Als der Krieg nach Hause kam - Moritz Hoffmann - E-Book

Als der Krieg nach Hause kam E-Book

Moritz Hoffmann

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Beschreibung

Siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schildert der erfolgreiche Geschichtsblogger Moritz Hoffmann eindrucksvoll die letzten Kriegsmonate – in diesem Buch und parallel dazu auf Twitter. Jeder Eintrag beruht auf historischen Dokumenten, Tagebüchern und Archivfunden. Das Buch ergänzt die kurzen Tweets anschaulich, ordnet sie in ihre geschichtlichen Zusammenhänge ein und zeigt vertiefend die Hintergründe des Kriegsalltags. Ob in Berlin, Leipzig, im Rheinland oder in Stuttgart: Wir erfahren hautnah, wie der Einzelne den Nazi-Terror, den Hunger, die Unsicherheit, die verlorene Kindheit oder den Bombenkrieg erlebt hat. So wird Geschichte lebendig! Der preisgekrönte Blogger erzählt lebendig erfahrbare Geschichte spannend und faktenkundig, mit dem Fokus auf regionale und individuelle Bezüge. 

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Das Buch

Als der Krieg nach Hause kam ist mehr als ein Buch. Es erzählt zum einen die bewegende Alltagsgeschichte der letzten Kriegsmonate des Zweiten Weltkriegs, es ist aber auch Teil eines Twitter-Projekts, das jene Zeit ab der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 bis zur Kapitulationserklärung Deutschlands im Mai desselben Jahres verfolgt.

Das Buch nimmt Bezug auf die live getwitterten Nachrichten, mit denen der Historiker Moritz Hoffmann und sein preisgekröntes Blogger-Team unter dem Twitter-Account @DigitalPast – Heute vor 70 Jahren davon erzählen, wie das Kriegsende immer wieder aufs Neue den Alltag in einen Kampf ums Überleben verwandelte. Was aßen die Menschen damals, und hatten sie überhaupt etwas zu essen? Wie sah der Schulbesuch für die Kinder aus? Ging man noch ins Kino, und wenn ja, welche Filme konnte man sich ansehen? Wie erlebte die Zivilbevölkerung den Bombenkrieg und den Vormarsch der Alliierten im Westen, die Ankunft der Rotarmisten im Osten des Landes? Lebensnah erzählt Als der Krieg nach Hause kam von Frauen und Kindern, jungen Soldaten, Zwangsarbeitern und Deserteuren, die die dramatischen Ereignisse des Kriegsendes zu Hause erlebt und ­erlitten haben.

Der Autor

Moritz Hoffmann, geboren 1984, studierte Geschichte und Musikwissenschaft und promoviert aktuell an der Professur für Public History in Heidelberg. Seit 2008 beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten der Online-Geschichtsvermittlung. Zuletzt hielt der mehrfach preisgekrönte Blogger die Lehrveranstaltung »Public History im Internet« an der Universität Heidelberg.

Sein eigener geschichtsbezogener Blog ist zu finden unter: www.hellojed.de.

Moritz Hoffmann

mit Christian Gieseke, Charlotte Jahnz, Petra Tabarelli, Michael Schmalenstroer

Als der Krieg nach Hause kam

Heute vor 70 Jahren: Chronik des Kriegsendes in Deutschland

Propyläen

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Besuchen Sie auch das Twitterprojekt:

@DigitalPast – Heute vor 70 Jahren

www.twitter.com/DigitalPast

ISBN 978-3-8437-1062-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Lektorat: Andy Hahnemann

Titelfoto: © John Florea/The LIFE Picture Collection/Getty Images

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

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Als der Kriegnach Hause kam

Wir Deutsche müssen mit ansehen, dass deutsche Gefangene durch die Stadt marschieren. Von morgens 6 Uhr bis 7 Uhr abends haben wir Ausgang. Man meint, es müsse nun alles aufhören, keiner hat mehr Hoffnung. Vor einem Anschlag standen ein paar Leute, zwei davon waren freigelassene politische Gefangene. Sie beschimpften den Führer und sagten unglaubliche Sachen. Sie redeten von Lagern. Adolf Hitler wäre ein Massenmörder!

