Als ich wiederkam - Heimatgefühle, Familie, Freunde und Ostalgie nach 30 Jahren Abwesenheit - Jana Buchholz - E-Book

Als ich wiederkam - Heimatgefühle, Familie, Freunde und Ostalgie nach 30 Jahren Abwesenheit E-Book

Jana Buchholz

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Beschreibung

Im Sommer 2018 kehrt Jule nach 30 Jahren zurück in ihre Heimatstadt Schwerin. Das ist so verrückt und aufregend, dass sie alles aufschreiben muss, was passiert oder auch nicht passiert. Menschen, Orte und Gebäude erinnern sie an alte Zeiten und doch ist alles anders. Sie lernt ihre Familie und ihre Familie lernt sie neu kennen, kam sie doch 30 Jahre lang immer nur zu Besuch. Sie schwelgen in Erinnerungen und Jule findet Gefallen daran, die Vergangenheit noch einmal in die Gegenwart zu holen. Im Buch geht es um Alltagsgeschichten einer nicht gewöhnlichen Familie in der DDR. Um Freundschaft, Musik und Ferien in der Kindheit. Erlebnisse als Teenager mit der besten Freundin. Die erste große Liebe und das vorschnelle Erwachsenwerden durch die gemeinsame Flucht in den Westen mit 18 Jahren sowie das "Klar-kommen-müssen" in einer neuen, unbekannten Gesellschaftsordnung. Detaillierte Beschreibungen und Briefe zwischen Mutter und Tochter dokumentieren die bewegenden, historischen Ereignisse in der Zeit vor, während und nach der Wende. Zwischendurch taucht der Leser aber auch immer wieder in Jules gegenwärtiges Leben ein, das so einige Überraschungen mit sich bringt.

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Jana Buchholz

Als ich wiederkam

Heimatgefühle, Familie, Freunde und Ostalgie nach 30 Jahren Abwesenheit

© 2021 Jana Buchholz

Umschlag & Prolog:

Gabriele Fröhlich

Korrektorat:

Reya Kons

Verlag & Druck:

tredition GmbH

 

Halenreie 40-44,

 

22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback

978-3-347-24929-5

Hardcover

978-3-347-24930-1

e-Book

978-3-347-24931-8

Weitere Infos:

www.als-ich-wiederkam.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Manchmal ist der größte Schritt nach vorn der Schritt zurück

Für Jule zum Geburtstag

Die beschriebenen Ereignisse sind Erinnerungen der Autorin an ihre Kindheit und Jugend in der DDR, ergänzt um fiktive Passagen, die gut zum Kontext oder in die Zeit passen und es dem Leser erleichtern, der Geschichte von Jule zu folgen. Zum Schutz noch lebender Personen, wurden alle Namen verändert.

Jule

Ich sitze in der S-Bahn und die Tränen rollen mir übers Gesicht. Weil ich kein Taschentuch dabei habe, schniefe ich lauthals. Eine junge Frau sitzt mir gegenüber und fängt an, in ihrer Tasche zu kramen. Sie findet ein Papiertaschentuch, reicht es mir und schaut mich dabei mitfühlend an, sagt aber kein Wort. Ich bedanke mich, quäle mir ein Lächeln ab und vergrabe mich gleich wieder in meine Gedanken, die sich nur um eines drehen: um Jule, meine Tochter.

Vor wenigen Augenblicken habe ich sie hinaus geschickt in die Welt, habe ihr gut zugeredet und viel Glück gewünscht. Dann gingen die S-Bahn Türen zu und wir winkten uns ein letztes Mal zum Abschied. Jule mit glänzenden Augen und Vorfreude auf das Abenteuer Leben. Ich mit bangem Herzen und der schier unerträglichen Vorstellung, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen würden.

Aber hätte ich sie deshalb zurückhalten oder sie von ihrem Vorhaben abbringen sollen? Das wäre mir wahrscheinlich auch gar nicht gelungen, denn wenn Jule einen Entschluss fasste, dann blieb sie auch dabei. „Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mich davon abzuhalten“, sagte sie, während sie mir bei einem Spaziergang eröffnete, dass sie in wenigen Tagen mit ihrem Freund über Ungarn in den Westen fliehen wolle. „Wir haben es uns gut überlegt und die Gelegenheit ist gerade günstig. In Ungarn haben sie den Schießbefehl aufgehoben.“

