Als sich unsere Herzen trafen - Anna Mansell - E-Book

Als sich unsere Herzen trafen E-Book

Anna Mansell

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Beschreibung

Freundschaft heilt alle Wunden

Auch wenn Kats Herz gebrochen ist, in ihrem Job als Krankenschwester hat sie alles fest im Griff. Zumindest glaubt sie das. Bis sie eines Tages einer neuen Patientin begegnet. Zum allerersten Mal ist Kat ratlos. Denn Susan, die Mittfünfzigerin mit den freundlichen Augen, hat zwar einen schweren Verkehrsunfall überlebt, doch nun spricht sie einfach nicht mehr. Erst als der attraktive Rhys auf ihrer Station auftaucht und behauptet, Susan zu kennen, scheint sich das Geheimnis um ihr Schweigen nach und nach zu lüften …

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Seitenzahl: 508

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Das Buch

Kat, fürsorgliche Krankenschwester, sagt nie, was sie wirklich fühlt. Rhys, rationaler Handwerker, sagt immer nur Dinge, die er nicht so meint. Und Susan? Sie hat beschlossen, einfach nichts mehr zu sagen. Stattdessen liegt die Mittfünfzigerin mit den freundlichen Augen schweigend in ihrem Krankenbett und schaut aus dem Fenster. Kat beschließt, Susan zu helfen. Doch bei ihrer Suche nach Angehörigen entdeckt sie nur eine einzige Telefonnummer. Auf ihren Anruf hin erscheint der attraktive Rhys im Krankenhaus. Doch auch er kennt ihre Patientin nur flüchtig. Trotzdem beginnt er, sie zu besuchen. Mit seiner direkten, aber unbeholfenen Art kommt er langsam hinter das Geheimnis ihres Schweigens …

Die Autorin

Nachdem ihre Gesangs- und Schauspielkarriere vorbei waren, bevor sie richtig angefangen hatten, widmete sich Anna Mansell ihrer wahren Leidenschaft: dem Schreiben. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern auf einem Bauernhof in der Nähe von Cornwall.Als sich unsere Herzen trafen ist ihr Debüt.

Roman

Aus dem Englischen von Hanne Hammer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe How to mend a broken heart erschien 2017 bei Bookouture.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 10/2018

Copyright © 2017 by Anna Mansell

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673, München

Redaktion: Evelyn Ziegler

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München, unter Verwendung eines Motivs von © Nebula Cordata/Shutterstock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22298-7V001

www.heyne.de

Für Grace: Alles ist möglich, wenn wir es versuchen

Prolog

Die Sonne versengt meine Haut. Es weht kein Lüftchen, gibt keine Erlösung, nur das beruhigende Unbehagen des kribbelnden Schmerzes. Der von der Hitze aufgeweichte Asphalt wärmt meinen Körper.

Ich lebe.

Trotzdem und trotz der leichten Schmerzen habe ich einen gewissen Frieden gefunden. Frieden in der ansteigenden Panik der Stimmen um mich herum. Frieden in dem Röhren der sich stauenden Autos, deren Motoren im Leerlauf drehen, zwischen den Bussen und den makellosen Geländewagen. Sheffields geschäftiger Vorort ist zu einem dramatischen Stillstand gekommen.

Schicke Mütter kommen aus dem Coffeeshop, gehen mit ihren ausgetrunkenen Kaffeetassen, die jetzt vom Schaum und dem Kakaopulver verschmiert sind, an meinem leeren Tisch vorbei. Sie recken die Hälse, während sie ihre Kinderwagen vorbeischieben. Mollige Händchen greifen nach kleinen, nackten Füßen, und irgendwo, ganz tief in meinem Unterbewusstsein, regt sich ein Gefühl. Eine Vergangenheit.

Ich gucke in den endlosen blauen Himmel. In der Ferne ist ein Hauch von einer Wolke zu sehen, ein Flugzeug zieht langsam seinen Kondensstreifen von Osten nach Westen. Ein Gesicht taucht in meinem Blickfeld auf.

»Hallo.«

Raue, verschwitzte Hände umfassen mein Gesicht. Sie gehören zu einem Rettungssanitäter. »Können Sie mich hören? Ich bin John, ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« Seine Augen suchen in meinen nach einer Antwort. Schweiß läuft ihm in Strömen die Stirn herunter. Er wischt ihn mit dem Arm weg, sein Hemd saugt die Feuchtigkeit auf. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen? Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

Aber ich kann es ihm nicht sagen. Oder ich will es ihm nicht sagen. Denn, ehrlich, wozu soll das gut sein? Ich schließe die Augen und träume von einem Gebrüder-Grimm-Märchen ohne das glückliche Disney-Ende.

Dieser Sommer scheint lang zu werden. Wie der 1976. Ich nehme an, es wäre schade gewesen, ihn zu verpassen.

Kapitel 1 KAT

Das Einzige, wovon ich dir sonst noch erzählen kann, ist Susan.«

»Susan?« Ich greife nach meinem Tee und wünschte, ich hätte den Punkt nicht verpasst, wo er einfach perfekt ist. Ich hasse lauwarmen Tee. Er ist unnötig. Ein Affront. Ein Verbrechen an heißen Getränken. Vielleicht denke ich auch zu viel darüber nach.

»Susan Smith. Weiblich, sechsundfünfzig Jahre alt. Sie hatte in der Ecclesall Road eine Auseinandersetzung mit einem Bus und hat den Kürzeren gezogen.«

Ich runzle die Stirn und schiebe meine neue Brille wieder auf die Nase hoch. Sie fühlt sich zu schwer in meinem Gesicht an, unpassend. Wahrscheinlich hätte ich mich bei dem Optiker nicht dazu überreden lassen sollen. Eine neue Frisur. Eine neue Brille. Eine neue Garderobe im Schrank, an der noch an jedem Stück das Preisschild hängt. Gürtel, um meine Taille zu betonen. Kann man mit achtundzwanzig eine Midlife-Crisis haben?

»Sie ist übrigens super«, sagt Emma und deutet auf mein Gesicht. »Sehr stylisch.«

»Ja, so bin ich nun mal. Stylisch und schick«, sage ich und spiele wieder an der Brille herum. Ich kann selbst hören, wie mein Tonfall mürrisch wird, aber ich habe nicht die Kraft, mich zusammenzureißen.

Emma antwortet mir mit einem schlecht imitierten irischen Akzent. »Du erinnerst mich an eine junge Nana Mouskouri.«

»An wen?«

»An Griechenlands besten Export!«, erklärt sie. »Okay, Nana und Feta.«

Der verständnislose Blick, mit dem ich ihr antworte, forciert ein optimistisches, ermutigendes Nicken, als würde das alles beantworten, gefolgt von einem schnellen Verdrehen der Augen, als ihr klar wird, dass ich keine Ahnung habe. »Komm schon, du Miesepeterin. Wenn wir nicht lachen würden, würden wir weinen«, provoziert sie mich, gefolgt von einem schnellen: »Du musst nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten …«

»Lass es!«, sage ich, halte mir die Ohren zu und hindere sie so daran weiterzureden. Eine Pause entsteht, eine Pause, gefüllt von der Wärme einer Freundschaft, die sogar meine schlechte Laune besiegen kann. Ich bringe ein halbherziges Lächeln zustande. Sie ist genau die Person, die ich jetzt brauche. Sie versteht mich.

Ich trinke meine Tasse aus – lauwarmer Tee ist besser als gar keiner –, stelle sie zurück auf den Tisch und warte, dass Emma die Übergabe beendet, während ich mir einen zweiten Keks verkneife. Es ist erst neun Uhr morgens.

»So, also zu Susan Smith«, fährt sie fort. »Der neue diensthabende Facharzt hat sie sich angeschaut …«

»Oh, Mr. Nennen-Sie-mich-einfach-Mark-Barnes!«, sagt eine Krankenschwester von der Zeitarbeitsfirma, die einen Wäschewagen an unserer Station vorbeifährt, aus dem die schmutzigen Laken herausquellen. »Ich hätte nichts dagegen, wenn er mich untersuchen würde!«, sagt sie und schneidet eine Grimasse.

»Ich dachte, das hier wäre Sheffields bestes Lehrkrankenhaus und keine Neuauflage von 41 Grad Liebe.« Ich runzle erneut die Stirn. »Ein paar Tage bin ich nicht da, und schon tanzen hier die Mäuse auf dem Tisch.«

Ich habe mich in den schweren Umhang der miesen Laune gehüllt. Einen Umhang, dem der zarte Hauch des Eau-de-»Gerade getrennt und noch nicht darüber hinweg« anhaftet.

