Als meine Schwestern das Blaue vom Himmel holten - Susanna Mewe - E-Book
SONDERANGEBOT

Als meine Schwestern das Blaue vom Himmel holten E-Book

Susanna Mewe

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aber wir sind doch Schwestern …

Vom Freund vor die Tür gesetzt, sucht Mia Zuflucht bei ihrer Schwester Paula und deren idyllischem Heim mit Mann und Kind. Aber Paulas Ehe steht vor dem Aus. Gemeinsam mit ihren anderen beiden Schwestern will Mia nun Paulas Glück retten. Natürlich schlägt der schöne Plan fehl: Wie schon so oft, zerstreiten sie sich und suchen das Weite. Dann erfährt Mia, dass eine von ihnen ernsthaft erkrankt ist. Wieder einmal müssen sich die Schwestern zusammentun, um für einander da zu sein. Doch diesmal wirklich!

Ein besonderer Roman über vier Schwestern, die einander helfen wollen – und stets das Gegenteil bewirken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 396

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Informationen zum Buch

Aber wir sind doch Schwestern …

Vom Freund vor die Tür gesetzt, sucht Mia Zuflucht bei ihrer Schwester Paula und deren idyllischem Heim mit Mann und Kind. Aber Paulas Ehe steht vor dem Aus. Gemeinsam mit ihren anderen beiden Schwestern will Mia nun Paulas Glück retten. Natürlich schlägt der schöne Plan fehl: Wie schon so oft, zerstreiten sie sich und suchen das Weite. Dann erfährt Mia, dass eine von ihnen ernsthaft erkrankt ist. Wieder einmal müssen sich die Schwestern zusammentun, um für einander da zu sein. Doch diesmal wirklich.

Ein besonderer Roman über vier Schwestern, die einander helfen wollen – und stets das Gegenteil bewirken

Susanna Mewe

Als meine Schwestern das Blaue vom Himmel holten

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Dank

Über Susanna Mewe

Impressum

Leseprobe aus: Michel Bussi – Das Mädchen mit den blauen Augen

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Für Isabel

Kapitel eins

In den entscheidenden Momenten meines Lebens war ich immer mit anderen Dingen beschäftigt. So auch an dem Samstagmorgen, als Lars mit mir Schluss machte. Ich saß am Küchentisch und war gerade dabei, eine Übung für meine Kaumuskeln auszuführen, die mir mein Zahnarzt empfohlen hatte: Ich presste Mittel- und Zeigefinger auf mein Kiefergelenk und machte den Mund langsam auf und zu. Chronische Kiefergelenkschmerzen, meinte mein Zahnarzt, hätten nur Frauen in der Krise. Er sei noch nie einem Mann mit Kiefergelenkschmerzen begegnet. Dann verschrieb er mir eine Beißschiene.

Während mein Leben also den Bach hinunterging, machte ich Schnappbewegungen mit dem Mund. Zu meiner Verteidigung sei gesagt, es war nicht vorauszusehen, dass Lars mit mir Schluss machen würde – zumindest nicht an diesem Morgen und nicht für mich. Es war zehn Uhr morgens, draußen nieselte es seit Stunden, und ich hatte noch nicht einmal gefrühstückt. Lars stand am Spülbecken und wusch die Teller vom letzten Abend ab, aus dem Radio kam eine rauschende Mischung aus Nachrichtenfetzen, Moderatorengeplauder und den Bee Gees. Im Prinzip hätte es ewig so weitergehen können. Tat es aber nicht.

Stattdessen nahm Lars plötzlich seine Hände aus dem Spülbecken, so schwungvoll, dass der Schaum zu allen Seiten spritzte, und sagte, er könne so nicht weitermachen. Er drehte sich nicht einmal zu mir um. Er stand einfach nur da, mit traurig herabhängenden Armen, und von seinen gelben Gummihandschuhen tropfte Wasser auf die Fliesen.

Ich schloss den Mund und starrte auf das Müslischälchen vor mir auf dem Tisch. Die Cornflakes waren schon matschig geworden und hatten begonnen, sich in der Milch zu zersetzen. Wenn ich gewusst hätte, dass Lars an diesem Morgen mit mir Schluss machen würde, hätte ich mir ein richtiges Frühstück gemacht. Rührei mit Schinken oder wenigstens ein anständiges Butterbrot. Ich nahm den Löffel in die Hand, rührte ein paarmal in den Cornflakes herum, um Zeit zu gewinnen. Denn ich war in Panik. Ich trug einen übergroßen, labbrigen Herrenbademantel, der noch nicht einmal Lars gehörte, sondern seinem Vater, und hatte mir ein lächerliches Handtuch um die Haare geschlungen. Es war allzu offensichtlich, dass ich in absehbarer Zeit nicht einfach aus der Tür stürmen konnte. Nein, ich würde in der Wohnung herumrennen, wahllos ein paar Sachen zusammensuchen, mir die Haare fönen und tausend andere banale Dinge erledigen müssen, die sich nicht mit einem würdevollen Abgang vertrugen. Ich würde kopflos von Zimmer zu Zimmer stürzen, Bücher und CDs in meinen blauen Wildlederkoffer stopfen und wieder herausholen und Lars auf diese Weise zeigen, was er ohnehin schon wusste: dass es richtig gewesen war, mit mir Schluss zu machen.

Sprühkristalle durchstäuben die Luft. Es riecht nach einer Mischung aus Schwimmbad, schrillen Blütenträumen und ewigem Vergessen. Ich sitze in der Kabine einer Großtoilette, umgeben von anderen leeren Kabinen, das Grölen der Zuschauer in der Halle prallt an den Wänden ab, und ich habe Angst, dass ich jetzt mein Leben ändern muss.

In einer glücklichen Beziehung oder in einer, die man dafür gehalten hat (denn, ganz ehrlich, wie kann man eine Beziehung glücklich nennen, wenn sie damit endet, dass man sämtliche Ersatz-, Garagen- und Kellerschlüssel herausgeben muss?), entwickelt man ein blauäugiges, völlig substanzloses Selbstwertgefühl. In seinem Wahn bildet man sich ein, dass man so, wie man ist, ganz in Ordnung ist. Man redet sich ein, man könne – ungeachtet aller Defizite – einfach so bleiben; was natürlich lächerlich ist.

Draußen wird die Tür aufgerissen, ein Siegesgrölen dröhnt herein. Vermutlich haben die Eisbären im Stadion ihren hundertsten Treffer erzielt. Klackernde Schritte nähern sich meiner Kabine, und kurz darauf ragen spitze Lederpumps durch den Spalt.

»Mia? Bist du da drin?«

Geraldine ist Supervisorin und dafür zuständig, Garderobieren von zu langen Toilettenpausen zurückzuholen.

»Würdest du rauskommen?«

Eine höfliche Frage, die alle Antworten zulässt. Ich mag Geraldine. Sie hat dünnes blondes Haar, ihre eigentlich blauen Augen sind meist rot gefärbt von geplatzten Äderchen, denn sie steht ziemlich unter Druck.

»Mia, ich weiß, dass du da drin bist.«

Vermutlich hat sie mich auf einem der Monitore gesehen. Wenn irgendwo auf der Welt ein Terroranschlag verübt wird, werden in Veranstaltungsarenen wie diesen stets die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Das bedeutet, dass sich die Zahl der Männer, die in Security-T-Shirts vor Türen, Treppenhäusern und Fahrstühlen herumlungern, mindestens verdoppelt, während sich die Zahl der Kameras verdreifacht. Die Bilder werden von Männern im Untergeschoss ausgewertet, die stundenlang auf grobkörnige Monitore starren und wahllos in der Gegend herumzoomen auf der Suche nach einer Hostess, die es nach ihrer Schicht so eilig hat, dass sie sich schon im Gehen die Bluse vom Leib reißt.

