen. Es sind Menschen, die unsere Erkenntnis teilen, sich jedoch nicht trauen, sie laut auszusprechen. Die Ängstlichen halten sich in diesen Tagen besonders zurück, weil sie befürchten, mit Populisten und Panikmachern in einen Topf geworfen zu werden – etwa, weil sie berufliche oder persönliche Nachteile sehen. All dies zeigt vor allem eines: Die Debatte über den Euro ist hoffnungslos polarisiert. Der Euro wird immer mehr zur Glaubensfrage, und schnell wird man gefragt: Bist du noch auf der richtigen Seite? Die Fronten sind verhärtet. Für eine nüchterne, faktenbasierte Analyse ist kaum noch Platz.

Die Folgen dessen reichen weit über die politische Diskussionskultur hinaus. Da nämlich nicht ergebnisoffen debattiert wird, können sich keine Ideen entfalten, wie sich die Dinge in der Eurozone zum Guten wenden lassen. Dadurch verschärft sich die Krise fast zwangsläufig. Und das gibt den Empörten immer neue Nahrung.

Dazu passt, dass derzeit nur jene Stimmen das Ende der Eurozone offen thematisieren, die aus der Angst der Menschen politisches Kapital zu schlagen versuchen: Sie wollen den Euro abschaffen, statt Lösungen für seine Defizite zu finden. Sie haben kein Interesse daran und keine Vorstellung davon, wie man die Lage fundamental verbessern könnte. Hinzu kommen selbst ernannte Krisenpropheten, die als medial inszenierte Experten Pseudolösungen präsentieren – und mit gut gemeinten Ratschlägen bis hin zu unseriöser Panikmache die Unsicherheit noch vergrößern.

In einem Punkt haben die Endzeitpropheten aber durchaus Recht: In der aktuellen Schieflage wird eine schrittweise Korrektur des Euro nicht mehr möglich sein. Die nötigen Reformen für einen langfristigen Fortbestand der Eurozone sind so tief greifend und unbequem, dass die Politik sie immer weiter hinausschiebt. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Kosten einer weiteren Verzögerung des Wandels unerträglich werden und das Ende des Euro wie das kleinere Übel erscheint. Dann kommt eine Eigendynamik aus Politikversagen, Finanzmarktpanik und nationalen Egoismen in Gang, die kaum zu stoppen ist.

Einmal war es schon fast so weit. Im Sommer 2012 wetten die Finanzmärkte auf den Zerfall der Eurozone. Die Kurse für Staatsanleihen fallen deutlich. Die Politik sieht geschockt zu und ergeht sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Also springt EZB-Präsident Mario Draghi ein und verspricht, »alles zu tun, um den Euro zu retten«. Mit seinen Worten kann er die Märkte zunächst beruhigen.

Doch ein zweites Mal wird Europa nicht so leicht davonkommen. Die Kräfte der EZB sind nämlich begrenzt – und werden inzwischen Monat für Monat auf die Probe gestellt. Europa hangelt sich von Krise zu Krise. Mittlerweile ist die Erleichterung bereits dann groß, wenn bei Wahlen wie in den Niederlanden und Frankreich die Rechtsextremen nur zweitstärkste Kraft werden oder eine Anschlussfinanzierung für Griechenland noch in letzter Sekunde gelingt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa dabei stets nur knapp an einer Katastrophe vorbeischlittert. Solange sich solche Ereignisse regelmäßig wiederholen, ohne dass sich die Dinge fundamental verbessern, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer Zäsur kommt. Es ist gut möglich, dass es der EZB auch in den kommenden Monaten und Jahren gelingt, mit immer mehr Geld die fundamentalen Schwächen des Währungsraums zu kaschieren. Doch sie kann die Probleme nicht auf Dauer lösen, sondern das Leiden nur verlängern. Früher oder später wird sie die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreichen. Die Zeit spielt gegen sie. Ohne drastische Reformen nähert sich die Eurozone mit mathematischer Gewissheit ihrem Ende. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wann es passiert. Doch eines ist sicher: Der Tag wird kommen, an dem Europa sich entscheiden muss, ob es eine Rückkehr zu nationalen Währungen will. Oder einen systemischen Neustart, der es ermöglicht, noch einmal von vorn zu beginnen.