»Erzähl mir nicht, du hättest noch nicht einmal an Mr. Nennen-Sie-mich-einfach-Mark gedacht, nicht mal ein winzig kleines bisschen?«, Emma sieht geschockt aus. Als wäre ich vielleicht gar keine richtige Frau oder so.

»Nein, hab ich wirklich nicht.« Ich blicke über den Rand meiner Brille, um meine Aussage zu unterstreichen. Zumindest ist sie so für etwas gut. »Mr. Barnes interessiert mich nicht.« Was der Wahrheit entspricht. Er ist nicht mein Typ. Ich würde nicht sagen, dass er ein Flegel ist – denn ich bin nicht aus den 1950ern –, aber er ist grenzwertig. Grenzwertig flegelhaft. Er ist auch Arzt. Attraktiv? Ich nehme es an, wenn man auf so einen Typ von Mann steht.

»Irgendwann hat er dich mal interessiert …«, murmelt Emma leise.

Ich starre auf den Papierkram und beschließe, sie zu ignorieren. Ich gebe zu, dass wir miteinander geflirtet haben, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Aber da war ich auch noch in einer lange bestehenden Beziehung – und es war nur ein billiger Nervenkitzel, wenn man so will. Doch die Dinge haben sich geändert. Nicht zuletzt mein Facebook-Status. Und davon einmal abgesehen, Krankenschwester und Arzt? Was für ein Klischee! »Außerdem ist er aus Manchester«, sage ich plötzlich. Emma sieht mich verwirrt an. »Die falsche Seite der Pennines.« Ich führe das als legitime Entschuldigung an, doch dann fällt mir ein, dass auch Emma in Manchester geboren und aufgewachsen ist, und ich wackle mit den Brauen, als hätte ich sie nur mit irgendeiner Rivalität zwischen Sheffield und Manchester aufgezogen.

»Er interessiert dich vielleicht nicht, aber du interessierst ihn ganz offensichtlich«, lässt sie nicht locker.

Stimmt. Scheint so. Doch seit Daniel, mein Freund in den letzten fünf Jahren, mir das Herz aus der Brust gerissen hat, ist mein Interesse an Männern irgendwie erloschen.

Anscheinend sollte ich inzwischen darüber hinweg sein. Er verdient mich nicht. Ich bin allein besser dran. Et cetera. All das kann mir meine beste Freundin Lou leicht sagen, wenn man bedenkt, dass ihre eigene Hochzeit unmittelbar bevorsteht und dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass diese plötzlich, und noch dazu auf so brutale Weise, abgesagt wird.

Nicht, dass Daniels und meine Hochzeit unmittelbar bevorgestanden hätte, doch für mich war es selbstverständlich, dass wir irgendwann heiraten würden. Weder Lou noch Emma können den Schmerz in meinem Herzen verstehen. Und wenn sie mir vorschlagen, mich mit Leuten zu treffen, einen Neustart zu wagen … Na ja, sie sehen einfach nicht, dass mir allein bei dem Gedanken, mich wieder in die Datingwelt zu begeben, das Herz in die Hose rutscht. Der Gedanke, das erste Mal mit jemandem zu schlafen, der meine Dehnungsstreifen nicht lieb gewonnen hat … Obwohl … wenn ich es recht überlege, hat Daniel sie vielleicht auch nicht so geliebt, wie er immer behauptet hat. Und außerdem, was würde aus meinen schlichten schwarzen Unterhosen, die in einer Langzeitbeziehung schon erlaubt sind, in der man auch zugeben darf, dass ein Tanga ein Verbrechen an den unteren weiblichen Regionen ist. Emma räuspert sich, und ich reiße mich zusammen. »Können wir aufhören, über Mr. Barnes zu reden, und weitermachen?«, sage ich und atme tief durch, um die Tränen zurückzudrängen, die jetzt hinter meinen Augenlidern stechen. Ich knalle ihr autoritär die Papiere vor die Nase. »Deine Schicht war vor zwanzig Minuten zu Ende.«

»Okay, du Miesepeterin. Bist du heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden?« Sie zwinkert mir zu, und ich starre sie wütend an, gerade lange genug, dass meine Augen sich mit Tränen füllen und Emma klar wird, dass wir uns auf eine Grenze zubewegen, die wir beide nicht überqueren wollen. »Okay, okay.« Sie kapituliert und nimmt die Hände hoch. Sie tritt zum Leuchtkasten und hängt ein Röntgenbild auf. »Dann reden wir eben über Susan Smith. Augenzeugen zufolge ist Susan von ihrem Platz vor dem Café aufgestanden und direkt in den fließenden Verkehr marschiert. Und das auf der Ecclesall Road, wo immer so viel los ist, du weißt schon. Sie ist von einem Bus erwischt worden. Ehrlich gesagt, kann sie froh sein, dass sie noch am Leben ist. Ihre Daten sind alle hier drin.« Sie gibt mir die Akte. »Zusammen mit denen.« Wir sehen uns gespenstische Bilder von vor und nach der OP an. Ein sauberer Bruch, gerichtet und eingegipst. »Für den linken Arm wird sie eine Physio brauchen«, fährt Emma fort. »Er ist ziemlich übel verletzt, wenn auch nicht gebrochen. Ihre Schmerzmedikation scheint zu funktionieren, und es gibt keine Anzeichen weiterer Verletzungen.«

Wir gucken mit leeren Blicken die Bilder an, die Köpfe auf genau die gleiche Weise geneigt. Die Uhr über mir tickt, reißt mich aus meiner Benommenheit, und ich ziehe die Bilder aus den Klammern. »Das klingt wirklich, als hätte der Unfall vermieden werden können. Haben wir mit ihr darüber gesprochen, wie es passiert ist?« Ich lege Susans Röntgenbilder und Papiere ab, dann stelle ich auf dem Schreibtisch die von mir bevorzugte Ordnung wieder her. Emma beobachtet mich mit einem ironischen Lächeln. »Was ist? So kann ich besser arbeiten …«, setze ich an und fühle mich ertappt.

Sie lacht. »Man kann auch anders perfekt arbeiten«, sagt sie gutmütig. »Aber egal, ja, wir haben sie gefragt, aber da gibt es ein Problem.«

»Warum?« Ich studiere den Dienstplan, um mich mit dem heutigen Team vertraut zu machen.

»Na ja, sie antwortet nicht auf unsere Fragen. Genau genommen spricht sie überhaupt nicht. Wir haben ihr einen Stift und einen Block angeboten, um etwas aufzuschreiben, für den Fall, dass es ihr wehtut zu sprechen, aber sie hat nichts davon angenommen. Wir konnten auch keine Angehörigen ausfindig machen. Sie hatte einen dieser alten Papierführerscheine in ihrer Handtasche, aber sonst nicht viel.«

»Sie spricht gar nicht?«, frage ich, während meine Hand auf einem Stapel Akten liegt, der sich hoch auf dem Schreibtisch türmt. »Haben wir alles versucht? Du hast gesagt, Block und Stift?« Emma nickt. »Was ist mit Gebärdensprache?« Sie nickt erneut. Ich versuche, mir Alternativen einfallen zu lassen. Mein Herz schlägt schneller, als mir bewusst wird, dass ich jetzt die Verantwortung trage und dass ich zumindest so aussehen sollte, als hätte ich alles im Griff, obwohl ich mich absolut nicht so fühle. Mein Kopf ist leer, Emma hilft mir aus der Klemme.

»Wir haben es mit Aufschreiben, Gebärdensprache, Blinzeln und Morsen versucht«, zwinkert sie. »Ich habe Tanzen in Erwägung gezogen, doch wie es scheint, ist das keine Universalsprache.«

»Okay.« Mir wird erst im Nachhinein klar, was sie gesagt hat. Der Versuch, meine widerstreitenden Gefühle unter Kontrolle zu halten, blockiert gänzlich meinen Sinn für Humor.

»Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie nicht sprechen kann, nichts in ihren Akten deutet daraufhin. Es könnte natürlich posttraumatisch sein. Wir müssen ihr einfach Zeit geben. Soweit wir das sagen können, gibt es auch keine nahen Verwandten.«

»Okay …« Ich blättere noch einmal Susans Akte durch. Mr. Barnes’ Schrift kriecht wie eine Spinne über die Seiten. »Das hier wäre natürlich sehr viel hilfreicher, wenn ich es auch lesen könnte«, murmele ich und drehe die Akte in alle Richtungen, um die Worte zu entziffern. Ich ignoriere die Tatsache, dass meine eigene Schrift nicht besser ist. »Oh, vergiss einfach, was ich gesagt habe. Tut mir leid! Okay.« Ich klappe die Akte zu. »Haben wir die Akte der Psychiatrie vorgelegt?«

»Nein, haben wir nicht«, antwortet sie, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, dass ich vielleicht doch weiß, was ich tue.

»Okay, ich kümmere mich darum, kein Problem. Sonst noch was?«

Emma wirft einen Blick auf das Whiteboard und sieht sich auf dem Schreibtisch um. »Ich denke nicht«, sagt sie, während sie sich sichtlich das Hirn darüber zermartert, ob sie bei der Übergabe noch etwas vergessen haben könnte. Hat sie nicht. Sie ist bewundernswert organisiert. Irgendwie einschüchternd – oder vielleicht kommt mir das auch nur so vor. »Nein, das war’s.« Sie stemmt die Hände in die Hüften. Alles erledigt.

»Super, danke.« Ich halte ihr die Celebration-Schachtel mit der kleinen Dankeskarte von einem Patienten hin. Süßigkeitengeschenke gehören zu den Vor- oder Nachteilen unseres Jobs, je nachdem, wie man es sieht. Emma greift in die halb leere Schachtel und packt ein Stück Schokolade aus.

»Also, wie war’s?«, fragt sie, einen halb zerkauten Mikro-Marsriegel im Mund, und lehnt sich lässig gegen den Tisch. Sie studiert die leere Verpackung, die knistert, als sie sie zusammenfaltet.

»Wie war was?« Ich beiße mir auf die Lippe, während ich mich an die diversen Ausreden zu erinnern versuche, die ich mir für diese unvermeidliche Frage am ersten Arbeitstag ausgedacht habe. Ein Pfleger scherzt mit einem Patienten, während er ihn den Gang hinunterschiebt, und ihr Lachen erregt meine Aufmerksamkeit. Ich tue so, als würde ich lächeln, in der Hoffnung, dass sie das Thema fallen lässt.

»Dein Ur-laub!« Sie betont jede Silbe, dann schürzt sie die Lippen und zieht die Brauen hoch.

Sie weiß, dass ich weiß, wonach sie fragt. Und ich weiß, dass sie weiß, dass ich darauf nicht antworten werde. Sie spielt mit der leeren Schokoladenverpackung in ihrer Hand und lässt sie zurück in die Schachtel fallen. Ich sehe das aus dem Augenwinkel, genau wie ich ihren Gesichtsausdruck sehe – der mich dazu auffordert, sie darauf hinzuweisen, dass leere Verpackungen in den Mülleimer und nicht zurück in die Schachtel gehören. Es gibt kaum etwas Frustrierenderes, als sich am Vormittag etwas Gutes tun zu wollen und festzustellen, dass nur noch leere Verpackungen in der Schachtel sind.

»Es war super, wirklich. Wunderschön.« Ich lächle sie kurz an, dann bücke ich mich, um das Zucken in meinem rechten Auge zu verbergen, und schiebe die Schachtel aus unserem Blickfeld. »Genau das, was ich gebraucht habe«, schließe ich und hoffe, dass ich lässig und fröhlich geklungen habe und nicht angespannt und wie jemand, der nur mit Mühe die Tränen zurückhalten kann. Wieder einmal. Mein frisch geschnittener Pony entwischt der lockeren Haarklammer. Ein Seitenpony ist total in Mode, laut meinem Friseur. Ich muss zugeben, er ist sehr praktisch, um sich dahinter zu verstecken.

»Soso«, sagt Emma. Sie versucht, meinen Blick einzufangen.

Ich ziehe meine Ärmel herunter, damit sie nicht sieht, dass ich nicht braun bin. »Es war super«, trällere ich erneut, breit lächelnd. Ich stemme die plötzlich feuchten Hände in die Hüften und atme flach. »Es war genial, um genau zu sein. Sehr viel besser, als ich erwartet hatte. Ich würde gern irgendwann noch mal hinfahren und mir mehr ansehen, weißt du?«, lache ich unschuldig, und sie sieht mich zu Recht an, als wäre ich übergeschnappt.

»Hat es denn die ganze Zeit geregnet?«, fragt sie.

Ich hätte diesen Selbstbräuner nehmen sollen, der hinten in meinem Badezimmerschrank steht. Ich meine, wer kommt schon ohne die geringste Farbe aus dem Urlaub zurück? Emma starrt mich an. »Hör zu«, seufze ich. »Es ist okay. Ich bin okay. Ehrlich. Alles ist …«

»Okay?« Sie hält meinen Blick fest.

»Es ist sechs Wochen her, Emma!« Ich könnte ihr sogar sagen, dass es sechs Wochen, zwei Tage und drei Stunden her ist, doch die Details sind nicht wichtig. »Ich weiß, dass du denkst, dass ich mich in der Arbeit vergraben habe und dass es mir schlaflose Nächte bereitet, aber ich versichere dir, dass dem nicht so ist.« Ich unterdrücke ein unpassendes Gähnen und versuche, nicht an den Anruf von Lou heute Morgen zu denken, bei dem sie beiläufig erwähnt hat, dass mein Exfreund angeblich eine neue Freundin haben soll. Dass sie das Wort angeblich hat fallen lassen, konnte nicht verhindern, dass es wehgetan hat.

»Dieser Urlaub« – das Wort bleibt mir in der Kehle stecken – »hat mir die Augen geöffnet. Daniel war nicht glücklich, und vielleicht war ich das auch nicht.«

Lou hatte große Mühe darauf verwendet, mich über ihre Suche in den sozialen Medien zu informieren, die sie zu dieser Annahme kommen ließ, und noch hinzugefügt, dass sie zu einem Einkaufsbummel nach Leeds fahren wollte, um auf angenehmere Gedanken zu kommen. Sie hatte aufgelegt, bevor ich sie darauf hinweisen konnte, dass ich es war, die auf angenehmere Gedanken kommen musste, und dass ihre Enthüllung nicht unbedingt hilfreich dabei war. Es war mir gerade so gelungen, mich zusammenzureißen, bis mich im Badezimmer sein Lieblingsduschgel spöttisch angegrinst hat. Ich habe das Gesicht unter den Wasserstrahl gehalten und mir brühend heiß die Tränen wegwischen lassen. Fünf Jahre, ein gemeinsames Konto und eine geteilte Wohnung haben ihm offensichtlich nichts bedeutet.

Emma räuspert sich und reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Wochenvorrat an Concealer und zu viel Kajalstift ist alles, was meine rot geränderten Augen vor ihrem aufmerksamen Blick versteckt. »Die Augen geöffnet, sagst du.«

Sie war an dem Tag da, als ich seine SMS bekommen habe. Wir waren zusammen in der Mittagspause. Sie hat gesehen, wie ich mich verschluckt habe und anschließend über meinem Hühnersalat zusammengebrochen bin. »Ich bin wirklichen darüber hinweg«, sage ich mit dünner Stimme.

Sie schaut mich genau an, um zu sehen, ob ich meine, was ich sage.

»Es ist okay«, beharre ich, die Arme verschränkt, während meine Mundwinkel genau wie mein Auge zucken. Bitte, lieber Gott, lass mein Kinn nicht zittern. »Sein Pech«, beende ich das Thema, halte die Luft an und hoffe, dass sie begreift, dass das Gespräch damit beendet ist.

Obwohl sie ganz eindeutig etwas ahnt, hätte Emma nichts davon, wenn sie wüsste, dass ich die letzten zehn Tage im Schlafanzug verbracht habe – geschlafen, gegessen, Kitschfilme im Fernsehen gesehen und Jilly Cooper gelesen habe. An sich kein Verbrechen, wir alle lieben Rupert Campbell-Black, aber es war nicht gerade der gebuchte und großartige Urlaub, den ich hätte machen sollen, der Urlaub, den ich habe sausen lassen, weil sich mir allein bei dem Gedanken, alleine zu verreisen, die Eingeweide zusammengezogen haben. Die Hochglanzmagazine sagen mir, dass ich keinen Mann brauche, um mich ganz zu fühlen, und sie haben recht, ich weiß, dass sie das haben, aber wenn du als frischgebackener Single auf die dreißig zusteuerst, weil die Liebe deines Lebens gelangweilt von dir war, ist es schwer, einfach weiterzumachen. Oder neu anzufangen. Oder sich auch nur halbwegs okay zu fühlen, wenn du hörst, dass er jemand Neues kennengelernt hat. Ich habe ihn geliebt.