Geraldine räuspert sich, und ich höre auf zu atmen. Vielleicht können wir ewig hierbleiben, jeder auf seiner Seite der Trennwand wie bei einer Beichte, die niemals stattfindet. Schließlich höre ich, dass sich ihre Schritte entfernen, und noch bevor ich Luft geholt habe, ziehe ich mein Handy hervor und rufe meine Schwester an. Nach dem zweiten Klingeln nimmt sie ab.

Wind tost in meinem Ohr. Ich stelle mir meine Schwester vor, wie sie mit ihren grünen Gummistiefeln im Garten steht, die Wangen leicht gerötet in der anbrechenden Dämmerung. Auf dem kurzgeschorenen Rasen liegt ein zusammengerechter Haufen Herbstlaub, und der Geruch von Holzkohle hängt in der Luft. Paula wischt sich die erdigen Hände an der Gartenschürze ab. An schweren Tagen stelle ich mir gern das Leben meiner Schwester vor. Warum auch nicht? Das Leben meiner Schwester ist schön. Sie hat einen guten Job, ein hübsches ziegelrotes Haus, das sich perfekt wie ein Legostein in die Reihen der Nachbarhäuser einfügt, und einen Mann, der sie niemals vor dem Frühstück zum Teufel schicken würde.

»Mia.« Sie klingt erfreut. So klingt sie immer, wenn ich anrufe, überrascht und gleichzeitig erwartungsvoll, als brächte ich stets gute Neuigkeiten. Ich frage sie, wie es ihr geht, was sie macht, und Paula stöhnt und sagt: »Ach nichts, ich häng den ganzen Tag schon durch«, was vermutlich bedeutet, dass sie einen Kindergeburtstag für dreißig Personen ausgerichtet oder irgendwem eine Niere gespendet hat. Sie erzählt mir von ihrem Garten, woraufhin ich ihr das Einzige erzähle, was ich heute aus der sogenannten realen Welt gehört habe: dass in Cornflakes-Packungen von Lidl Glasscherben gefunden worden sind und dass die Pressesprecher annehmen, es müsse im Produktionsprozess passiert sein. »Das ist aber merkwürdig«, sagt sie. »Wo kommen denn nur die Glasscherben her?«

Wir haben beide keine Ahnung, und wir sind schon fast dabei, uns zu verabschieden, als ihr doch noch etwas einfällt: »Was ist eigentlich mit deinem Klassentreffen? War das nicht nächstes Wochenende?« Paula hat Sara auf dem Markt getroffen. Die hat es ihr erzählt.

»Wer ist Sara?«

»Du weißt schon – die mit dem Pferdeschwanz und dem Pony. Die Kleine mit der Reibeisenstimme. Die als Erste diese komischen Leinenschuhe hatte, die ihr damals alle haben wolltet. War die nicht in deiner Parallelklasse?«

»Ach die«, sage ich, um die Sache abzukürzen.

»Jedenfalls hat sie gesagt, dass nächstes Wochenende euer Klassentreffen stattfindet.«

»Wirklich?«

Es wäre so leicht. Ich könnte sagen, dass ich fürs Wochenende komme, und dann bleibe ich ein paar Tage länger oder am besten gleich für immer, esse und schlafe und höre auf zu denken. Das Zimmer, das ich im Moment tageweise miete, gehört einer Querflötenspielerin und riecht nach ungewaschener Wäsche und nassem Hund. Trotzdem kostet es dreißig Euro pro Nacht. Wenn man darüber nachdenkt, ist das Ganze furchtbar ungerecht. Schließlich ist es nur ein Zufall, dass die Wohnung auf Lars’ Namen läuft. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber vermutlich liegt es einfach daran, dass er damals, als wir den Mietvertrag unterzeichneten, zufällig die richtigen Papiere zur Hand hatte und ich nicht. Es war keine große Sache. Schließlich war es damals das Leichteste der Welt, eine Wohnung in Berlin zu finden. Die Vermieter inserierten in Zeitungen und wollten so gut wie nichts von einem wissen. Und nur weil ich damals zu faul war, ein paar Formulare auszufüllen, hat Lars jetzt eine Wohnung, und ich bin obdachlos.

»Gehst du hin?«, fragt Paula.

»Ich weiß nicht.«

»Könnte doch interessant sein, die Leute von damals wiederzusehen. Nach all den Jahren.«

»Ja, könnte sein.«

»Komm doch einfach nächstes Wochenende zu uns. Du könntest ja auch noch ein paar Tage dranhängen.«

»Ich weiß nicht.«

Vor fünf Jahren wäre mir der Besuch eines Klassentreffens nicht als zu hoher Preis erschienen, um mich aus der Obdachlosigkeit zu retten. Aber da wusste ich auch noch, wie man die Art Gespräche führt, um die es auf Klassentreffen geht. Wie man Karrierewege abgleicht und das eigene Leben in Diagramme und stets ansteigende Erfolgskurven übersetzt. Wenn mich jemand fragte, was ich mache, warf ich mein Haar zurück und sagte: »Ich bin Journalistin. Im Moment arbeite ich als Volontärin für GuG.« Kurz für Green urban Glamour. Woraufhin diejenigen, denen das Trendmagazin für den anspruchsvollen, umweltbewussten Lebensstil ein Begriff war, ehrfürchtig nickten, während die anderen, vermutlich ein Großteil der Zuhörerschaft, verlegen auf den Boden starrten und sich dafür schämten, dass sie offenbar den Anschluss an ihre Generation verloren hatten.

Natürlich könnte ich auf dem Klassentreffen sagen: »Ich arbeite auf Messen, aber eigentlich – EIGENTLICH – bin ich freie Journalistin.« Das wäre weder gelogen noch ehrenrührig, sofern man nicht davon ausgeht, dass man mehr oder weniger automatisch aufhört, Journalistin zu sein, wenn sich der durchschnittliche Jahres-Output auf eine Buchrezension und eine ungedruckte Stimmungsreportage reduziert. Doch ich weiß einfach nicht, ob ich das schaffe, dieses EIGENTLICH mit der richtigen Betonung zu sagen, ob ich es überhaupt über die Lippen bringe. Gut möglich, dass ich aus Versehen sage: »Ich arbeite auf Messen, aber EIGENTLICH bin ich abends so müde, dass ich mich nur noch vor dem Fernseher zusammenrollen und Leuten dabei zusehen will, wie sie mit einem mir längst abhandengekommenen Eifer Karrieren als Superköche, Supermodels und Supersänger nachgehen.«

»Ich glaube, ich komme lieber ein andermal«, sage ich.

»Na gut«, sagt Paula. »Du musst es wissen. Du musst wissen, was für dich am besten ist.«

Und diese lächerliche Vorstellung, dass ich so was wissen müsste, treibt mir die Tränen in die Augen. Glücklicherweise zieht endlich mal wieder jemand die Toilettenspülung.

»Was ist los?«, fragt Paula. »Bist du noch da?«

»Ich bin noch da.«

Dann erzähle ich Paula, was passiert ist, weil ich meiner Schwester immer alles erzähle, und sie sagt, dass es ihr leidtue, so leid. Und dann sagen wir lange nichts. Es rauscht und tost in der Leitung, das ist Paulas Atem oder der Wind, jedenfalls hört es sich so an, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen.

»Weißt du noch, was die uralte Morla gesagt hat?«, fragt Paula.

Die uralte Morla ist die Schildkröte aus der »Unendlichen Geschichte« von Michael Ende. Sie wohnt in den Sümpfen der Traurigkeit, und natürlich weiß ich ganz genau, was sie gesagt hat. Früher haben Paula und ich in schweren Zeiten immer aus unseren Lieblingskinderbüchern zitiert.

