Alles nur in meinem Kopf - Ellen (Pseudonym) Mersdorf - E-Book

Alles nur in meinem Kopf E-Book

Ellen (Pseudonym) Mersdorf

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Beschreibung

Der erste Erfahrungsbericht über eine Zwangsstörung, bei der nicht Zwangshandlungen, sondern Zwangsgedanken das Leben bestimmen. »Lassen Sie es mich gleich sagen: Ich wasche mir die Hände nur, wenn sie dreckig sind. Ich kontrolliere keine Schlösser, bin weder sonderlich ordentlich, noch horte ich Dinge. Ich gehöre zu den Zwangspatienten, deren Zwangshandlungen verdeckt (nur in meinem Kopf) stattfinden.« Mit dieser Richtigstellung beginnt die erfolgreiche Journalistin Ellen Mersdorf (Pseudonym) ihre Geschichte. Denn in der Regel wird eine Zwangsstörung lediglich mit Zwangshandlungen verbunden. Zwänge, deren Auswirkungen »nur« im Kopf stattfinden, werden von den Betroffenen nicht als solche erkannt und von Profis nicht diagnostiziert. Ein spannend-unterhaltsamer Bericht, der Mut macht.

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Ellen Mersdorf

Alles nur in meinem Kopf

Leben mit Obsessionen und Zwangsgedanken

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Nachwort

Impressum

Für meinen Mann. Wo wäre ich heute ohne Dich?

Vorwort

Ich heiße nicht Ellen Mersdorf. Ansonsten ist alles wahr. Leider. Meine Geschichte beginnt vor zehn Jahren. Damals wurde ich so krank, dass ich nicht mehr leben wollte. Durch einen glücklichen Zufall bekam mein Leiden irgendwann einen Namen. Ich habe eine Zwangsstörung. Lassen Sie es mich gleich sagen: Ich wasche mir die Hände nur, wenn sie dreckig sind. Ich kontrolliere keine Schlösser, bin weder sonderlich ordentlich noch horte ich Dinge. Ich gehöre zu den Zwangspatienten, deren Zwangshandlungen verdeckt stattfinden. Ich zitiere den Text eines Liedes von Andreas Bourani: »Das ist alles nur in meinem Kopf.«

Das macht es keinesfalls leichter. Im Gegenteil. Manchmal wünschte ich, ich könnte putzen, ordnen und Herdplatten an- und ausschalten, um die große Angst in mir zu neutralisieren. Der amerikanische Psychologe Lee Baer, ein ausgewiesener Spezialist für Zwangsstörungen, sagt, dass sich Menschen, die ausschließlich unter Obsessionen (= Zwangsgedanken) leiden, oft mehr quälen als Menschen mit jeder anderen ihm bekannten psychiatrischen Störung. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ich weiß mittlerweile, dass ich nicht alleine bin. Da draußen gibt es Unzählige, die jeden Tag aufs Neue mit Dämonen, Kopfkobolden, Obsessionen und schlimmen Gedanken kämpfen. Viele Betroffene wissen nicht, wie ihr Leiden heißt. Sie glauben, sie seien depressiv, oder fürchten, den Verstand zu verlieren. Ich widme dieses Buch auch all jenen, die gerade durch die Hölle gehen und nicht ahnen, dass sie eine Zwangsstörung haben. Sobald die richtige Diagnose gestellt wurde, wird es leichter. Zumindest ein bisschen.