Verdenken kann ich es ihr nicht. Die aktuellen Ereignisse in Leipzig, Prag und Budapest überschlagen sich und niemand weiß, wo das hinführen wird. Jule hatte schon immer „Hummeln im Hintern“ und wollte raus in die Welt, deshalb war mir klar, dass ich sie irgendwann loslassen muss. Aber doch nicht so abrupt, so schnell, so überstürzt! „Eine Mutter sollte ihrem Kind nicht nur Milch, sondern auch Honig geben“, las ich mal irgendwo. Sie gehen zu lassen und ihr zu vertrauen, das ist wohl der Honig, von dem da die Rede ist. Trotz des Verlustes, der gerade sehr, sehr weh tut, wünsche ich ihr natürlich von ganzem Herzen, dass sie ihre Träume verwirklichen kann. Mein Mädchen, das mit ihren 18 Jahren doch gerade erst dabei war, erwachsen zu werden.

Ich steige am Berliner Hauptbahnhof um in den Zug nach Schwerin. Während der gesamten Rückfahrt nach Hause male ich mir aus, was mich wohl erwartet, wenn die Stasi spätestens in einer Woche spitz kriegt, dass Jule nicht zurückkehren wird von ihrem Urlaub in Ungarn. Mein Puls rast bei dem Gedanken daran, dass ich vielleicht sogar abgeführt und zum Verhör gebracht werden könnte. Aber alles ist besser als dieser unerträgliche Schmerz, der mein Herz fast zum Zerspringen bringt.

Da steht sie nun vor mir mit leuchtenden und immer noch neugierigen Augen. Sie wird heute 50 Jahre alt und ich bin so stolz, dass sie meine Tochter ist. Komisch, sie sieht immer noch so aus wie das junge Mädchen, das ich vor 32 Jahren los gelassen habe. Noch heute bewundere ich ihren Mut, sich auf unbekannte Wege zu begeben. Vom Osten in den Westen, von Hamburg nach Madrid, von Madrid nach München, von München nach Berlin und schließlich von Berlin zurück nach Schwerin. Überall habe ich sie besucht und sie hat mir stolz ihr Leben gezeigt, was sie sich in der Zwischenzeit aufgebaut hatte. In Hamburg zogen wir zusammen durchs Nachtleben auf der Reeperbahn, in Madrid schleppte sie mich von einer Flamenco Bar zur nächsten, in München zurzelten wir an Weißwürsten und hoben die ein oder andere Mass im Biergarten und in Berlin tanzten wir, als gäbe es kein Morgen, in Clärchens Ballhaus.

Immer wieder hat sie freiwillig von vorn angefangen, sich dort, wo sie gerade war, eine neue Wohnung, einen Job und Freunde gesucht. Der Grund war immer der gleiche: Sie wollte Neuland entdecken. „Den Mutigen gehört die Welt!“, höre ich sie sagen. Und damit hat sie recht, denn es hat sich immer alles zum Guten gewendet für sie, auch wenn der Weg manchmal steinig war, das Gehen schwer fiel und es zwischendurch auch genügend Durststrecken gab. Durch ihre Art, offen auf Menschen zuzugehen, hat sie überall Freunde gefunden, die ihr bis heute die Treue halten. Ich kenne sie alle, entweder aus Jules lebhaften Erzählungen oder persönlich.

Ich bin erstaunt, wie sie es schafft, all die Freundschaften zu pflegen und den Kontakt nicht abreißen zu lassen, selbst wenn viele Kilometer dazwischen liegen. „Freunde bleiben, wenn du Glück hast, dein Leben lang“, sagt sie immer „dafür lohnt es sich, dranzubleiben.“ Ich finde auch, dass es ein Geschenk ist, wenn man Freud und Leid mit Freunden teilen kann. Sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, gemeinsam zu lachen, zu weinen oder auch mal zu streiten, das ist wunderbar und es freut mich sehr, dass Jule dieses Geschenk zu schätzen weiß.

Ihren heutigen runden Geburtstag wollte sie mit uns und ihren Freunden feiern und ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, sie alle mal wiederzusehen. Doch die weltweite Corona Pandemie lässt nur eine kleine Familienfeier zu. Fast so wie früher, als die Welt für uns noch sehr begrenzt war durch den eisernen Vorhang.

Wenn ich sie so sehe, frage ich mich, was wohl aus Jule geworden wäre, wenn ich sie zurück gehalten hätte. Damals im September 1989.

Für jede Situation im Leben gibt es ein Lied.

