Alptraum Wissenschaft - Anne-Christine Schmidt - E-Book

Alptraum Wissenschaft E-Book

Anne-Christine Schmidt

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Beschreibung

Eine Aussteigerin aus dem deutschen Wissenschaftssystem erzählt Erstaunliches und Erschreckendes über drogenherstellende Arbeitsgruppenleiter, verlogene Professoren, Forschungsarbeiten blockierende Kollegen und alltäglichen Psychoterror in den Instituten. Das Buch blickt hinter die glänzenden Fassaden wissenschaftlicher Einrichtungen und reißt der "Bildungselite" die Maske herunter. Anhand der Schilderung ihres im wissenschaftlichen System erlittenen Schicksals prangert die Autorin die Machtstrukturen sowie die Skrupel- und Verantwortungslosigkeit mancher Professoren sowie die Recht- und Perspektivlosigkeit junger, hochqualifizierter Nachwuchswissenschaftler an. Von einem kurzzeitig befristeten Arbeitsvertrag zum Anderen und von einem hochspezialisierten Arbeitsgebiet zum Nächsten springend, ertrinkt der Wissenschaftler in einer tosenden Datenflut, welche aus unzähligen Messgerätschaften hervorquillt. Die Technokratie und Giftlastigkeit heutiger naturwissenschaftlicher Forschung, ihre Bezugslosigkeit zu natürlichen Harmonien sowie die Starrheit wissenschaftlicher Modelle gepaart mit einem gewaltigen, aus dem Befristungskampf resultierenden Arbeitsdruck erschlagen Phantasie, Freude, Wissbegier und Menschlichkeit. Das derzeitige naturwissenschaftliche Forschen und Denken führt in großen Teilen nicht zur Natur hin, sondern von ihr weg. Die Ausführungen werfen grundlegende Fragen auf, wie wir der Natur, unseren Mitmenschen und uns selbst gegenübertreten.

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Anne-Christine Schmidt

Alptraum Wissenschaft

Ein Schwarzbuch der Naturwissenschaften und des Wissenschaftssystems

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

I.I Das Naturkind

I. II Das Biologiestudium

I.III Die goldene Zeit

I.IV Das ungrüne Pflanzeninstitut mit dem Drogenhersteller

I.V Das Institut des Monsterprofessors

I.VI Ein kurzes Aufflammen guter wissenschaftlicher Arbeit

I.VII Das Institut der Professorenfreundin

I.VIII Das Institut, das mir einen glorreichen Beginn und ein schreckliches Ende bescherte

I.VIII.1 Eine kurze Institutscharakteristik

I.VIII.2 Die Geräteherrscherin

I.VIII.3 Der Themenklau

I.VIII.4 Der Folgeantrag und das Intermezzo mit der Haushaltsstelle

I.VIII.5 Als ich die Gunst meines Habilitationsförderers verlor

I.VIII.6 Wie ich mich von der Haushaltsstelle auf die nächste Projektstelle rettete

I.VIII.7 Explosion geballter negativer Energie

I.VIII.8 Wie man sich ein Einzelzimmer ersitzt

I.VIII.9 Das verspätete Habil-Gutachten

I.VIII.10 Die Endzeit meiner Universitätslaufbahn

I.IX Berufsaussichten in der Wissenschaft und Inhalte naturwissenschaftlicher Berufe

I.X Opfer, die man der Qualifikation zu erbringen hat

I.X.1 Die zwingend erforderliche Arbeitswut und der Reproduzierbarkeitswahn

I.X.2 Wissenschaftliche Vorträge und Qualifizierungsarbeiten

I.X.3 Das Opfer der eigenen Gesundheit und daraus abgeleitete Fragen zum Sinn der Arbeit

I.XI Kooperationsversuche

I.XII Ökologische Aspekte naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit

I.XIII Eine kurze Zusammenfassung der für eine Karriere im Wissenschaftssystem nötigen Maßnahmen

I.XIV Der arbeitslose Wissenschaftler

II.I Zur Philosophie der Naturwissenschaft

II.II Der Allmachtsanspruch der Naturwissenschaft und ihrer Verfechter

II.III Auswirkungen von Naturwissenschaft und Technik auf die Ökosysteme der Erde

II.IV Auswirkungen des wissenschaftlich-technisch gestützten Lebensstils auf die psychische Situation des Menschen

II.V Ein Ausflug zum alten Bauerntum

II.VI Der Ausweg

Literaturverzeichnis

Impressum neobooks

Vorwort

Den blühenden Bergwiesen,

der Zauberfichte am Becherbach,

der Singdrossel,

dem Zaunkönig, der in unserer Scheune nistet

Und für Dietmar, einen Naturwissenschaftler, der es lernte,

die Natur mit dem Herzen zu sehen

Danksagung

Meine Niederschriften entstanden aus unmittelbar Erlebtem auf meinem Berufsweg im System der modernen Naturwissenschaft. Dass ich nicht über der Vielzahl brutaler Schwierigkeiten, die dieser Weg für mich bereithielt, zerbrochen bin und stattdessen eine gefestigte Stabilität und ein Stück Lebensglück erlangte, verdanke ich in erster Linie meinem Lebensgefährten Dietmar, der meine Sehnsucht nach einer naturnahen Lebensführung verstanden und deren tatsächliche Umsetzung begleitet hat. Eine innere Umkehr, die sich letztendlich in einer umfassenden Veränderung meiner Lebensgestaltung niederschlug, führte die Natur fern der wissenschaftlichen Kunstwelt selbst herbei. An dieser Stelle danke ich den Bergen, Wäldern und Wiesen im Erzgebirge, im Thüringer Wald, in der Dübener und der Dahlener Heide, in den österreichischen und den bayerischen Alpen und im Hochschwarzwald für die wunderschönen Tage und ergreifenden Empfindungen, die sie mir schenkten. Die rauschenden Zweige der alten Fichten erzählten mir unendlich mehr über die Natur als alle Labore der Naturwissenschaft. Ich danke meinem blühenden Garten, den Bienen und Hummeln, die summend die Blüten besuchen, und den letzten bunten Schmetterlingen.

Meinen Nachbarn in den Gärten am Feld, Heidrun und Manfred Schmidt, Erhard Pradel und Familie Göhler, danke ich dafür, dass sie mich aus den dunkelsten Stunden befreiten und mir eine verloren geglaubte Welt aus Hilfsbereitschaft, Rücksicht, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zurückbrachten. Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie immer für mich da waren und manche eigenen Pläne wegen mir umstellten. Andreas Meißner danke ich für das mühevolle Korrekturlesen, die hilfreichen Kritiken und Hinweise.

Das vorliegende Buch handelt von meinen Erlebnissen in und mit der berufsmäßig und institutionalisiert betriebenen Wissenschaft und von dem Eindruck, den die moderne Naturwissenschaft und ihre Verfechter bei mir hinterließen. All die Missstände und Sinnlosigkeiten, die ich an verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen beobachtete und miterleben musste, möchte ich an die Öffentlichkeit bringen und beitragen, den Schleier zu lüften, der über den wissenschaftlichen Einrichtungen hängt. Das Buch blickt hinter die Fassaden einer aus öffentlichen Geldern und aus Industriemitteln finanzierten Wissenschaft. Alle geschilderten Ereignisse werden anhand ihres tatsächlichen Ablaufes dargestellt, wenn auch aus meiner persönlichen Sicht und Betroffenheit. Personen werden nicht mit ihrem Namen genannt, sondern humoristisch umschrieben. Da ich seit dem Ende meines Studiums im Jahre 1999 an sieben verschiedenen Instituten in drei verschiedenen deutschen Städten arbeitete, geben meine Schilderungen durchaus charakteristische Elemente der deutschen „Forschungs- und Bildungslandschaft“ wieder. Die Verwicklung meiner eigenen Lebensgeschichte mit der institutionalisierten Naturwissenschaft presste mich in ein krankmachendes Korsett aus häufigem Arbeitsplatzwechsel, ständigen Anfeindungen und enormem Leistungsdruck. Nachdem ich mittels einer dichten Folge kurzzeitig befristeter Arbeitsverträge den Doktorgrad erworben hatte, flog ich aus dem ersten Forschungsinstitut, in welchem ich als Postdoktorand eingestellt worden war, wegen eines Drogendeliktes des Forschungsprojektleiters während der Probezeit wieder heraus. Im nächsten Institut tyrannisierte mich der leitende Professor, weil sein Forschungskonzept nicht funktionierte, bis zum vorzeitigen Abbruch des Arbeitsverhältnisses. Nach einer neunmonatigen Zwischenstation in einer wegen der Emeritierung des Professors in Auflösung begriffenen Arbeitsgruppe wechselte ich an ein von der jungen Freundin des Institutsleiters „beherrschtes“ Institut. Danach erlangte ich eine gewisse Selbstständigkeit aufgrund der Einwerbung eigener Forschungsmittel, wodurch mich aber fortan am beherbergenden Institut ein jahrelanger Psychoterror durch Kollegen, Doktoranden und Professoren erwartete. Dieser, das wissenschaftliche Arbeiten behindernde und die eigene Gesundheit ruinierende Terror begann mit einer über Monate hinausgezögerten Einarbeitung in dringend benötigte Messtechniken, reichte weiter über die komplette Missachtung der Inhalte und Arbeitspflichten meiner projektgebundenen Forschungstätigkeit bis zum Versuch der Boykottierung meiner Habilitation. Eine gewisse Notwendigkeit besteht, die Geschehnisse ausführlich darzulegen, damit offenbar wird, mit welcher Willkür und vorsätzlichen Verantwortungslosigkeit Professoren gegen eine durch ihre Arbeitsvertragsbefristungen zur Rechtlosigkeit verdammte Nachwuchswissenschaftlerin vorgingen.

