Als ich meine Sprache verlor ..... - Margrit During - E-Book

Als ich meine Sprache verlor ..... E-Book

Margrit During

0,0

Beschreibung

Wie oft lernen wir vermeintliche Selbstverständiglichkeiten erst dann zu schätzen, wenn wir sie (fast) verloren haben. So ging es mir 2021 nach einem Schlaganfall. Ich möchte mit diesem Buch zeigen, dass es möglich ist mit Energie, Disziplin und viel Therapie die Sprache wieder zu erlernen. Nachdem ich meine eigene Geschichte erzählt habe, kommen zwei Logopädinnen zu Wort sowie neun Menschen, die ebenfalls eine Aphasie haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 414

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorwort

Wie oft lernen wir vermeintliche Selbstverständlichkeiten erst dann zu schätzen, wenn wir sie (fast) verloren haben. So ging es mir 2021 nach einem Schlaganfall, als ich meine Sprache verlor. Mit diesen Buch möchte ich aufzeigen, dass es möglich ist, die Sprache wieder zu erlernen und vor allem, das Glück zu empfinden, weiter zu leben.

Jährlich erleiden 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Etwa 1/10 davon hat als Folge des Schlaganfalls eine Aphasie, eine Sprachstörung, die durch eine Durchblutungsstörung der linken Hirnhälfte ausgelöst wird.

Diese Tagebuchaufzeichnungen sind für meine Familie und Freunde*innen, die mich begleitet und unterstützt haben; für alle »Professionellen« (Therapeutinnen, Logopädinnen, Ärzte und Ärztinnen usw.) sowie für andere Betroffene und deren Angehörige.

Nachdem ich meine eigene Geschichte erzähle habe, kommen neun Menschen zu Wort, die ebenfalls eine Aphasie haben und die ich interviewen durfte. Vielleicht kann es das Verständnis für Aphasiker ein bisschen erweitern.

Inhaltsverzeichnis

I Tagebuch

Der Schlaganfall

Im Krankenhaus

Die Reha

Wieder zu Hause

Die Aphasie Therapie

II Interviews

Die Logopädinnen

Die Mitpatienten*innen

Teil I
Tagebuch
Der Schlaganfall

Ein Schlaganfall brachte mein Leben, wie ich es bisher geführt hatte, vollkommen durcheinander. Ich war eine Frau der Worte, der Sprache, der Schrift. Als Sozialwissenschaftlerin habe ich in der Hamburger Verwaltung ein Amt geleitet. Inzwischen war ich Rentnerin, 67 Jahre alt, und arbeitete als Honorarkraft in einer kirchlichen Beratungsstelle als Ehe- und Lebensberaterin. Ich lebte zusammen mit meinem Mann Volker in Hamburg. Wir hatten ein renovierungsbedürftiges Wochenendhaus in Bennin, nahe Zarrentin, 83 km von Hamburg entfernt. Seit mein Mann Rentner ist, ist er sehr viel dort, so dass wir häufiger getrennt sind (ich im Hamburg, er in Bennin). Wir haben beide ein Auto und legen großen Wert auf unsere Selbstständigkeit.

Ich war allein

Wie jeden Morgen, wenn ich Zeit habe, kochte ich mir in der Küche einen Kaffee. Es war Sonntag 8.00 Uhr, für mich eine übliche Zeit zum Wachwerden. Mit dem Kaffeebecher ging ich zurück ins Bett. Das Buch, das ich gerade las, war eine Familien- und Fluchtgeschichte, die in Russland vor der Revolution begann. Ich liebe es, im Bett mit einem Kaffee zu lesen. Volker war an diesem Wochenende in unserem Haus auf dem Land geblieben und so war ich allein in Hamburg.