Ich liebe ihn.

Ich schaue mich auf der Station um, auf meiner Station. Zum Glück habe ich meine Arbeit, denke ich. »Geh nach Hause, Schätzchen«, seufze ich. »Ich bin wieder da. Ich übernehme jetzt, und deine Schicht ist seit Ewigkeiten zu Ende. Geh. Schlaf. Iss etwas. Was auch immer.« Ich höre auf, bevor mir herausrutscht: Undlass mich mich in meinem Büro verstecken, bis es Zeit ist, nach Hause zu gehen.

»Du weißt, dass du das nicht allein schaffen musst, oder?«, fragt sie freundlich.

»Ich weiß.« Ich lächle und lasse mich von ihr umarmen, und plötzlich wird mir bewusst, wie sehr ein wenig menschlicher Kontakt zur Heilung beiträgt … und gleichzeitig meine Entschlossenheit schwächt. Ich entziehe mich sanft ihrem festen Griff. »Ich muss arbeiten, Emma, und Weinen ist keine Option.« Ich schniefe.

Sie sieht mich prüfend an, dann nickt sie zustimmend. »Gut, ich bin weg.« Sie küsst mich auf die Wange und geht den Flur hinunter. »Übrigens, herzlichen Glückwunsch!«, ruft sie mir über die Schulter zu. Ihrem erhobenen Daumen folgt schnell ein Absatzklicken in Richtung Ausgang, als wäre sie Dick Van Dyke in MaryPoppins.

»Danke.« Ich lächle und werfe einen Blick auf den Streifen auf meiner Schulter, den ich vorerst an drei Tagen in der Woche tragen darf. Stellvertretende Stationsschwester. Darauf werde ich mich jetzt konzentrieren. Das könnte mein Durchbruch werden. Ich habe vor sieben Jahren Examen gemacht, fast vor acht. Man hat mir eine große Verantwortung übertragen. Ich muss das Gefühl totaler Unfähigkeit ignorieren und meinem Boss, Gail, den Mächtigen da oben und vielleicht auch mir selbst beweisen, dass ich das kann.

Ich sehe mich noch einmal um, werfe einen Blick auf die Akten, die Nachrichten am Schwarzen Brett, die Flure mit den Zimmern und den Patienten und den Krankenschwestern, die alle meiner Verantwortung unterstehen. Ich versuche, einen Anflug von Angst wegzuatmen, angesichts dieser Tatsache. Die Beförderung zu akzeptieren, wenn auch nur auf Zeit, war am Telefon in Ordnung gewesen. Das Timing war gut. Eine Herausforderung, die mich ablenken würde, hatte ich gedacht. Doch jetzt, hier auf der Station, auf meiner Station, fühlt sich das anders an. Ich schlucke. »Wir sehen uns morgen«, flüstere ich, doch Emma ist bereits gegangen.

Ich nehme die Schultern zurück und werfe einen Blick auf den Aktenstapel vor mir. Susans Akte liegt obenauf.

Ich seufze, dann schiebe ich mir einen Jaffa Cake in den Mund.

Kann ich das?

Ich kann das.

Ich muss.

Ich habe keine Wahl.

Kapitel 2 RHYS

Es ist schwer zu sagen, ob die grauenvolle, übernächtigte, bitter schmeckende Enttäuschung von meinem Kater oder von meinen Schuldgefühlen stammt. Während ich meine unkooperativen Beine in meine Jeans gezwängt hatte, war mir übel gewesen. Das Zurückstolpern zu meiner Wohnung, als wäre ich irgendein sorgloser Mittzwanziger bei einem unvermeidlichen Walk of Shame, hatte meine Selbstachtung weiter schwinden lassen. Ich bin neununddreißig, es ist Dienstag, es war die Freundin meines Bruders.

Als ich mich verschlafen und verkatert aus ihrem nicht ganz jugendfreien Griff befreit hatte, hatte ich die Augen geschlossen und gehofft, dass es jemand anderes wäre, wenn ich sie wieder öffnete. Egal wer, nur nicht sie. Ich hielt den Atem an, schlich mich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, blieb bei der quietschenden Fußbodendiele an der Tür stehen, nur für den Fall, dass sie sich rührte. Wie das letzte Arschloch. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich fasse mir an die schmerzende Stirn und kann mich kaum an das Gespräch erinnern, das zu alldem geführt hat.

Sollte ich ihr eine SMS schicken? Mich entschuldigen? Oder bedanken? Oder sagen, dass das nicht hätte passieren dürfen, und fragen, ob ich meine Calvins zurückbekommen kann? Eigentlich hatten wir uns gegenseitig aufmuntern wollen. Uns an ihn erinnern wollen. Uns helfen wollen, mit dem Schmerz fertigzuwerden, dem Schmerz darüber, den Menschen verloren zu haben, den wir beide geliebt hatten. Aber jetzt hasse ich ihn. Und ich hasse mich, und ich hasse, was sie und ich getan haben. Obwohl es gut war.

David hat immer gewusst, dass ich sie gemocht habe.

Herrgott noch mal!

Ich halte bei meinem ersten Kunden, hole mein Handy raus und tippe die erste Nachricht-am-Morgen-danach, die ich je verschickt habe:

»Tut mir leid, dass ich losmusste, viel zu tun. Wir reden später. R.«

Wahrscheinlich wäre das alles nicht passiert, wenn Mum da gewesen wäre. Zuerst habe ich sie angerufen, dann bin ich bei ihr vorbeigefahren. Ich musste reden. Ich brauchte … etwas. Musste mit jedem Geschichten über ihn teilen, in seinem Zimmer sitzen, vermeiden, allein zu sein. Heute Morgen habe ich noch einmal versucht, sie anzurufen, voller Schuldgefühle wegen Michelle und bekümmert, weil ich schlafen gegangen war, ohne Mum Gute Nacht zu sagen. Seit er tot ist, reden wir immer miteinander, bevor wir zu Bett gehen. Sie hat gesagt, dass ihr das guttut. Mir tut es auch gut. Nur, dass sie in den letzten Wochen plötzlich kaum noch zu erreichen war. Vielleicht sollte ich mich freuen, dass sie langsam einen Weg findet zurechtzukommen, aber das tue ich nicht. Ich fühle mich einfach nur einsam. Und egoistisch.

Ich stecke mein Handy in die Tasche und greife nach Davids Werkzeugtasche – sie fühlt sich heiß an. Wie etwas Verbotenes. Wie Michelle. Ich steige die Stufen hoch, die zu Mrs. Johnsons Doppelhaus aus den 1960ern im grünen Teil von Norton Lees führen. Bevor ich eine Chance habe, meine Gedanken zu ordnen und an die Seitentür zu klopfen, macht sie mir auf. Trotz des Lächelns auf ihrem Gesicht bestätigen mir ihre verschränkten Arme und ihr Blick auf die Uhr, dass ich spät dran bin. Ich bin bereits in der Defensive.

»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid, Mrs. J. Der Verkehr war heftig, und ich musste noch schnell bei Heeley vorbeifahren, um ein paar Sachen zu besorgen, die Burschen haben mich in ein Gespräch verwickelt und …«

»Dir fällt auch immer eine Entschuldigung ein, stimmt’s, Rhys Woods?« Sie schürzt ihre hellroten Lippen, aber ich kann auch ein kleines Lächeln entdecken. So eins, das dir jemand schenkt, der einfach nicht sauer auf dich sein kann. »Du warst als Kind schon so. Erinnerst du dich, wie du unserem Paul diesen Ziegel an den Kopf geworfen und anschließend behauptet hast, dass er zu schwer war und nur in die falsche Richtung gefallen ist?« Das Funkeln in ihren Augen untergräbt die verschränkten Arme. »Und wie oft muss ich das noch sagen? Ich denke, wir kennen uns lange genug, dass du mich Sylv nennen kannst.«

Sie macht mir gerade genug Platz, dass ich mich an ihr vorbeiquetschen kann. Ein süßes, nach Moschus riechendes Parfüm sucht sich seinen Weg in meine Nase, genau wie es das in den frühen Neunzigern getan hat, als ich vor dem Erdkundeunterricht hinter dem Fahrradschuppen mit Zoe Owen geknutscht habe. Was haben damals alle benutzt? White Musk aus dem Body Shop, meine ich mich zu erinnern. Ich hatte es ihr zum Valentinstag gekauft, aber sie hatte es nicht annehmen wollen. Sie ging auch noch mit jemand anderem. Das passierte mir nicht zum ersten Mal.