Obwohl ich seit dem Beginn meiner Promotion unablässig wie eine Besessene an meinen Forschungen arbeitete, Publikation auf Publikation veröffentlichte, um Forschungsgelder kämpfte und von Stelle zu Stelle sprang, fiel ich am Ende ins Nichts und verließ die Universität im Alter von 39 Jahren ohne Perspektive auf Anerkennung oder gar Weiterbeschäftigung.

Ich habe das Buch in zwei Teile untergliedert: Teil I beschreibt meine persönlichen Erfahrungen im System der modernen Naturwissenschaft und mit ihren Verfechtern. Er beleuchtet die Verhaltensweisen der neuen Professorengeneration und verdeutlicht die Rechtlosigkeit junger Wissenschaftler, die von einer kurzzeitig befristeten Stelle zur nächsten springen und damit von einem Spezialgebiet zum anderen, ohne auf zuvor gesammelte Erfahrungen zurückgreifen zu können. Das harte Konkurrenzdenken innerhalb der wissenschaftlichen Institute sowie zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Einrichtungen wird ebenso beschrieben wie der unablässige Kampf um Forschungsfinanzen und die damit verbundene Weiterbeschäftigung im Wissenschaftssystem. Weiterhin wird im ersten Teil des Buches die Atmosphäre an den Instituten, zum Einen in Hinblick auf das zwischenmenschliche Miteinander und zum Anderen in Hinblick auf das fachliche Wirken, beschrieben. Schließlich wird die zweifelnde Frage gestellt, was an Gutem und Förderlichem aus dieser Kombination resultieren kann und ob dies überhaupt möglich ist. Ich hatte ein naturwissenschaftliches Studium gewählt, weil ich die Natur liebe und ihre Wesen achte. Was mir aber in der naturwissenschaftlichen Berufslaufbahn begegnete, war entweder voller Verachtung gegenüber der Natur, oder aber es war überhaupt kein Bezug mehr zur Natur zu finden.

Im zweiten und kürzeren Teil versuche ich, die Entwicklung und jetzige Ausformung der Naturwissenschaft zu betrachten, besonders im Hinblick auf ihr Verhältnis zu ihrem Namensgeber, der Natur. Ich stelle die naturwissenschaftliche Denkart in ihren Grundzügen dar und hebe die daraus resultierenden Auswirkungen auf das Leben der Menschen sowie auf die gesamte Natur hervor. Dabei greife ich auf Zitate anderer Autoren zurück, um diese ins Verhältnis zu meinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zu setzen. In der sich zuspitzenden ökologischen Katastrophe sehe ich eine ursächliche Beziehung zur Entwicklung der Naturwissenschaft und der ihr zu Grunde liegenden Philosophie.

Meine Ausführungen enthalten zum Teil Extremstandpunkte, die aus meiner persönlichen, von extremen Erlebnissen durchzogenen Erfahrung mit der modernen Handhabung der Naturwissenschaft heraus entstanden und manchen erschrecken mögen, doch Extremstandpunkte treten immer als Gegenpol zu ungünstigen einseitigen Entwicklungen auf. Ich verteufle nicht die Naturwissenschaft als solche, sondern die ihr innewohnende Anwendungsmanie und Technokratie, die sich gegen ihren Namensgeber, die Natur wenden, sie ausbeuten und zerstören. Die Naturwissenschaft könnte durchaus eine andere Blickrichtung einnehmen und damit andere Wege einschlagen, wenn sie sich zum Einen von ihren festgefressenen materialistischen Glaubensdogmen und zum Anderen von ihrer industriell-vertechnisierten Kurzsichtigkeit und Wirtschaftshörigkeit lösen würde. Ganz scharf aber verurteile ich die Arbeitsbedingungen, die sich Absolventen naturwissenschaftlicher Studiengänge bieten, sowie die uneingeschränkte Allmacht der Professoren. Die Naturwissenschaft ist entehrt und entwürdigt worden, gerade indem sie ihren wertvollen Untersuchungsgegenständen feindselig gegenübertritt, jedoch auch dadurch, dass sich die Arbeits- und Lebensumstände der Menschen, die sich der Naturwissenschaft widmen, immer mehr verschlechterten.

Trotz meiner kritischen Sicht auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik im Kontext der allgemeinen gesellschaftlichen Stagnation glaube ich an den Menschen und an all das Gute und Schöne, was in ihm ruht und erweckt werden kann, wenn die Bedingungen es zulassen und fördern. Ich glaube aber auch, dass sich die derzeitige Macht und Herrschaft von einer industriell geprägten Naturwissenschaft und Technik in ihrer aktuellen Form in solch ungünstiger Weise auf die Menschen auswirken, dass eben gerade das Gute und Schöne verjagt wird. Genau dies erlebte ich immer wieder in den Hochburgen naturwissenschaftlicher Forschung, den Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, wo die für die Natur unerträgliche Herangehensweise und Ausrichtung naturwissenschaftlicher Forschung die zwischenmenschlich unerträglichen Zustände spiegeln.

Zur Veröffentlichung meiner Ausführungen in elektronischer Form möchte ich Folgendes anmerken: Ich bin ein Kind unserer Zeit und nutze die Technik dieser Zeit, trotz meiner Kritik an derselben, um interessierte Menschen zu erreichen, wenn es keine anderen Wege dafür gibt. Ich achte die Menschen, die sich mit dieser Technik befassen und mir meine Veröffentlichungen ermöglichen und danke ihnen dafür.

I.I Das Naturkind

Lange bevor ich den holprigen Weg durch die institutionalisierte Naturwissenschaft antrat, wuchs ich am Rande einer Kleinstadt, beinahe schon auf dem Dorfe, als unverfälschtes Naturkind zu einer zarten Gestalt heran. Eine innige Verbundenheit zu Pflanzen und Tieren prägte mich schon in der Kindheit und Jugendzeit. Für uns Kinder gab es nichts Schöneres als draußen in der Natur herumzustreunen und Streiche zu spielen. Einen Bruder hatte ich auch: er hieß Bello und war ein unserem Nachbarn zugelaufener Mischlingshund, den meine Eltern bei sich aufnahmen. Ich liebte ihn über alle Maßen. Als mein geliebter alter Weidenbaum am Flussufer gegenüber von unserem Haus gefällt wurde, trauerte ich lange. Auch als Bello gestorben war, trauerte ich. Der gute Hund war mir Freund und Lehrer. Das Lernen in der Schule fiel leicht und machte Spaß. Als Kind war mein Berufswunsch klar: als Tierarzt wollte ich meinen leidenden Schwestern und Brüdern helfen. In der frühen Jugendzeit erschien in meinen Träumen ein Zauberwesen, was mich mitnahm in seinen Wald, wo es mit Bäumen und Tieren sprach und mir die Pflanzen erklärte. Sein Gesicht und seine Gestalt strahlten Würde und gütige Strenge aus. Noch heute sehe ich es vor mir und höre seine Worte, die sich viel später bewahrheiteten: `Ich habe immer gewusst, dass Du wieder kommst`. Man kann als naturverbundener Mensch den Weg der heutigen Naturwissenschaften nicht gehen, ohne sich selbst und die Natur zu verraten. Das Zauberwesen sprach von der Heiligkeit der Natur, von der Achtung gegenüber allen Lebewesen, vom Verzicht, von Enthaltsamkeit, und dass man mit den Dingen sprechen kann. Die intensiven Träume begleiteten mich einige Jahre. Viele seiner Worte fand ich später in hinduistischen und buddhistischen Texten wieder, aber auch in alten Naturreligionen. Im späteren Berufsleben in naturwissenschaftlichen Institutionen begegneten mir keine Menschen mit ähnlich weisen Gedanken. Es ist zu bezweifeln, ob unsere heutige Gesellschaftsform und Lebensweise überhaupt noch Weise hervorzubringen vermag. In der späteren Jugendzeit öffnete sich mir eine besonders intensive Beziehung zu Bäumen. Oft fuhr ich stundenlang allein mit dem Fahrrad von Dorf zu Dorf über Landstraßen und Wege, durch Felder und Wiesen. Einem tranceartigen Zustand gleich nahm ich die alten Obstbäume am Wegrand wahr. Jenes losgelöste Schweben trug mich über das Land. Im Garten meiner Eltern arbeitete ich gern in den Blumenbeeten. Von einjährigen Sommerblumen sammelte ich jedes Jahr eigene Samen, die über den Winter in Gläschen im Keller lagerten. So säte ich dann im Frühjahr Bechermalven, Schmuckkörbchen, Jungfern im Grünen, Studentenblumen und Wicken, die dem Garten im Sommer ein buntes heiteres Gesicht schenkten.

Als ältere Schülerin arbeitete ich in den Ferien oft einige Wochen in einer Apotheke in unserer kleinen, damals noch verschlafenen Stadt. Es war tiefe DDR-Zeit. Dort konnte ich noch richtige klassische Apothekerarbeiten verrichten, Salben rühren und Pulver mischen. Diese Tätigkeiten machten viel Freude, und auch die Heilkunde interessierte mich. Aber die nette Leiterin der Apotheke sah ich immer nur am Schreibtisch sitzen. Die schönsten Apothekenarbeiten waren der Hilfskraft vorbehalten. Aus diesem Grunde verwarf ich die Idee, Pharmazie zu studieren, recht bald. Hinzu kam, dass im letzten Jahr meines Apothekenlebens die DDR-Epoche ein Ende fand und die klippsenden Preiszangen aus schwarzer Plaste in meine Hände fielen, mit denen ich von nun an tagein, tagaus acht Stunden lang kleine weiße Preisetiketten auf alle möglichen Tablettenschachtelchen und Fläschchen tackerte. Mit der Handarbeit im Apothekenlabor war es nun vorbei. Die freie Marktwirtschaft war eingezogen in die kleine Mohrenapotheke, mit Preisen wedelnd und bunten Verpackungen schillernd.