Ich schlüpfte also zurück ins Bett und deckte mich zu. Ich war bis auf die Unterhose noch nackt und nach dem Aufenthalt in der Küche etwas durchgefroren. Es war Anfang Februar und draußen lag Schnee. Im Haus waren etwa 20 Grad. Kaum lag ich unter der Decke, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Mein rechtes Bein krümmte sich und ich konnte es nicht mehr fühlen und nicht mehr bewegen. Das Bein schien ein Fremdkörper zu sein, dar plötzlich ganz weiß und kalt war. Was war das? Ich war sehr erschrocken. Aber bevor sich die Panik in mir ausbreitete, verlor ich das Bewusstsein.

Nach etwa dreieinhalb Stunden, gegen halb zwölf, wurde ich wieder wach. Sofort fiel mir das Bein ein, ich konnte es wieder fühlen und bewegen. Unglaublich erleichtert war ich - ich würde laufen können. Gleichzeitig nahm ich wahr, dass meine rechte Hand gelähmt war. Ich konnte sie nicht mehr bewegen. Die Hand hing kraftlos, zur Kralle gebogen, am Arm herunter. Das erschreckte mich nicht so, wie vorher das Bein. Sofort dachte ich: das kann man wieder trainieren oder ich würde damit leben lernen. Irgendwie war mir klar, dass das ein Schlaganfall war. Ich dachte an die Nachbarin einer Freundin, die vor einigen Jahren einen Schlaganfall hatte und ihre ursprünglich gelähmte Hand inzwischen wieder recht gut bewegen kann. Ich hatte keine Angst, sondern sehr viel Vertrauen, dass alles gut wird. Das Bein war wieder beweglich - so ein Glück!

Wenn mir so etwas passiert, möchte ich vor allem nicht auffallen. Vier Jahre vorher bin ich bei einer Schiffsreise auf Eis ausgerutscht und auf den Rücken gefallen. Zu Anfang konnte ich mich nicht bewegen. Mühsam richtete ich mich an einem Stuhl wieder auf. Ich war allein auf dem Schiffsdeck und war so froh, dass ich nicht querschnittgelähmt war. Ich hatte damals ein schlechtes Gewissen, dass mir so etwas passiert war. Nun, als ich mich wieder aufgerichtet hatte, war ich fast euphorisch und fotografierte den Sonnenaufgang. Obwohl ich Schmerzen hatte, versuchte ich mich nicht zu schonen und machte alle Ausflüge mit. Später stellte sich heraus, dass ein Wirbel gebrochen war und ich sechs Wochen ein Korsett tragen musste.

Ich möchte nicht auffallen und scheue mich, Hilfe anzufordern oder anzunehmen. Ich glaube, das kommt noch aus der Kindheit. Wenn mir als Kind ein Missgeschick passierte, wurde ich ausgeschimpft und bestraft. Bin ich in den Graben gefallen, wurde ich im Garten mit kaltem Wasser abgespritzt. Stolperte ich und schlug mir das Knie auf, hieß es: selber Schuld. Warum passt du nicht auf?

Wenn ich jetzt als Erwachsene mal auf der Straße hinfalle, rappel ich mich gleich wieder auf. Falls ein Passant mir zu Hilfe kommt und fragt: »kann ich Ihnen helfen?«, dann antworte ich: »nein, es ist alles in Ordnung. Es ist gar nichts passiert.«

So ging es mir jetzt, als ich aus meiner Bewusstlosigkeit erwacht bin, auch. Es wird schon nicht so schlimm sein. Um 12 Uhr war ich mit meiner Tochter Sonja und meinem Schwiegersohn Alex über das Internet zum Gespräch verabredet. Das war dadurch entstanden, dass ich eine Beratungssoftware der Beratungsstelle ausprobieren wollte. Man verschickte eine Einladung, ähnlich wie beim Zoom-Meeting. Den Termin hatte ich vorher mit Sonja und Alex abgesprochen. Nachdem ich gegen 11.30 Uhr wieder bei Bewusstsein war, erinnerte ich mich sofort daran. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich die Verabredung einhalten könnte, dazu war ich viel zu benommen und schläfrig. Zugleich spürte ich, dass ich Hilfe bräuchte und hoffte, dass meine Tochter das ahnen würde. Ich ging zur Toilette. Im Spiegel sah ich mein Gesicht - es war ganz schief - meine rechte Gesichtshälfte hing herunter. Ich lächelte mir zu - mit der linken Seite konnte ich lächeln. Dieses Lächeln war ganz echt. Ich war so froh, dass ich laufen konnte. Es könnte noch alles gut werden, beruhigte ich mich selbst. Dann ging ich erneut ins Bett. Ich schlief noch wieder ein.