»Es spielt alles keine Rolle?«

»Ganz genau«, sagt sie und röchelt mit asthmatischer Schildkrötenstimme: »Ähhs spiiiieeeelt aaaalllähs keinäh Rolläh.«

Und auch wenn es in meiner Lage vielleicht nicht ratsam ist, auf ein Wesen zu hören, das in den Sümpfen der Traurigkeit wohnt, fühle ich mich ein bisschen besser. Paula und ich sind beide getauft und gefirmt, doch das Einzige, woran wir wirklich glauben, ist unsere Kindheit. Vor ein paar Jahren wurde unser Elternhaus verkauft, und wir mussten es leerräumen. Damals saßen Paula, Lucy, Sophie und ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an einem Tisch. Auch wenn keine von uns vieren es aussprach, empfanden wir die Aufgabe, die vor uns lag, als Zumutung. Unsere Eltern hatten dieses Haus gebaut, es war einfach nicht fair, dass wir den Haushalt auflösen mussten. Wir hatten geglaubt, wir hätten den Tod unserer Eltern inzwischen verwunden. Doch was wir noch nicht begriffen hatten, war, dass er uns zu Waisen machte.

Wir wandten uns an einen Notar. Und während Paula und ich uns schluchzend gegenseitig Taschentücher über die Tischplatte zuschoben, starrten unsere beiden anderen Schwestern auf ihre Fingernägel und sagten, sie hätten nicht ewig Zeit.

Bei den wenigen Einrichtungsgegenständen, die meine Mutter behalten hatte, wurden wir uns schnell einig. Doch das Spielzeug war ein heikles Thema. Ehrlich gesagt, waren wir ziemlich überrascht, dass es überhaupt etwas aufzuteilen gab. Wir hatten geglaubt, unsere Mutter hätte unsere Sachen längst weggeworfen oder verschenkt – zusammen mit allem anderen. Stattdessen stießen wir in dem fast leeren Haus auf drei zum Bersten gefüllte Schränke mit Spielzeug.

»Was soll mit den Sachen geschehen?«, fragte der Notar und schaute jede von uns der Reihe nach an.

»Wegwerfen«, sagte Sophie.

Lucy schüttelte den Kopf. Sie schlug vor, jedes Stück einzeln zu fotografieren und auf einer »Achtziger-Neunziger-Nostalgie-Seite« zum Verkauf anzubieten. »Da gibt’s ein paar Freaks, die wirklich Geld dafür zahlen.«

Von all den Dingen, die wir einander antaten und die der Grund sind, warum wir uns heute nur noch sehen, wenn es Besitz aufzuteilen und Verwandte zu beerdigen gilt, glaube ich, hat Paula ihnen das am wenigsten verziehen. Bei jedem zweiten Telefongespräch fällt es ihr wieder ein, und jedes Mal ist sie von neuem empört: »Sie wollten unser Spielzeug weggeben! All unsere Sachen. Stell dir das vor!«

Am Ende setzte Paula sich durch. Bis wir alle wieder zur Vernunft gekommen sind, bewahrt sie unsere Spielsachen auf. Sie ist fest davon überzeugt, dass der Tag kommen wird, an dem Sophie und Lucy reuevoll an ihrer Tür klingeln und sie um ihre alten Matchboxautos und Malkästen anbetteln.

Für diesen Fall stehen auf Paulas Dachboden vier wellige Pappkartons sorgfältig nebeneinander aufgereiht. Auf jedem von ihnen ist eine krakelige Wachsmalzeichnung. Da ist Paulas roter Marienkäfer, Lucys schwarze Spinne, mein gelbes Kaninchen und Sophies blaues Krokodil. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich den Karton aufklappe und mich mit den Händen tief ins Innere wühle. Alles ist mit einer klebrigen Schicht überzogen. Es riecht süß und staubig, nach alter Zuckerwatte, Schrankmuff und Glück, und mit einem Mal weiß ich ganz genau, dass ich zu meiner Schwester fahren werde. Weil die nächsten Wochen entsetzlich werden, vermutlich noch entsetzlicher als die vergangenen. Und weil sich das Zeitfenster, in dem ich eine geringfügige Chance habe, der Realität wenigstens vorübergehend zu entfliehen, allmählich schließt.

Jemand klopft an die Klotür, und diesmal klingt es deutlich energischer. Wahrscheinlich hat Geraldine ihre Supervisorin geholt. Jeder Supervisor hat einen eigenen Supervisor, der ihm am Anfang des Monats per Losverfahren zugeteilt wird. Geraldines Supervisorin in diesem Monat heißt Birte. Wieder klopft es, die Klinke wird heruntergedrückt, und ich weiß, dass ich mich beeilen muss.

Kapitel zwei

Ich frage mich, mit wem ich als Nächstes schlafen werde. Ich stehe auf einem verregneten Kleinstadtbahnsteig, Berufspendler und Schüler mit derben Rucksäcken drängen sich an mir vorbei, und diese Frage ist für mich sicher nicht von unmittelbarer Bedeutung. Trotzdem schaue ich mich suchend um, als könnte mein nächster Sexpartner schon ganz in der Nähe sein: der Typ, der am Fahrkartenautomaten umständlich in seiner Brieftasche herumkramt, der Junge im Trainingsanzug, der einen glitzernden Spuckefleck vor seinen Füßen betrachtet. Der Mann mit den zehn Bierflaschen auf der Bank. Mein Unterbewusstsein ist bereit, ihnen allen eine Chance zu geben. Stattdessen kommt mein Schwager auf mich zu. Er hat den Kragen hochgeschlagen, was ihm ein untypisch grimmiges Aussehen verleiht; auch seine Schritte sind nicht ganz so raumgreifend wie sonst.

»Paula konnte nicht kommen«, ruft er mir entgegen, noch bevor er mich ganz erreicht hat, als befänden wir uns in einem tragischen Liebesfilm. Wie sich herausstellt, hat Paula ihren kleinen Sohn frühzeitig von einem Kindergartenübernachtungsdingsbums abholen müssen, nachdem er sich ungefähr eine Stunde lang kreischend am Türrahmen festgekrallt hatte. Mein Neffe Per ist, gelinde gesagt, nicht so der soziale Typ. Genau genommen ist er überhaupt ziemlich seltsam. Auch wenn Paula jedes Mal warnend die Augenbraue hochzieht, sobald ich das Thema anspreche. Pers Einschlafritual dauert geschlagene zwei Stunden. Inklusive sorgfältigen In-die-Decke-Einwickelns und Ungeheuerinspektion des Zimmers, die von beiden Elternteilen im Abstand von einer halben Stunde durchzuführen ist. An manchen Tagen kann Per die Farbe Violett nicht ertragen oder das Rascheln von Plastiktüten oder den Klang von Mädchennamen mit zu vielen s-Lauten. Mein Besuch ist für ihn ein schwarzer Tag, wie jedes Ereignis, das die normale Ordnung der Dinge durchbricht. Als Paula mich gestern anrief, um zu fragen, welchen Zug ich nehmen wolle, war ein schrilles Fiepen im Hintergrund zu hören, das während unseres gesamten Gesprächs nicht abriss. Paula behauptete, sie hätte sich im Antiquitätengeschäft einen altmodischen Wasserkessel gekauft. Aber im Grunde wusste ich, dass es mein Neffe war, der sich beim Gedanken an meinen Besuch wimmernd auf dem Boden wälzte.