Jedem Kapitel in diesem Buch ist ein Lied aus meiner Vergangenheit gewidmet, das mich inspirierte, Geschichten meines Lebens in der DDR noch einmal in die Gegenwart zu holen.

Inhalt

Besser geht’s nicht

Als ich fortging (Karussell)

Über sieben Brücken (Karat)

Am Fenster (City)

Meine Mutter

Mein Vater

Mein Bruder

Zeit, die nie vergeht (Perl)

Was wird morgen sein? (Magdeburg)

Als ich wie ein Vogel war (Renft)

Jugendliebe (Ute Freudenberg)

Käfer auf’m Blatt (Chicorée)

Nie zuvor (Electra)

Auf der Wiese (Veronika Fischer)

Wind trägt alle Worte fort (Lift)

Sommer adé (Schubert-Formation)

Sagte mal ein Dichter (Holger Biege)

Bataillon d‘ amour (Silly)

Lebenszeit (Puhdys)

Danke

Besser geht’s nicht

Wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein, frage ich mich, während der Himmel über mir weit und blau ist. Die lachenden Möwen geben mir das Gefühl, ich bin am Meer und alle Viertelstunde ertönt ein Glockenschlag von einer der drei Kirchen in Schwerin. Der Sommer 2018 zeigt sich von seiner besten Seite, ich liege in der Hängematte auf meinem Balkon im vierten Stock ohne Fahrstuhl, dafür aber mit einem fantastischen Ausblick und muss an eine Textzeile der Band 2raumwohnung denken: „Der Himmel wird weit, alle Träume sind geträumt und wahr, das ist die Magie zwischen uns, die kam und blieb. Besser geht’s nicht, schau nur hin, das ist Leben, wir sind drin.“

Ja, das ist Leben!

Ein anderes vielleicht, als das in Berlin, wo ich nach acht Jahren Faszination für die Stadt keine Luft mehr bekam. Schon länger fragte ich mich, was mich noch hält in dieser wuseligen Großstadt, wo mir Radfahren keinen Spaß mehr machte, weil es zu bestimmten Zeiten alle tun und ich jedes Mal höllisch aufpassen musste, wenn ich nicht in einen Unfall verwickelt werden wollte. Entweder provoziert von einem unaufmerksamen Auto- oder einem lebensmüden Radfahrer, für den rote Ampeln scheinbar zum ultimativen Nervenkitzel gehören.

Ich beobachtete, wie die Menschen immer mehr wurden, die sich am Wochenende durch die Straßen meines Kiezes drängelten. War ich selbst mittendrin, konnte ich ihre Gespräche mit anhören, weil der Abstand zwischen uns sehr klein und mir persönlich manchmal schon richtig unangenehm war. Der Prenzlauer Berg, ein Stadtteil im Osten von Berlin, war auch schon sehr beliebt, als ich 2010 aus München dort hin zog. Seitdem sind noch mehr Eigentumswohnungen und Town Houses entstanden, Baulücken oder Grünflächen sieht man kaum noch und die Parks werden immer weniger oder kleiner. Bei schönem Wetter sind sie ebenfalls voller Menschen, die sich nach einem Fleckchen Grün in der Stadt sehnen. Der Mauerpark, bekannt für den sonntäglichen Flohmarkt und Karaoke, ist mittlerweile mit Baugerüsten eingezäunt und man kann nur hoffen, dass er, selbst mit den Eigentumswohnungen drum herum, der Öffentlichkeit als Kult-Park erhalten bleibt.

Gentrifizierung nennt man das Plattmachen der letzten grünen Oase, die Sanierung des letzten herunter gekommenen Hauses oder das Beseitigen von Bauruinen und „Schandflecken“, um Luxuswohnungen, Büros oder Shoppingmeilen zu bauen. Ein Wort, das ich gar nicht kannte. Berlin ist arm aber durch die vielen Bemühungen, reich zu werden oder besser gesagt attraktiv für zahlungskräftige Investoren, Unternehmen, Mieter und Touristen leider nicht mehr sexy - jedenfalls nicht mehr für mich. Die Entwicklung, die ich vor Jahren vielleicht sogar selbst begünstigte, in dem ich eine für mich, im Verhältnis zu München, günstige Wohnung im sanierten Altbau mietete, gefiel mir nicht mehr und ich empfand vieles als übertrieben und im Ungleichgewicht. So muss es den Alt-Berlinern schon Jahre zuvor gegangen sein, als Berlin anfing, sich zu der Großstadt zu entwickeln, die mit New York, London, Paris oder San Francisco mithalten kann.