Ruth B. aus dem schwäbischen Ludwigsburg war gerade einmal 15 Jahre alt, als ihr gesamtes Weltbild zusammenbrach. Bis zum Schluss hatte sie an den »Führer«, an das »Tausendjährige Reich« und den »Endsieg« geglaubt, und von einem auf den anderen Tag war das alles vorbei. Plötzlich sollten die Deutschen ein Volk von Verbrechern sein?

Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs waren gekennzeichnet von der Auflösung aller etablierten Strukturen, Kommunikationswege, der gesellschaftlichen Ordnung und der allgemeinen Moral. In dieser Zeit spiegelt sich die Entwicklung des schlimmsten Kapitels der deutschen Geschichte noch einmal in konzentrierter Form. Das letzte Aufbäumen des nationalsozialistischen Staates und seiner »Volksgemeinschaft« führte zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu weiteren Massenmorden und zur sinnlosen Verlängerung des ohnehin schon verlorenen Weltkriegs.

Der Krieg aus der Luft blieb anonym, die Feinde gesichtslos.

Gleichzeitig kam der Krieg erstmals mit voller Wucht nach Hause. Nach dem Überfall auf Polen und der blitzartigen Eroberung der Niederlande, Belgiens und Frankreichs hatte sich die Front und damit das Kriegsgeschehen immer weiter von den Grenzen des Deutschen Reiches weg verlagert, nach Afrika oder tief hinein in die Sowjetunion. Es waren die Bombenangriffe der britischen Luftwaffe und der U. S. Army Air Force, die den Krieg zurück ins Land brachten, aber der Krieg aus der Luft blieb anonym, die Feinde gesichtslos. Erst ab dem 21. Oktober 1944, als die amerikanischen Truppen Aachen besetzten, wurde das Deutsche Reich zur Kampfzone. Über den Rhein und die Oder gelangten die Alliierten von Westen und Osten tief in das Land, das den Krieg entfesselt hatte, und trafen dort auf Menschen, die zwölf Jahre unter der nationalsozialistischen Diktatur gelitten oder von ihr profitiert hatten. Die in der Geschichte beispiellose Verfolgung von Minderheiten, insbesondere von Juden, aber auch von ­Homosexuellen, Sinti und Roma sowie Menschen mit Behinderung war am Schluss in einen vollkommenen Zivilisationsbruch gemündet, den Holocaust. Viele Deutsche hatten die Ausgrenzung ihrer Nachbarn mit Genugtuung aufgenommen, sie ignoriert oder zumindest nichts dagegen unternommen. Sie hatten der offiziellen Propaganda nur allzu bereitwillig Glauben geschenkt, um sich nicht mit der Möglichkeit eines millionenfachen Massenmordes auseinandersetzen zu müssen. Ganz gleich, wann oder ob sie von der Existenz der Vernichtungslager erfuhren, die große Mehrzahl der Deutschen wurde in der Diktatur zu Unterlassungstätern. Als solche mussten sie in den letzten Kriegsmonaten beinahe wehrlos die Ankunft der Alliierten erwarten und ihr Schicksal in die Hände der Besatzer legen.

Die Geschichte dieser Zeit ist schon oft geschrieben worden, aber meistens ging es dabei um die »großen Männer« und die »weltbewegenden Ereignisse«. Von ihnen soll dieses Buch nur am Rande handeln. Die Geschichte ist voller Menschen, die den Zeitläuften unterworfen waren, die zu Opfern und Tätern wurden, die in ihren eigenen Lebenswelten Geschichte machten, ohne dass sie Geschichte schrieben. Dass die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs nun über 70 Jahre zurückliegen, bedeutet auch, dass die Epoche der Zeitzeugen ihrem Ende entgegengeht und niemand mehr aus eigener Erinnerung aus dieser Zeit berichten wird. Die Alltagsdimen­sion des Krieges droht aus dem Blick zu geraten. Und dabei sind es besonders die lebensweltlichen Aspekte, die ganz alltäglichen Ängste und Hoffnungen, Bedürfnisse und Abneigungen, die uns, als Nachgeborene, mit den vorangehenden Generationen verbinden.