Ich weiß bis heute nicht, warum es mir passiert ist. Denn eigentlich war mein Leben gut. Zumindest sah es von außen gut aus. Ich kam aus dem richtigen Elternhaus, hatte gerade erfolgreich ein Studium abgeschlossen, lebte mit meinem Freund zusammen – kurz, ich war ein Erfolgsmodell. »Unsere Kinder funktionieren«, erzählten meine Mutter und mein Vater immer stolz. Es waren immer die Töchter und Söhne anderer Leute, die Drogen nahmen, ihr Studium abbrachen oder Autos zu Schrott fuhren. Manchmal hat eine scheinbar perfekte Fassade aber schon lange Haarrisse, bevor sie einstürzt. Im Nachhinein fallen mir tausend Momente ein, die belegen, dass eben nicht alles in Ordnung war. Es gab Phasen, in denen ich von massiven Ängsten geplagt wurde, es gab Phasen, in denen ich kaum Schlaf finden konnte. Am schlimmsten war es kurz vor den Abschlussprüfungen an der Uni. Der Rücken schmerzte, die Stirn pochte, ich hatte Panik, zu versagen. Als die letzte Klausur geschrieben war, kehrte für wenige Wochen Ruhe ein. Eigentlich hätte ich mich nun zurücklehnen können. Eigentlich hätte ich endlich leben können.

Doch dann griff mich ein»Ohrwurm« an. Ich rede von diesen kleinen, länglichen Insekten mit der ausgeprägten Zange am Hinterleib. Als ich noch sehr klein war, erzählte mir jemand, diese Tiere würden ahnungslosen Schlafenden ins Ohr kriechen und sich dort verbeißen. Im Laufe der Jahre verblasste die Erinnerung. Irgendwann hielt ich die Geschichte nur noch für ein Ammenmärchen. Bis zu jener Herbstnacht. Während ich einschlief, lauerte das Insekt unter meinem Kopfkissen. Als ich von etwas Schönem träumte, griff es an. Es kroch in meinen Gehörgang und bohrte sich durch mein Trommelfell. Es tat nicht weh. Dann schaukelte der Ohrwurm kurz an Hammer, Amboss und Steigbügel, um anschließend in mein Innenohr zu krabbeln. Von dort aus nagte er sich durch meinen Schädelknochen und nistete sich in meinem Gehirn ein. Ja, so muss es gewesen sein, denn von da an wurde alles anders.

Am folgenden Tag saß ich mit meinem Freund Ben auf dem Parkett unserer Altbauwohnung, er im Schneidersitz, ich auf den Knien. Ich rang mit den Worten. Es gab einen Gedanken, der mich quälte. Ich wusste das damals noch nicht, aber das Tier hatte ihn mir ins Gehirn gepflanzt. Natürlich ahnte ich davon nichts. Ich kannte höchstens diese akustischen Ohrwürmer. Wenn mir ein Lied gefiel und ich es einen Tick zu oft hörte, verfolgte es mich tagelang. Morgens, mittags und abends »Life is a mystery, everyone must stand alone, I hear you call my name and it feels like ho-home.«Madonna nervte, aber sie tat mir nicht weh. Es war nur ein Lied. Ein Lied, das ich getrost ignorieren und hoffentlich bald vergessen konnte.

Damals, auf dem Wohnzimmerboden, war es anders. Dieser Ohrwurm war viel aggressiver. Er hatte mir keinen Popsong, sondern eine Frage in mein Gefühlszentrum geschleust. Sie ging ungefähr so: Was wäre, wenn ich Ben nicht mehr lieben würde? Folgerichtig müsste ich ihn dann verlassen, oder? Ein zugegebenermaßen banaler Gedanke. Ich schätze, das fragt sich jeder, der in einer Beziehung lebt, gelegentlich. In mir löste die Frage aber eine Kettenreaktion aus. Nach meiner Logik musste an dem Gedanken wohl etwas dran sein. Warum sonst sollte ich ihn denken? Er tauchte immer wieder auf und wurde von Mal zu Mal stärker. Wieso konnte ich den Lautstärkeregler nicht finden? Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch und kann Dinge kaum mit mir selbst ausmachen. Es ist ein bisschen wie bei einem Kind, das seine Kümmernisse teilen muss. Dieser Gedanke musste heraus, denn ich fühlte mich schuldig. Deswegen erzählte ich meinem Partner davon. Ich sagte »Ich glaube, ich muss dich verlassen.« Ben sah mich verständnislos an. Ich schob nach: »Ich fürchte, dich nicht mehr zu lieben.«Es war passiert. Der Gedanke hatte meinen Kopf verlassen und war in der Welt. Nun wurde er noch ein Stück realer.