Über eine Rückkehr in die alte Heimat hatte ich lange nachgedacht, Bedenken gehabt und alles wieder verworfen. Es ist wirklich nicht leicht zurückzugehen. Alles Angeschaffte aufzugeben, sich auf das Wesentliche zu besinnen und liebgewonnene Menschen zurückzulassen, darin hatte ich Erfahrung. Es gab schon viele Abschiede in meinem Leben, aber danach ging es immer nach vorn: in den Westen, nach Hamburg, nach Madrid, nach München, nach Berlin - nie zurück!

„Teste es doch erst einmal“, sagte meine Mutter, „vielleicht gefällt es Dir hier gar nicht oder du kommst mit den Leuten nicht klar. Außerdem gibt es kaum Jobs und wenn Du einen findest, dann verdienst Du nicht ansatzweise das, was Du in Berlin verdienst.“ Testen fand ich gut, obwohl dieses „Auf-Nummer-Sicher-gehen“ gar nicht zu mir passt, denn wenn ich mich einmal entschieden habe, dann wende ich normalerweise all meine Energie für die Umsetzung ohne Zögern auf. Umsetzungsstark nennt meine Freundin Tina das, und findet, dass es eine meiner besten Eigenschaften ist.

Dieses Mal war es aber irgendwie anders. Zu wissen, dass ich noch einen Koffer in Berlin habe oder besser gesagt, eine Wohnung und viele, liebe Freunde, gab mir die Sicherheit, die ich brauchte, um diesen Schritt zurück zu wagen.

Erst einmal für ein halbes Jahr „aus familiären Gründen“ sagte ich meiner Hausverwaltung, die meine Ehrlichkeit mit 1 € pro Quadratmeter Mehr-Miete für den noch zu findenden Untermieter bestrafte und mir außerdem mitteilte, dass ich kündigen müsse, wenn es länger dauert als sechs Monate. „Wer nimmt denn eine möblierte Wohnung für 1.300 € zur Untermiete auf Zeit?“, fragte ich mich und meine Freunde. Letztere rieten mir, ganz locker zu bleiben, denn das wäre ein ganz normaler Preis für Berlins beliebtesten Kiez Prenzlauer Berg. Und dann fügten sie hinzu: „Nicht, dass wir uns nicht freuen würden, wenn Du wieder kommst, aber sag bitte unbedingt rechtzeitig Bescheid, falls nicht.“

Nach so einem Gespräch ging ich wieder durch meine wunderschöne, großzügige 3-Raum-Wohnung mit zwei Balkonen, Dielenboden und Stuck an den hohen Decken und zweifelte. Dies war die beste Wohnung, die ich jemals hatte. Auch die Miete war für Prenzlauer-Berg-Verhältnisse ganz in Ordnung, obwohl mir natürlich meine Familie einen Vogel zeigte und mich für verrückt erklärte, dass ich bereit war, so viel Geld nur für Miete auszugeben. Aber ich wollte eben unbedingt in diesem Kiez wohnen. Da, wo meine Freunde sind, so dass man sich wie früher, ganz spontan besuchen kann. Das ist ansonsten in Berlin kaum möglich, denn man ist immer mindestens 30 - 45 Minuten mit den Öffentlichen unterwegs, um von einem zum anderen Stadtteil zu kommen.

Die Freunde in der Nähe zu haben, das ist schon toll in einer, ansonsten doch sehr anonymen, Großstadt. Dadurch bekommt das Leben etwas Familiäres, etwas Heimeliges. Es erinnert mich an die Zeit, als es noch Gang und Gäbe war, unverhofft bei Freunden und Schulkameraden an der Tür zu klingeln und wenn jemand da war, hoch zu rufen: „Ey, kommst du runter spielen?“ Dann blieben wir draußen, bis es dunkel wurde und vertrieben uns die Zeit mit Rollschuhlaufen, Klingelstreichen oder anderem sinnlosen Blödsinn.