Was aßen die Menschen damals, und hatten sie überhaupt etwas zu essen? Wie sah der Schulbesuch für die Kinder aus? Ging man noch ins Kino, und wenn ja, welche Filme konnte man sich ansehen? In der absoluten Ausnahmesituation der letzten Kriegsmonate gab es auch einen Ausnahmealltag, der die Männer, Frauen und Kinder im Reich forderte, an ihre Grenzen trieb und darüber hinaus. Es ist diese Geschichte, die wir hier erzählen möchten.

»Als der Krieg nach Hause kam« ist ein Experiment.

Als der Krieg nach Hause kam ist ein Experiment. Das Buch ist eine eigenständige Alltagsgeschichte der letzten Kriegsmonate, aber es ist auch Teil eines Public-History-Projekts, das im Januar 2015 beginnt und im Mai desselben Jahres endet. Es nimmt Bezug auf die Tweets, mit denen wir unter unserem Twitter-Account @DigitalPast – Heute vor 70 Jahren ein ereignisgeschichtliches Panorama der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in Europa zeichnen, indem wir das Ende der faschistischen Diktatur in Deutschland in einem Gegenwartsmedium »reinszenieren«. Die Tweets werden dabei der Forschungsliteratur und den Quellen entnommen, wir schreiben keinen digitalen Histo­rienroman. Mit dem Twitterstream möchten wir die kleinen Ereignissteine der Alltagsgeschichte jener Zeit zu einem besonders anschaulichen Mosaik zusammenfügen. Aber Geschichte ist mehr als die Abfolge ihrer Ereignisse, sie kann sich nicht darauf beschränken, zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen«, wie der berühmte deutsche Historiker Leopold von Ranke es 1885 ausgedrückt hatte. Geschichte braucht Kontext, sie braucht Vorgeschichte und Nachbetrachtung, denn kein menschliches Ereignis passiert im vergangenheitslosen Raum. Dieses Buch soll das Mosaik vervollständigen.

Als der Krieg nach Hause kam beginnt mit der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Am 27. Januar 1945 traf die Rote Armee an dem Ort ein, an dem weit über eine Million Menschen erst durch Willkür und Sklavenarbeit, dann durch den industriell und systematisch durchgeführten Völkermord getötet worden waren. Auschwitz wurde zum Symbol für den Holocaust und die Verbrechen, die im Namen der Deutschen im Dritten Reich begangen wurden.

In den Wochen nach der Befreiung von Auschwitz kam der Krieg ins Reich. Und weil gerade auch die Zivilbevölkerung unter Kriegen besonders leidet, werden die Deutschen in diesem Buch häufig ihre Geschichte als die eines Opfers erzählen. Ob im Feuersturm von Dresden, bei Plünderungen oder Massenvergewaltigungen – In den letzten Monaten des Krieges erlebten sich die Deutschen vornehmlich als Opfer. Auch dies ist eine Geschichte, die erzählt zu werden verdient. Dabei soll aber nie vergessen werden, dass die Welt 1939 von Deutschland in Brand gesetzt wurde und dass die meisten Deutschen dem Diktator, der das Feuer gelegt hatte, begeistert zugejubelt hatten.

Die Beschäftigung mit jenen letzten Monaten des Krieges konfrontiert uns mit den schlimmsten Dingen, die Menschen zu tun imstande sind. Die Erschießungen, Vergasungen, die Sklavenarbeit und die Vergewaltigungen sind jedoch Teil unserer gemeinsamen Geschichte, und wir sind der festen Überzeugung, dass ein Verständnis der folgenden Jahrzehnte und sogar der Gegenwart zumindest zum Teil davon abhängt, den Alltag und die Tragik der Kriegswirklichkeit in all ihren Facetten zu begreifen.