Matthias sagt »hey« und »na«, um nicht fragen zu müssen: »Wie geht’s?«, und tätschelt mir die Schulter, als wäre ich seine osteoporosegeplagte Großmutter. Dann umarmt er mich steif, ohne dass sich unsere Oberkörper berühren. So machen wir das immer, doch heute wirkt Matthias unzufrieden mit seiner Performance. Er schnappt sich meinen Koffer und hievt ihn über den sich allmählich leerenden Bahnsteig. Das ist eigentlich nicht nötig, denn mein Wildlederkoffer hat Rollen. Trotzdem ist es irgendwie befriedigend, dabei zuzusehen, wie sich Matthias an meinem vollgestopften Gepäckstück fast die Schulter ausrenkt. Immerhin steckt mein ganzes Leben in diesem Koffer – wenigstens der Teil, den ich nicht bei Lars zurückgelassen habe.

Während der Fahrt blickt Matthias hochkonzentriert auf die Straße, um nicht mit mir reden zu müssen, und ich drücke Zeige- und Mittelfinger fest auf die Stelle, wo die Muskeln des Kiefergelenks an einem neuralgischen Punkt zusammenlaufen. Wir fahren an langen Reihen eingerüsteter Neubauten vorbei, an der Tankstelle, dem McDonald’s-Drive-in, dann über die Brücke. Der Fluss ist mal wieder über die Ufer getreten, und im reißenden Schlammbraun treiben Äste, Laub und Müll. Steil ragt der Schornstein der stillgelegten Textilfabrik in den Himmel, die in Lofts mit sauteurem Flussblick umgebaut wurde. An der Kreuzung muss Matthias bremsen. Die Ampelmasten schwingen, und Wind kräuselt die Oberflächen der Pfützen, zerrt an einem halb abgerissenen Wahlplakat. Auf einmal habe ich Angst, dass ich jetzt mein Leben ändern muss. Dass ich etwas Großes leisten oder einen anderen Menschen von mir begeistern muss. Das wird sicher nicht leicht. Schließlich war ich acht Jahre lang mit Lars zusammen, und diese Jahre zählen in der Singlewelt mal sieben: Das heißt, das letzte Mal, als ich versucht habe, Männer von mir zu überzeugen, war ungefähr 1959. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Regeln seitdem geändert haben.

»Es hat sich viel getan«, sagt Matthias, als wir in die Elstergasse einbiegen. Alle Straßen in der Wohngegend meiner Schwester sind nach Singvogelarten benannt. »Du wirst dich gar nicht mehr zurechtfinden.«

Ich nicke. In Wahrheit habe ich mich in diesem Viertel noch nie zurechtgefunden. Jedes Mal, wenn ich herkomme, sieht alles anders aus. Das liegt an der manischen Betriebsamkeit der Bewohner, die unablässig neue Häuser bauen, Gärten anlegen, Kinder zeugen und sich familienfreundliche Kombiwagen in die Garagen stellen. Mit ihren in der Sonne blinkenden Panoramafenstern und dem angriffslustigen Geheul ihrer Rasenmäher können sie einem Angst machen. Die Bürgersteige sind stets mit einer schneefrischen Schicht Bauschutt überzogen, als wollten sie zeigen, dass sie noch lange nicht fertig sind.

Paulas Haus gefällt mir am besten, obwohl es sich eigentlich kaum von den ziegelroten Backsteinbauten ihrer Nachbarn unterscheidet. Es erinnert mich an eins dieser Modellhäuser, die man in der Wüste Nevada gebaut hat, um die Auswirkung von Atomexplosionen zu testen; Häuser, die deswegen so perfekt sind, weil niemand je versucht hat, in ihnen zu leben.

Matthias besteht darauf, mir einen Kaffee zu machen. Ich habe noch immer meine Jacke an, denn ich fröstele. Ich würde mich gern unter einem Berg Decken zusammenrollen, drei Ibuprofen 600 schlucken und vierzehn Stunden lang schlafen. So geht es mir immer nach Schicksalsschlägen: Meine Körpertemperatur sinkt auf bedenkliche 34 Grad, das Blut zieht sich von der Hautoberfläche zurück, um Herz und Lunge am Laufen zu halten. Am Ende kann ich nur noch schlafen. Nach dem Tod meiner Mutter war es genauso. Meine Zehen und Fingerspitzen fühlten sich wochenlang taub an, und ich kam kaum noch aus dem Bett. Mein Zahnarzt, der mich anrief, nachdem ich ein halbes Dutzend Termine versäumt hatte, meinte, ich hätte eine Depression. Ich widersprach ihm nicht, wusste es jedoch besser. In Wahrheit fährt mein Körper in Zeiten der Not seine Vitalfunktionen einfach nur so weit herunter, dass ich die Krise überstehen kann.

Da ich nicht unhöflich sein will, versuche ich, nicht allzu auffällig zu gähnen, während Matthias rhythmisch mit Schranktüren klappert, Schubladen aufzieht und schwungvoll zuschnalzen lässt. In der Küche riecht es nach frischem Hefegebäck, und auf dem Tisch stehen endlose Reihen rot gefüllter Einweckgläser.

An der Kühlschranktür sind neue Fotos festgepinnt. Die Bilder unter den Magneten wechseln ständig. Keines bleibt länger als drei Monate. Im Moment dominiert noch der Sommerurlaub: Paula, Matthias und Per auf Fahrrädern unterwegs in der Dünenlandschaft. Paula, braungebrannt im Bikini, lacht mit verblitzten Augen in die Kamera. Ihre Zehen, für die sie sich schon seit ihrer Kindheit schämt, hat sie in den Sand gewühlt. Bilder von kreisenden Möwen und rot verbrannten Nacken. Gluthitze flirrt über dem Fischerdorf. Per hockt am Grund eines Sandlochs und starrt wütend in den blauen Himmel. Eisverpackungen wehen über den Strand. Und immer wieder Matthias. Auf Alltagsschnappschüssen hält er sich meist mit erdfarbenem Pullover und erhobenem Glas im Hintergrund. Hier aber ist er eindeutig die Hauptfigur. Er gräbt kompliziert verzweigte Abwassersysteme in den nassen Sand, stopft sich gabelweise exotische Pasta in den Mund oder posiert mit eingezogenem Bauch. Auf einem Bild hält er zwei Hummer mit zusammengebundenen Scheren in die Kamera und lacht, als hätte er einen Witz gemacht.

Weiter unten bei den Fotos, die sicher bald aussortiert werden, entdecke ich auch ein Bild von mir, in einem labbrigen T-Shirt, das nur knapp meinen Po bedeckt. Ein Stück Unterhose blitzt schwarz hervor, und mein strähniges Haar ist am Ansatz nachgedunkelt. Ich bin verwackelt und mit schlenkernden Armen auf dem Weg irgendwohin. Eine Männerhand umschließt meinen linken Oberarm. Eine Geisterhand, die mich aus dem Bild ziehen will, Lars’ Hand. Es ist der Tequila-Abend im Juli. Es gibt noch mehr Bilder, von Zitronenscheiben und weißen Salzrändern, von mir mit panisch aufgerissenen Augen und schweißverklebtem Haar. Doch das Bild mit der Hand spiegelt unsere Beziehung am besten. Lars, der erfolglos versucht, mich aus dem Bild zu ziehen, um mich vor der nächsten selbstverschuldeten Peinlichkeit zu bewahren.

»Du magst Zimt, oder?«, fragt Matthias und sieht mich so ernsthaft an, als hinge unser beider Schicksal von meiner Antwort ab.

»Ja, bitte«, sage ich und trete ans Fenster.