Inzwischen war 12 Uhr vorbei. Als meine Tochter anrief, zuerst auf dem Handyund dann auf dem Festnetz, wurde ich wieder wach und ging zum Telefonin meinem Zimmer. Ich guckte auf das Display und sah, dass meine Tochter anrief. Aber ich konnte das Telefongespräch weder auf dem Handy noch auf dem Festnetz annehmen. Ich wusste nicht, wie ich das Telefon bedienen konnte, was ich machen musste. Kurze Zeit später rief auch meine Schwester Wiebke an, wie ich auf dem Display sah. Auch das Gespräch konnte ich nicht annehmen. Ich fragte mich: »was soll ich jetzt bloß tun? Du weißt doch, wie so etwas geht, wie ein Telefon bedient wird.« Aber es ging nicht. Ich verstand überhaupt nicht, wieso ich das nicht konnte. Das hat mich sehr irritiert. Und aus lauter Frustration ging ich nochmal ins Bad. Diesmal schaffte ich es nicht, mich auf die Toilette zu setzen. Ich urinierte auf den Boden, ohne dass ich etwas tun konnte. Das war mir peinlich und wieder war ich verwirrt, warum es mir nicht gelang, mich auf die Toilette zu setzten.

Ich schaffte es, meine Unterhose auszuziehen und ich glaube, ich habe sie sogar ausgespült. Aber schon geschah das nächste Unerklärliche. Ich wollte duschen, stellte mich unter die Brause. Aber ich war nicht in der Lage, den Wasserhahn aufzumachen. Wieso war es mir nicht möglich, diesen Hebel zu bedienen? Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Aber ich hielt mich nicht lange damit auf. Dann muss das Duschen eben ausfallen. Ich ging zum Kleiderschrank in meinem Zimmer, um frische Wäsche heraus zu holen. Ich öffnete den Schrank, sah die Kleidung an, aber ich konnte sie nicht greifen. Ich war unfähig, die Bewegung auszuführen. Ich wollte es unbedingt schaffen, unbedingt! Schließlich gelang es mir, eine Unterhose aus dem Schrank zu holen und anzuziehen.

Mein Zimmer, das Bad und das Schlafzimmer sind im ersten Stock, Küche und Wohn-/Esszimmer sind im Parterre. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich ging die Treppe hinunter. Vielleicht wollte ich Hilfe holen. Nur mit einer Unterhose bekleidet, konnte ich nicht auf die Straße gehen. Das traute ich mich nicht und ging die Treppe wieder nach oben in mein Zimmer. Es gelang mir, eine Jeans aus dem Schrank zu holen und anzuziehen. Aber das geschah unbewusst. Selbst konnte ich mich nicht daran erinnern. Sonja hat mir später erzählt, dass ich die Jeans anhatte, als sie kam.

Plötzlich klingelte es an der Tür und gleich darauf wurde die Tür geöffnet und meine Tochter und mein Schwiegersohn kamen ins Haus. Ich war unglaublich froh! Ich ging zur Treppe und schaute nach unten. Sie riefen gleich: wir sind es, wir kommen hoch. Sonja ließ mich auf dem Sofa in meinem Zimmer Platz nehmen. Die beiden haben gleich gesehen, dass ich Hilfe benötige. Jetzt erst merkte ich, dass ich nicht mehr sprechen konnte. Ich war darüber eher irritiert als furchtsam und hätte gerne etwas gesagt, dass ich mich freue, dass sie da sind und dass sie sich nicht so viele Sorgen machen sollen, es wird bestimmt wieder gut. Ich versuchte zu lächeln. Beide waren sehr erschrocken und reagierten trotzdem ganz besonnen.