Die militärische Wende

Seit dem Winter 1942/43 befand sich die deutsche Wehrmacht in Europa in der Defensive. Zwar kam es immer wieder zu kurzlebigen erfolgreichen Angriffen, doch im Großen und Ganzen bewegten sich die Fronten wieder zurück in Richtung des Altreiches. Im Osten hatte die vernichtende Niederlage von Stalingrad die psychologische Wende im Krieg einge­leitet. Die Zweifel am sicher geglaubten »Endsieg« des Deutschen Reiches wurden immer stärker und konnten auch durch den von Propagandaminister Joseph Goebbels in der Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 ausgerufenen »totalen Krieg« nicht mehr ausgeräumt werden. Die Wehrmacht an der Ostfront verlor immer weiter Boden, der Nachschub aus dem Reich kam ins Stocken. Der Roten Armee gelangen mehrere entscheidende Offensiven, sodass sie im Frühsommer 1944 auf breiter Front an der russischen Grenze stand. Zur gleichen Zeit wagten die Alliierten im Westen am 6. Juni die Landung von fast 160 000 Soldaten an den Stränden der Normandie. Am D-Day wurde innerhalb weniger Stunden eine neue Front im Weltkrieg errichtet. Obwohl die Truppen langsamer vorankamen als geplant, wurde schon Mitte August Paris kampflos eingenommen. Der Weigerung des deutschen Stadtkommandanten Dietrich von Choltitz ist es zu verdanken, dass die französische Hauptstadt nicht wie von Hitler befohlen vor dem Rückzug vollständig zerstört wurde. Die Wehrmacht zog sich nach Belgien und in die Niederlande in die Nähe des Westwalls zurück, jener über 600 Kilometer langen, aus Bunkern, Gräben und Panzersperren bestehenden Festungsanlage, die ab 1938 unter lautstarkem Propa­gandagetöse errichtet worden war. Anfang September nahmen die britischen Truppen Lille, Brüssel und Antwerpen ein, der Sieg im Westen schien nahe. Doch bis zum Oktober hatte das Deutsche Reich seinen Truppen den dringend nötigen Nachschub organisiert und an die Front gebracht, so dass die Verteidigungslinien stabilisiert werden konnten. Gleichzeitig begannen die Planungen einer massiven Gegenoffensive, mit der die alliierten Truppen wieder nach Frankreich zurückgedrängt werden sollten.

Am 6. Juni 1944 landeten fast 160 000 Soldaten an den Stränden der Normandie.

Am 21. Oktober 1944 nahmen US-Soldaten mit Aachen die erste Stadt auf deutschem Boden ein, was weniger militärisch als propagandistisch relevant war. Aachen hatte keine nennenswerten kriegswichtigen Industrien oder Einrichtungen, war aber als mittelalterliche Kaiserstadt ein Symbol der deutschen Geschichte. In der Schlacht von Aachen standen we­niger als 20 000 deutsche Soldaten und Volkssturmmänner 100 000 GIs gegenüber, was verdeutlicht, wie angespannt die militärische Lage an der Westfront mittlerweile war. Hitler und seine Generäle gaben sich jedoch immer noch der Illusion hin, dass eine bedeutsame Niederlage der Westalliierten zu ihrem Austritt aus dem Krieg führen würde. In der Ardennenoffensive ab dem 16. Dezember schien das militärische Kalkül zunächst aufzugehen: Die Alliierten wurden von der plötzlichen Offensive überrascht und im starken Schneetreiben, das ihre Lufthoheit bedeutungslos machte, empfindlich getroffen. Erst ab Weihnachten konn­te die deutsche Offensive zum Stillstand gebracht werden, weshalb die deutsche Luftwaffe mit der »Opera­tion Bodenplatte« begann, einem unter höchster Geheimhaltung durchgeführten Luftangriff auf alliierte Flugplätze in den Niederlanden und Belgien. Durch die Bombardierungen wurden doppelt so viele alliierte Flugzeuge zerstört wie deutsche Flieger von der Flak abgeschossen wurden, aber im Gegensatz zum Kriegsgegner konnte die Luftwaffe ihre Maschinen nicht einfach und schnell ersetzen. Das Deutsche Reich war am Ende seiner Kräfte und die Ardennenoffensive so schnell vorüber wie sie begonnen hatte. Ende Januar waren sämtliche gewonnenen Gebiete wieder unter alliierter Kontrolle. Den Westalliierten spielte es außerdem in die Hände, dass immer mehr Wehrmachttruppen an die Ostfront ver­lagert wurden, um gegen die Rote Armee zu kämpfen, in den folgenden Wochen kamen sie immer leichter voran. Im schnellen Ablauf eroberten sie den »Brückenkopf Elsass« und die Eifel und erreichten am 7. März den Rhein bei Remagen. Die dortige Ludendorff-Brücke war bei der Ankunft im Gegensatz zu den meisten anderen Rheinbrücken unzerstört und überstand vorerst auch einen Sprengversuch durch die deutschen Truppen. Innerhalb eines Tages überquerten in Remagen bereits 8000 amerikanische Soldaten den Fluss, der von der Wehrmacht eigentlich als Verteidigungslinie eingeplant gewesen war.