Ich gehe durch den Flur in die Küche. »Es wird mir ewig leidtun, dass Paul genäht werden musste«, sage ich. »Der Ziegel war schwer. Ich war sechs!«, wiederhole ich die Entschuldigung, mit der ich immer diesen ganz speziellen Vorfall aus meiner Kindheit kommentiert habe. »Trotzdem kann ich Sie nicht einfach Sylv nennen, Mrs. J. Sie sind eine Kundin, die Frau eines Mannes, den ich nicht zu verärgern wage …« Mr. Johnson war der Trainer des örtlichen Boxklubs. Ein bisschen wie Paulie aus den Rocky-Filmen, nur größer. Und zäher. Und nicht ganz so lyrisch mit seinen Ratschlägen. »Und Sie sind die Mutter meines besten Freundes. Es ist nicht richtig. Soll ich uns noch eine Tasse Tee machen, bevor ich Ihren Abstellhahn repariere?«

Das Handy klingelt in meiner Tasche. Die anfängliche Erleichterung wird schnell von Frustration abgelöst, als mir einfällt, dass ich Mum einen neuen Klingelton zugeordnet habe, damit ich ihre Anrufe gleich erkenne. Es ist nicht ihr Ton. Ich kann nicht drangehen, wenn es Michelle ist. Nicht vor Mrs. J.

»Ich mache den Tee, und du nimmst den Anruf an. Es könnte was Dienstliches sein. Oder eins deiner Mädchen versucht, dich aufzuspüren. Eine Frau hasst es, nicht zu wissen, wo ihr Typ ist, Rhys!« Sie trommelt mit ihren manikürten Fingern, die Farbe passend zu ihrem Lippenstift, auf die Arbeitsplatte aus Marmorimitat im italienischen Stil. David war es zum Ende hin ein Gräuel hierherzukommen. Ich hatte gedacht, es würde ihm helfen, die Flirterei, die Interaktion, aber er hatte die Geduld dazu verloren. Er hat sie eine traurige alte Frau genannt, die hinter jüngeren Männern her ist – glücklicherweise hat er ihr das nicht ins Gesicht gesagt. Zum Ende hin ist er gemein geworden. Er war verbittert. Michelle hat gestern Abend das Gleiche gesagt, hat gesagt, dass er, lange bevor er endgültig gegangen ist, schon nicht mehr wirklich bei uns war …

»Zucker?«, fragt Mrs. J und unterbricht meinen immer wiederkehrenden Tagtraum, in dem ich das Gesicht meines Bruders zum vorletzten Mal sehe, als ich vielleicht etwas ganz anderes hätte sagen oder tun können. Als die Worte »Reiß dich zusammen« meinen Mund nie hätten verlassen dürfen.

»Nein, danke.« Ich schüttele den Gedanken ab. »Und ein für alle Mal, Mrs. J, ich bin niemandes Typ, ich gehöre nur mir. Und ich würde das auch gerne so belassen, vielen Dank.«

»Ach, du musst doch den Mädchen reihenweise die Herzen brechen – mit der Größe, diesen gebräunten Muskeln. Spielst du noch Rugby, Rhys?« Irgendetwas Heißes kribbelt in meinem Nacken. Verwirrung? Schuld? Ärger? »Und mit diesen Hundeaugen! Ich bin mir nie sicher, ob du mich um einen Knochen bittest oder mich ins Bett einlädst!« Sie gackert und ignoriert, wie unangebracht ihr Scherz ist.

Als sich der Alkohol vom Vorabend langsam verflüchtigt, verflüchtigt sich auch meine Geduld. »Mrs. J!«, stöhne ich und begebe mich außerhalb ihrer Reichweite. Mit einer Kundin zu flirten ist mir nicht fremd – ich bin ein neununddreißigjähriger alleinstehender Mann –, aber heute Morgen bin ich neben der Spur.

»Also, wie viele triffst du im Moment?«, lacht sie, greift hoch in den Schrank und gerät auf nur einem Fuß ins Schwanken, als sie die Becher direkt vor ihrer Nase ignoriert, um nach den Porzellantassen im obersten Fach zu greifen. »Ups«, kichert sie und zieht ihr Oberteil wieder nach unten. Ich tue so, als hätte ich nichts gesehen. »Mein Paul sagt, dass eine ganze Meute hinter dir her ist, du Glücklicher. Taugen welche davon zum Heiraten? Irgendwann musst du doch sesshaft werden, oder? Tu uns den Gefallen, mein Lieber, und leite die Abgewiesenen an uns weiter. Ich hätte nichts dagegen, wenn unser Paul wieder auszieht und sein Leben lebt. Vierzig ist kein Alter, um zu Hause bei seinen Eltern zu wohnen.«

Ihre Bemerkung ist nicht ganz fair. Die Ehe von meinem besten Kumpel ist letztes Jahr in die Brüche gegangen, und nach ein paar Wochen auf meiner Couch hat er zu seinem großen Frust wirklich keinen anderen Platz gefunden, wohin er gehen konnte. Ich lasse die Dekonstruktion unserer beider Liebesleben über mich ergehen, als sie mir eine Tasse reicht.

»Außerdem brauche ich sein Zimmer für ein Nagelstudio. Eine ganze Menge Frauen warten darauf, dass ich etwas Eigenes aufmache. Deine Mutter könnte auch zu mir kommen. Sich etwas Gutes tun.« Mrs. Js Ton verändert sich, wie bei allen, die nach Mums Befinden fragen. »Wie geht es ihr?«, fragt sie, den Kopf zur Seite geneigt.

»Sie ist okay. Die meiste Zeit. Sie wissen schon … Allerdings habe ich seit gestern Morgen nicht mehr mit ihr gesprochen, ich bin also nicht schlauer als Sie.« Genervt hieve ich mir den Werkzeugkasten über die Schulter.

»Oh, die Arme.« Sie nippt an ihrem Tee. »Das muss so ein Schock gewesen sein«, sagt sie leise, offensichtlich ohne die Trauer-Klischee-Hupe zu hören. »Ich habe zu Paul gesagt, dass ich nicht wüsste, wie ich damit zurechtkommen würde, ja, das habe ich gesagt.«

»Na ja, nein, ich weiß nicht«, unterbreche ich sie.

Ich gebe dem Internet die Schuld. Es rät den Leuten, etwas zu sagen. Den schwierigen Gesprächen, wenn jemand stirbt, nicht auszuweichen. Doch an dem Punkt hören die Leute auf zu lesen und ignorieren den Teil, der ihnen rät, bestimmte Antworten zu meiden, weil die, die in den Klauen der Trauer stecken, sie eher abgedroschen als fürsorglich finden könnten.

»Ich denke, er hat jetzt seinen Frieden«, sagt sie und nickt sanft, und ich beiße mir auf die Zunge. Dieser Spruch nervt mich am meisten. Er ist wütend und traurig und von genau der Person zurückgewiesen gestorben, die er am meisten gebraucht hätte. Was hat das mit Frieden zu tun?

»Grüß sie ganz lieb von mir, wenn du mit ihr sprichst, ja?«

»Ja, das werde ich.« Denn das ist das andere, das die Menschen machen: sie überlegen, wie die Eltern sich fühlen mögen, gehen aber davon aus, dass der Bruder oder die Schwester die Situation in die Hand nimmt. Zum ernannten Erwachsenen wird. Sie vergessen, dass nicht nur meine Mutter ihren Sohn, sondern auch ich meinen Bruder verloren habe.

»Ich fange jetzt besser mal an«, sage ich und sehe mich um, nur um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Schon in guten Zeiten vermeide ich es, über meinen Bruder zu sprechen, also jetzt erst recht, wo das Parfüm seiner Freundin noch an meinem T-Shirt haftet. »Brauchen Sie noch Wasser, bevor ich loslege?«

»Nein, mein Lieber. Ich gehe dann mal einkaufen. Ich bin in ungefähr einer halben Stunde zurück. Bist du zum Mittagessen noch hier? Ich kann einen Thunfisch-Nudel-Salat aus dem Supermarkt mitbringen, wenn du möchtest. Wir müssen doch gut für deinen Körper sorgen, nicht!«

»Ich habe mir was mitgebracht«, lüge ich. »Ein Brötchen mit Käse und Salatcreme.« Ich verschwinde aus der Küche und ziehe mich in die relative Sicherheit ihres avocadogrünen Badezimmers zurück.