Die Gefahr ist groß, dass in einer solchen Krisenlage, zumal unter dem dann herrschenden Zeitdruck, die Wahl auf eine Rückkehr zu nationalen Währungen fällt. Wir halten eine solche Wahl für falsch. Die wirtschaftlichen und politischen Kosten wären viel zu groß. Es geht nicht nur um die kurzfristigen finanziellen Folgen für Banken, die Altersvorsorge von Millionen Menschen oder die Exportindustrie, die unter einer stark aufwertenden neuen Währung leiden würde. Noch schwerer wiegt der langfristige politische Schaden. Die Europäische Union, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Kontinent geeint hat, würde gesprengt. Und durch Europa gingen wieder tiefe Risse.

Der Euro in seiner heutigen Verfassung ist nicht alternativlos. In diesem Buch fordern wir gerade keinen Zusammenbruch unseres Währungssystems, auch wenn wir davon ausgehen, dass sich zumindest eine tiefe Zäsur nicht mehr vermeiden lässt. Wir halten es für eine elementare Aufgabe Europas, es im zweiten Anlauf besser zu machen: noch einmal neu zu beginnen. Alles auf Anfang zu stellen. Alles andere wäre in unserer globalisierten Welt ein Rückschritt. Europa sollte die aktuelle Lage zum Anlass nehmen, Maßnahmen für den Tag der Entscheidung zu entwickeln, damit in der Stunde null die Weichen richtig gestellt werden.

Einfach wird das nicht. Denn sobald der Euro scheitert, müssen wichtige Entscheidungen binnen kürzester Zeit getroffen werden, die Europa auf Jahre prägen. Nur unter dem Eindruck des Zusammenbruchs dürften die 19 Regierungen der Euroländer zu umfassenden Reformen bereit sein, die sich vom heutigen Stückwerk unterscheiden. Die richtigen Entscheidungen zu fällen wird dann umso schwerer fallen, da die ganze Debatte hochemotional ist. Schon jetzt erschweren Verlustängste und nationale Egoismen eine rationale Abwägung der Argumente. Wir sind deshalb überzeugt, dass wir dringend eine offene Debatte brauchen, wie der Euro zukunftsfest wird. Für den Moment des Neuanfangs, den Tag der Entscheidung, sollten wir uns schon heute die richtigen Schritte überlegen – und nichts dem Zufall überlassen. Dieses Buch ist ein Gedankenspiel für den Fall, dass der Euro scheitert. Wir skizzieren einen währungspolitischen Neuanfang, der mit stabileren Institutionen und besseren Anreizen einen krisenfesten Währungsraum schafft und das Vertrauen in die gemeinsame Währung sichert.

Der Neubeginn wäre alle Mühe wert. Die gemeinsame Währung wurde in guten Zeiten gegründet – und darum auf schlechte Zeiten nicht vorbereitet. Ein Neustart würde es erlauben, aus der Krise heraus eine neue Währungsordnung für Europa zu definieren, die auch in schlechten Zeiten stark ist und standhält. Ein Scheitern des Euro, wie wir ihn kennen, böte deshalb wenigstens die Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und einen Euro zu schaffen, der die Vorteile der gemeinsamen Währung erhält, aber die bisherigen Konstruktionsfehler überwindet.

Alle unsere Vorschläge zielen darauf ab, die EZB zu entlasten. Kapitel 1 und 2 zeichnen nach, wie der Euro in die Krise und die EZB in die Rolle seines Retters geraten ist. Kapitel 3 und 4 legen dar, warum das Scheitern des Euro nur noch eine Frage der Zeit ist und weshalb es sich trotzdem lohnt, einen neuen Anlauf für eine gemeinsame Währungsunion zu wagen. Die Folgekapitel skizzieren eine Nachkrisenwährungsunion, die aus drei Bausteinen bestehen soll: einer transparenteren EZB mit professionelleren Strukturen, einer Rückkehr zur Haftung jedes Eurolands für seine eigenen Schulden und einer wirksameren Risikokontrolle im Finanzsystem.