In mein Tagebuch trug ich damals empört ein, wie viele Autos plötzlich auf der Straße durch unsere kleine Stadt brausten, wo ich es gewohnt war, mit meiner Schulfreundin Silke am Abend Tennis über die Straße zu spielen. Ich positionierte mich auf dem Fußweg vor dem Haus meiner Freundin. Sie stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die wenigen Male, wenn ein Auto auftauchte, machten wir uns den Spaß, den Tennisball über das Autodach zu schießen. Wir brauchten keinen eingezäunten, mit Kunststoffbelag ausgelegten und mit Trinkwasser gespülten Tennisplatz, erst recht keinen überdachten. Jene historischen Tennisspiele fanden noch in den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts statt, etwa 50 m vor einer heute gewichtigen Ampelkreuzung der Bundesstraße B 87, um die es tags und nachts herumbraust, von sich in alle vier Winde aufstauenden Autoschlangen bei Rotphasen unterbrochen. Der Verkehrsfluss, der unser fröhliches Tennisspielen ablöste, erzeugt auch keine freundlichen Mienen, weder bei in den Fahrzeugen hockenden Personen noch bei an der Ampelkreuzung auf das ersehnte grüne Leuchten wartenden, gar zu Fuß einher schreitenden Zeitgenossen. Zu den überwiegenden Zeiten befinden sich im Umkreis der Ampelkreuzung auch deutlich mehr und zumeist einsam in beräderten Metallkästen eingeschlossene Personen als außerhalb und nur von nach den Absonderungen der Metallkästen stinkenden und wegen ihrer Geräusche dröhnenden Luft umhüllt. Der Tennisplatz von einst hat sich verwandelt. Er ist dem übertechnisierten, industriellen Weltbild zum Opfer gefallen. Ebenso die Gemüter der Menschen, welche die Kreuzung passieren. Wir leben „in einer Gesellschaft, wo mir der Mensch nur noch in Form einer Blechkiste entgegenkommt, der mich mit zwei bösen Augen tödlich bedroht, dem ich ausweichen muss, statt dass ich ihm begegnen kann.“ [1] Die rollenden Maschinen dominieren unser Leben schon so sehr, dass „die Geographie eines Landes für die Bedürfnisse der Fahrzeuge und nicht für die der Menschen eingerichtet wird.“ [2] Von den fernen Zeiten, in welchen die Anwohner ihre Wäsche in dem durch das Städtchen fließenden glasklaren Fluss wuschen, weiß auch ich als in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geborenes Menschenkind nur mehr vom Hörensagen. Eine braune Suppe ergießt sich durch das Flussbett. Auf dem Grunde wabert ein dichtes Geflecht aus Plastikfetzen.

Welche beruflichen Perspektiven eröffneten sich nun einem naturverbundenen jungen Menschen? Im Gymnasium erhielten wir keine Orientierung in Hinsicht auf unsere Berufswahl. Ich ließ mich auf dem Arbeitsamt beraten. Überall hieß es: Wenn jemand exzellente Abiturnoten vorweist, stehen ihm alle Studiengänge offen. Wählt entsprechend Eurer Talente und Interessen aus! Den Tierarzt von einst hatte ich aufgegeben. Auch den Apotheker. Schließlich entschloss ich mich für ein Studium der Biologie. Ein Lebensziel war damit verbunden: die Prinzipien und Zusammenhänge des Lebens begreifen zu lernen, den Wesen der Tier- und Pflanzenwelt tiefer zu begegnen, die Natur als unsere Herkunft und Heimat zu verstehen und zu schützen und die Lebensweise der Menschen mit der Natur in Einklang zu führen. Man erkennt aus meinen Idealen, dass mir pragmatisches Denken fremd war. Wie ich später jedoch schmerzlich bemerken musste, ist die beruflich betriebene Naturwissenschaft von pragmatischem Denken durchzogen wie von einem dichten Adernetz. In den Adern fließt ein eiskaltes, zahlengieriges Blut, das seine Nährstoffe aus Messgeräten und Computern bezieht. Die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Technik existiert nicht, und beide Disziplinen durchdringen und bedingen einander. Eine neue Technik verschafft neue „Einblicke“ in die Natur in Form neuer Messdaten. Umgekehrt generieren neue Entdeckungen in Physik, Chemie und Biologie neue technische Entwicklungen. Eine Endlosschraube wird kreiert, welche in mechanischer Gier alles auffrisst, was sich ihr in den Weg stellt. Auf der Strecke aber bleibt die Natur. An dieser Stelle greife ich auf die alte, beinahe abgedroschene Mahnung zurück: `Bitte niemals vergessen, dass auch der Mensch zur Natur dazu gehört.`

Ein Bezug zu den intensiven, naturverbundenen Erlebnissen meiner Jugend war in meiner späteren naturwissenschaftlichen Laufbahn nirgendwo zu finden. Nicht einmal einen Hauch davon fand ich in den zugehörenden Berufen wieder. Was ist uns hier verloren gegangen? Naturverbundenheit hat im naturwissenschaftlichen Berufsleben keinen Platz. „Die Übersetzung in das Nützlich-Stoffliche unterwirft die Wissenschaft dem Zwang der Sache, und hier entstehen die Sachzwänge, die alle beschreiben, wenn sie von den Denkenden den Pragmatismus des Handelns verlangen.“ [3] Das im heutigen Berufsalltag wie auch im Privatleben ständig präsente „Etwas-Erledigen-Müssen“ trägt sein Übriges bei zur kompletten Zerstörung mystischen Naturerlebens. Dem beruflich tätigen Naturwissenschaftler fehlt es an der Muße, überhaupt mit der Natur in Kontakt zu treten. Denn würde er sich tatsächlich auf das Wagnis einlassen, mit ihr eine echte Verbindung aufzubauen, liefe er große Gefahr, sein ihm so wichtiges künstliches Gedankengebäude einstürzen zu sehen. Doch immer weiter flieht die Natur vor dem Wissenschaftler, der mit immer größerem Geschütz auffährt, sie zu beherrschen und auszubeuten. Und so wird sich auch die Heilkraft einer Pflanze niemals im Labor und am Messgerät offenbaren, sondern durch mystische Schau, wie sie sich den Ureinwohnern aller Kontinente eröffnete [4]. Gregory Fuller spricht von der Unwiederbringbarkeit mystischer Erfahrung [5]. Mystische Erfahrungen sind untrennbar mit einem naturnahen Leben verbunden, welches eine ausreichende Empfindungs- und Wahrnehmungstiefe vermittelt. Unsere zeitgenössischen Naturwissenschaftler leugnen wohl jegliche Formen mystischer Erfahrung, weil sie selbst aufgrund ihrer vollständigen Naturentfremdung und Vercomputerisierung ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeiten verloren haben. Wenn aber der Wissenschaftler das Lebendige und das Mystische nicht mehr spürt und erfährt, begegnet er der Natur als totem Objekt. Genau hier, wo der Verlust von Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen geschah, liegt der Ursprung für die allüberall um sich greifende Naturzerstörung, welche Naturwissenschaftler Hand in Hand mit Technikern, Industriellen, Politikern und den sogenannten Konsumenten all der wissenschaftlich-technischen Erfindungen letztlich zu verantworten haben.

I. II Das Biologiestudium

Das Biologiestudium war auf eine Dauer von fünf Jahren angelegt und umfasste insgesamt zehn Semester. Die ersten zwei Jahre gehörten zum Grundstudium, welches eine breit gefächerte Ausbildung in verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen beinhaltete. Während einige Fächer wie Biochemie, Physik und Mathematik mit schriftlichen Klausuren abgeschlossen wurden, mündeten die Hauptdisziplinen Chemie, Mikrobiologie, Genetik, Botanik und Zoologie in die umfangreichen mündlichen Vordiplomprüfungen. Die Umstellung von den schulischen Anforderungen des Abiturs auf die erheblich detaillierteren und anspruchsvolleren Aufgaben im Rahmen des Studienplanes fiel uns zu Beginn schwer, so dass im Verlauf des Grundstudiums einige Kommilitonen wieder aufhörten. Generell dominierten in den naturwissenschaftlichen Studiengängen umfangreiche chemische, biochemische, physiologische, mikrobiologische, physikalische, botanische und zoologische Praktika den Studienplan. Die Praktika endeten in der Regel mit Abschlussklausuren.

So ein Studium macht großen Spaß, wenn man offen und interessiert ist und das Lernen und Verstehen leicht fällt. Viele junge Menschen brachten sich als ganze Persönlichkeit ein. Mein Talent für Zusammenhänge der Chemie, was ich schon in der Schulzeit hatte, entwickelte sich weiter und so zog es mich auch zu den chemischen Fächern hin. Es war ja noch keine Anwendung damit verbunden. Grundlagen und Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen erfüllte mich. Als Student fühlte man sich frei und unbeschwert, auch wenn Praktika, Testate, Klausuren und Prüfungen vollen Einsatz erforderten. Ich begeisterte mich sehr für meine Studienfächer. Mein naturwissenschaftliches Interesse war groß.

In den Semesterferien verdiente ich mir ein paar Münzen mit Hilfsarbeiten in einer Gärtnerei und im Physikalisch-Chemischen Institut der Universität. Dort beschäftigte ich mich unter Anleitung der Wissenschaftler mit Schäumungseigenschaften von Tensiden sowie mit der Messung von Oberflächenspannungen. Den Rosengärtnerjob hatte mir eine Mitstudentin verschafft, deren Mutter in der Gärtnerei arbeitete. Die Strecke zwischen meinem Wohnort und der Gärtnerei beschenkte mich mit einer fast einstündigen Fahrradtour am Morgen und am Nachmittag. Jeden Tag trug ich große Sträuße aus aussortierten Rosen nach Hause. Mittlerweile fallen die großen Gewächshäuser ein. Ich möchte wissen, aus welchen Entfernungen jetzt die vielen Rosen in die Blumenläden herangekarrt oder gar herangeflogen werden.