Mit Lotti und Tina, meinen beiden besten Freundinnen in Berlin habe ich zwar keine Klingelstreiche mehr gemacht aber wir verbrachten so einige spontane Sommerund Winterabende miteinander. Entweder in einer der vielen Kneipen und Restaurants, einen Hugo - der bei uns Horst1 heißt - trinkend, der Straßenmusik lauschend, den Sommer und den Buzz der Stadt einatmend und fasziniert feststellend, wie gut es uns geht. Oder bei einer von uns zu Hause – unsere Lieblingsmusik hörend, zusammen kochend und die Erlebnisse der letzten Tage und Wochen miteinander teilend. Insbesondere die beiden machten es mir sehr schwer, etwas an meiner Lebenssituation in Berlin zu verändern, denn sie würden mir in jedem Fall sehr fehlen. Tina kenne ich seit dreizehn, Lotti seit neun Jahren. Beide sind mir als Gesprächspartner, Seelentröster, Anker, Ausgleich, Antrieb und Bremse, Inspiration, Mitfühlende, Ratgeber und Zuhörer sehr wichtig geworden und es hat rückblickend doch recht lange gedauert, bis wir uns so nah waren, dass wir uns vertrauen konnten. Die eine der anderen und wir uns dreien.

Tina, aufgewachsen in Hamburg, lernte ich bei einem Bratapfelessen in München kennen, zu dem mich eine gemeinsame Bekannte mitschleppte. Tina war die Gastgeberin. Ich fand nicht nur ihre Idee, zum Bratapfelessen einzuladen gut, sondern auch ihre Wohnung in der Max Vorstadt und vor allem die anderen, allesamt interessanten, Gäste. Nach diesem ersten Kennenlernen verging ein halbes Jahr, bis wir uns auf dem Waldfest am Tegernsee (beide im Dirndl) wiedersahen aber es musste noch ein weiteres halbes Jahr vergehen, bis wir uns intensiver kennenlernten. An einer Bushaltestelle in der Schellingstraße warteten wir gemeinsam auf den Nachtbus und hatten Zeit für eine Unterhaltung. Wir stellten recht schnell fest, dass die Art, wie wir aufgewachsen sind und die Werte, die wir von unseren „verrückten“ Eltern mitgegeben bekamen, sehr ähnlich waren. Und das, obwohl sie im Westen und ich im Osten aufgewachsen war. Ich weiß noch genau, wie ich ihrer Geschichte interessiert lauschte. Als sie dann noch von ihrer Patchwork Familie in Hamburg, Frankfurt, Portugal, Florida und der Schweiz erzählte, von ihrer Zeit als Jugendliche im Silicon Valley und ihrem Job in New York, kurz bevor sie nach München kam, war ich wirklich angetan von dieser, durch ihr äußeres Erscheinungsbild doch eher unscheinbar wirkenden, Persönlichkeit.

Jedes Mal, wenn wir uns wieder trafen, holte sie neue, spannende Geschichten aus ihrem Leben hervor und ich wurde immer neugieriger. So näherten wir uns nach und nach an, bis wir echte Freunde wurden.

„Das Schönste an München ist die Umgebung“, sagte sie immer und motivierte mich, mit ihr raus zu fahren. Mein Firmenwagen mit Tankkarte, den ich auch für Privatzwecke nutzen durfte, brachte uns überall hin und so füllten wir die freie Zeit am Wochenende mit Skifahren in Mayrhofen, Wellness am Ammersee, Shoppen im Ingolstadt Village, Wandern am Tegernsee, Kultur in Salzburg, Kochkurs am Chiemsee oder Segeln auf dem Starnberger See. Die Umgebung von München aber auch München selbst hatte viel zu bieten und mit einer Freundin wie Tina, die vielseitig interessiert ist und immer tolle Vorschläge machte, konnten wir das umfangreiche Angebot richtig gut ausnutzen. „Das Schönste an München ist der blaue Himmel“, würde ich sagen, denn nach Madrid war München für mich gefühlt die Stadt mit den meisten Sonnentagen, egal zu welcher Jahreszeit. Und wenn ich nicht gerade mit dem Auto unterwegs war, dann verbrachte ich sie gern im Englischen Garten um die Ecke oder an der Isar. Den Himmel, den Englischen Garten und die Isar vermisste ich in Berlin schon sehr, aber noch mehr vermisste ich meine liebgewonnene Freundin, die in Berlin studiert hatte und mich jedes Mal am Telefon ausfragte, ob es das oder das noch gäbe oder ich schon dort oder dort war.