Kapitel 1Der Euro: ein Drama in fünf Akten

Wer der Eurokrise etwas Positives abgewinnen möchte, der kann sich zumindest darüber freuen, dass sich die Deutschen für griechische Innenpolitik interessieren – und umgekehrt. Zumindest in dieser Hinsicht hat der Euro ein echtes Stück Integrationsarbeit geleistet. Die Vorzeichen dieser Leistung sind allerdings keine guten: Die Eurostory bestimmt nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als Angst- und Sorgenthema die Wirtschaftsteile und Titelseiten vieler Gazetten. Die Bedeutung der Eurokrise geht jedoch weit über die teils reißerische Berichterstattung über die wirtschaftlichen und politischen Probleme im Euroraum hinaus. Jenseits aller tagesaktuellen Entwicklungen ist die Eurokrise mittlerweile ein Stück Zeitgeschichte geworden. In den Geschichtsbüchern von morgen wird sie in einer Reihe mit Kriegen, politischen Epochen und Friedensperioden erwähnt und eingeordnet werden.

Wie wird das Urteil der Historiker über diese turbulenten Jahre lauten? Die langen Linien der Eurokrise in den vergangenen Jahren haben die Züge eines klassischen Dramas in fünf Akten angenommen. Wer die aktuelle Lage der Eurozone verstehen möchte, kommt um eine Betrachtung dieser Geschichte nicht herum. Auf einen hoffnungsvollen Anfang folgte eine überschwängliche Steigerung, die in eine dramatische Schicksalswende mündete, deren Verzögerung die EZB mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik bewirkt hat. Doch viel spricht dafür, dass die Entwicklungen in den nächsten Jahren im fünften Akt, der Katastrophe, enden werden.

ERSTER AKT: HOFFNUNG. EIN JAHRHUNDERTPROJEKT FÜR EUROPA

Aufbruch, Optimismus, Neuanfang. Diese Begriffe kennzeichnen die politische und gesellschaftliche Stimmung in Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Wiedervereinigung Anfang der neunziger Jahre am besten. Das Ende der Planwirtschaften Osteuropas hat die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems bewiesen – und Europa fühlt sich stark für neue Ziele. Nach der politischen Einigung wollen die damals zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft den Kontinent nun auch wirtschaftlich eng zusammenschmieden. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts – der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital über Ländergrenzen hinweg – sollen um eine gemeinsame Währung ergänzt werden: den Euro.

Neu ist die Idee einer gemeinsamen Währung für Europa damals freilich nicht. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es Versuche internationaler Währungsintegration in Europa gegeben. Doch sowohl die Lateinische Münzunion im Süden Europas als auch die Skandinavische Münzunion im Norden waren als historische Eurovorläufer nach jeweils kurzen Blütezeiten gescheitert. Den Mitgliedstaaten mangelte es an Haushaltsdisziplin und am Willen zur Zusammenarbeit in Krisenzeiten. Auch das Europäische Währungssystem (EWS) ist als Versuch, die Wechselkurse europäischer Staaten nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems in den siebziger Jahren eng aneinander zu binden, nicht sonderlich erfolgreich. Ende 1992 spekulieren der Großinvestor George Soros und andere gegen das britische Pfund, das sie für überbewertet halten. Trotz massiver Interventionen gelingt es der Bank of England nicht, den Wechselkurs des britischen Pfunds zu stabilisieren. Großbritannien muss seine Währung abwerten und das EWS verlassen. Die massiven Turbulenzen an den Devisenmärkten zeigen schon damals, wie schwierig es ist, in einem so heterogenen Wirtschaftsraum wie Europa eine einheitliche Geldpolitik durchzuführen und die Wechselkurse zu koordinieren.