Alle Wege zu den Hörsälen, Praktikumssälen und auch zu den Ferienjobs wurden zu Fuß, mit der Straßenbahn oder am liebsten mit dem Fahrrad zurückgelegt. Auch eine Radfahrstrecke von anderthalb Stunden störte nicht; im Gegenteil: ich wählte die Strecken so aus, dass ich mich durch die Grünanlagen der Stadt sowie über das dörfliche Umland bewegen konnte. Auf diesen Fahrradwegen und auch auf den im Rahmen des Studienplanes organisierten botanisch-zoologischen Exkursionswanderungen fühlte ich mich wieder in der heiligen Welt des Naturempfindens geborgen. Dort bewegte man sich mit naturgegebener, dem Sinnesaufnahmevermögen entsprechender Geschwindigkeit auf zwei Füßen und besuchte Pflanzen und Tiere in ihrem natürlichen Umfeld. Tiefe Stille und Harmonie herrschten auf den Waldwiesen, welche vom Lärm der Technik noch verschont geblieben waren.

Während der Studienzeit fühlte ich mich hin und her gerissen zwischen meiner in chemischer Richtung liegenden Begabung und den ökologischen Fachgebieten. Der aus Österreich stammende neue Professor für Spezielle Botanik widmete sich weit entfernten südamerikanischen Floren statt einheimischen, ohnehin auf Minifloren zusammengeschrumpften Pflanzengemeinschaften. Für mich fiel diese Spezialisierung aus, denn ich konnte in mir nicht dieselbe Verbundenheit zu diesen fernen Gegenden wie für die Landschaften meiner mitteleuropäischen Herkunft empfinden. Seine gesamte Tätigkeit erschien mir aufgesetzt, künstlich und hinsichtlich exotischer Effekthascherei aufgeblasen. In seinem Praktikum mussten wir tagelang in Alkohol eingelegte Präparate südamerikanischer Pflanzen zeichnen. Die politische Wende hinterließ unruhige Zeiten an den ostdeutschen Universitäten. Die häufigen Professorenwechsel brachten nicht unbedingt wissenschaftliche Spitzenreiter in die vakanten Positionen. Tierversuche, wie sie eine meiner Studienfreundinnen in der Arbeitsgruppe für Neurobiologie durchführte, kamen für mich nicht in Frage. Gut erinnere ich mich daran, wie ich auf dem großen Gang des Altbaus der Zoologischen Institute zwei winzige, nackte, noch blinde, völlig hilflose Tiere in den Händen hielt. Diesen wehrlosen Geschöpfen bohrten die Neurobiologen Elektroden in die Köpfchen, um die Funktion ihrer Gehirne zu „erforschen“. Über das unvorstellbare Ausmaß der im Namen der Naturwissenschaft gequälten und getöteten Tiere berichtet Eugen Drewermann ausführlich und mit Zahlen belegt in seinem Buch „Der tödliche Fortschritt“ [6]. Der „Newsletter Hochschule und Wissenschaft“ der sächsischen Landtagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen vom Januar 2014 [7] nennt eine erschreckend hohe Zahl von 14516 Versuchstieren, die im Jahr 2012 allein an sächsischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Dienste der Wissenschaft zu Tode kamen. Damit stieg die Zahl getöteter Versuchstiere auf ein Vierjahreshoch. Insgesamt wurden im selben Jahr allein im Bundesland Sachsen 73090 Tiere für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt. Auch im zoologischen Grundpraktikum im ersten Semester des Biologie-Grundstudiums wurden Tiere getötet und zum Zwecke des Studierens ihrer Eingeweide zerstückelt. So mussten wir unter anderem Regenwürmer und Ratten sezieren. Wenn man hier das Argument der Ausbildung der Studenten anführt, dann hätten ein Regenwurm und eine Ratte für einen Semesterdurchgang von 30 bis 40 Studenten genügt. Aber nein, jeder musste ein Würmchen aufschneiden, um hernach stundenlang mit Hilfe des Mikroskopes seine im Blute schwimmenden Eingeweide abzuzeichnen. Ratten wurden vergast und dann jeweils in Gruppen von zwei oder drei Studenten zerschnitten. Die Betreuerin dieser Schlachtversuche war eine schreckliche, von den Studenten gefürchtete Person. Wie sollte es auch anders sein? Im Falle des Regenwurms kann ich mich nicht entsinnen, in diesem blutigen Praktikum etwas über seine Nützlichkeit bei der Bodendurchlüftung und Humusbildung gehört zu haben. Dabei ist der Regenwurm der beste Freund der Gärtner. Er frisst verrottete Pflanzen und Erde, vermischt sie in seinem Darm mit Bakterien und Pilzen und scheidet sie schließlich als allerbesten Dünger wieder aus [8]. Regenwürmer und andere Tiere bzw. deren Gewebeschnitte, Beinchen, Äuglein usw. mussten unter dem Mikroskop betrachtet und davon abgezeichnet werden. Was aber lernen das menschliche Auge dabei und was der menschliche Geist? Es ist kein liebevolles Betrachten. Das Wesen des Tieres kann auf diese Weise nicht gesehen werden, nur zerstückelte, tote Teile. Die Achtung vor dem Tier geht verloren, weil es zum zerstückelbaren Objekt degradiert wird. Ein Spruch des Dichters Oscar Wilde erübrigt weitere Diskussionen: „Es ist wichtiger, dass jemand sich über eine Blüte freut, als dass er ihre Wurzel unters Mikroskop bringt.“

Welchen Schaden voyeuristische Tierbegaffungen in ihrer Folge nach sich ziehen, verdeutlicht folgendes Beispiel: ein Zoologe, der im Polarkreis Wanderfalken abschoss, um ihre Körper als Anschauungsobjekte auszustopfen, vernichtete damit eine große Brutkolonie verschiedenster Vogelarten, die sich Jahr für Jahr im Schutze der Falkenhorste ansiedelte [9]. In einem tierphysiologischen Praktikum wurden kleine Frösche geköpft, um hernach an einem herausgerissenen Beinchen elektrisch ausgelöste Zuckungen zu beobachten. Damit die Studenten die Froschköpfungen auch korrekt ausführten, wurde zuvor ein Film dazu gezeigt. Eine Studentin fiel beim Zuschauen ohnmächtig vom Stuhl.

Als studentische Hilfskraft im Physikalisch-Chemischen Institut, wo ich mich unter den dortigen Wissenschaftlerpersönlichkeiten recht wohl fühlte, bekam ich einen Eindruck von den dort bearbeiteten Forschungsthemen, die mich wegen ihrer Geräte- und Computerbezogenheit jedoch auch nicht sonderlich anlockten. Irgendwie klaffte immer ein Unterschied zwischen den noch mit Handarbeit zu bewerkstelligenden Praktikumsversuchen, in denen man Grundlagen und Zusammenhänge der Chemie und Physik demonstrierte und begreifen lernte, und den sich in unzähligen, von Messgeräten ausgespuckten und mittels Computern bearbeiteten Details verstrickenden Fragestellungen der modernen naturwissenschaftlichen Forschung.

Nach Abschluss des Vordiploms wählte man im anschließenden Hauptstudium vier Vertiefungsrichtungen. Als genereller Tierversuchsgegner fokussierte ich mich auf die Fächer Pflanzenphysiologie, Ökologie und Botanik. Als nichtbiologisches Fach wählte ich die Physikalische Chemie, denn mich faszinierten die klassischen Grundlagen und Zusammenhänge der Thermodynamik und der Kinetik. Ich war die einzige Studentin, die sich für eine Vertiefung in Physikalischer Chemie entschied. Das Hauptstudium endete mit den Diplomprüfungen in den vier genannten Fächern.

In meiner Projektarbeit führte ich eine Vegetationskartierung eines Messtischblattquadranten als Zuarbeit zur Erstellung eines Florenatlasses durch. Mit dem Fahrrad und zu Fuß durchstreifte ich weite Landstriche und registrierte die vorgefundenen Pflanzenarten. Leider fiel die mir von meinem Betreuer vergebene Note nicht so gut aus wie meine Noten in den chemischen Fächern, weshalb ich mich trotz der großen Freude an dieser Aufgabe wieder davon entfernte. Ich hatte die Herbarbelege in nicht immer einwandfreier Form gepresst und geklebt und außerdem in meiner Unerfahrenheit einige, mir noch gänzlich unbekannte Pflanzen falsch bestimmt.