Ben merkte, dass es mir ernst war. Ich zitterte am ganzen Leib, weinte wie ich noch nie zuvor geweint hatte. Ich wiederholte meine Befürchtung immer und immer wieder: »Ich glaube, ich muss dich verlassen! Ich bin mir fast sicher.«

Wie es weiterging, weiß ich nur noch bruchstückhaft. Ich rannte zur Wohnungstür hinaus, stolperte die knarrende Eichenholztreppe hinab, riss die Haustür auf, hastete zum Auto, stieg ein und fuhr wie in Trance durch die Stadt. Mein Gehirn lief auf Hochtouren. Dieser Gedanke war aus meinem Kopf gekommen. Es musste also etwas Wahres daran sein, sonst hätte ich das doch nicht gedacht. Konnte es sein, dass mir mein Unterbewusstsein eine Botschaft schickte? War das der Notausgang aus einer Beziehung, deren Scheitern ich mir nicht eingestanden hatte? Mir kamen viele kleine »Probleme« in den Sinn. Hatten sich die Krümel in der Butter oder die Barthaare im Waschbecken so aufgetürmt, dass wegen dieser Banalitäten meine Liebe gestorben war? Der Gedanke an das mögliche Beziehungsende ließ sich nicht vertreiben. Er hämmerte staccatoartig durch meine Hirnwindungen. Ich dachte daran, als ich das Lenkrad drehte, dachte daran, als ich in den vierten Gang schaltete, dachte daran, als ich einige Zeit später ausstieg. Es fühlte sich an wie bei einem Gewitter. Dauernd donnerte es in meinem Kopf. Und ich zuckte jedes Mal aufs Neue zusammen. Ich grübelte. Hatte ich mich vielleicht in einen anderen Mann verliebt? Hatte ich nicht. Ich war mir aber nicht sicher. Ich ging alle Männer, mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen hatte, in Gedanken durch. Vielleicht hatte ich mich verliebt, ohne es zu merken. War ich unbewusst fremdgegangen? War das überhaupt möglich? Wieso ließ sich der Impuls, mich zu trennen, nicht unterdrücken? Konnte es sein, dass ich meinen Freund nicht mehr genug liebte? Wann war Liebe genug? Hatte ich ihn jemals genug geliebt? Wie sollte es nun weitergehen? Warum geschah das mit mir?

Nach einer Irrfahrt quer durch die Stadt landete ich in meiner ehemaligen WG. Ich kann nicht so genau sagen, warum ich gerade dort anhielt. Vielleicht, weil ein Fenster erleuchtet war. Meine ehemalige Mitbewohnerin öffnete mir die Tür. Sie sah mein verheultes Gesicht und riss die Augen auf. Nein, es war nichts passiert. Oder vielleicht doch? Ich erzählte meine Geschichte. Insgeheim hoffte ich, jemand würde mich quasi von außen zur Vernunft bringen, jemand könnte mich durchschütteln und so die schlimme Vorstellung vertreiben. Das Gegenteil geschah: Sie nahm mich in den Arm und tröstete mich. Für sie war das alles relativ normal. »Beziehungen scheitern«, sagte sie. »Dass es aber gerade euch erwischt, das hätte ich nicht gedacht.« Mein Magen verkrampfte sich weiter, ich schlotterte. Nun war ich eine Frau, die offensichtlich dabei war, eine jahrelange Beziehung zu beenden.

Wenn man Fremde oder Freunde, Bekannte oder Verwandte zum Thema Liebeskummer befragt, können alle etwas sagen. Jeder hatte schon einmal ein gebrochenes Herz. Die meisten sind sich sicher, dass man aus einer Trennung gestärkt hervorgeht. Einige bieten ihre Hilfe an. Aber kaum jemand hinterfragt, warum Menschen auseinandergehen. Das ist verständlich. Wer will schon anderer Leute Schmutzwäsche sehen? Meistens gibt es »unüberbrückbare Hindernisse« oder »Differenzen«. Das geht niemanden etwas an, das will man auch gar nicht wissen. Man gibt sich vernünftig, man ist abgeklärt. Es war besser für uns alle, wir haben uns nicht mehr gutgetan und so weiter.