Draußen ist die Dämmerung angebrochen, der Herbstwind zerrauft Bäume und Sträucher. Der Garten wirkt kahlrasiert, die Hecken sind gestutzt, das Laub ist zusammengerecht, der Naturteich mit einer Plastikplane verdeckt. Es ist alles bereit für den Winter. Auf dem Grundstück nebenan raucht der Kamin. Bei meinem letzten Besuch stand das Haus noch leer. Jetzt steht da ein Mann auf der Leiter und bohrt in der Regenrinne herum. Die untere Hälfte seines Körpers ist von der Ligusterhecke verdeckt, die die Nachbargrundstücke trennt. Trotz des Wetters trägt er nur ein T-Shirt. Der Wind zerwühlt ihm das Haar, und er stochert und stochert, als gäbe es keine großartigere Art, seine Freizeit zu verbringen. Mit beiden Händen greift er in die Rinne, und ein kotbrauner Batzen Blättermatsch fliegt durch die Luft.

»Das ist Daniel«, erklärt Matthias. »Er ist im Frühjahr aus Dublin hergezogen.«

Er stellt sich neben mich ans Fenster, der Kaffee köchelt leise, ab und zu zischt es. Ein scharfer Geruch nach Verbranntem breitet sich in der Küche aus. Weil wir beide keine Ahnung haben, was wir sagen sollen, starren wir Daniel an. Wäre Daniel ein sensibler Mensch, würde er jetzt unsere Blicke im Nacken spüren und sich umdrehen. Zum Glück scheint der neue Nachbar meiner Schwester nicht allzu sensibel zu sein. Wir hätten ihm womöglich Angst gemacht.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als Paula uns das erste Mal von Matthias erzählte. Vor allem erinnere ich mich daran, wie erleichtert wir waren; so erleichtert, dass es beinahe lächerlich war. Paula hatte gerade einen Flirt mit den damals noch funkelnden Möglichkeiten des Onlinedatings hinter sich, und wir waren alle erschöpft. Unsere Mutter war kurz zuvor gestorben, und uns allen steckte das Gefühl in den Knochen, füreinander da sein zu müssen. Verdächtig oft begannen wir unsere Sätze mit »Mama hätte gewollt …«, »Mama würde jetzt …«. In Wahrheit hatte sich meine Mutter in den letzten Jahren so verändert, dass es unmöglich war, mit Sicherheit zu sagen, was sie tun würde oder gewollt hätte. Trotzdem stand für uns außer Frage, dass sie von uns erwartete, einander in Notzeiten beizustehen. Und Notzeit stand in neongrellen Buchstaben über Paulas Kopf. Wir waren die Einzigen, die ihr helfen konnten; ein belastendes und zugleich erhebendes Gefühl. Denn seit wir ausgezogen waren, hatten wir uns mit Lichtgeschwindigkeit voneinander entfernt. Vielleicht suchten wir deshalb so verzweifelt nach der einen großen Geste, die unsere Loyalität bewies, weil wir hofften, uns auf diese Weise mit einem Schlag von aller Verantwortung freikaufen zu können. Wir lauerten förmlich darauf, wer als Erstes zusammenbrechen würde. Doch nie hätten wir damit gerechnet, dass es ausgerechnet Paula sein würde.

Als ihr Freund Tom nach Jahren des Auf und Ab exakt vierzehn Tage nach der Beerdigung mit ihr Schluss machte – wahrscheinlich hatte er Kerben in seinen Bettpfosten geschnitzt –, gingen wir noch ganz selbstverständlich davon aus, dass sie schnell darüber hinwegkommen würde. Stattdessen drehte Paula vollkommen durch. Und so saßen wir Schwestern nachts in unseren Bruchbuden oder Apartments in unseren verschiedenen Großstädten, durch eine wackelige Dreierschaltung verbunden, die uns gern mitten im Satz unterbrach, lauschten, rauchten und gähnten und hielten uns über die unüberbrückbaren Distanzen unserer Landesgrenzen und Lebensentwürfe hinweg über Paulas Krise auf dem Laufenden.

»Sie heult nur noch.«

»Sie hat zehn Kilo abgenommen.«

»Sie sagt, sie kann nicht mehr schlafen.«

Als dann noch ihre Wohnung abbrannte und Paula mit einer leichten Rauchvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wurde, schleppten wir sie zum Psychiater, einem sanften, nach Lavendel duftenden Iraner, der Paula sofort ins Herz schloss und ihr versprach, da draußen warte ein Mann auf sie, der sich danach sehne, die Wunden ihrer Seele mit seiner Zärtlichkeit zu heilen. Unserer Meinung nach überschritt er damit seine Kompetenzen, doch Paula reagierte euphorisch. Mit ihrer sirrenden, fast manischen Energie hielt sie uns fortan auf Trab: Sie meldete sich in Singlebörsen an, die Namen trugen wie »Premium-Partners«, »FlirtHeaven.de« oder »OkayCupid«, las verstörende Bücher und färbte sich ihr Haar kupferrot. Sie fotografierte sich in Dessous mit Selbstauslöser, in einer Zeit, in der man das nicht Selfie nannte, sondern egozentrisch. Sie schrieb verliebte Mails und furchtbare Gedichte und schluchzte uns stundenlang ins Telefon. Ganze Samstage lang saß sie in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer bei Duftkerzenschein und hörte sich Nick Cave in seiner Gekreuzigter-Jesus-Phase an. So konnte das nicht weitergehen, da waren wir uns alle einig. Umso mehr fieberten wir ihren Rendezvous entgegen. Wir hofften, dass Paula Liebe finden würde und wir selbst Erlösung. Doch wie sich herausstellte, lagen ein paar Stolpersteine auf dem Weg von der virtuellen Welt in die reale. Dabei war Paula hochmotiviert. Den Kopf voller Bilder und fast schon verliebt, traf sie sich in schummrigen Cafés, ging unter Ahornbäumen spazieren oder sah sich schwedische Filme mit französischen Untertiteln an, nur um am Ende voller Entsetzen ins Telefon zu flüstern: »Er sieht aus wie ein Lolli.«

Die Männer waren im Großen und Ganzen nett, das gab sie zu. Sie hatten bei ihren Internetprofilen nur mäßig gelogen, waren sympathisch und sagten kluge Dinge. Doch schon wenn Paula sie das erste Mal sah, wie sie mit scheu erblühendem Lächeln auf der Straße auf sie zukamen, wurde ihr flau im Magen. Sie versuchte es uns zu erklären: »Wenn ich ihnen in Wirklichkeit begegne, sehen sie so anders aus. Auf dem Bildschirm haben sie breite Schultern und wirken kompakt; man möchte sie anfassen. Aber wenn sie mir dann auf der Straße entgegenkommen, sind sie so unheimlich dünn. Und je näher sie kommen, desto dünner werden sie. Es ist echt gruselig. Auf einmal haben sie Strichmännchenkörper, und ihre Köpfe sind riesig. Wirklich übergroß.«

Lollis eben. Es war jedes Mal das Gleiche. Jeder von uns über Wochen mühsam aufgebaute Traummann verwandelte sich innerhalb weniger Sekunden in einen Lolli.

Wir waren uns ziemlich sicher, dass es sich um eine Panikreaktion handelte.

»Sie kann ihre Vorstellung nicht mit der Realität in Einklang bringen«, sagte ich. »Im Grunde ist es eine projizierte Dysmorphie.«

»Hör auf, im Internet zu googeln«, sagte Lucy.

»Im Ernst«, sagte ich, »vielleicht sollte sie Tabletten nehmen.«

»Knistert es in eurer Leitung auch so?«, fragte Sophie.

»Ich esse Chips«, sagte Lucy.

»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte Sophie.

»Vielleicht ist dieses Onlineding keine gute Idee«, sagte ich.

»Was wäre denn die Alternative?«, fragte Lucy. »Die reale Welt vielleicht?« Ein ohrenbetäubendes Krachen erklang in der Leitung wie das Bersten von tausend Knochen.