Alex rief den Notruf, um einen Rettungswagen anzufordern. Er stand vor dem Fenster mit dem Rücken zu mir. Ich war noch nicht fertig angezogen. Die Hose hatte ich alleine geschafft, obwohl ich das nicht erinnerte. Sonja erzählte später, dass ich mit meinem Gürtel beschäftigt war, den ich in die Schlaufen der Hose einfädeln wollte. Der Oberkörper war noch nackig und Sonja zog mir ein T-Shirt über und half mir mit dem Gürtel. Dann sollte und wollte ich nach unten gehen. Ich war schon einmal die Treppen hinunter gegangen und wusste, dass ich das kann. Das wussten aber die Kinder nicht und Sonja stellte sich hinter mich und umarmte mich von hinten, damit ich nicht die Treppe herunter falle. Alex ging vor. Das war etwas beschwerlich, weil die Treppe sehr schmal ist. Sonja merkte, dass ich alleine gehen kann, blieb aber eng hinter mir. Ich war kaum unten, da kam schon der Rettungswagen.

Die zwei Rettungssanitäter untersuchten mich kurz und es war klar, dass sie mich mitnehmen würden. In dem Moment kam meine Schwester Wiebke herein und nahm mich vor hinten in den Arm. Ich war ganz gerührt, als sie mir sagte, dass sie mich liebe.1 Ich glaube, mir war die ganze Bedrohung gar nicht klar. Sonja und Alex haben mir die Schuhe und die Jacke angezogen und ich habe mich dann auf die Ambulanzliege gelegt, die vor der Haustür stand. Ich hörte, wie die Sanitäter nach meiner Gesundheitskarte fragten. Da wollte ich wieder aufstehen, weil ich genau wusste, wo diese Karte war, wurde aber von Sonja am Aufstehen gehindert. Die Karte wurde später, als ich weg war, von Sonja und Alex gefunden. Soweit meine eigenen Erinnerungen von meinem Schlaganfall, bevor es dann in die Klinik ging.

Ich wollte wissen, welche Erinnerungen meine Tochter Sonja, mein Schwiegersohn Alex, meine Schwester Wiebke und mein Mann Volker von diesem Tag und den weiteren Wochen nach meinem Schlaganfall hatten. Ich interviewte sie etwa eineinhalb Jahre später, nachdem ich bei meiner Aphasietherapie in Aachen auf die Idee gekommen war, ihre Perspektive hören zu wollen. Manchmal sind Erinnerungen sehr unterschiedlich, insbesondere bei einer emotionalen Belastungssituation. Insofern sind die Erinnerungen von Sonja, Alex, Wiebke und Volker, und schließlich auch von mir, nicht immer deckungsgleich. Alle Interviews habe ich selbst geführt, auf Band aufgezeichnet und transkribiert. Hinsichtlich Verständnis und Ausdruck habe ich den Text geringfügig geändert und die einzelnen Passagen meinen Tagebuchaufzeichnungen zugeordnet.