Mit der Ardennenoffensive schien sich das Blatt noch einmal zu wenden.

Am 17. März schließlich stürzte die Brücke doch noch ein, bis dahin hatten aber bereits 18 Regimenter über den Fluss gesetzt und behelfsmäßige Pontonbrücken errichtet. Mit dem Rhein fiel die letzte entscheidende Schranke – der Vormarsch auf das Reichsinnere konnte beginnen. Am 23. März überquerten amerikanische Truppen den Rhein südlich von Mainz, am Niederrhein landeten Tausende britische, ame­rikanische und kanadische Truppen mit Fallschirmen und Lastenseglern in der Nähe von Wesel. Eine Woche später konnten die Alliierten so von Norden und Süden das Ruhrgebiet erreichen und 300 000 deutsche Soldaten im »Ruhrkessel« einschließen, der am 18. April durch die Gefangennahme der Wehrmachttruppen aufgelöst wurde. Wenige Tage später drangen die US-Truppen in Süddeutschland ins Allgäu und schließlich Richtung München vor, wo sie am 29. April das KZ Dachau befreiten.

Unterdessen hatte die Rote Armee in der Nähe von Minsk Ende Juni 1944 die deutsche Heeresgruppe Mitte vollständig geschlagen und rückte bis zur Grenze Ostpreußens vor, eroberte Galizien, Lwiw und Sandomierz und stand damit am Ufer der Weichsel. Dort errichtete sie in den folgenden vier Monaten einen befestigten Brückenkopf, drang aber vorerst nicht weiter vor. Am 1. August wagte die Polnische Heimatarmee den Warschauer Aufstand, der von den deutschen Truppen gewaltsam niedergeschlagen wurde und fast 250 000 Todesopfer forderte. Die Hoffnung, dass die Sowjetarmee den Aufständischen zu Hilfe kommen würde, erfüllte sich nicht. Erst am 17. Januar wurde die Stadt im Zuge der neuen Offensive in der »Schlacht um Ostpreußen« befreit, zehn Tage später erreichte die Rote Armee Auschwitz und mit der Stadt Küstrin auch die Oder. Damit stand sie nur noch 80 Kilometer von Berlin entfernt. Im Februar eroberte die Rote Armee Schlesien und Pommern endgültig, im März begann sie mit der Einnahme Österreichs. Das Deutsche Reich wurde nun von allen Seiten angegriffen, die Wehrmacht konnte kaum mehr tun, als die unaufhaltsame Niederlage noch zu ver­zögern. Am 25. April 1945 trafen vier amerikanische Aufklärungssoldaten am Ostufer der Elbe in Lorenzkirch auf den russischen Oberstleutnant Alexander Gardiev.

Der historische Moment wurde nicht auf Fotografien festgehalten, denn er war für eine festliche Aufnahme kaum geeignet. Zuvor hatte die Wehrmacht eine Pontonbrücke samt der sie überquerenden Flüchtlinge in die Luft gesprengt, zudem war die Stadt tagelangem sowjetischem Artilleriefeuer ausgesetzt. An der Stelle, an der sich die Alliierten aus West und Ost erstmals begegneten, konnte man den Boden vor lauter Leichen kaum sehen. Der Fototermin, der die Welt über das nahende Kriegsende informierte, wurde am darauffolgenden Tag in Torgau nachgeholt.