»Ich wünschte, du könntest damit aufhören«, sagte Sophie. »Das ist wirklich laut.«

»Wisst ihr eigentlich, dass ich einen Achtzehn-Stunden-Tag habe und täglich Entscheidungen treffe, die Leute ihre Existenz kosten?«, sagte Lucy. Sie klang ziemlich zufrieden mit sich.

»Vielleicht liegt es an Papa«, sagte ich. »Er hatte ja einen ziemlich großen Kopf. Ich meine, im Vergleich zu seinem Körper. Wenn ich mich richtig erinnere, war er doch eher schmächtig, oder?«

»Ich glaube, ich klinke mich aus«, sagte Sophie, sagte Lucy, sagte ich, sagte jede von uns zu verschiedenen Zeitpunkten. Aber keine tat es. Keine klinkte sich aus. Stattdessen trösteten wir Paula, flehten sie an, zur Therapie zu gehen, ermutigten sie, obwohl wir selbst längst den Mut verloren hatten. Wir baten sie, keine bewusstseinserweiternden Drogen zu nehmen, und kamen immer wieder zu Besuch. Ich glaube, unsere eigene Selbstlosigkeit überraschte uns selbst, denn wir hielten uns – zu Recht – für ziemliche Egoisten. Es war anstrengend, konstruktiv zu bleiben, während unsere jahrzehntealten Ressentiments mühsam gedeckelt vor sich hin köchelten. Die anfangs noch anregende Krisenstimmung begann an unseren Kräften zu zehren. Hinzu kam, dass wir damals alle noch wahnsinnig beschäftigt waren. Sophie kämpfte sich gerade durch ihr hundertstes Praktikum, Lucy wetzte ihre Zähne am Raubtierkapitalismus, und ich versteckte mich bei After-Hour-Partys auf der Toilette, wann immer die Diskrepanz zwischen meiner dynamischen Jungjournalisten-Persona und mir selbst zu groß wurde.

Die Dauerkrise unserer Schwester zerrte an unseren Nerven. Wir fragten uns, wie lange wir noch durchhalten würden. Und dann kam Matthias, der uns praktisch von seiner ersten Erwähnung an – schon sein Name gefiel uns – in einen wohligen Beruhigungszustand versetzte. Er war unscheinbar, aber wunderbar normal, und dieses Aber spielte bei ihm eine große Rolle. Er hatte einen kleinen Bauchansatz, aber ein männlich kantiges Kinn. Seine Augen standen ein wenig zu eng zusammen, aber er hatte ein nettes Lächeln. Er las nie Romane, nur Sachbücher, die von irgendwelchen Leuten handelten, die sich im Gebirge verirrt hatten oder hundert Tage auf dem offenen Meer getrieben waren. Dafür konnte er lange Dialogpassagen aus unseren Lieblings-Neunziger-Jahre-Sitcoms zitieren. Sein Job war nicht besonders aufregend, aber solide, irgendetwas im Verwaltungswesen – in der Buchhaltung? Ehrlich gesagt, verlor sich an dieser Stelle auch für Paula seine berufliche Spur. Kurzum, er wusste seine Minuspunkte geschickt mit Pluspunkten auszugleichen und hielt die kritische Balance, die den Unterschied zwischen einem guten Fang und einem Fehlgriff ausmacht. Wahrscheinlich wären wir bei einem eins neunzig großen Traummann ohnehin misstrauisch geworden.

Selbst die Geschichte ihres Kennenlernens klang herrlich normal. Es war die Art Geschichte, die man zwanzig Jahre später seinen mäßig interessierten Gästen beim Nachtisch erzählen kann (»Fang du an!«). Paula hatte Matthias bei einem Abendessen mit Freunden kennengelernt, zu dem sie eigentlich nicht hatte gehen wollen (»Stell dir vor!«). Sie hatten Scharade gespielt, grellbunte Cocktails aus trichterförmigen Gläsern getrunken, und Matthias hatte als Einziger den Begriff Schreckschraube erraten (»Sie hat so komisch mit den Armen gerudert.«). Danach hatte sich Paula noch von Matthias zum Taxi begleiten lassen, und beim Abschied hatte er sie erst zweimal feucht auf die Wange geküsst, dann ein drittes Mal auf den Mund. Im Nachhinein war sich Paula nicht sicher, ob der Mundkuss nicht ein Versehen gewesen war. »Vielleicht ist er nur verrutscht. Er könnte die Orientierung verloren haben«, sagte sie zweifelnd. »Es war dunkel, und wir waren ziemlich betrunken.«

»Wie findest du ihn denn?«, fragten wir und hielten kollektiv den Atem an.

»Nett«, sagte sie, um nach einem Zögern beinahe widerstrebend zuzugeben: »Ein ganz normaler, netter Kerl.«

Wir waren begeistert. Wir konnten uns gar nicht genug Geschichten anhören, die bewiesen, wie nett und normal er war. Denn, sehen wir den Tatsachen ins Auge, bei einem alleinstehenden Mann Ende dreißig ist außergewöhnlich nicht unbedingt ein Kompliment. Nach dem Tod unserer Mutter klammerten wir uns ohnehin wie verängstigte Kleinkinder an die Normalität. Als Teenager hätten wir Paula wegen des netten Matthias fertiggemacht – nun wurden wir zu seinen Anwältinnen. Als Paula kurz vor der Hochzeit kalte Füße bekam, waren wir fast persönlich beleidigt. »So einen wie den findest du nie wieder«, schrien wir ins Telefon. Das war natürlich gelogen, aber wir hatten ein gutes Gewissen, und am Ende gab uns die merkwürdig anrührende Hochzeit recht. Paula hüpfte in einem aufgeblähten Hochzeitskleid, das aussah wie ein Airbag, durch den Partysaal; und obwohl sie den ganzen Abend lang nur Orangensaft trank, glühten ihre Wangen, und sie umarmte uns wieder und wieder und flüsterte uns ins Ohr, wie lieb sie uns hatte. Die wenigen Gäste wirkten alle ein wenig verlegen. Einige hatten erst durch die Hochzeitseinladungen erfahren, dass meine Schwester sich von Tom getrennt hatte. Auch weil alles so schnell gegangen war, hatten sich Paula und Matthias bei ihrer Hochzeit für die dezente Variante entschieden: Standesamt statt Kirche, nur Freunde und Familie, das kleine Buffet und um Gottes willen keine Live-Band. Es war, als hätten sie bei dem Bestellzettel für Hochzeitsfeiern statt Premium oder Deluxe das Sparkästchen angekreuzt. Nur das Hochzeitskleid, den weißen Traum in Tüll, wollte Paula unbedingt. »Ein Brautkleid für eine nichtkirchliche Trauung. Ich dachte, so was machen nur die Russinnen«, lautete der Kommentar meines Vaters, als er sich ein Jahr später die Bilder ansah. »Und ihr seht alle aus wie Schlampen.« Das stimmte. Wir waren unglaublich dick geschminkt, mit dreimal getuschten, klebrig schwarzen Wimpern. Die Abdrücke unserer lipglosstriefenden Münder klebten auf Sektgläsern und Hemdkragen. Es war wohl die Erleichterung, die uns alle ein wenig ausflippen ließ. Denn dies war auch unser Fest, schließlich hatte unser Mann das Rennen gemacht. Den ganzen Abend lang warfen wir uns triumphierende Blicke zu. Paula feierte ihre Hochzeit, und wir bejubelten unsere Freiheit. Von einem Tag auf den anderen hatten wir genug voneinander. Heute weiß ich nicht einmal mehr, wie eine Dreierschaltung funktioniert. Lucy, Sophie und ich schrumpften unsere Beziehung auf E-Mail-Größe, stopften uns gegenseitig in Sammelverteiler und sahen uns nur, wenn es unvermeidbar war. Damit waren wir alle ganz zufrieden.