Meine »Trennung« war anders. Ganz anders. Meine Gedanken drehten sich endlos um die Fragen: Kann es sein, dass ich meinen Freund nicht mehr liebe? Und wäre es dann nicht absolut wichtig, reinen Tisch zu machen? Obwohl die Idee durch mein Bewusstsein pulsierte, fühlte sich alles so falsch an. Ich fuhr noch in derselben Nacht zurück zu unserer gemeinsamen Wohnung. Ben saß immer noch auf dem Wohnzimmerboden und hatte rot geäderte Augen. Er war verwirrt, fragte dauernd nach dem Warum. Es gab kein Warum. Es gab nur die Gedanken in meinem Kopf. Gedanken, die ich gedacht hatte. Gefühle, die ich gefühlt hatte und immer noch fühlte.

Ich bin ein Kopfmensch. Ich kann logisch denken, gut abstrahieren, mich in andere Positionen hineinversetzen. Mein Geist war immer mein Kapital. Wenn andere oberflächlich oder impulsiv reagierten, dachte ich nach. Wenn andere scheiterten, löste ich das Problem. Doch nun ließ mich mein Gehirn im Stich. Schlimmer noch, es verhöhnte mich, denn es schickte mir diese Gedanken, die so unlogisch waren. Wieso hatte ich diese Ideen? Woher kam der Impuls, das, was mir am liebsten war, zu zerstören? Waren wir so unglücklich gewesen? Ich drehte mich immer schneller im Kreis. Die Antwort musste um die nächste Windung liegen. Bestimmt.

Wir einigten uns in jener Nacht darauf, uns und unserer Beziehung Zeit zu geben. Die Erschöpfung war so riesig, dass wir nur noch ins Bett wollten. Ausschalter drücken, schlafen – und hoffen, dass am nächsten Morgen alles anders ist. Vielleicht würden die nächsten Tage mehr Klarheit bringen, vielleicht würde sich das von mir angerichtete Beziehungschaos in Luft auflösen. Schließlich war morgen ein neuer Tag. Und dann kam übermorgen. Und überübermorgen.

Was für eine kindliche Vorstellung, zu hoffen, dass nach einer Nacht Schlaf alles besser wird. Es wurde nicht besser. Ich war auf einer Wendeltreppe und lief bergab. Die kommenden Tage bestanden aus unendlichen Grübeleien und den panischen Versuchen, wieder Ordnung in mein Denken zu bringen. Es gab immer wieder Momente, in denen ich glaubte, das Rätsel gelöst zu haben. Dann konnte ich einen Augenblick durchatmen. Wenn ich Ben ansah, kam das wichtigste aller Gefühle unvermittelt an: Ich liebte diesen Mann sehr, das war doch sonnenklar. Doch das Insekt war gnadenlos. Es kniff immer dann zu, wenn ich mich gerade beruhigt hatte.

Wenn sich jemand mit einem Hirnwurm infiziert hat, passiert etwas Schreckliches: Der Parasit drückt auf all die Drüsen im Gehirn, die für die Bereiche Angst und Schrecken zuständig sind. Die Befallenen schwimmen förmlich in ihrem eigenen Adrenalin und sind wie gelähmt. Um zu verstehen, warum das passiert, hilft ein Blick ins Tierreich. Wenn die Gazelle durch die Savanne läuft und einen hungrigen Löwen trifft, hat sie zwei Möglichkeiten: Sie kann kämpfen (nicht sehr klug, aber durchaus mutig) oder sie kann um ihr Leben rennen. Angreifen oder abhauen, das sind die Optionen der Gazelle. Interessanterweise werden in beiden Fällen die Stresshormone, die durch die plötzliche Bedrohung in ihrem Organismus ausgeschüttet wurden, abgebaut. Wer nach einem anstrengenden Arbeitstag auf einen Sandsack eindrischt oder kilometerweit joggt, kennt den Effekt. Stresshormone sind wichtig, um uns auf das, was kommen mag, vorzubereiten. Sie sind aber auch dazu konzipiert, wieder aus unseren Adern zu verschwinden. Ein Leben unter Dauerstrom ist kaum auszuhalten. Leider gibt es neben Kämpfen und Abhauen noch eine dritte Option, wie ein Lebewesen auf eine Gefahr reagieren kann: Es stellt sich tot. Im Fall der Gazelle wäre das mit Sicherheit die schlechteste aller Varianten. Während sie gefressen wird, hat sie die eigene Angst im Würgegriff und beschert ihr somit den fürchterlichsten aller denkbaren Tode.