„Warum kommst du nicht einfach wieder her?“, fragte ich sie nach einem gemeinsamen Wochenende in Berlin, an dem sie mal wieder mir und nicht, wie es sich für einen Gastgeber gehört, ich ihr die Stadt zeigte. Das war zwar nicht der einzige Grund dafür, dass sie München kurze Zeit später ebenfalls den Rücken kehrte, aber schön war es schon, wieder so nah beieinander zu sein und nun Berlin gemeinsam zu entdecken.

Lotti kommt aus Thüringen. Wir begegneten uns zum ersten Mal in Italien auf einer Hochzeit und waren uns auf Anhieb sympathisch. Ich war vom ersten Moment an verzaubert von ihrer Ausstrahlung, ihrem Lachen und vor allem von ihrer Weiblichkeit, die sie voller Stolz präsentierte. Ihre Rundungen, die Art, wie sie auf Menschen zugeht und dazu ihre blonde Lockenpracht vermittelten etwas Warmes und Vertrautes. Alle angereisten Gäste des Brautpaares waren in einer großen Villa untergebracht und konnten sich so am Abend vor der Hochzeit besser kennenlernen. Wir unterhielten uns den ganzen Abend, bis sie irgendwann sagte: „Jule, Du musst nach Berlin!“ Und auch wenn ich da noch nicht so recht verstand, was sie mir damit sagen wollte, ging mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Wie der Zufall es wollte, klappte es mit einem Job in Berlin und so folgte ich ein Jahr später, bewusst oder unbewusst, ihrer Aufforderung. Wir trafen uns zufällig wieder, als ich auf Wohnungssuche im Prenzlauer Berg war. Vor dem Schaufenster eines Designers hatte sie ein Schmuckstück entdeckt, als ich aus der Haustür nebenan kam. Obwohl wir uns erst ein Mal begegnet waren, erkannten wir uns sofort wieder, fielen uns in die Arme und freuten uns über das unverhoffte Wiedersehen. Vielleicht war sie mein Glücksbringer an dem Tag, denn ich bekam den Zuschlag für die Wohnung und konnte somit wenige Wochen später meinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlagern.

Ich weiß es noch genau: Der Sommer war viele Wochen ununterbrochen heiß und so, wie man es sich wünscht, so dass ich jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit nach Mitte fahren konnte. Ich fühlte mich wie frisch verliebt, mit Schmetterlingen im Bauch, und konnte mich nicht satt sehen an dieser großen, pulsierenden, aufregenden Stadt. Die Menschen so anders und bunt, schroff und unfreundlich aber ehrlich. Die Häuser mal schön, mal hässlich und meist mit Graffiti besprüht. Manche Straßen aus Kopfsteinpflaster und unsanierte Häuser im Prenzlauer Berg aber vor allem die übrig gebliebenen DDR-Straßenlaternen mit ihrem schummrigen Licht und die alten Zäune erinnerten mich an die Zeit vor der Wende, die schon mehr als 20 Jahre her war. Hier war vieles noch so, wie ich es aus dem Osten kannte.

Die Luft roch nach Sommer, Nostalgie und Vergangenheit, Freiheit und Abenteuer. Was mir am besten gefiel: jeder noch so paradoxe Lebensentwurf scheint in Berlin willkommen zu sein. Es gibt Menschen, die kleiden sich wie in den 20er, 50er, 70er, 80er Jahren und niemand findet das komisch. Die Klamotten, meist noch echte Originale, findet man auf den zahlreichen Flohmärkten. Mit Stöbern nach ganz bestimmten Dingen aus der Vergangenheit (ich nach Erinnerungsstücken aus der DDR) kann man dort sehr viel Zeit verbringen. Und wenn man irgendwann k.o. ist und keine Lust mehr hat, holt man sich beim fliegenden Händler, der eisgekühltes Bier im geklauten Einkaufswagen feilbietet, ein Tannenzäpfle, setzt sich in den Mauerpark und beobachtet die kuriosesten Menschen. Straßenmusiker aus der ganzen Welt spielen ihre Lieder und rocken das Publikum. Man sieht Tänzer, Jongleure und Zauberer – der Mauerpark ist am Sonntag wie eine große Open Air Bühne für Kleinkünstler. Selbst Untalentierte kommen beim Karaoke zum Zug und können sich vor tausenden von Menschen, die in den Rängen des Amphitheaters sitzen, ausprobieren oder blamieren. So oder so bekommen sie tosenden Applaus.