Diese Erfahrungen will man nun beim Projekt Euro nutzen und ähnliche Fehler vermeiden. Viele Ökonomen warnen damals, dass das nicht einfach sein wird: Denn eine Währungsunion sorgt faktisch für feste Wechselkurse zwischen den teilnehmenden Staaten. Wenn ein Land seinen Wechselkurs fixiert und nicht mehr frei schwanken lässt, verliert es damit ein wichtiges Ausgleichsventil, um das Auf und Ab der Konjunktur abzufedern. Und auch Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen Ländern und Wirtschaftsräumen können ohne flexible Wechselkurse nur noch schwer ausgeglichen werden. Der Wechselkurs ergibt sich in der Regel aus Angebot und Nachfrage der jeweiligen Währung auf freien Devisenmärkten. Ist ein Land beispielsweise nicht besonders wettbewerbsfähig – etwa, weil seine Produkte in der Herstellung zu teuer oder nicht innovativ genug sind –, dann lässt die Nachfrage nach diesen Produkten auf den Weltmärkten nach. Deshalb sinkt normalerweise die Nachfrage nach der Landeswährung – und damit auch ihr Wechselkurs. Das Land kann seine Güter und Dienstleistungen billiger absetzen und die Wirtschaft kommt wieder in Gang. Zudem kann die jeweilige Zentralbank mit ihrer Geldpolitik nachhelfen und über Zinsen und Devisenmarktinterventionen den Wechselkurs stützen oder künstlich abwerten. Italien ist dafür ein gutes Beispiel: So wertete die italienische Zentralbank in den siebziger und achtziger Jahren die Lira systematisch ab, um italienischen Produkten auf den Exportmärkten einen Preisvorteil zu verschaffen.

In einer Währungsunion gibt es jedoch keine nationalen Währungen und somit auch keine schwankenden Wechselkurse, die die Wirtschaft bei Flaute automatisch stabilisieren und Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern ausgleichen können. Eine Währungsunion ist daher eigentlich nur für Länder mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen geeignet.1 Denn mit einer gemeinsamen Währung trifft die Geldpolitik der Zentralbank alle beteiligten Länder gleichermaßen.

Die Staats- und Regierungschefs der damaligen Europäischen Gemeinschaft beherzigen diese Warnungen, als sie Ende 1992 den Vertrag von Maastricht unterzeichnen. Dieser legt einen verbindlichen Fahrplan fest, der die Einführung der gemeinsamen Währung im Jahr 1999 vorsieht. Der Vertrag bestimmt zudem fünf Zugangsvoraussetzungen zur Währungsunion. Diese sogenannten Maastricht-Kriterien sollen sicherstellen, dass nur Länder mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen an der Währungsunion teilnehmen. Die Kriterien schreiben den zukünftigen Euroländern einheitliche Bandbreiten für das langfristige Zinsniveau, die Wechselkursstabilität und die Inflationsraten vor. Zudem gelten Mindestanforderungen an die gemeinsame Haushaltspolitik der Länder, die eine jährliche Neuverschuldung von über 3 Prozent und einen Schuldenstand von mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung untersagen.

ZWEITER AKT: STEIGERUNG. EUROLAND AUF ERFOLGSKURS

Die Gründungsphase der Europäischen Währungsunion verläuft größtenteils nach Plan. Doch auf der Zielgeraden im Sommer 1998 macht sich Ernüchterung breit – nur vier kleine Länder halten die Zugangskriterien für den neuen Währungsraum strikt ein: Finnland, Irland, Luxemburg und die Niederlande. Weil der Euro als politisches Projekt aber unbedingt gelingen soll, legt man die Zugangskriterien äußerst tolerant aus. Die Gründerväter der Währungsunion – allen voran die Schwergewichte Deutschland und Frankreich – drücken beide Augen zu. Sie sehen darüber hinweg, dass einige Länder die Zugangsvoraussetzungen nur dank kreativer Buchführung erfüllen. Weil die Zielwerte nur zwischen März 1996 und Februar 1998 gemessen werden, verzögern manche Länder Ausgaben und drücken damit gezielt ihre Neuverschuldung. Mitunter werden die Kriterien auch schlicht ignoriert. So liegt der Schuldenstand Belgiens und Italiens deutlich über der vereinbarten Marke – und dennoch dürfen beide Länder dem Euro von Beginn an beitreten. Zwei Jahre nach dem Start wird auch Griechenland in die Währungsunion aufgenommen – mit einem Schuldenstand, der weit über der zulässigen Höchstgrenze liegt. Die Politik spielt auf Zeit und hofft, dass sich die Dinge von selbst einrenken. Sie vertraut auf die Einschätzung namhafter Ökonomen, die fest damit rechnen, dass sich die Unterschiede zwischen den Euroländern im Laufe der Jahre ausgleichen, da sie unter einer gemeinsamen Geldpolitik auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik betreiben müssen – so zumindest die Annahme.2 Und so schließt sich 1999 eine bunte Truppe aus elf Ländern mit teils völlig unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen und wirtschaftspolitischen Traditionen zu einem gemeinsamen Währungsraum zusammen.