Interview: Sonja und Alex

Sonja: Ja es fängt damit an, dass wir eigentlich verabredet waren - online - und du dich nicht gemeldet hast. Wir haben versucht, dich anzurufen und eine Nachricht zu schreiben. Da ich dich nicht erreichen konnte, dachte ich, irgendwas scheint da nicht hinzuhauen. Am Anfang dachte ich: na okay, vielleicht passt das gerade nicht oder du bist abgelenkt oder was auch immer. Deshalb sind wir nicht sofort losgefahren. Dann habe ich versucht, Volker2 zu erreichen. Volker habe ich auch nicht erreicht. Dann habe ich noch versucht, Wiebke zu erreichen. Mit der habe ich gesprochen und sie fand das auch alles sehr seltsam. Ich habe zu Alex gesagt, nee, jetzt fahren wir zu dir hin, gucken was los ist. Wiebke wollte erst, dass ich sie abhole und wir zusammen zu dir fahren. Da hatte ich schon keine Nerven mehr, selbst mit dem Auto zu fahren und habe Alex gebeten, dass er mich hinfährt und Wiebke wollte dann mit einer Freundin hinfahren, um zu gucken. Das war ungefähr eine halbe Stunde, nachdem wir verabredet waren. Und da sind wir zu dir gefahren.

Alex: So erinnere ich das auch. Ich bin gefahren und du, Sonja, hast weiterhin versucht, zu telefonieren. Du hast während der Fahrt noch mal versucht, anzurufen oder Nachrichten zu schreiben. Du hast auch Volker angerufen, meine ich.

Sonja: Ich glaube, das habe ich vorher probiert, aber da habe ich ihn nicht erreichen können. Alex hat mich vor der Tür abgesetzt und einen Parkplatz gesucht. Ich wollte natürlich gleich rein, um zu gucken, was los ist. Erst habe ich geklingelt, dann dachte ich, scheiße, ich habe ja einen Schlüssel und schließe gleich auf. Und dann bin ich reingekommen und habe dich auf der Treppe gesehen und habe gleich gesehen, dass du einen Schlaganfall hast. Weil du deinen Arm so gehalten hast und dein Mundwinkel war einseitig nach unten gefallen. Das war von daher klar. Ich war erstmal beruhigt, dass du zumindest noch auf beiden Beinen standest, aber habe natürlich gesehen, was los ist. Ich habe versehentlich die Tür zugemacht. Blödsinn, Alex sollte ja noch nachkommen, und als ich gesehen habe, dass du auf das Treppe standest, halb angezogen, du hattest deine Hose an und sonst hattest du nichts an. Ich bin dir entgegengekommen und dann bist du nach oben gegangen bzw. habe ich gesagt, du sollst nach oben gehen. Du bist in dein Zimmer gegangen und ich glaube, da hast du auch schon versucht, den Gürtel deiner Hose in die Schlaufen einzufädeln. Und ich sagte, setze dich erstmal auf das Sofa - damit du mir nicht noch umkippst. Ich dachte, ich muss sofort einen Rettungswagen rufen, aber ich war noch immer völlig neben mir. Du hast halt die ganze Zeit mit deinem Gürtel rumgefummelt, was mich irgendwie tierisch gestresst hat. Dann hat Alex geklingelt und ich habe ihn schnell rein gelassen. Als Alex noch nicht da war, habe ich versucht, den Rettungswagen anzurufen - da meldete sich jemand. Ich wusste nicht mehr, habe ich jetzt die Feuerwehr oder die Polizei angerufen. Ich sagte, dass ich einen Rettungswagen brauche und der auf der anderen Seite fragte: »ja 112« und ich sagte: »ok« und habe wieder aufgelegt. Falls ich tatsächlich die Polizei angerufen habe, hätten die doch eigentlich auch helfen können. Als Alex da war, habe ich ihn gebeten, den Rettungswagen zu rufen. Habe ihm sofort gesagt, dass meine Mutter einen Schlaganfall hatte. Alex hatte gerade den Rettungswagen gerufen. Ich war dabei, dich anzuziehen, da hat Volker zurückgerufen. Ich war voll im Stress, ich wollte ihn natürlich nicht wegdrücken. Er tat mir ziemlich leid, weil er gar nicht wusste, was los ist. Ich glaube, ich habe ihm nur gesagt, dass du einen Schlaganfall hast und ich rufe gleich noch mal zurück oder so. Und dann habe ich Alex gebeten, Volker noch mal anzurufen.