Davon abgesehen ist das Kulturangebot in Berlin etwas ganz Besonderes: geheime, improvisierte Dinner in Abrisshäusern an langen Tischen mit weißen Tischdecken und Kerzen, 20er Jahre Tanzkultur mit Swing, Charleston und Lindy Hop, Wasserwellen, Perlenketten, Pelzen und Zigarettenspitzen bei der Bohéme Sauvage – Gesellschaft für mondäne Unterhaltung, Running-, White- und Krimi-Dinner, Memoiren einer Bedeutungslosen im SOHO House, Burlesque Showtanz, Berliner Weiße, Bockwurst mit Bautz’ner Senf und Toastbrot im Garten von Clärchens Ballhaus, Tanzrevue im Friedrichsstadtpalast, Grill- und Tanzparties auf privaten Dachterrassen, Kleingärten oder Garagen, intime Konzerte von Weltstars oder Musikern aus meinem Kiez, wie Riders Connection, die ich im Mauerpark entdeckte. Berlinale hautnah, abgefahrene Kunstausstellungen und Vernissagen, aufsehenerregendes Theater an der Volksbühne, Tango im Monbijou Park u.v.m. München, woher ich kam, war dagegen langweilig und oberspießig.

Acht Jahre später ist diese Euphorie gänzlich erloschen. Was mich damals faszinierte, nervt mich heute nur noch. Die vielen Menschen, die unfreundliche, schnoddrige Art, der Verkehr und ganz besonders die Berliner Luft. Was damals nach Nostalgie und Abenteuer roch, schnürt mir heute die Kehle zu, lässt meinen Atem flach werden und löst einen regelrechten Fluchtreflex aus.

Die Stadt und ich, wir haben uns im Laufe der Jahre verändert - jede auf ihre Art. Mir wird plötzlich klar, dass Berlin nichts mehr mit mir zu tun hat. Die Situation, in der ich gerade bin, könnte der Auslöser dafür sein. Seit ein paar Monaten bin ich nach 25 Jahren zum ersten Mal arbeitslos und habe viel Zeit. Zeit zum Nachdenken und Fragenstellen: „Was bleibt, wenn der Job plötzlich nicht mehr das Wichtigste ist? Was ist der Sinn meines Lebens? Habe ich versagt, weil ich keine eigene Familie und Kinder habe, obwohl ich genau das immer wollte?“ Ich fühle mich immer öfter traurig und einsam, obwohl es in Berlin ein Überangebot an Ablenkung und Menschen in meiner Nähe gibt, die es gut mit mir meinen. Mir wird allmählich klar, dass die jahrelange Suche nach dem richtigen Partner auch eine Suche nach mir selbst war und dass ich mich scheinbar irgendwo verloren habe. Auf dem Weg von einem Ort, einem Projekt, einer Veranstaltung, einer Party oder einem Date zum anderen. Ich spüre, dass ich mich erden muss, um meine innere Balance wiederzufinden.

Es zieht mich zurück zu meinen Wurzeln, zurück in meine Heimat nach Schwerin. Zurück zu meiner Familie, die mich fast 30 Jahre lang nur zu Feiertagen oder an Wochenenden gesehen hatte. Ich will Alltag mit ihnen verbringen und dabei meine alte Stadt neu entdecken.

„Berlin kann jeder, Schwerin muss man wollen“ steht auf dem T-Shirt, das ich mir vor kurzem in der Touristeninformation am Schweriner Marktplatz kaufte. Ich will Schwerin, wenn auch erst einmal nur probeweise. Aber dafür musste ich jemanden finden, der bereit war für ein halbes Jahr meine Miete zu übernehmen. Doch niemand, den ich gern und ohne Bedenken in meine Wohnung gelassen hätte, meldete sich auf meine Anzeigen unter salzundbrot.com, wg-gesucht.de und ebay-kleinanzeigen.de. Zwei Wochen passierte so gut wie nichts. Dann ist Pfingsten und ich bei schönstem Wetter mit Nina, ihrem Bulli, Gitarre und Cajon auf dem Darß an der Ostsee. Wir genießen die Sonne, den Wind und die Wellen am Meer, fahren mit dem Fahrrad nach Ahrenshoop, um Fischbrötchen zu essen, machen zusammen Musik und haben viel Spaß beim Glamping mit bunten Solar-Lampions und Lichterketten am Bulli.