Spätestens nach der Bargeldeinführung Anfang 2002 gilt das Währungsprojekt als geglückt. Zwischen den Euroländern entfallen die Wechselkursrisiken. Die Transaktionskosten sinken, der Handel floriert. Investoren wie Konsumenten haben in den ersten zehn Jahren des Euro wahrlich keinen Grund zur Klage. Besonders in den südlichen Euroländern steigt der Lebensstandard rasant. Heute wissen wir: Diese erfreuliche Entwicklung war letztlich nur ein Beleg dafür, dass sich die Länder der Eurozone insgesamt auseinanderentwickelt haben.

Den großen strukturellen Unterschieden kann die 1998 gegründete Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt keine Rechnung tragen. Sie muss sich mit ihrer Geldpolitik an der gesamten Eurozone ausrichten und nicht an einzelnen Ländern. Die EZB setzt für alle Euroländer den gleichen Leitzins fest. Die nationalen Zentralbanken der einzelnen Euroländer bestehen zwar weiter – doch sie sind an die Weisungen der EZB gebunden und können keine eigenständige Geldpolitik betreiben, auch wenn sich die Konjunktur völlig unterschiedlich entwickelt.

Die Inflationsraten der einzelnen Euroländer unterscheiden sich deswegen trotz gemeinsamer Währung massiv. In einigen Staaten steigen die Realzinsen – also der nominale Zins abzüglich der Inflation – deutlich, während sie in anderen Ländern sinken. Auch die Umtauschkurse der nationalen Währungen, die von der Politik für den Tag des Beitritts zur Währungsunion festgelegt worden waren, erweisen sich nicht immer als angemessen, gehen sie doch auf eine Momentaufnahme aus dem Vorjahr der Gründung der Eurozone zurück. Rückblickend betrachtet war der Kurs für manche Länder zu hoch angesetzt, für andere wiederum zu niedrig. Auch deshalb bilden sich in den ersten zehn Jahren der Währungsunion drei unterschiedliche Wachstumsmodelle immer stärker heraus:3

EXPORTORIENTIERTES WACHSTUMSMODELL: Eine Gruppe von Ländern im Eurozentrum – Deutschland, Österreich, die Niederlande und Luxemburg – kämpft zunächst mit hohen Realzinsen, denn dank der EZB-Geldpolitik steigen die Zinsen, während die Inflationsrate vergleichsweise niedrig ist. Die hohen Realzinsen machen Unternehmen die Finanzierung neuer Investitionen schwer. Kaum jemand erinnert sich heute noch daran, dass Deutschland in den ersten Jahren nach dem Beitritt zur Währungsunion als »kranker Mann Europas« galt. Doch das ändert sich rasch. Firmen reagieren mit Innovationen und Kostenkürzungen, die Tarifparteien mit Lohnzurückhaltung und die Politik mit Reformen. So trägt etwa die Agenda 2010 der damaligen rot-grünen Bundesregierung maßgeblich dazu bei, die Arbeitsmärkte zu flexibilisieren und damit den Standort Deutschland wettbewerbsfähiger zu machen. Dies sorgt in den folgenden Jahren für große Exportzuwächse.