Die Naturbezogenheit eines Biologiestudiums ist an manchen Stellen noch nicht verloren gegangen, besonders im Vergleich dazu, was mir an einer der Universitäten begegnete, wo ich mich in späteren Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter plagte. Dort gab es einen Studiengang namens „Angewandte Naturwissenschaft“. Nach Abschluss dieses fünfjährigen Diplom- und später Masterstudienganges an unserem Institut als Doktoranden tätige Absolventen kannten kaum bis gar nicht unsere heimischen Bäume, die vor den Universitätsgebäuden wuchsen. Studenten desselben Studienganges, die ich in verschiedenen Praktika und Seminaren betreute, belustigten sich über Studenten eines anderen Studienganges, welche die Stimmen heimischer Vögel lernten. Sie selbst befassten sich dagegen mit ihrer Ansicht nach viel wichtigeren, vertechnisierten Dingen, die man mit Geräten behandelt und wofür man elektrischen Strom benötigt. Vögel und Bäume zählten für sie nicht zur Natur. Derartige technokratische Arroganz gegenüber natürlichen, nicht minder anspruchsvollen Beschäftigungen begegnete mir immer wieder unter sich Naturwissenschaftler nennenden Mitmenschen. Dabei bietet das Erkennenlernen von Vogelstimmen eine wunderbare Möglichkeit, die inmitten des Brummens der elektronischen Geräteschar abgestumpfte Sinneswahrnehmung zu schärfen, was eine der allerersten Aufgaben eines jeden Naturforschers sein sollte. Der Standesdünkel ist auch unter älteren, gesetzteren, promovierten und professorierten, im chemischen und mathematischen Bereich tätigen Wissenschaftlern deutlich ausgeprägt, was sich in vielen entsprechenden Äußerungen, die ich in meinem interdisziplinären Umgang zu hören bekam, insbesondere über Biologen oder Geoökologen, denen nur ein minimaler mathematisch-technischer Sachverstand zugetraut wird, widerspiegelt. Als Beispiel hierzu möchte ich einen Satz aus einem Vortrag eines Professors der Chemie wiedergeben: „Die Biologen machen es sich einfach und geben den Organismen Farbstoffe zu fressen, die sie sich dann unterm Mikroskop anschauen.“ Man muss den Tenor dieser banalen Äußerung kennen, um darüber schmunzeln zu können, der immer lautet: wir Chemiker hingegen messen mit unseren komplizierten Geräten. Oder ein anderer Kollege blies sich auf: „Was die Biologen können, können wir erst recht.“, oder „bei den Biologen läuft alles ein bisschen anders“ usw. So belustigten sich meine Chemikerkollegen mit Vorliebe über alle Nichtchemikerkollegen, mit Ausnahme der Mathematiker und Physiker, und fühlten sich als etwas wesentlich Klügeres und Besseres. Solche kleinen Rangeleien darf man natürlich nicht zu ernst nehmen, wenn nicht eine grundlegende Fehlentwicklung der naturwissenschaftlichen Sichtweise dahinter stecken würde. „Nur die Vertreter der unmittelbar einschlägigen Wissenschaften, etwa Ökologen und Psychiater, bemerken überhaupt, dass etwas faul ist in der Spezies Homo sapiens L., und gerade sie besitzen in der Rangordnung, die von der heutigen öffentlichen Meinung den verschiedenen Wissenschaften zuerkannt wird, nur einen äußerst inferioren Status. Nicht nur die öffentliche Meinung über die Wissenschaft, sondern auch die Meinung innerhalb der Wissenschaften neigt ganz zweifellos dazu, diejenigen für die Wichtigsten zu halten, die es nur vom Standpunkt einer zur Masse degradierten, naturentfremdeten, nur an kommerzielle Werte glaubenden, gefühlsarmen, verhaustierten und der kulturellen Tradition verlustigen Menschheit aus zu sein scheinen.“ [10] Die heutige öffentliche Meinung wie auch die unter den berufsmäßigen Wissenschaftlern selbst dominierende Meinung beurteilt die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen in einer merkwürdigen Weise, indem sie von jeder einzelnen Wissenschaft umso weniger hält, je höher entwickelt, komplexer und wertvoller ihr Forschungsgegenstand ist [10]. Lassen wir in diesem Kontext noch einmal den großen Naturforscher Konrad Lorenz zu Wort kommen: „Die gebräuchliche Bezeichnung von Physik und Chemie als ´exakte Naturwissenschaften` ist eine Verleumdung aller anderen. Bekannte Aussprüche, wie etwa der, dass jede Naturforschung so weit Wissenschaft sei, als sie Mathematik enthalte, oder dass Wissenschaft darin bestehe, `zu messen, was messbar ist, und messbar zu machen, was nicht messbar ist`, sind erkenntnistheoretisch wie menschlich der größte Unsinn, der je von den Lippen derer kam, die es besser hätten wissen können. Der richtige moderne Operationalist, Reduktionist, Quantifikator und Statistiker blickt mit mitleidiger Verachtung auf jeden der Altmodischen, die glauben, man könne durch Beobachtung und Beschreibung tierischen und menschlichen Verhaltens, ohne Experimente und selbst ohne zu zählen, neue und wesentliche Einblicke in die Natur erlangen.“ [10] Die Ansichten von Konrad Lorenz versöhnen einen zahlen- und messgerätegeplagten Naturfreund wieder ein wenig mit der Idee, die Natur auch auf wissenschaftliche Weise zu betrachten. Was Konrad Lorenz in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kritisierte, zieht sich fortan durch die naturwissenschaftliche Hackordnung, und ich durfte die mitleidigen bis harsch kritisierenden Kommentare meiner reduktionistischen Superstatistiker an eigenem Leibe erfahren. Allerdings gab es etliche Datensätze, die man statistisch auch anders hätte interpretieren können, wenn man für die Daten eine andere Art der Darstellung im Koordinatensystem gewählt hätte. Besonders zu Buche fällt der Einfluss der Bezugsgröße auf die letztendliche Bewertung und Interpretation von Messdatenreihen. Vorgefasste Überzeugungen und Erwartungen bezüglich der Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente steuern deren Ausgang. In der medizinischen Forschung ist dieser „Experimentatoreffekt“ allgemein bekannt, weshalb klinische Versuchsreihen oftmals in doppelblindem Aufbau durchgeführt werden. Dabei wissen weder Experimentatoren noch Patienten, wer welche Behandlung erhält. Der Experimentatoreffekt findet in naturwissenschaftlichen Forschungen keinerlei Berücksichtigung [11]. Aber die eifrig messenden und mittels vielfältigster Computerprogramme auswertenden Naturwissenschaftler glauben ganz fest an die unverrückbare Wahrheit ihrer Forschungsergebnisse.

Unter den naturwissenschaftlichen Disziplinen gibt es immerhin den grünen Zweig der Ökologie, in welcher das Zusammenspiel der Lebewesen in ihrem Lebensraum im Mittelpunkt steht. Aber wie sollte es anders sein: auch dort hielt die Computerdominanz längst Einzug und feierte ihren Siegeszug mit klickenden Mäusen und Grafiken produzierenden Auswerteprogrammen, die dem Wissenschaftler die Geheimnisse der Artenvielfalt und der ökologischen Gleichgewichte offenbaren sollen. Ich besuchte einmal einen Promotionsverteidigungsvortrag einer Geografin. Sie hatte sich etwa fünf Jahre lang mit der Bedeutung von Feldhecken in der von der Agrarindustrie zerrammelten Landschaft beschäftigt. In ihrem Vortrag zeigte sie eine Unmenge der erwähnten Grafiken, die sie in unermüdlicher Computerarbeit erstellt hatte. Das Ergebnis hätte ein einigermaßen natürlich empfindender Mensch, der ohne seine Aufmerksamkeit bannende technische Geräte auf einem Feldweg entlangspaziert, vermittels eines einzigen Blickes gefunden: Feldhecken sind schön, nützlich und wichtig.

Auch besitzt die Natur im Umfeld naturwissenschaftlicher Einrichtungen keinen Wert. Naturwissenschaftlich tätige Personen empfinden in der großen Allgemeinheit weder Achtung noch Mitgefühl für eine natürliche Umgebung. Sie stürzen am Morgen in ihre grauen Stahlbetonbunker oder in aus Metall und Kunststoff bestehende Bürocontainer, deren Luftzufuhr über automatische Gebläse an den Außenwänden reguliert wird. Mitarbeiter des universitären Rechenzentrums beschwerten sich über blühendes Gras auf einer Wiese vor ihrem computerbefüllten Gebäude, weil sie befürchteten, umherfliegende Blütenteile könnten ihre Computerbelüftungen beeinträchtigen. Vom Frühjahr bis zum späten Herbst wälzte sich darum eine Armada stinkender, dröhnender Maschinen über die Wiesen vor den Universitätsgebäuden, sobald einige Blütchen begannen, das eintönige Universitätsgelände zu verschönern. Auf den Maschinen hockende oder die Brummstinkmaschinen vor sich her schiebende Personen trugen Gesichtsmasken und große Ohrenklappen, als kämpften sie gegen einen gar giftigen, gefährlichen Feind, der sich in den zarten Grashalmen und Blumen zu verstecken trachtete. Eine meiner späteren, in einem chemischen Institut ansässigen Kolleginnen äußerte ihre Meinung, die Wiese vor dem schrecklichen Betonklotz, worin sich unsere Büros und Labore befanden, sei für die auch in diesem Hause hockenden Biologen zu erhalten. Gute Idee, aber brauchen nicht auch alle anderen Mitmenschen eine bunte Wiese vor ihrem tristen Schreibtisch? Soll die Natur des Universitätsgeländes als Labor für ein paar Spezialisten ein letztes Refugium zugebilligt bekommen? Inmitten von einem Heer Naturwissenschaftler?

Ein herrlicher großer alter Obstgarten neben den hohen grauen Betongebäuden der Universität, der ich in späteren Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin angehörte, fiel einem scheußlichen Neubau einer Maschinenhalle aus Stahl und Kunststoff zum Opfer. In den folgenden Jahren wurden weitere Neubauten errichtet. Dafür fällte man alte Bäume und opferte Grünflächen. Für umfangreiche Baumaßnahmen waren an den Fakultäten Finanzmittel vorhanden; für die Entfristung der Nachwuchswissenschaftler nicht. Die Kollegen, die auf ihrem Weg zur Arbeit an den Beerensträuchern naschten, laufen nun mit starren Blicken in das Gebäude hinein.