Während ich nach meinen Sachen greife, werfe ich einen Blick auf mein Handy. Keine Nachricht. Keine Nummer. Dann war es nicht Mum. Wo ist sie? Wo war sie gestern Abend, als ich vorbeigeschaut habe? Warum ist sie dann, wenn ich sie brauche, plötzlich so schwer zu erreichen?

Kapitel 3 KAT

Ich stecke mein Haar mit einer Spange hoch, reibe mir die Augen und setze meine Brille wieder auf. Ich hole einen Schminkspiegel aus dem Schreibtisch, um zu sehen, ob mein Aussehen in Ordnung ist oder ob die Brille genauso lächerlich aussieht, wie sie sich anfühlt. Möglicherweise habe ich auch Muffensausen, und es liegt gar nicht an der Brille. Diese Stapel mit Gesprächsnotizen, Berichten und E-Mails sowie der plötzliche, überwältigende Grad der Verantwortung sind wahrscheinlich der Grund, der diesmal das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es liegt definitiv nicht an dem kryptischen Facebook-Status, den Daniel gerade gepostet hat.

Ich wünsche mir immer noch, ich hätte mich heute Morgen für meine Kontaktlinsen entschieden.

Ich reiße mich zusammen, dann greife ich nach Susans Akte und setze mich in Bewegung, um mich ihr vorzustellen.

»Klopf, klopf«, sage ich und spähe um die verblassten Rautenmustervorhänge um ihr Bett herum, bevor ich durch eine Lücke hineinschlüpfe. »Guten Morgen, wie geht es Ihnen heute?« Ich streiche die Vorhänge glatt und ziehe sie zu, um ihre Privatsphäre zu sichern. Ich blättere in ihrer Akte und vergleiche die Notizen mit denen an ihrem Bett. Susan sieht in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Kopf wird von einer Masse silbergrauen Haars eingerahmt, das glänzt, als wäre es von feinen Platinsträhnen durchzogen. Es schließt fein säuberlich in der Nackenbeuge ab. Ordentlich. Auf eine ungewöhnliche Art.

»Ich bin Kat, die Stationsschwester«, sage ich und habe das Gefühl, voreilig zu sein. »Also, die stellvertretende Stationsschwester. Drei Tage die Woche, heute ist mein erster Tag. An den anderen Tagen bin ich einfach eine gewöhnliche Krankenschwester.« Obwohl ihre Augen geschlossen bleiben, dreht Susan mir langsam das Gesicht zu. Sie sieht nicht wie sechsundfünfzig aus, finde ich. Obwohl ich mir nicht sicher bin, wie ich mir jemanden vorstelle, der sechsundfünfzig ist. Mit Sicherheit nicht mit einem so glatten und, unter den blauen Flecken des Hämatoms auf der linken Seite, frischen Teint. Fast jugendlich. »Aber an allen sieben Tagen bin ich Kat«, scherze ich, nur um mir gleich zu wünschen, es nicht gesagt zu haben, als sie versucht, ihre geschlossenen Augen zu öffnen, aber nur eins aufbekommt, da das andere zu geschwollen ist. Vielleicht bleibt deshalb auch mein Versuch, witzig zu sein, unbemerkt. Ich wäre an ihrer Stelle auch nicht besonders munter. Ich lächle mein bewährtes empathisches Krankenbettlächeln: den Kopf zur Seite geneigt, ein vorsichtiges Blinzeln und ein Nicken. Diese Fähigkeit erlernt man in der ersten Woche der Ausbildung; es sei denn, man ist Arzt.

»Ich hatte Urlaub. Na ja … irgendwie, aber erzählen Sie es nicht weiter, ja?« Ich lächle flüchtig, doch Susan reagiert nicht. Ich trete näher, um in ihrem Gesicht lesen zu können. »Ich bin heute den ersten Tag wieder da. Ich nehme an, spätestens um sechs Uhr heute Abend wird die Herumgammelei nur noch eine ferne Erinnerung sein.« Ich halte kurz inne, damit sie etwas sagen kann. Nur für den Fall. »War alles in Ordnung?«, frage ich schließlich. »Seit Sie eingeliefert worden sind, meine ich? Kümmern wir uns genug um Sie?«

Nichts.

»Natürlich tun wir das, wir sind ein großartiges Team. Wie war das Frühstück?«

Noch immer nichts.

Ich schiebe den Krankenbetttisch weg und sehe die Schale mit Müsli, die sie kaum angerührt hat. »Haben Sie irgendwo Schmerzen, oder fühlen Sie sich nicht wohl?« Ich greife nach ihrem Handgelenk, checke ihre Werte, ihren Puls und die Sauerstoffsättigung und notiere alles. »Wir können dafür sorgen, dass Sie mehr Schmerzmittel bekommen, wenn Sie das brauchen. Sie sagen einfach, falls Sie …« Ich stolpere über meinen ungeschickten Vorschlag. »Ich meine …«

Als ich das Klemmbrett wieder an das Bettende hake, lehne ich mich dagegen und atme tief durch. Obwohl ihre Augen geschwollen sind, hat ihr Blick Intensität. Ich zermartere mir das Gehirn darüber, was ich sagen kann, etwas, das ihr zeigt, dass ich die Richtige bin, um die Verantwortung für die Station zu tragen. »Ihr Arzt, Mr. Barnes, kommt gleich zur Visite. Er wird zweifellos alles mit Ihnen durchsprechen, doch wie es aussieht, werden Sie wohl ein paar Wochen bei uns bleiben müssen.« Sie zuckt zusammen und bewegt leicht ihren Arm. »Vorsichtig«, sage ich und helfe ihr dabei, es sich bequem zu machen. Sie hat schmale Handgelenke, fast wie ein Kind. Sie ist nicht zerbrechlich, nur zierlich. »Ihr Arm dürfte von den blauen Flecken ein sagenhaftes Patchworkmuster haben«, sage ich. Sie wirft einen Blick darauf, dann blickt sie zur Decke.

Es folgt eine Pause. Und ein Husten. Die Frau im Nachbarbett scheint sich die Seele aus dem Leib zu husten.

Ich beuge mich zu Susan hinunter. »Die Husterei ist das Schlimmste«, sage ich und setze mich auf den Besucherstuhl neben ihrem Bett, während der Husten der Patientin im Nachbarbett noch schlimmer wird. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Mrs. Nielson?« Ich hebe die Stimme, sodass Mrs. Nielson mich hören kann, und blinzle verschwörerisch, bevor ich es verhindern kann. »Ein schlimmer Husten«, rufe ich. »Trinken Sie einen Schluck, meine Liebe. Ich bin gleich bei Ihnen.« Ein Grummeln kommt als Antwort, bevor der Husten erneut einsetzt, zäh und rau. Ich lehne mich näher zu Susan heran, ein kleiner Teil meines alten Selbst meldet sich instinktiv. Des Selbst, das diese Beförderung verdient hat. Des Selbst, das das eigene Leben völlig außen vor lassen kann, während es seinen Job macht. »Wir haben alles versucht, um diesen Husten zu bekämpfen. Einer der ehrenamtlichen Helfer hat ihre Füße sogar mit Mentholdampf massiert. Es ist ein Ammenmärchen, dass das bei Babys hilft. Bei Mrs. Nielson hat es nicht das Geringste gebracht. Aber Sie wissen schon, der Zweck heiligt die Mittel.«

Gerade als ich denke, wir haben eine Verbindung aufgebaut, hustet Mrs. Nielson wieder lauter, und Susan schließt die Augen.