Alex: Das habe ich auch gemacht. Ich habe ihm noch ein bisschen mehr darüber erzählt, wie wir dich gefunden und den Rettungswagen gerufen haben und er sagte, er macht sich jetzt auf den Weg, weil er ja in Bennin war. Und er ist dann nach Hamburg gekommen.

Sonja: Ich habe dir geholfen, dich anzuziehen: den Gürtel, ein Oberteil. Den BH habe ich sein gelassen, brauchst du nicht. Ich habe dir die Socken angezogen. Beim Oberteil war es etwas schwierig, weil ich nicht wusste, wie beweglich dein Arm noch ist. Insofern habe ich den Arm nicht in den Ärmel gesteckt, sondern nur unter dem T-Shirt gelassen. Das fandest du irgendwie nicht so gut und ich habe dir geholfen, den Arm doch noch in den Ärmel zu bringen. Dann hatte ich dich soweit angezogen.

Alex: Ich wurde von dem Mitarbeiter des Notruftelefons gefragt, ob du sprechen kannst und da war mein erster Gedanke, dich zu fragen, ob du sprechen kannst. Aber das ist ja nicht so nett. Dann habe ich dich gefragt, wie es dir geht und da hast du genickt. So konnte ich die Fragebeantworten, dass du nicht sprechen kannst und man sah auch, dass die eine Mundhälfte herunter hängt.

Sonja: Ich hatte auch das Gefühl, dass du soweit da bist. Du hast mich immer angelächelt, als ob du mich jetzt beruhigen wolltest.

Alex: Ja, das stimmt. Den Eindruck hatte ich auch. Du hast versucht, uns zu beruhigen. Dann habe ich gesagt, wenn der Rettungswagen jetzt gleich kommt, wäre es schon gut, wenn du unten wärst. So haben wir dich nach unten gebracht. Was auch ein bisschen umständlich war.

Sonja: Alex ist vor und ich bin hinter dir gegangen, damit du nicht runter fällst. Aber das hat mit der Begleitung nur bedingt geklappt, weil die Treppe so eng ist. Du bist ja heil unten angekommen und wir haben dich auf einen Stuhl gesetzt. Alex ist rausgegangen, um den Rettungswagen einzuwinken. Der kam dann relativ schnell. Die zwei Sanitäter haben dich angeguckt, gefragt, wie es dir geht.

Alex: Ich erinnere, als du noch auf dem Stuhl saßest und der eine Sanitäter zu dir sagte, dass du mal lächeln sollst. Du hast auch versucht zu lächeln und man konnte deinem Gesicht ansehen, dass du mit deiner Leistung nicht zufrieden warst. Irgendwie hast du selbst gemerkt, dass das kein zufriedenstellendes Lächeln war. Ich habe die ganze Zeit den Eindruck gehabt, dass dir diese Situation bewusst war. Dass du wusstest, was los war, aber du konntest es nicht so richtig nach außen bringen.

Sonja: Du hattest schon die ganze Zeit versucht, was zu sagen. Ich habe gesagt: »ich merke, dass du mir was sagen möchtest, es geht aber nicht.«. Die Sanitäter haben auch gefragt, wie lange das schon so ist. Das konnten wir ja nicht sagen.

Alex: ja wir haben ein bisschen spekuliert. Du warst dabei, dich anzuziehen, also wahrscheinlich morgens. Wir waren um 12 Uhr verabredet und sind erst um 12.30 Uhr losgefahren. Fahren mindestens eine halbe Stunde bis hierher; wir haben nicht genau auf die Zeit geachtet. Wir haben angenommen, dass der Schlaganfall schon länger her war, als es passiert ist. Und ich war ein bisschen nervös, dass sich die Rettungssanitäter so viel Zeit gelassen haben und so lange reden. Ich hatte gedacht, dass sie dich sofort mitnehmen. Sie haben sich ja erstmal mit dir unterhalten und interviewt. Und dann habe ich gedacht, okay, das sind ja die Sanitäter, die wissen schon, was sie machen. Ich habe gedacht, jede Sekunde bei einem Schlaganfall entscheidet.