Abiturienten genießen eine freie Studienwahl. Sie wählen das Fach, was sie am meisten interessiert, ohne in ausreichendem Maße darauf hingewiesen zu werden, was sie im späteren Berufsleben erwartet. Ich hätte auch ein anderes Fachgebiet studiert, wenn ich als 18jährige Schülerin richtungsweisende Beratungen erhalten hätte. Was ich letztlich in meinem Studium an unzähligen Zusammenhängen lernte, benötigte ich auf meinem Berufsweg nie wieder. Zwar arbeitete ich über ein Jahrzehnt als Naturwissenschaftlerin, doch die fachlichen Ausrichtungen lagen im Umfeld der verfügbaren Arbeitsplätze in gänzlich abweichenden Gebieten.

I.III Die goldene Zeit

Als zum Ende meines Studiums die Zeit meiner Diplomarbeit heranrückte, bot der damalige Professor für Allgemeine und Angewandte Botanik ein Thema in Zusammenarbeit mit einer außeruniversitären Forschungseinrichtung an, welches die Arsenaufnahme und die stoffliche Umwandlung der Arsenverbindungen durch Pflanzen auf Altlastenstandorten des Zinnerzbergbaus behandelte. Da die praktische Durchführung der Thematik in der chemisch-analytischen Abteilung des Forschungszentrums geplant war, schien mir diese Kombination ein guter Kompromiss zu sein, Botanik, Ökologie und Chemie zu verbinden. Eine Ansammlung vielfältigster analytischer Messgeräte, die mit elektrischem Strom zu betreiben und von Computern zu bedienen waren, stand im Mittelpunkt des Geschehens. Biologische Proben sollten mittels diverser Analysentechniken hinsichtlich ihrer Gehalte verschiedener chemischer Elemente und Verbindungen analysiert werden. In Bezug darauf galten die aus pflanzlichen Ursprungsmaterialien zu präparierenden Proben wegen ihrer komplexen Zusammensetzung als schwer handhabbare Matrix. Zunächst zog ich Pflanzen verschiedener Art auf von einer Bergbauhalde geholtem Schlamm in einem einfachen, kleinen Gewächshaus. Nach einiger Zeit meinten meine Betreuer, die Bedingungen darin hinsichtlich Luftfeuchtigkeit, Lichtintensität, Beleuchtungsdauer und Temperatur seien zu unkontrolliert. Daraufhin zogen meine Versuchspflanzen in so genannte Phytokammern um, um darinnen unter kontrollierten Bedingungen zu wachsen. Von nun an sahen sie keine Sonne mehr. Die Phytokammern waren licht- und außenluftdichte Schränke, worin die zuvor „unkontrollierten“ Parameter des Gewächshauses auf technischem Wege exakt eingeregelt wurden. Solche Umstände muten zwar unnatürlich an; man benötigt aber laut wissenschaftlichem Konsens einen vergleichbaren Bezugspunkt in Hinsicht auf die Untersuchung der Arsenaufnahme aus dem Boden. Reflektiert dies dann wirklich die natürliche Situation der auf einer Bergbauhalde sich ansiedelnden Pflanzengemeinschaft? In allen Zweigen der Naturwissenschaft herrscht die Mode, sich möglichst physikähnlicher und vor allem mathematischer Methoden zu bedienen, „und zwar gleichgültig, ob diese für die Erforschung des betreffenden Objektes Erfolg versprechen oder nicht.“ [10] Auch zehn Jahre später, nachdem ich viele Stationen der Naturwissenschaft passiert hatte und längst in einer anderen Stadt arbeitete, verwickelte mich einer meiner Kollegen in eine Diskussion über meine Pflanzenanzuchten. Er kritisierte wie dereinst meine Promotionsbetreuer die unkontrollierten Wachstumsbedingungen und schlug vor, die Pflänzlein unter technisch geregelten Licht-, Temperatur- und Feuchtebedingungen zu kultivieren, damit sie immer denselben Stoffwechselstatus aufweisen und folglich auch stets reproduzierbare Metallgehalte akkumulieren. Selbst wenn die Pflanzen dies tun, was ich aus jahrelanger Erfahrung stark bezweifle (man müsste wenigstens noch eine Abschirmung der mit den Mondphasen und dem Sonnenlauf durch den Tierkreis wechselnden kosmischen Einflüsse erfinden), welche Erkenntnis gewinnen wir daraus? Wenn wir die Pflanzen in den gegenüber der Außentemperatur abgeschirmten Phytokammern anzogen, zeigten sie im Winterhalbjahr keinerlei Wachstumsfreude, obwohl sie doch von der draußen herrschenden Jahreszeit eigentlich gar nichts mitkriegen sollten. Mein Kollege untermauerte seine Ansicht mit den schönen roten Tomaten aus holländischen Gewächshäusern, die das ganze Jahr über auf unseren Tellern landen und seiner Meinung nach auch immer dieselben gesunden Inhaltsstoffe beinhalten. Über die Künstlichkeit der holländischen Tomaten im Winterhalbjahr mag man sich streiten. Wohlmöglich war dem armen Mann noch nie in seinem Leben eine Gelegenheit vergönnt, eine reife Sommertomate aus dem eigenen Garten zu kosten.

Gleichwohl die Technomanie strahlend erblühte, empfinde ich auch im Nachhinein jene Zeit meiner Diplomarbeit und meiner unmittelbar daran anschließenden Promotion als die schönste Epoche meines Wissenschaftlerlebens. Außerordentlich freundlich wurde ich in die mir bisher fremde Arbeitsgruppe aufgenommen. Der Umgang war humorvoll, geprägt von Verständnis, Kollegialität und fachlicher Aufgeschlossenheit. Es gab sogar viel zu lachen. Die Struktur der Arbeitsgruppe war stabil gewachsen und bestand aus einer ausgeglichenen Mischung jüngerer und älterer Laborantinnen, Ingenieure und Wissenschaftler. Ausländische Gäste aus Russland, Mexiko, Polen und anderen Ländern weilten oft für einige Wochen oder Monate in unserer Abteilung. Auch mit ihnen wurde ein kameradschaftlicher und achtungsvoller Umgang gepflegt. Freilich gab es auch ab und an kleine Ärgerlichkeiten und Streitigkeiten zwischen Kollegen, und ich möchte jene vergangene Zeit auch nicht mit rosafarbenen Tüchern umhüllen, aber in der Relation zu den Personen und Umständen, die mir im dann immerhin promovierten, also höher qualifizierten Zustand an anderen Instituten begegneten, strahlt diese Epoche einen hellen Glanz aus. So verwundert es auch nicht, dass ich in den fünf Jahren, in denen ich als Diplomand und Doktorand arbeitete, kaum einen Tag wegen Krankheit fehlte.

Eine meiner Hauptaufgaben bestand darin, die Extraktion der von verschiedenen Pflanzenarten aufgenommenen Arsenverbindungen und ihrer metabolischen Umwandlungsprodukte zu optimieren, um die verschiedenen chemischen Verbindungen in nachfolgenden Analysenschritten qualitativ und quantitativ zu charakterisieren. Als Kontrollwert zur Summe der Konzentrationen der extrahierten und getrennten Arsenverbindungen wurde der Gesamtarsengehalt der Pflanzenextrakte bestimmt. Massenspektrometrische und atomspektrospkopische Detektionsmethoden kamen zum Einsatz. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Untersuchung der Wirkung der Arsenaufnahme auf den pflanzlichen Zellmetabolismus mittels diverser biochemischer Laborverfahren. In diesem Zusammenhang führte ich Stickstoffgehaltsbestimmungen, Proteintrennungen und Toxizitätstests durch. Auch arbeitete ich mit stabilen Isotopen. Meine Laborarbeiten erbrachten eine große Anzahl gut auswertbarer Ergebnisse. Ich arbeitete mit Wissenschaftlern und Laboranten anderer Abteilungen des Forschungszentrums zusammen, so mit der organisch-chemischen Analytik, mit der chemischen Ökotoxikologie und mit einem biotechnologischen Institut, und nutzte deren Laborausrüstung. Dort wie auch in unserer anorganisch-chemischen Abteilung lernte ich sehr viele verschiedene Labor- und Messtechniken, die ich aus meinem Studium noch nicht kannte. Nebenbei absolvierte ich aus freiwilliger Motivation heraus ein berufsbegleitendes Aufbaustudium, wonach ich mich „Fachchemiker für Analytik und Spektroskopie“ nennen durfte und eine Urkunde mit sehr gutem Abschluss erhielt. Im Rahmen dieser in Kurse eingeteilten, zweijährigen Weiterbildung erlangte ich umfangreiche Kenntnisse über chemische und spektroskopische Analytik. Im Verlaufe des wissenschaftlichen Werdeganges gewannen Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere Englisch, an Bedeutsamkeit: man benötigte mündlich und schriftlich fließendes Englisch für den Umgang mit ausländischen Studenten und Gastwissenschaftlern, für das Lesen von Fachartikeln, den Besuch von Tagungen, für internationale Korrespondenzen, für das Verfassen eigener forschungsbasierter Veröffentlichungen sowie länderübergreifender Fachgutachten.