Ich versuche es mit einem neuen Gesprächsthema. »Der Teewagen kommt gleich«, sage ich. »Kann ich Ihnen etwas holen? Vielleicht einen Yorkshire-Pudding?« Susan dreht den Kopf weg, und wieder zeigt sich mir die silberne Haarmasse statt der Verletzungen. Ich gehe um ihr Bett herum, damit ich ihr Gesicht sehen kann. »Und später kommt Connie, unsere Dame mit dem Büchereiwagen. Sie nennt alle ›Liebes‹, obwohl sie selbst nicht mehr die Jüngste ist. Sie hat vor allem Krimis und Liebesromane.« Ich denke an mein Bücherregal zu Hause. Daniel hat sich immer über meine Bücher lustig gemacht. »Ich liebe Liebesromane«, sage ich. »Sie werden stark unterschätzt.«

Ich sehe keine Spuren von altem Make-up, wie bei den meisten kürzlich eingelieferten Patienten. Keine Ohrringe; ihre Ohrläppchen haben nicht einmal Löcher. Keine Ringe, weder einen Ehering noch einen anderen. Überhaupt keinen Schmuck, bis auf eine einfache, dünne Goldkette mit einem kleinen Kreuz. Trotz ihres silbernen Haars und ihrer babyweichen Haut ist Susan ein Musterbeispiel an Unauffälligkeit.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch in dem Moment fliegt mir der Vorhang ins Gesicht, als Mark Barnes hereinkommt. Er steht aufgeblasen und wichtig da, während ich versuche, meine Fassung zurückzugewinnen und den Vorhang von Mund, Haaren und der blöden Brille wegzuschieben. Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich darüber gelacht, damals, als ich noch die lustige Seite an allem gesehen habe.

»Guten Morgen, Susan. Ich bin Ihr Arzt, Mark Barnes. Aber bitte nennen Sie mich einfach Mark.« Ich schwöre, dass ich draußen auf dem Flur ein Kichern höre. »Wie geht es Ihrem Bein? Wie geht es Ihnen? Sprechen Sie heute mit uns?«

Das Dröhnen seiner Stimme, die seine Herkunft aus Manchester verrät, lässt alles andere verstummen. Ich frage mich, was Susan über ihn denkt.

»Noch nicht«, sage ich bestimmt und stecke meinen vorwitzigen Pony zurück in die Spange. Ich sehe ihn so streng an, wie ich kann, doch das bekommt er nicht mit. Er tritt neben mich, den Kopf noch immer in der Akte.

»Sollen wir jemanden für Sie anrufen, Susan?«, fragt er.

Ich widerstehe dem Drang, sarkastisch zu sein. Oh, das ist eine gute Frage. Haben Sie das an der Uni gelernt? Stattdessen antworte ich einfach für sie. »Wir haben noch niemanden ausfindig machen können.«

»Okay, na schön …« Mark senkt die Stimme zu einem Flüstern wie ein Amateur-Souffleur. »Versuchen Sie, ihr Vertrauen zu gewinnen.« Er kneift die Augen zusammen und zeigt mit dem Stift direkt auf Susan. »Versuchen Sie herauszufinden, was los ist. Sie braucht jetzt Menschen, die für sie da sind; dieser Mangel an Kommunikation ist besorgniserregend.«

»Natürlich«, sage ich. »Ich warte darauf, mit jemandem vom PT zu sprechen.« Ich benutze den Code PT, sprich Psychologisches Team, um Susan nicht zu beunruhigen.

Mark nickt und verschränkt die Arme vor der Brust, um ein Resümee abzugeben. Ich weiß nicht, ob das der Eindruck ist, den er vermitteln möchte, aber er sieht aus wie ein aufgeplusterter Pfau. »Wir haben Ihr Bein gerichtet, Susan. Sie haben Glück gehabt, dass es keine zusätzlichen Probleme gegeben hat. Keine inneren Blutungen, und Stifte waren auch nicht erforderlich. Sie sind zwar schwer verletzt und brauchen Zeit und Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen, aber Sie sind am Leben. Und das ist ein Gewinn.«

Ein Gewinn. Ja, ich wette, dass sie sich genauso fühlt. Man kann es an ihrem Gesichtsausdruck ablesen …

»Halten Sie sich eine Weile von Bussen fern.« Er hebt das Kinn. Es ist frisch rasiert und sieht aus der Nähe bemerkenswert weich aus. Und dann weht ein Hauch seines Aftershaves zu mir herüber. Nur ein Hauch, aber der ist unverwechselbar. Bleu de Chanel. Ich habe es Daniel letztes Weihnachten geschenkt. Er hat es aufgemacht und aufgetragen, als wir unter dem Baum gesessen haben. Ich kann noch immer seinen Nacken spüren, wie ich ihn geküsst und den neuen Duft eingeatmet habe. An diesem Tag hatten wir keinen Besuch. Wir haben zu Hause gefaulenzt, und es gab nur uns, Schokolade und Prosecco. Mein Herz tut weh. Was genau hat sich verändert?

»Natürlich müssen wir Sie hierbehalten, Susan. Uns um Ihre Genesung kümmern«, fährt Mark fort, als ich einen Schritt von ihm wegtrete. »Aber wenn es so weit ist, können wir uns gerne über Ihre Entlassung unterhalten und darüber, wie es danach weitergeht.«

Susan starrt ihn an, das Auge, das sie öffnen kann, so weit aufgesperrt wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. Sie sieht ihm in die Augen, während er auf eine Antwort wartet, die nicht kommt. Er greift nach seiner Stiftlampe, beugt sich vor und leuchtet ihr in die Augen, bevor ich es verhindern kann. Susan weicht nicht zurück, und selbst von dort, wo ich stehe, sehe ich, wie ihre Pupillen sich wie im Lehrbuch zusammenziehen. Sie hält die Augen eine Weile offen; aparte haselnussbraune Augen mit grünen Punkten erwidern Marks Blick.

Mark tritt zurück und tänzelt wieder neben mich. Eigentlich tänzelt er nicht, möglicherweise ist mein Urteil über ihn durch seinen nicht gerade einfühlsamen Umgang mit den Patienten und das Aftershave nicht ganz fair. Ich weigere mich, es einzuatmen.

»Tun Sie, was immer Sie tun müssen, Kat. Irgendwann muss sie mit uns reden.« Das Deckenlicht spiegelt sich in seinen Augen. Wir sollten es ausschalten. Energie sparen.

»Natürlich«, antworte ich. Ich warte, dass er irgendetwas sagt, aber er sieht mich nur an, mein Haar und höchstwahrscheinlich auch meine Brille. Ich schiebe sie zurück auf die Nase. »Der Urlaub hat Ihnen gutgetan«, sagt er schließlich. »Sie sehen …«, ich beiße mir auf die Lippe und hoffe, dass er den Satz nicht beendet, obwohl ich mich frage, was er wirklich denkt. »Nun, egal.« Er nickt, lächelt und verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. »Mrs. Nielson«, ruft er. »Wenn Sie weiter so husten, werden Sie sich eine Rippe brechen!« Das Quietschen seiner Schuhe auf dem Linoleum verkündet seinen endgültigen und, um ehrlich zu sein, überfälligen Abgang.

Plötzlich ist es so ruhig, wie es auf einer Krankenstation nur sein kann – nur das entfernte Hintergrundgeräusch der Schwesterngespräche an der Rezeption und Fernsehergeräusche sind zu hören, ein Mix aus einer Talkshow und einer Serie. Selbst das Husten hat aufgehört. Ich halte die Luft an, dann drehe ich mich wieder zu ihr um. »Er hat recht, Susan«, sage ich vorsichtig, während ich unnötigerweise ihre makellosen Laken glatt streiche. »Sie brauchen Unterstützung, wenn Sie so weit sind, nach Hause zu gehen. Wenn wir irgendjemanden für Sie anrufen können …« Susan schließt die Augen, dreht den Kopf weg und lässt sich zurück ins Bett sinken. Ich bin entlassen.

Und genau in dem Moment wird mir klar, dass ein kleiner Teil von mir neidisch auf sie ist. Sie kann abschalten, uns allen den Rücken zukehren. Was würde ich dafür geben, das Gleiche tun zu können! Mich tarnen. Vor der Verantwortung verstecken, vor dem Geruch seines Aftershaves, der Realität, dass Daniel nicht mehr da ist, weitergezogen ist, während ich darauf warte, dass er seine letzten Sachen aus unserer Wohnung holt. Er kommt nicht zurück.

Kapitel 4 SUSAN

Das Klappern und Quietschen eines Rollwagens drängt in einen Traum, in dem ich mich in einem Wald verirrt habe, aus dem kein Weg herausführt. Ich suche, schaue hinter Büsche und Bäume. Ich rufe und höre nur mein eigenes Echo als Antwort.

Der Geruch nach immer gleichem Krankenhausessen ersetzt den Geruch nach feuchten Kiefern und Einsamkeit. Ich lasse die Augen geschlossen, obwohl ich merke, dass jemand an meinem Bett steht. Ein Teller wird hingestellt, Besteck klappert. Das Bett ruckt leicht, als mein Tisch näher herangezogen wird, in Reichweite für mich.