Vorbei war der Krieg allerdings noch nicht. Die letzten deutschen Truppen waren in zwei Teile gespalten, einer im Süden in Bayern und Tirol, einer im Norden von Bremen über Hamburg bis Berlin. Doch der Widerstand erlahmte, immer wieder ergaben sich einzelne Einheiten kampflos. Währenddessen tobte die Schlacht um Berlin. 2,5 Millionen Soldaten der Roten Armee, darunter auch 200 000 Polen, umzingelten die Reichshauptstadt Mitte April und nahmen sie unter Beschuss. Der Befehl Hitlers lautete, die Stadt »bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone« zu verteidigen, und lange Tage im April sah es so aus, als würde sich die Wehrmacht daran halten. Im Häuserkampf wurde teilweise tagelang um einzelne Gebäude und Straßenzüge gekämpft, die großen Panzer der Roten Armee erwiesen sich im Kampf gegen die versprengten deutschen Truppen als Nachteil.

Umarmung für die Fotografen – in der Nähe von Torgau treffen die amerikanische und die russische Armee aufeinander.

Erst am 29. April drangen erste Sowjetsoldaten in das Regierungsviertel und damit in die unmittelbare Nähe der Reichskanzlei vor, unter der sich Hitler mit seinen engsten Getreuen im Führerbunker befand. Am 30. April, ungefähr zur gleichen Zeit, als sich der angeblich »Größte Feldherr aller Zeiten« das Leben nahm, wehte nach heftigen Kämpfen erstmals die Sowjetflagge über dem Reichstag, ein Ereignis, das zwei Tage später für das berühmt gewordene Foto Jew­geni Chaldejs nachgestellt wurde.

Am Morgen des 2. Mai schließlich kapitulierte General Helmuth Weidling und übergab Berlin an die Rote Armee. Aber erst in den Abendstunden des 8. Mai unterzeichnete der von Hitler zu seinem Nachfolger ernannte Karl Dönitz die bedingungslose Kapitulation des Oberkommandos der Wehrmacht. Weil sich die Bestätigung von allen Seiten bis in die Nacht hinzog, wird das Ende des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden deshalb an zwei Tagen erinnert: im Westen am 8. Mai 1945, in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion erst am 9. Mai.

Die Befreiung von Auschwitz

Mit der morgendlichen Ankunft des ersten russischen Soldaten im Konzentrationslager Auschwitz III, auch »Arbeitslager Monowitz« genannt, begann die Befreiung des Konzentrations­lagers, dessen Name wie kein anderer für den massenhaften,industriell betriebenen Völkermord an den Juden steht.

Bis heute gilt Auschwitz als Synonym für den Holo­caust, als Symbol für den radikalen Zivilisa­tionsbruch im Dritten Reich. Doch vor der Gründung des Stammlagers hatte Auschwitz, polnisch O´swie˛cim, für viele Juden einen anderen Klang gehabt: den der Freiheit. In Auschwitz kreuzten sich seit dem Mittelalter Handelsstraßen nach Krakau, Breslau und Görlitz. Als Verkehrs­knotenpunkt war es Durchgangsstation Tausender Juden aus Russland, die vor den Pogromen der Jahrhundertwende in die flüchten wollten. Von Auschwitz aus wurden diese Menschen nach Hamburg und Bremerhaven geschleust, wo sie aufOzeandampfern nach New York aufbrachen. Gleichzeitig war O´swie˛cim schon seit Jahrhunderten ein Ort, an dem sich viele Juden ansiedelten, weil sie dort eine im Vergleich zum rest­lichen Europa friedliche Koexistenz mit der übrigen Bevölkerung erwarten konnten. Im September1939, unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, waren fast die Hälfte aller Einwohner des Städtchens Juden, wohingegen sie in ganz Polen nur knapp 10Prozent der Bevölkerung stellten.

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