Menschen, in deren Gefühlszentrum ein Ohrwurm haust, neigen genau zu jenem Verhalten. Sie erstarren. Wie soll man auch gegen einen Feind kämpfen, der im eigenen Kopf lebt? Wie soll man vor einer Bedrohung weglaufen, wenn das Denken nie aufhört? Das ist das größte Problem mit diesen Parasiten: Die Angst, die sie streuen, wird nie abgebaut und wächst innerhalb kurzer Zeit ins Unermessliche. Es gibt kein Innehalten, kein Durchatmen. Die Stresshormone fallen nie auf Normalniveau ab. Das angefressene Gehirn hat keine Möglichkeit, in Ruhe zu prüfen, ob die ganze Angst realistisch ist, ob das, was ihm der Ohrwurm einflüstert, überhaupt Sinn ergibt. Wer sich infiziert hat, der ist dazu verurteilt, sich tot zu stellen.

Ich konnte nicht mehr essen, ich konnte nicht mehr trinken, ich war einfach nur noch. Die Verweigerung der Nahrung war meine Art, der Welt zu sagen: Der Löwe steht direkt vor mir, und ich bin gelähmt. Ich weinte alle Tränen dieser Welt, während sich mein Denken im Kreis drehte. Der Ohrwurm wütete ohne Pause. Wenn mein Bewusstsein für einen Augenblick an etwas anderes dachte, hatte ich ein unterschwelliges Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Dann durchforstete ich meine Erinnerungen, bis mir wieder einfiel, warum ich so unendlich traurig war. Es war so, als hätte jemand den schlimmen Gedanken mit einem dieser Schwimmer versehen, wie er von Anglern benutzt wird. Er tauchte nie ab, sondern trieb weiter an der Oberfläche.

Es kam zu einem emotionalen Kurzschluss in meinem Gehirn. Meine Sorge musste real sein. Warum sonst sollte sie immer wiederkehren? Kann es sein, dass ich meinen Partner nicht mehr liebe? Müsste ich ihn dann nicht verlassen? Manchmal kapitulierte ich. Dann glaubte ich den Einflüsterungen des Parasiten. Ich ergab mich, hielt dem Löwen meine Kehle hin. Kleine Kinder schließen ihre Augen und summen vor sich hin, wenn sie das, was sie befürchten, nicht ausblenden können. Ich konnte mein Denken nicht abstellen.

Der Alltag war ein Spießrutenlauf. Das Grübeln wurde jedes Mal aufs Neue angestoßen, wenn ich Zeit mit meinem Freund verbrachte. Ich war innerlich zerrissen, wollte vor ihm weglaufen, um der Angst zu entkommen. Gleichzeitig wollte ich mich an ihn schmiegen, mich trösten lassen, mich von seiner Liebe heilen lassen. Ich wurde immer schneller, mein Versuch, der vermeintlichen Bedrohung zu entkommen, wurde immer aussichtsloser. Wenn ich Ben sah, musste ich meine Gefühle überprüfen. Der Ohrwurm nagte. Ich zweifelte und war verzweifelt. Jede Idee, die mir zu dem Thema durch den Kopf ging, war wichtig.