Doch während jener goldenen Anfangsjahre spürte ich einen ersten kalten Befristungshauch, der von den in kurze Abschnitte von ein- bis zweijähriger Dauer eingeteilten Beschäftigungsverhältnissen auf Projektbasis und der damit verbundenen hilflosen Abhängigkeit herüber wehte und mich mit meiner eigenen Unbedeutendheit in einem kühlen Luftzug umhüllte. Die Bezahlung meiner Arbeit als Doktorandin erfolgte über Projektmittel, die jeweils nur für kurze Zeiträume von ein oder zwei Jahren gewährt wurden. Darum musste ich bereits während meiner Doktorandenzeit einen dreißigseitigen Zwischenbericht samt Fortsetzungsantrag für das Weiterlaufen meiner Promotionsfinanzierung zusammenschreiben, was viel Zeit und Kraft kostete, zumal ich auch ein unerfahrener Antragsneuling war. Nachdem ich die Pamphlete endlich fertiggebastelt hatte und bei der zuständigen Stelle am Forschungszentrum einreichte, wartete ich viele Wochen lang auf eine Antwort. Ich befand mich während dieser Zeit mitten in einer mühseligen, aufwändigen und kräftezehrenden Forschungsarbeit und verfügte über keine zusätzlichen Reserven hinsichtlich des Erstellens von Fortführungsanträgen. Mehrmals fragte ich bei unserem Abteilungsleiter nach, was denn aus meinem Antrag geworden war. Immerhin ging es um die Weiterfinanzierung meiner Arbeitsstelle und damit auch um den Fortgang meiner Promotion. Es schien mir, als machte es dem Abteilungsleiter richtig Spaß, mich in meiner Hilflosigkeit zappeln zu sehen. Irgendwann, als mein Arbeitsvertrag sich schon fast seinem Ende zuneigte, erreichte mich eine Meldung, dass es weiterginge mit dem Projekt. Die sich einstellende Erleichterung schaffte es nicht, die über Wochen bis Monate aufgebaute Anspannung aufzulösen, so sehr hatten sich meine Nerven verkrampft. Endlich rückte der auf unbefristetem Posten sitzende Abteilungsleiter mit dem Grund für die lange Dauer der Entscheidung über meinen Fortsetzungsantrag heraus: die Papiere hätten inmitten eines großen Stapels auf dem Schreibtisch eines ebenfalls durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag ausgezeichneten Gutachters und wichtigen Verantwortlichen der Projektleitung gelegen und wären ihm dadurch aus den Augen entschwunden. Eine große Enttäuschung befiel mich. Gleichzeitig bemerkte ich zum ersten Mal in meiner berufsmäßigen wissenschaftlichen Tätigkeit, dass man als junger, hochmotivierter und fleißiger Wissenschaftler nicht gebraucht wurde, sondern sich in einem ständigen Kampf ums Weitermachendürfen befindet. Allzu deutlich spürte ich, wie unwichtig man als befristeter Mitarbeiter in den Augen der Vorgesetzten galt, die das große Glück hatten, zu einer Zeit am Forschungszentrum eingestellt worden zu sein, als noch unbefristete Arbeitsverträge ausgestellt worden waren. Mein Pech, zu spät für diesen Luxus geboren worden zu sein, ließ mich in all den späteren Jahren nie mehr los.

In der ostdeutschen DDR-Vergangenheit gab es im Gegensatz zu heute weder befristet angestellte noch arbeitslose Naturwissenschaftler, deren fundierte Ausbildung nicht gebraucht wurde. Zur Sicherung sowohl einer soliden Studentenbetreuung als auch eines kontinuierlichen Forschungsfortganges gab es den sogenannten akademischen Mittelbau. Dieser setzte sich aus promovierten Wissenschaftlern zusammen, die keine Professur innehatten, aber einer solchen zugeordnet waren. Nach der Wiedervereinigung fiel dieser Berufsstand nach und nach komplett weg, während die jahrelange Ausbildung dafür bestehen blieb. Hinsichtlich der Aufnahme eines Hochschulstudiums existierte in der DDR eine wesentlich strengere Auswahl geeigneter Kandidaten, wodurch von vornherein weniger Personen in eine Wissenschaftlerlaufbahn eintraten. Dagegen quillt aus dem heute vorherrschenden Massenbetrieb an den Universitäten eine alljährliche Absolventenschwemme mit ausnivelliertem Notendurchschnitt hervor. Die letzten unbefristeten Wissenschaftleranstellungen an staatlichen Einrichtungen erfolgten in den ersten Nachwendejahren. In jener Zeit waren allerdings auch sehr viele wissenschaftliche Mitarbeiter aus ihren DDR-Arbeitsverhältnissen gekündigt und in die Arbeitslosigkeit entlassen worden.

Während meiner im Verhältnis zu den später folgenden Erlebnissen als promovierter Wissenschaftler als beinahe rosig einzuschätzenden Promotionszeit erlebte ich auch bereits den ersten großen Einbruch meiner naturwissenschaftlichen Arbeitsmotivation. Ein zweiwöchiger Sommerurlaub im einsamen Hochschwarzwald hatte mich unverhofft in die mystischen Erlebnisse meiner Jugendzeit zurückversetzt. Wochenlang fand ich nicht in die gerätebesetzte Arbeitswelt zurück. Ich schleppte mich durch Flure und Labore. Meine Seele war auf den spätsommerlichen Hochflächen des Gebirges zurück geblieben. Sie folgte mir nicht an die Computer und Geräte. Dort brauchte ich sie auch nicht, wohl aber zum Leben. Plötzlich schlichen sich seltsame Angstgefühle in meinen Alltag ein, die ich zuvor als Schüler und Student nie gekannt hatte. Auf dem Heimweg von der Arbeit im Forschungszentrum zitterte ich so stark, dass ich mein Fahrrad schieben musste. Regelmäßige, beinahe täglich auftretende, von starkem Zittern begleitete Schwindelanfälle hinderten mich fortan am Autofahren.

Als sich meine Promotionszeit ihrem Ende neigte und ich nach neuen, verheißungsvollen Ufern Ausschau hielt, glaubte ich, die wissenschaftliche Welt würde überall in einer gewissen Ordnung ruhen. Auch die anderen Abteilungen im Forschungszentrum, in denen ich während meiner Doktorandenzeit zwecks fachlicher Zusammenarbeit und Gerätenutzung oft verweilte, vermittelten eine ähnliche gesunde Harmonie, weshalb man auch nicht schlussfolgern kann, dass die aus heutiger Sicht so hoch geschätzte Arbeitsatmosphäre eine glückliche Ausnahme im Heimatinstitut meiner Diplom- und Promotionszeit darstellte. Da ich auch als Studentin, wie zuvor schon erwähnt, als Hilfskraft im Physikalisch-chemischen Institut eine ähnlich warme, beinahe herzliche Umgebung erlebte, wage ich die Behauptung aufzustellen, dass es einen direkten Zusammenhang gibt, der zum Einen in einer Generationenfrage und zum Anderen in einer Herkunftsfrage gründet. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen davon, positive wie meinen herzensguten, stillen Botanikprofessor oder eine hilfsbereite Nachwuchsgruppenleiterin aus meiner Postdoktorandenphase, welche sich aus weiter westlich gelegenen Gefilden in eine sächsische Großstadt verirrten, aber auch negative, wie den aus einer ostdeutschen Großstadt entstammenden Initiator meiner Habilitation und einige seiner Untergebenen. Ich gewinne auch immer mehr den Eindruck, dass das Herkunftskriterium mehr und mehr verwischt, weil die Jüngeren in die verdorbene Atmosphäre hineinwachsen, wodurch allein das Generationenkriterium aufrechtzuerhalten ist. Erst kürzlich klagte einer meiner gleichaltrigen Leidensgenossen über den Verlust der älteren Generation von Wissenschaftlern, vor denen man noch Respekt und Achtung empfand, und mit denen man einen menschlichen Umgang pflegen durfte. Ich selbst hatte das große Glück, eine ganze Reihe dieser älteren Wissenschaftler als Hochschullehrer während meines Studiums und als Betreuer während meiner Promotion erlebt haben zu dürfen. Mein soeben erwähnter gleichaltriger Kollege äußerte sich im persönlichen Gespräch ganz emotionell: „Die meisten der heutigen Professoren sind menschliche Totalversager und Sozialkrüppel.“ Diese Einschätzung, der ich aus erschreckender eigener Erfahrung nicht widersprechen konnte, wirft die Frage auf, wieso und warum die Schere zwischen fachlicher Eignung und menschlichen Qualitäten so weit auseinander klafft. Es liegt sehr nahe, einen Zusammenhang zu ziehen zur inhaltlichen Entwicklung der Naturwissenschaften. Der zwischenmenschliche Umgang in den naturwissenschaftlichen Instituten spiegelt die wissenschaftliche Methodik und ihre gnadenlose Respektlosigkeit vor der Natur und allem Lebendigen wider. „Wie wir mit der Mitwelt umgehen, so auch mit den Mitmenschen; es hat alles seine Logik.“ [5] „Am Ort der Zerstörung der inneren Natur des Menschen ist zugleich der Ursprung auch für die Verwüstung der äußeren Natur zu bemerken.“ [6] „Umweltvernichtung und `Dekadenz` der Kultur gehen Hand in Hand.“ [12] Und so spiegeln die sozialen Strukturen im Inneren der naturwissenschaftlichen Maschinerie die durch sie bedingte Zerstörung und Ignoranz im Äußeren, der „Um“-Welt, wieder. Außerdem bleibt in diesem Zusammenhang nach wie vor auffällig, dass alle Positionen emeritierter Professoren an den Chemischen und Biologischen Fakultäten der drei ostdeutschen Universitäten, an denen ich als Student oder Mitarbeiter wirkte, ausnahmslos von jüngeren Professoren westlicher Herkunft besetzt worden sind. Mittlerweile sind alle älteren Professoren im Ruhestand gelandet, weshalb die mir bekannte Zahl westdeutscher Nachfolger groß ist. Nun gibt es die liebenswürdigsten, offensten und zugänglichsten Mitmenschen in den westlichen Teilen Deutschlands und ich durfte etliche von ihnen dort kennen lernen und Freundschaften mit ihnen schließen. Findet also im Zuge der Wanderungsbewegung gen Osten eine ominöse, sich im Verhalten niederschlagende Selektion statt? Aus den westlichen Teilen Deutschlands stammende Professoren, welche die Lehrstühle im Osten besetzten, trugen eine uns Ostdeutschen fremdartige Mentalität in die Institute herein, als deren herausstechendste Merkmale häufig eine ungewohnte Unnahbarkeit und eine vorgespielte Exklusivität zu nennen wären. Es gab, wie bereits erwähnt, Ausnahmen davon, ebenso umgekehrt; das heißt, es gab selbstverständlich auch Professoren und andere Kollegen ostdeutscher Herkunft, mit denen sich der tägliche Umgang schwierig gestaltete. Gegenüber den ausschließlich aus ostdeutschen Wissenschaftlern und Technikern zusammengesetzten Arbeitsgruppen, von deren Art während meiner Studentenzeit wie auch zu Beginn meiner wissenschaftlichen Berufslaufbahn noch Restbestände existierten, zerstörten die westdeutschen Kollegen, insbesondere die Professoren und Arbeitsgruppenleiter, und die von ihnen importierten Arbeitsstrukturen in erster Linie den Zusammenhalt, die Lockerheit und die offene Diskussionsbereitschaft zwischen den Kollegen. Weiterhin beobachtete ich einen Einbruch des Mitgefühls, der Kameradschaft und des Humors zugunsten von Selbstdarstellung, Konkurrenzgebahren und einem ausgeprägten, oftmals hintergrundlosen „Wichtigtuen“. Individualistisches Konkurrenzstreben schlug fortan den Takt der immer eintöniger werdenden Institutsmelodien. Hinzu gesellte sich der Umstand, dass bald die Kurzzeitbefristungen der Arbeitsverträge in den Wissenschaftsbetrieb Einzug hielten, was die Konkurrenzsituation weiter verschärfte und letzte Funken von Solidarität und Zusammenhalt in der erkalteten Asche der DDR-Vergangenheit erstickte. Wie bereits erwähnt, kannte die Organisation der Universitäten und Forschungszentren des gestürzten Staates befristete Arbeitsverträge nicht. Der sogenannte akademische Mittelbau, wozu in erster Linie promovierte Wissenschaftler gehörten, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis standen, ohne den Professorenstand erreicht zu haben, und Lehr-, Forschungs- und Verwaltungsaufgaben übernahmen, wurde nach dem Untergang der DDR nach und nach abgeschafft. Und es waren nicht die menschlichen und fachlichen Spitzenreiter, die ihre Chance wahrnahmen, eine gute Position im Osten Deutschlands zu besetzen, sondern Wissenschaftler „zweiter und dritter Klasse“, wie einer meiner älteren Kollegen die Lage charakterisierte.