Nebelweicher Dampf quillt aus meinem Kaffeebecher. Und während ich mit dem Löffel Zimtpuder, Schokoladenstreusel und Milchschaum durcheinanderrühre, weiß ich, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Matthias ist ein guter Mann: Er sagt mir, ich solle meine feuchten Stiefel ausziehen, und bringt mir stattdessen ein Paar bunter Wollsocken mit Gumminoppen. Er empfiehlt mir, ein Entspannungsbad zu nehmen, und nennt Lars einen Womanizer. Anscheinend ist er stolz auf dieses Wort, denn er wiederholt es mehrmals: »Womanizer.«

»Es gibt keine andere Frau«, sage ich und kriege gleich darauf einen Schreck. Woher will ich das eigentlich wissen? Lars ist nicht der Typ für Affären, beharrt eine altkluge, besserwisserische Stimme in meinem Innern. Das ganze damit verbundene Beiwerk wäre ihm unerträglich, die schlaflosen Nächte, schmuddeligen Autorücksitze und heimlichen Telefonate. Das alles passt nicht zu Lars’ Verständnis von psychischer und physischer Hygiene. Es gibt einfach keine saubere Art, eine Affäre zu haben.

Ob bei seiner Karriere oder in unserer Beziehung, Lars ging schon immer alles methodisch an. Wenn wir stritten, versuchte er, mich mit Argumenten zu überzeugen. Er redete und redete, bis wir eine Lösung gefunden hatten oder ich aus schierer Erschöpfung nachgab. Er ertrug es nicht einmal, einen benutzten Teller länger als eine Viertelstunde im Spülbecken stehen zu sehen. »Ich kann nicht verstehen, dass dich dieses Chaos nicht nervös macht«, sagte er dann und griff zum Spülschwamm. Nein, wenn Lars Interesse an einer anderen Frau hätte, dann würde er das anders angehen. Er würde vorher einen Schlussstrich ziehen, so viel steht fest, und danach würde er geduldig abwarten, bis die Kratzer, die ich in seinem perfekten Leben hinterlassen habe, endgültig verblasst wären.

Bei dem Gedanken überläuft mich ein Kälteschauer. »Ich muss mich hinlegen«, sage ich mit einer Stimme, die selbst in meinen Ohren kläglich klingt. Doch Matthias hört einfach nicht auf zu reden. Er erzählt mir von »Womanizern« und »Ehebrechern«, Geschichten von Betrug und Verrat. Er erzählt mir von Familienvätern, die ihre Ehefrauen und Kinder nach zwanzig Jahren sitzenlassen, von vorgeschobenen Geschäftsreisen und SMS-Romanzen. Er erzählt von Tangas in Couchritzen und einstweiligen Verfügungen, und ich weiß nicht, woher er das alles hat und was das mit mir zu tun hat. Ich wünschte, Paula wäre hier. Ich nicke ein paarmal und sage »gut, gut«, als wolle ich einen um einen Tisch voller Porzellangeschirr tobenden Hund beschwichtigen, aber Matthias redet einfach weiter, stammelt und stellt mir Fragen, die ich nicht beantworten kann (»Meinst du, sie hat etwas geahnt von dem, was er getrieben hat?«). Irgendwann bin ich so erschöpft, dass ich mich wortlos umdrehe und die Küche verlasse.

Auf der Wendeltreppe bohrt sich der Nackenschild eines Hartgummidinosauriers in meinen Fuß. Per muss ihn auf der Stufe liegen gelassen haben. Mein Neffe liebt Dinosaurier. Matthias ist mir gefolgt und redet immer noch. Erst als wir mein Zimmer betreten, verstummt er. Tatsächlich handelt es sich um mein Zimmer, kein Gäste-, Arbeits- oder Wäschezimmer. Im Haus meiner Schwester habe ich mein eigenes Zimmer, und wenn ich nicht da bin, steht es leer. Alles ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Durchs gekippte Fenster weht eine rauchige Herbstbrise, die Zweige des Kastanienbaums schlagen gegen die Scheiben, gleichzeitig bollert die Heizung auf höchster Stufe. Auf meinem mädchentraumrosa Bett liegen meine Stofftiere Mr. Mops, Wauwi, Bulli Schwein und das Strickkaninchen, eine zerrupfte kleine Armee. Paula muss sie vom Dachboden geholt und sogar in die Waschmaschine gesteckt haben. Sie wirken sehr sauber, weniger bunt und ein bisschen zusammengeschrumpft. Auf dem Nachttisch stapeln sich Monatspackungen Aspirinpulver mit Vitamin-C-Zusatz.

Tränen steigen mir in die Augen, und ich würde gern glauben, dass es Tränen der Dankbarkeit sind, nicht des Selbstmitleids. Denn ein Teil von mir ist bereit, dankbar zu sein – trotz allem. Ein anderer, armseligerer Teil von mir will mit dem Handy ein Foto schießen und es Lars schicken, um ihm zu zeigen, wie wahre Liebe aussieht.

Ich lasse mich auf die Bettkante sinken und rechne damit, dass Matthias jetzt geht. Stattdessen setzt er sich so dicht neben mich, dass unsere Oberschenkel sich fast berühren und mein Rücken starr wird wie Panzerglas.

»Meinst du, das zwischen dir und Lars kommt wieder in Ordnung?«, fragt er.

Ich zucke die Achseln. Im Grunde kann ich mich an kaum etwas erinnern, was Lars an jenem Samstagmorgen zu mir gesagt hat. So geht es mir oft in Stresssituationen. In meinen Ohren fängt es an zu rauschen, und ich kriege die wichtigen Informationen nicht mit. Bei einem Flugzeugabsturz wäre ich verloren. Ich würde nie mitkriegen, wo die Notausgänge sind oder an welcher Leine ich ziehen muss. Wenn die Maschine in den Sturzflug geht, würde ich einfach dasitzen, und während um mich herum Panikgeschrei ausbricht, elektrische Blitze die Kabinen durchzucken und die Klugen sich in Schwimmwesten zwängen – denn natürlich sind wir mitten über dem Atlantik –, würde ich mich an meinem Sitz festklammern und mit angehaltenem Atem darauf warten, dass die eisige Schwärze über mir zusammenschlägt.

»Hast du ihn betrogen?«

Ich zucke zusammen. Ich bin ehrlich schockiert, übertreibe aber in meiner Reaktion extra ein bisschen. Ich ziehe die Schultern bis zu den Ohrläppchen hoch und reiße die Augen auf, um Matthias zu verstehen zu geben, dass er eine Grenze überschritten hat. Im Ernst: Solche Gespräche führen wir nicht miteinander. Wir sagen »Hol mir ein Bier« oder »Schäl das« oder »Kennst du schon diese brandneue Seite, auf der man diese tolle US-Serie streamen kann und die wahrscheinlich noch während wir reden gesperrt wird?«. Wir sind nicht auf der Hast-du-deinen-Partner-betrogen-Ebene. Ich warte darauf, dass Matthias rot wird und sich entschuldigt, doch das tut er nicht. Er sieht mich nur an. Sein Gesicht ist so nah, dass ich die winzige rot geplatzte Ader in seinem Augenweiß sehen kann. Anscheinend steht auch er unter Druck.

»Wie kommst du darauf?«, frage ich.

Dabei ist die eigentliche Frage natürlich: Warum sage ich nicht einfach nein? Nicht oft bietet sich eine so perfekte Gelegenheit, sich mit der eigenen Schuldlosigkeit zu brüsten. Denn folgt man der gängigen Definition von betrügen, habe ich mir in meiner Beziehung nichts zuschulden kommen lassen. Abgesehen von ein paar betrunkenen Partyknutschereien mit Männern, die ich bei einer Gegenüberstellung am nächsten Morgen nicht mehr hätte identifizieren können (angesichts einer fast zehn Jahre dauernden Beziehung ein Kavaliersdelikt), war ich schon fast zwanghaft treu. Leider dämmert mir schon seit ein paar Jahren, dass sich bei Beziehungen nicht alles um Körperflüssigkeiten dreht.