Ben merkte schnell, welche tragische Rolle er in meinem ganz persönlichen Drama spielte. Obwohl ich heute weiß, dass er zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung von dem Krankheitsmechanismus hatte, machte er intuitiv das Richtige: Er blieb. Wenn es Nacht wurde, hielt mein Gedankenkarussell für einen Moment an. Ich war so unendlich erschöpft. Der Schlaf war eine Erlösung. Doch dann kamen die Albträume. Ich versuchte auch nachts, mein Problem zu lösen. Noch vor dem ersten Tageslicht lag ich wach im Bett und weinte das Kopfkissen voll. Ben harrte an meiner Seite aus, obwohl das alles sehr erniedrigend gewesen sein muss. Ich weiß bis heute nicht, warum er nicht gegangen ist. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, ich weiß nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, den Schwebezustand, in dem Ben damals war, auszuhalten. Vielleicht hatte er etwas verstanden, was mein Umfeld anfangs nicht erkannte: Ich war nicht liebesmüde. Ich war krank, sehr krank.

Nach zwei Wochen mit dem Ohrwurm kontaktierte ich Herrn Stur. Der arbeitete als Homöopath und Psychotherapeut. Ich hatte mich Jahre zuvor bereits einmal an ihn gewandt, da ich infektanfällig war. Damals hatte er mir mit seinen kleinen Kügelchen geholfen. Es erschien mir sehr naheliegend, ihn auch jetzt zu konsultieren. Stur hatte seine Praxis im Keller seines Achtzigerjahre-Fertighauses. Oben wohnte er mit seiner Vorstadtfamilie, unten empfing er Patienten. Ich fragte ihn irgendwann einmal, warum er nun daheim praktiziere. Früher hatte er nämlich eine Praxis in der Stadt. Er antwortete, die Miete wäre zu hoch – und so sei es auch viel praktischer.

Um in das Behandlungszimmer zu gelangen, musste man eine kleine, betonierte Gartentreppe hinabsteigen, und ums Haus laufen. An der Tür zur Einliegerwohnung hing ein Strohkranz mit einer verblichenen gelben Schleife. Herzlich Willkommen! Ich hoffte inständig, mich würde niemand erkennen. Am Nachbarhaus bewegten sich die Vorhänge.

Als ich dem Therapeuten gegenübersaß, wünschte ich, dass jetzt alles gut werden würde. Er begann unsere erste Sitzung mit den Worten: »Ich habe die Unterlagen der homöopathischen Behandlung durchgeblättert und da ist mir aufgefallen, dass bei Ihnen immer alles so toll war. Jetzt ist nicht mehr alles so toll. Das wundert mich nicht.« Das klang so, als habe er das Problem kommen sehen. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Ich öffnete mich. »Könnte es sein, dass ich meinen Partner nicht mehr liebe und ihn verlassen muss, Herr Stur?« Er glaubte es für den Moment nicht, bestand aber darauf, dass wir die Konflikte suchen müssten. Selbstverständlich könne es dann doch sein, dass wir uns trennen würden. Das müsse man abwarten. Abwarten? Ich konnte nicht warten. Ich ertrug die Unsicherheit nicht. Während sich mein Magen hob und sich mein Zittern verstärkte, startete Stur seine Forschungsreise in mein Gehirn.

Ich kam einmal die Woche zu ihm, setzte mich auf seine abgewetzte Couch, die wohl früher im Wohnzimmer der Familie gestanden hatte, und krallte mich an den hölzernen Armlehnen fest. Nein, bei Stur war nicht alles schlecht. Ein gesunder Mensch hätte vielleicht sogar von den Gesprächen profitiert. Das Problem war, dass der Therapeut mich nicht verstand. Er hörte nicht hin, erkannte nicht, wie sehr ich mich im Kreis drehte. Er wollte immer über die Vergangenheit sprechen. Nach seinem Empfinden lagen dort die Leichen, die es nun auszugraben galt. Mein Keller war eine psychoanalytische Fundgrube, randvoll mit verdrängten Erlebnissen. Stur stieß mich vor sich her, immer auf den Abgrund zu. Manchmal krallte ich mich mit dem letzten bisschen Verstand fest und baumelte über einer Schlucht. Ich hatte Todesangst. Das, so erklärte er mir, sei alles notwendig, um die ungelösten Probleme zu entlarven. Wenn die Sitzung vorbei war, fuhr ich ziellos durch die Gegend und dachte über mein Lebensende nach.