Eine weitere Erklärung für die Besetzung von Professorenstellen durch peinliche Charaktere liest man bei H.A. Pestalozzi: „In hierarchischen Strukturen können nur jene nach oben kommen, die 100prozentig konform sind. Wer neue Ideen hat, wer sich etwas anderes vorstellen kann als gerade das, was ist, kann gar keine Karriere machen. Er eckt mit seinen neuen Ideen unverzüglich an. Er ist für die Vorgesetzten unbequem. Er wird stillgelegt. Nur wer sich kritiklos in die bestehenden Strukturen einfügt, und nur wer mit der vorherrschenden Meinung und Konzeption restlos einig geht, kann die Erfolgsleiter hochklettern. Mit dem Resultat, dass in dem Moment, wo er selber oben ist, ihm nichts anderes übrigbleibt, als die Strukturen noch mehr abzuschotten, weil sonst er sich durch Mitarbeiter mit neuen Ideen gefährdet fühlen würde.“ [1]

Nach, wie man sagt, „Auslaufen“ meiner über ein zeitlich befristetes Projekt bezahlten Promotionsstelle wollte einer der Arbeitsgruppenleiter mich gern behalten, aber es existierte keine Anstellungsmöglichkeit mehr für mich. Auch ich wäre gern geblieben, aber es blieb mir genau wie ganzen Generationen von Doktoranden nichts weiter übrig als das Heimatinstitut trotz aller in einer harten fachlich-experimentellen Arbeit erworbenen Erfahrungen und Ideen zu verlassen. Ich verfügte sowohl über einen sehr guten Diplom- als auch Promotionsabschluss, hatte meine ersten Fachveröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften herausgebracht und war gegenüber andersartig ausgerichteten Arbeitsgebieten aufgeschlossen, so dass nur zwei Bewerbungen auf im Internet entdeckte Stellenausschreibungen für Einladungen zu Vorstellungsvorträgen genügten, um zwei Stellenzusagen zu erhalten. Somit war ich einem Bewerbungsmarathon entgangen und musste mich auch nur für einen Monat arbeitslos melden. Wie schrecklich erging es dagegen meiner Studienfreundin, die mit einem Stipendium promoviert hatte und als junge Doktorin mit Ende 20 ein ganzes Jahr daheim bei ihren Eltern ohne Arbeitslosengeld (was einem nach einem Stipendium nicht zustand, weil man keine Arbeitslosenversicherung bezahlte) verbrachte. Ich konnte mich nun zwischen zwei, wie es im Ausschreibungstext hieß, „zunächst auf zwei bzw. drei Jahre befristeten“ sogenannten Postdoc-Stellen entscheiden. Die Bezeichnung „Postdoc“ stammt aus dem englischen Sprachraum und bedeutet „Nachdoktorand“, meint also die sich an die Promotion, mit deren erfolgreichen Beendigung man den Doktorgrad erwirbt, anschließende berufliche Epoche einer wissenschaftlichen Laufbahn. Zum damaligen Zeitpunkt begriff ich längst noch nicht, dass unter dem Begriff „Postdoktorand“ all jene jungen Wissenschaftler zusammengefasst wurden, die den Doktorgrad erworben hatten und fortan von einer Einjahres- zur nächsten und übernächsten Halbjahres- oder Zweijahresbefristung purzelten, bis sie schließlich ganz aus dem System entsorgt wurden. Im Gegenteil: ich war stolz darauf, nach dem Abschluss meiner Promotion zwischen zwei solchen Postdoc-Stellen entscheiden zu dürfen. Diese Wahlmöglichkeit genügte mir völlig, da mich die beiden damit verknüpften Forschungsvorhaben thematisch ansprachen. Pflanzen waren wieder dabei und chemische Analytik. Letztlich entschied ich mich für die näher an meinem Heimatort gelegene Arbeitsstelle, für welche ich zwar eine einstündige tägliche Fahrtzeit für eine Strecke in Kauf nehmen musste, aber ein komplettes Umsiedeln vermeiden konnte. Schließlich lebte ich seit vielen Jahren in einer festen Partnerschaft. Da mir mein Freund und unsere gemeinsame Lebensgestaltung sehr viel bedeuteten, hätte ich wohl eine räumliche Trennung, die nur in sechs- bis siebenstündiger Fahrzeit zu überwinden gewesen wäre, nicht lange ausgehalten. Aber eine solche Einstellung ist nicht erwünscht für einen jungen Naturwissenschaftler, der sich möglichst weltweit auf karrierefördernde Stellenausschreibungen bewerben soll. Eine ehemalige Kollegin beispielsweise, welche sich ebenso wie ich während der Promotion in einem Spezialthema verfitzen musste, zog jahrelang befristeten Stellen in ganz Deutschland hinterher, bis sie auf einer unbefristeten Position in einem Amt landete, allerdings in einer Gegend, die ihr aufgrund extremer Überindustrialisierung überhaupt nicht behagte. Der Lebensweg junger und mittlerweile auch älterer Wissenschaftler folgt stets dem gleichen Muster: das fachliche, hochspezifische Thema der Promotion zwingt zur Festlegung der weiteren Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten; irgendwann und irgendwo und wenn überhaupt ist dann mal eine Stelle ausgeschrieben, die auf das „eigene Profil“ (wie es so schön heißt) passt. Da muss man dann hin, egal, woher man kommt, wohin man möchte und wo man sich vielleicht wohl fühlen könnte.

Wehe, man empfinde eine gewisse Heimatverbundenheit. Muss man ja auch nicht, denn die Naturwissenschaft mit ihrer heiß geliebten Schwester Technik zermalmt ohnehin all das, was Heimat einmal bedeutet hat. Das fängt bei der natürlichen Umgebung an, womit ich Bäume, Wiesen, wilde Tiere, aber auch alte, sich in die Landschaft einfügende Häuser und Dörfer meine, und hört bei der Unterhaltungselektronik auf, welche die Menschen an Bildschirme aller Art und Größe fesselt. Fernsehen, Computer-, Handy- und Smartphone-„Tippsen“, mit scheppernden Stöpseln in den Ohren, kann der moderne Mensch überall. Dazu braucht er keine Heimat. Schöne Landschaften kann er sich auf seinen diversen Bildschirmen anschauen – wozu braucht er sie dann vor der Tür? „Je mehr es einen Rückzug der Menschen in eine minderwertige geistige Unterhaltungsdimension gibt, umso weniger wird man noch die verbliebenen Reste der Natur beachten.“ [3] In ländlichen Gegenden, in denen noch einige alte Bauwerke erhalten geblieben sind, fällt jedem aufmerksamen Betrachter auf, wie sich alte Höfe harmonisch in die Landschaft einfügen, wogegen in jüngerer Zeit oder ganz neu erbaute Wohnhäuser wie aufgesetzt wirken, ohne Beziehung zum Untergrund und zum Umland. Dieser Eindruck spiegelt die verloren gegangene Naturverbundenheit vergangener kleinbäuerlich geprägter Lebensformen wider. Auch an der Architektur und Bauweise moderner Häuser erkennt man den Geist der naturwissenschaftlich-technischen Epoche. Die neuzeitlichen Massenbehausungen dienen bestenfalls als „Ställe für Batterien von Nutzmenschen.“ [10]