KONSUMORIENTIERTES WACHSTUMSMODELL: Belgien, Frankreich und Italien erleben eine andere Entwicklung. Vor ihrem Beitritt zur Währungsunion hatten die dortigen Zentralbanken in der Regel eng mit der Politik kooperiert. Die Notenbanker hatten die Wirtschaft dieser Länder wettbewerbsfähig gemacht, indem sie die Währung gezielt abwerteten. Dies war nötig, weil die Gewerkschaften in den Tarifrunden hohe Lohnabschlüsse und für sie günstige Arbeitsmarktregelungen durchgesetzt hatten, die die Kostenflexibilität der Industrie beschränkten. Nach dem Eurobeitritt können diese Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit aber nicht mehr mit Weichwährungspolitik fördern. Folglich steigen Kaufkraft und Binnenkonsum, während die Produktivität lahmt. Der starke Euro beschleunigt die Entwicklung noch einmal mehr. In der Folge steigen gegenüber den exportorientierten Vergleichsländern die Lohnstückkosten – ein Indikator, mit dem Volkswirte die Lohnproduktivität messen. So büßen Frankreich und Italien zwischen 1999 und 2017 etwa ein Drittel ihrer Anteile auf den Weltexportmärkten ein.

KREDITFINANZIERTES WACHSTUMSMODELL: Eine dritte Gruppe, zu der vor allem die Länder am geografischen Rand Europas gehören (die sogenannte Europeripherie), erliegt den Verlockungen des billigen Geldes. Gemessen an ihren gewohnten Maßstäben liegt das neue Einheitszinsniveau des Euroraums zu niedrig. Für die Regierungen der Peripherieländer ist das ein Segen: Sie kämpfen mit der wachsenden Konkurrenz osteuropäischer EU-Mitgliedstaaten, die nach der Ostererweiterung der Gemeinschaft durch geringe Lohnkosten als Standort an Attraktivität gewinnen. Doch sie investieren das billige Geld nicht unbedingt in produktive Zwecke, denn wegen der niedrigen Zinsen sind die Investoren bei ihren Anlagen nicht besonders wählerisch. In Spanien bildet sich eine Immobilienblase. Und in Griechenland und Portugal steigt die Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte immer höher.

Ohnehin wird es den Regierungen der Euroländer besonders einfach gemacht, neue Schulden aufzunehmen. Vor allem institutionelle Investoren – Banken, Versicherungen, Pensionsfonds – blenden mit Beginn der Währungsunion das Risiko eines Zahlungsausfalls einzelner Euroländer einfach aus. Obwohl der Vertrag von Maastricht eine gegenseitige Haftung der Europartner auf dem Papier ausschließt, halten die Investoren es in der Realität für nahezu unvorstellbar, dass sich die Euroländer bei Pleitegefahr gegenseitig im Stich lassen: Ein Zahlungsausfall erscheint ihnen äußerst unwahrscheinlich. Die Märkte nehmen also einen impliziten Haftungsverbund zwischen den Euroländern an. Sie vertrauen blind in die Solidität der Währungsunion und in die Solidarität der Euroländer im Krisenfall. Das Ausfallrisiko einer griechischen Anleihe wird daher dem einer deutschen Bundesanleihe gleichgesetzt – und die Staatspapiere Griechenlands, Italiens, Portugals und Spaniens werden zu gefragten Investments.

Zudem machen es die Regierungen den Banken besonders einfach, Kredite an die öffentliche Hand zu vergeben: Europäische Banken müssen Staatsanleihen in ihren Büchern nämlich nicht mit Eigenkapital unterlegen.4 Europäische Staatsanleihen gelten somit de facto als risikofreie Vermögensklasse. Vor allem für Banken ist die Finanzierung von Eurostaaten damit fortan ein sicheres und zugleich hochprofitables Geschäft. Sie geben den Regierungen gerne Kredit und nutzen die Staatsanleihen als Sicherheiten, wenn sie sich bei der Europäischen Zentralbank refinanzieren. Die hohe Nachfrage der Banken nach Staatsanleihen lässt die Zinsen sinken. So wird die Schuldenfinanzierung zum wechselseitigen Geben und Nehmen zwischen öffentlicher Hand und Finanzsektor.