Sonja: Wir haben nachträglich gesehen, dass eine Kaffeetasse am Bett stand, in der noch etwas Kaffee war. Das heißt, du musst wach gewesen sein. Dann weiß ich nur noch, dass die Sanitäter die Krankenkassenkarte von dir haben wollten und ich habe sie gesucht. Ich konnte sie in sämtlichen Handtaschen, die du hast, nicht finden. Der Sanitäter meinte, man kann das ja auch nachträglich machen. Doch dann wolltest du nach oben stratzen, um die Karte zu holen. Aber du solltest in den Rettungswagen und dann habe ich gesagt:»nee nee, das mache ich. Wir können das auch nachreichen. «

Alex: Ich habe dir Schuhe angezogen, vernünftige Schuhe, keine Hausschuhe. Eine Jacke haben wir dir auch angezogen. Die Rettungsliege stand in der Auffahrt und du hast dich dann da drauf gelegt. Du konntest ja gehen.

Interview: Wiebke

Als Sonja mich anrief, habe ich mir auch sofort Sorgen gemacht, weil du einfach eine sehr zuverlässige Person bist. Insofern habe ich auch versucht, dich zu erreichen, ebenfalls ohne Erfolg. Und Sonja und ich haben beide versucht, Volker zu erreichen, auch ohne Erfolg und dann war schon klar, wir machen uns alle auf den Weg zu dir. Ja und ich musste erst noch eine Freundin organisieren, die mich hinfährt. Da waren sowohl Sonja und Alex als auch Krankenwagen schon da und als ich dich gesehen habe, war für mich ganz klar, dass du einen Schlaganfall hast. Das war so offensichtlich. Das war natürlich fürchterlich, aber ich war froh, dass wir dich rechtzeitig gefunden hatten. Deine ganze rechte Seite war betroffen. Du konntest nicht richtig gehen, dein Gangbild war unsicher. Deine rechte Hand war gelähmt und deine rechte Gesichtshälfte war hinunter gezogen, von daher war die ganze rechte Seite betroffen. Du warst ansprechbar, hast sehr verwaschen gesprochen. Du hast nach Wörtern gesucht, konntest aber ganz klar »Krankenkassenkarte« sagen oder zumindest war mir klar, dass du von der Krankenkassenkarte und von der Geldbörse gesprochen hast. Du hast versucht zu sagen, dass die Karte in der Geldbörse oben ist. Daran kann ich mich gut erinnern. Dann kamst du ins Krankenhaus und wir durften dich nicht begleiten und dich auch nicht besuchen.3

Interview: Volker

Als Sonja mich anrief, habe ich gleich gemerkt, dass irgendwas passiert ist. Sonja war natürlich auch total aufgelöst. Ich weiß nur, dass ich in Bennin war und dass Sonja total aufgelöst anrief und da war mir natürlich klar, dass was passiert war. Sie hat gesagt, dass du vermutlich einen Schlaganfall hattest. Sie hatte angerufen, bevor der Krankenwagen da war und dass der Krankenwagen gleich da ist und ich habe gesagt, okay, ich fahr jetzt los, ich komme. So war es. Und denn, na ja, was man so denkt, scheiße. Und ich habe mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren.

1Meine Schwester Wiebke ist 17 Jahre jünger als ich. Nach dem frühen Tod unserer Eltern, lebte sie mit 17 Jahren drei Jahre bei mir. Sie ist vier Jahre älter als meine Tochter.

2Volker, mein Mann, ist nicht der Vater von Sonja. Als ich Volker kennenlernte, war Sonja schon 19 Jahre alt.

3Die Corona Pandemie legte Deutschland und die Welt lahm. Zu dieser Zeit waren überhaupt keine Besuche in Krankenhäusern möglich. Sie waren verboten.