Am nächsten Tag ruft Claudia an und sagt: „Ich habe heute Nacht geträumt, dass ich mit William in deine Wohnung ziehe.“ William ist ihr Freund aus London, mit dem sie in Berlin zusammenziehen will. Ihre eigene Wohnung hat nur zwei Zimmer und ist zu klein für zwei Personen, die ihr Office @Home haben. Sie kommen ein paar Tage später und schauen sich meine Wohnung an, überlegen hin und her, können sich nicht entscheiden und müssen erst noch so einiges klären. Ich mache, was ich immer mache, wenn ich nichts machen kann: Ich fahre für zwei Wochen in den Urlaub nach Sri Lanka und lasse es mir zusammen mit meiner Cousine Manja gut gehen. Wer drei Mal täglich leckeres ayurvedisches Essen und vier Mal täglich Ölmassagen bekommt, denkt an gar nichts mehr und gibt sich dem Fluss des Lebens hin.

Als ich zurück komme, regelt sich wieder einmal alles von selbst: Claudia und William übernehmen meine Wohnung mit allem Drum und Dran, meine Hausverwaltung ist informiert, meine Kosten gedeckt und mein bis dato lockerer Plan, in die alte Heimat zurückzukehren, nimmt Gestalt an.

In Schwerin will ich den Kreis schließen. Zu abrupt hatte ich mit 18 Jahren die Stadt verlassen und war mit meinem damaligen Freund über Ungarn in den Westen geflohen. Der Grund dafür war eine Mischung aus günstiger Gelegenheit, Abenteuerlust und Freiheitsdrang, denn ich konnte mir eine Zukunft in Schwerin oder überhaupt in der DDR, die im September 1989 mit noch mehr Einschränkungen drohte, was Reisen, Studieren oder Konsumieren betraf, einfach nicht vorstellen. Irgendwie spüre ich jetzt, dass es da Dinge gibt, die jahrelang in Vergessenheit geraten sind und nun noch einmal hervor geholt und angeschaut werden wollen.

Was mir für die Umsetzung meines Planes noch fehlt, ist eine vorübergehende Unterkunft, denn eines will ich ganz sicher nicht: mit fast 48 Jahren wieder bei Mutti einziehen.

Nachdem ich die mir bekannten Internetseiten durchforstet, alte Bekannte gefragt und festgestellt hatte, dass es in Schwerin weder möblierte Wohnungen (außer überteuerte Ferienwohnungen) noch WG-Zimmer gibt, suche ich nach einer ganz normalen, bezahlbaren Wohnung in der Schweriner Innenstadt, d.h. eigentlich suche nicht ich, sondern meine Mutter und meine alte Schulfreundin Suse. Das Wohnungsprojekt wird zur Teamarbeit: Meine Mutter findet die Anzeige im Schweriner Tageblatt und Suse, mit der ich seit unserer Schulzeit bis heute guten Kontakt halte, besichtigt die 2-Raum-Wohnung im vierten Stock ohne Fahrstuhl aber dafür Balkon und fantastischem Ausblick über die Schelfstadt. Sie macht Fotos mit ihrem Smartphone und sendet sie mir per WhatsApp inkl. Sprachnachricht: „Jule, das ist deine Wohnung! Tue alles, damit du sie bekommst!“ Zwei Stunden später habe ich die Zusage vom Vermieter, ohne die Wohnung überhaupt gesehen zu haben. Zehn Tage später fahre ich mit einem Freund von Berlin nach Schwerin, um mir vom Hausmeister die Schlüssel abzuholen und schonmal ein paar Sachen heraufzutragen. „Suse hatte recht“, denke ich, als ich in der niedlichen Bude, direkt unterm Dach stehe. „Das ist meine Wohnung!“

Das Abenteuer Schwerin kann beginnen.

1 Eine Freundin bestellte in der Bar Tausend voller Überzeugung statt einen Hugo einen Horst. Das fanden wir so lustig, dass wir diese Namensänderung sofort übernahmen.

Als ich fortging (Karussell)

Darauf habe ich eigentlich gar keine Lust, aber als ich so dabei bin, finde ich es irgendwie auch ganz heilsam: Aussortieren!

Dabei komme ich mir ein bisschen wie Aschenputtel im 21. Jahrhundert vor: „Das nehme ich sofort mit. Das später. Das gar nicht. Das kommt in den Keller. Das zur Kleiderspende. Diese geliehenen Bücher muss ich noch zurückgeben. Wer könnte mit den Gutscheinen, die schon jahrelang bei mir herumliegen, etwas anfangen? Diese DVD muss ich unbedingt noch anschauen, bevor ich sie zurückgebe.“