Zugleich missachten die Euroländer die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts, der die Neuverschuldung begrenzen soll. Dieses Regelwerk, das zu Beginn der Währungsunion auf Druck der haushaltspolitisch soliden Länder aufgestellt worden war, soll eigentlich sicherstellen, dass die fiskalischen Maastricht-Beitrittskriterien (Neuverschuldung bei höchstens 3 Prozent, Schuldenstand bei maximal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung) auch weiterhin eingehalten werden. Doch als das wirtschaftlich größte Euroland Deutschland 2005 selbst gegen die Regeln zu verstoßen droht, weicht die Bundesregierung diese Regeln mit Hilfe Frankreichs auf. Bis auf einige Ökonomen und Wirtschaftskolumnisten stört das aber niemanden – das Projekt Währungsunion gilt weiterhin als gelungen.

DRITTER AKT: SCHICKSALSWENDE. FINANZKRISE, WIRTSCHAFTSKRISE, EUROKRISE

Doch spätestens im Sommer 2007 trübt sich das Bild ein. In den USA platzt die Immobilienblase. Einige europäische Banken geraten in den Sog der Krise.5 Noch erscheinen die aufkommenden Turbulenzen im Finanzsystem aber als beherrschbar – die Krise gilt als rein US-amerikanisches Problem. Das ändert sich schlagartig im September 2008, als die US-Investmentbank Lehman Brothers in Schieflage gerät und die US-Regierung nach mehreren vorangegangenen Rettungsaktionen beschließt, diese Bank nicht mehr zu stützen.

Diese Entscheidung lässt die Krise dramatisch eskalieren. An den Finanzmärkten bricht Panik aus. Das Nichteingreifen der US-Regierung bei Lehman führt daher binnen Wochen zum glatten Gegenteil, nämlich einer weltweiten konzertierten Rettung von Banken und Finanzdienstleistern. Um zu verhindern, dass die Krise auf die Realwirtschaft durchschlägt, legen die Regierungen darüber hinaus weltweit gigantische Konjunkturprogramme auf: Allein in der EU belaufen sie sich auf über 200 Milliarden Euro. In Deutschland finanziert die Bundesregierung großzügig Kurzarbeit, zahlt hohe Abwrackprämien für Altautos und saniert die öffentliche Infrastruktur. Außerdem zimmern die Regierungen der Euroländer Abwicklungsanstalten für notleidende Banken und Kredit- und Bürgschaftsprogramme für Unternehmen der Realwirtschaft zurecht – ebenfalls finanziert aus Steuermitteln. Das verhindert zwar vorerst eine Kernschmelze im Finanzsystem. Doch manche Euroländer kommen dadurch an den Rand ihrer finanziellen Belastbarkeit. Ihre Staatsverschuldung steigt rasant an. Doch in der Tat gelingt es vorerst, die Lage zu stabilisieren.

Im Oktober 2009 versetzt dann Griechenland der Eurozone einen weiteren Schock: Die neu gewählte Regierung in Athen gibt bekannt, dass das Land jahrelang seine Haushaltszahlen systematisch gefälscht hat und der wirkliche Schuldenstand viel höher liegt als angegeben. Griechenlands Schuldenstand ist so hoch und das Wachstum des Landes zugleich so niedrig, dass die Zahlungsfähigkeit am seidenen Faden hängt. Auf einmal ist auch in Europa denkbar, was man eigentlich nur aus Berichten über Entwicklungsländer kennt: ein Staatsbankrott.