Matthias scheint meinen inneren Kampf bemerkt zu haben, deutet ihn jedoch falsch. »So was kann passieren«, sagt er und nickt mir ein paarmal ermutigend zu. »Ich würde dich nicht dafür verurteilen. Das Leben ist kompliziert.«

An dieser Stelle fällt es mir schwer, ein taktloses Auflachen zu unterdrücken. Selbstverständlich ist mein Leben kompliziert. Aber was, bitte, soll kompliziert sein am Leben meines Schwagers? Er hat eine wunderbare Frau, ein schönes Haus, ein nettes, wenn auch etwas eigenartiges Kind. Unglück ist kompliziert, Glück sollte einfach sein. Noch mehr als seine Worte erschreckt mich sein Blick. Er sieht mich an, als wolle er mir Dinge erzählen, die ich nicht hören will.

Ich will keine Geheimnisträgerin sein. Das sagte meine Mutter immer, wenn eine von uns ihr etwas ins Ohr flüstern wollte.

Meine Mutter bestand damals nur aus Ellbogen und Knien, und auf ihren Schoß zu klettern war wirklich kein Vergnügen. Doch noch bevor unsere nassen Lippen ihr Ohrläppchen streifen konnten, schüttelte sie den Kopf, die Augen weit aufgerissen, feine Bröckchen Tusche an den Wimpern, die Lippen geformt zu einem perfekten Stummfilm-O: »Ich will keine Geheimnisträgerin sein«, rief sie mit hoher Kleinmädchenstimme. Sie verstellte ihre Stimme, um uns zu zeigen, dass sie ihre Panik nur spielte – für uns. Und ich weiß noch, dass ich meine Mutter schon damals, als Grundschulkind, ziemlich seltsam fand.

Wovor hatte sie denn bitte so große Angst? Hätte sie uns gelassen, hätten wir ihr von den schimmelnden Pausenbroten erzählt, die Sophie in ihrer Sockenschublade versteckte, oder von Lucys Hamsterentführung (sie drohte, Wolli ein Bein zu brechen, sollten wir ihre Forderungen nicht erfüllen). Wir hätten ihr den Liebesbrief gezeigt, den Paula in einer Doppelstunde Mathe an Herrn Paul geschrieben hatte, der mit neununddreißig der jüngste Lehrer im Kollegium des Gymnasiums war und der Einzige an der ganzen Schule, der Krafttraining betrieb (dass er schwul war, erfuhren wir erst später). Vielleicht hätten Lucy, Sophie oder Paula ihr auch von mir berichtet, wie ich mit verdrehten Augen und vorgestreckten Armen nachts in ihre Zimmer stolperte. Jahrelang tat ich so, als würde ich schlafwandeln, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich Angst vorm Alleinschlafen hatte.

Solche Geheimnisse hätten wir meiner Mutter preisgegeben. Die Sorte Geheimnisse, über die Väter und Mütter, wenn sie unter sich sind, in Verzückung geraten. Aber irgendetwas sagt mir, dass Matthias’ Geständnis nicht entzückend sein wird. Und selbst wenn sich das Ganze, wovon ich ausgehe, lange vor Paulas Zeit zugetragen hat, will ich es nicht wissen. Im Grunde ist es mir nämlich egal, ob sich diese Geschichte vor dreißig Jahren oder auf dem Planeten Pluto abgespielt hat. Denn meine Schwestern und ich haben für diesen Mann gebürgt.

»Weißt du«, sagt Matthias und stockt. Sofort kalkuliere ich meine Fluchtmöglichkeiten: Ich könnte so tun, als hätte ich meine Tage, hektisch in meiner Handtasche kramen, bis meine Finger ein imaginäres Tampon umschließen, und aus dem Zimmer stürzen. Das mache ich oft so. Im Grunde verstecke ich mich schon mein ganzes Leben lang auf Toiletten. Ganze Jahrzehnte lang habe ich in Restaurants, Schulen, Clubs, Messehallen und Universitäten auf zugeklappten Toilettendeckeln gehockt, auf die Fliesen gestarrt oder meine mal mehr, mal minder ansehnlichen Schenkel.

Ich will keine Geheimnisträgerin sein.

Matthias wirft mir einen fragenden Blick zu, was verständlich ist, denn ich bin bereits aufgesprungen und habe die Hand auf die Türklinke gelegt.

In diesem Moment fällt die Haustür unten ins Schloss. Die Glasscheiben vibrieren, der Boden zittert: Paula beherrscht das fröhliche Türenschmettern wie keine andere. Und ich lache, so erleichtert bin ich, denn jetzt ergibt auch meine Hand auf der Türklinke einen Sinn. Ich gehe langsam aus dem Zimmer, ziehe die Tür hinter mir zu, behutsam und blitzschnell, wie man eine streunende Katze einsperrt.

Kapitel drei

Am siebten Tag ruft Lars an.

»Hallo«, sagt er mit einer Stimme, an der man abperlt wie Wassertropfen an einer Duschwand.

Eigentlich könnte ich gleich auflegen. Stattdessen sage ich »hey« und noch einmal »hey«. Ich hasse es, wie meine Stimme klingt, überkippend und atemlos, als wäre ich gerade zu schnell aus einem tiefen Schwimmbecken hochgetaucht. Aber immerhin besteht die Möglichkeit, dass ich in den nächsten Minuten erfahren werde, warum Lars mich verlassen hat.

Um die Antwort vorwegzunehmen: Ich erfahre absolut gar nichts. Stattdessen führen Lars und ich ein Gespräch, dem es an allem fehlt: an Rationalität, Einfühlungsvermögen und gegenseitiger Wertschätzung; es ist ein Gespräch, für das wir uns den Rest unseres Lebens schämen sollten.

Hier ein Auszug:

Lars: »Wie geht es dir?«

Ich: »Ich bin bei meiner Schwester.« (Non sequitur.)

Lars: »Das ist gut, wirklich.« (Warum?)

Ich: »Und du?« (Kohärenz?)

Lars: »Ich habe gerade viel zu tun.«

Er räuspert sich und schweigt. Er schweigt so lange, dass ich unruhig werde und den Kardinalfehler des nervösen Verkäufers begehe. Ich biedere mich an:

»Es ist schön, von dir zu hören. Wir sollten miteinander reden. Wir sollten uns bald treffen und miteinander reden.«

»Ja.« Pause. »Ja.« (Schlimmer als nein.)

»Aber wenn du keine Zeit hast …«

»Nein, nein.« (In diesem Fall heißt nein nein.) »Es ist nur … wir haben im Büro gerade einen wichtigen Auftrag reinbekommen. Es wird ziemlich knapp. Wir haben Samstag noch ein Meeting. Ich muss die ganze Woche durcharbeiten, also …«

Das Wort »Meeting« verschlägt mir die Sprache. Er sagt Meeting, als wüsste ich nicht, dass sein Büro aus vier lose gruppierten, von allen Seiten einsehbaren Schreibtischen besteht, in einer Etage, die er sich mit Werbern, Schreibern, Übersetzern und anderen Fleißiges-Bienchen-Existenzen teilt; ein Ort, der zwar über die modernsten Laserdrucker und ein lichtgeschwindes Internet verfügen mag, nicht aber über funktionierende Toiletten.

Und dann fällt mir zu allem Überfluss auch noch Cora ein, Lars’ Kollegin mit dem Oxford-Abschluss und der Oberschenkellücke.