An den Finanzmärkten bricht Panik aus. Plötzlich erkennen viele Anleger, dass nicht nur Griechenland, sondern auch andere Euroländer sich höher verschuldet haben, als sie es sich angesichts ihres niedrigen Wachstums langfristig leisten können: Italien und Portugal etwa, aber auch Spanien und Irland, wo die Staatsverschuldung wegen dramatischer Immobilienkrisen und anschließender Bankenrettungen enorm gestiegen ist. Immer mehr Investoren flüchten aus den Staatsanleihen dieser Länder. Ausdruck des Vertrauensverlustes sind die stark schwankenden Kurse an den europäischen Staatsanleihemärkten. Wenn Investoren fürchten, dass die Staatsanleihen eines Landes mit größeren Risiken behaftet sind, verlangen sie als Ausgleich höhere Zinsen.6 Solche Ansteckungseffekte können vor allem dann verfangen, wenn die Informationslage intransparent ist und wenn Investoren Risiken scheuen, also Negativnachrichten höher gewichten. Dies macht es für die betroffenen Länder immer teurer, sich zu refinanzieren oder neue Kredite aufzunehmen. In der Krise 2009/2010 steigen die Renditeabstände von spanischen, griechischen und italienischen Staatspapieren gegenüber deutschen Bundesanleihen dramatisch an. Anleger sehen in diesen Renditeabständen eine Art Fieberthermometer der Eurokrise.

Auch die Rating-Agenturen werden gegenüber der Europeripherie immer skeptischer. Als Wissensdienstleister helfen sie Investoren, Ausfallrisiken von Investments zu bewerten. Nachdem die Agenturen die Risiken im US-Immobiliensektor vor der Finanzkrise massiv unterschätzt hatten, werfen sie nun einen kritischeren Blick auf die Euroländer: Reihenweise stufen sie die Ratings südeuropäischer Länder herab. Dies bringt die Stabilität des Finanzsystems dieser Länder zusätzlich ins Wanken, da ihre Banken in erster Linie Staatsanleihen ihres eigenen Landes halten.

Nach dem griechischen Offenbarungseid wird die Unruhe an den Kapitalmärkten immer größer. Ende April 2010 nehmen die Staats- und Regierungschefs der Eurozone deshalb eine der wichtigsten Weichenstellungen der Eurokrise vor: Sie schnüren ein gemeinsames Rettungspaket für Griechenland. Nach der Bankenrettung im Zuge der Finanzkrise fangen sie nun einen ganzen Staat mit Steuergeld auf. Griechenland bekommt bilaterale Kredite der Euroländer im Wert von 80 Milliarden Euro, die die Europäische Kommission gebündelt vergibt. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) beteiligt sich an dem Paket und steuert 30 Milliarden Euro bei. Die Gläubiger wollen sie in Tranchen an Griechenland auszahlen, sofern das Land einschneidende wirtschaftspolitische Bedingungen erfüllt.

Griechenland ist damit vorerst gerettet. Doch die Lage im Rest Europas bleibt instabil. Investoren sehen nämlich im Rettungsschirm für Griechenland keinen Vertrauensbeweis, sondern das explizite Eingeständnis, dass die Zahlungsfähigkeit weiterer Staaten auf dem Spiel steht. Die Anlegerpanik mündet in einen Käuferstreik für Staatsanleihen mehrerer Euroländer.

Die Regierungen der damals 16 Euroländer gehen darum noch einen Schritt weiter. Am Wochenende des 8. und 9. Mai 2010 errichten die Finanzminister der Eurozone einen umfassenden Rettungsschirm, der weitere Länder vor einer Staatsinsolvenz retten soll – die sogenannte Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Die EFSF soll im Falle weiterer Notlagen Gelder an den Kapitalmärkten aufnehmen und an notleidende Staaten ausleihen. Gemeinsame Bürgschaften der Euroländer in Höhe von 440 Milliarden Euro sichern den Rettungsschirm ab. Die Haftungssummen werden gemäß dem Anteil am Kapital der EZB auf die Euroländer verteilt (zum Beispiel Deutschland mit rund 26 Prozent, Frankreich mit 20 Prozent und Österreich mit 3 Prozent). Gleichzeitig richtet die Europäische Kommission einen kleineren Rettungsschirm ein, der ergänzend tätig werden kann – den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus EFSM. Der EFSM ist mit Garantien in Höhe von 60 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt ausgestattet. Somit bürgen indirekt auch Nicht-Euroländer, um den Krisenstaaten zu helfen. Zusätzliche Kreditlinien in Höhe von 250 Milliarden Euro steuert der IWF bei.