»Bitte sehr, meine Liebe«, sagt eine neue Stimme. »Guten Appetit.«

Die Schritte entfernen sich. Ich versuche, meine verklebten Augen zu öffnen, mein rechtes wird mit jedem Blinzeln klarer, fokussiert das Essen. Eine in zwei Hälften geschnittene Ofenkartoffel. Gelbe Butter schmilzt auf der glatten Oberfläche und tropft auf den welkenden Salat. Daneben steht eine angeschlagene Schale mit geriebenem Käse. Übelkeit steigt in mir auf.

Die Schwester von vorhin – war es Kat? – schaut zu mir herein, begutachtet meinen Teller, als wollte sie meinen Fortschritt messen wie eine Mutter, deren Kind regelmäßig das Abendessen verweigert. »Haben Sie Hunger?«, fragt sie, Hoffnung spiegelt sich in ihrem müden Gesicht. Sie hat einen Pappbecher mit Tabletten in der Hand. »Hmmm, Ofenkartoffel und Käse«, sagt sie wenig überzeugend, vermutlich in dem Versuch, es mir schmackhaft zu machen. »Und Salat …« Sie reibt sich den Bauch. »Ich bin heute nicht zum Frühstücken gekommen. Und habe nur etwas Schokolade gegessen, als ich hier ankam. Glauben Sie mir, Jaffa Cakes halten nicht wirklich bis zum Mittagessen vor.« Ihre Worte klingen fröhlich, aber sie ist es nicht. »Kommen Sie, lassen Sie mich …« Sie greift nach Messer und Gabel, zerteilt die Kartoffel und streut den Käse darüber.

»Etwas zu trinken?«, fragt sie als Nächstes und schüttet aus dem Krug von gestern Abend etwas Wasser in eine Plastiktasse. »Ich habe mich gefragt, ob Ihnen jemand eingefallen ist, den wir anrufen sollen, Susan? Kein Druck. Es geht nur um Besuch, es kann helfen, wenn Sie …« Ihre Worte verlieren sich, als würde sie sich selbst Einhalt gebieten. »Besuch hilft«, beendet sie den Satz. Da ist etwas in ihren Augen, das ich wiedererkenne. Eine Verstörtheit. Eine Quelle von Schmerz. Manche Menschen haben das.

Ich sehe den verwelkten Salat auf meinem Teller an.

»Und wir möchten nicht, dass sich jemand um Sie Sorgen macht«, fügt sie hinzu.

Wenn sich nur jemand Sorgen machen würde. Wenn nur jemand bemerkt hätte, dass ich nicht nach Hause gekommen bin, dass ich die Gardinen nicht zugezogen, das Fenster nicht aufgemacht, die Blumen nicht gegossen oder monatelang das Auto nicht bewegt habe. Ich habe vergessen, die Milch abzubestellen.

»Sie müssen etwas essen.« Sie schiebt den Teller näher heran, ihre Stimme ist sanft und fürsorglich. »Ihnen wird schlecht von den Tabletten, wenn Sie nichts im Magen haben.«

Ich greife nach der Gabel und schiebe die Kartoffel auf dem Teller herum. Der Schmerz in meinem Bein pulsiert, das Unbehagen ist auf seltsame Weise beruhigend. Sie beobachtet mich, und ich ertappe mich dabei, wie ich genau das tue, was ich immer getan habe, nämlich das, was von mir erwartet wird. Eine alte Angewohnheit, die selbst dieser tief verwurzelte Ekel nicht kleinkriegt. Schmelzende Butter tropft auf mein Laken, und Kat wischt sie mit der Hand weg. »Wir können es wechseln, wenn Sie das möchten. Sie müssen es nur sagen.« Ich öffne die Lippen gerade weit genug, um einen kleinen Bissen hineinzuschieben. Die Übelkeit kommt wieder, aber ich kaue weiter, wie ein braves Mädchen das eben macht. Ich bin sechsundfünfzig und immer noch nicht in der Lage, zu tun, was ich möchte.

Kat greift nach den Zeitungen und Zeitschriften auf meinem Tisch. Eine drei Tage alte Tageszeitung aus Manchester liegt neben einer alten Illustrierten voller Gesichter, die ich nicht kenne.

»Ich wette, diese Leute finden das toll, dass ihre Bikinifiguren genauestens studiert werden, was meinen Sie?«, sagt sie und blättert in der Zeitschrift. »Haben Sie etwas dagegen, dass ich die …« Sie hält sie über den Papierkorb und lässt sie schließlich fallen, als ich nicht antworte. Ich nehme einen weiteren Bissen. Die Kälte der Butter dringt in die Wärme der Kartoffel. Der Käse ist eine seltsame Mischung aus kräftig und geschmacklos. Fremd auf meinem Teller. Beides zusammen klumpt und klebt in meiner Kehle. Sie schnürt sich zusammen, aber ich esse weiter.

Kat schaut sich um und sieht meine Tasche. Die braune Umhängetasche, die mir meine Mutter vor vielen Jahren geschenkt hat.

»Haben wir da drinnen nachgesehen, Susan?«, fragt sie. Ich muss an die Krankenschwester denken, die sie aufgerissen, durchsucht und falsch wieder zugeschnallt hat, viel zu fest. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich …« Sie streckt die Hand danach aus. Langsam. Vorsichtig. »Nur für den Fall, dass etwas übersehen worden ist?« Sie liegt in ihrem Schoß, gerade noch innerhalb meiner Reichweite. Ich schiebe das Essen auf meinem Teller herum. »Nehmen Sie die«, sagt sie und nickt zu dem Pappbecher mit den Tabletten hin. Ich stecke die Tabletten in den Mund, ohne sie hinunterzuschlucken, während ich nach dem Wasser greife. Sie hinterlassen einen feinen bitteren Geschmack.

»Gut gemacht.« Sie sieht wieder auf meine Tasche. »Darf ich einmal hineinsehen?«, fragt sie. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu, lade mir mehr Kartoffel auf die Gabel.

Die Schnallen klappern, als sie sie aufmacht. Mutter hat immer gesagt, dass das Klappern der Schnallen meine Ankunft angekündigt hat. Ich frage mich, ob Kat den ausgeprägten Duft des abgewetzten Leders riecht. Ich habe diesen Geruch immer geliebt, er stand für Zuhause, Sicherheit und Vertrautheit. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch rieche oder nur glaube, es zu tun, die Erinnerung ist stark und frisch.

»Meine Güte, sind Sie gut organisiert«, ruft sie, während sie die Fächer durchgeht. »Geldbörse, Stift, Schlüssel.« Sie kommentiert jedes Teil, während sie es auf mein gestärktes weißes Bettlaken legt. In der Seitentasche findet sie meinen ledergebundenen Terminkalender. Goldbuchstaben geben Auskunft über das Jahr: 2016.

»Gehört der Ihnen, Susan?«, fragt sie.

Ich nehme noch einen Bissen von dem Essen, bevor ich den Teller wegschiebe.

»Darf ich einen Blick hineinwerfen?«

Ich schließe die Augen.

Der Rücken meines Terminkalenders knackt. Das Geräusch jeder umgeblätterten Seite wird verstärkt, es ist ohrenbetäubend. Sein Name liegt zwischen diesen Seiten. Seine Nummer. Wenn sie sie findet, wenn sie ihn anruft, wenn er kommt … Dann entsteht eine Pause, ein Schweigen. Mein Atem ist flach, als ich zurück auf den Wald zutreibe, verzweifelt unter den Stämmen von moosbewachsenen Bäumen suche, Panik in meiner Brust spüre. Ich höre die Worte: »Wer ist Rhys?«, aber ich bin weg, ich renne, durchsuche den Wald. Ich bin verloren, obwohl ich gefunden worden bin.

Kapitel 5 RHYS

Mein Handy klingelt genau in dem Moment, als mein Arm in Mrs. Js Röhrensiphon klemmt. Als es mir gelingt, ihn freizubekommen, geht die Haustür auf, und Mrs. J kommt zurück. Sie ruft irgendetwas von Mittagessen die Treppe hoch, und als ich endlich mein Handy gefunden, ihr geantwortet habe und den Anruf beantworten will, habe ich ihn verpasst. Verdammt. Ich lege das Handy auf meinen Oberschenkel für den Fall, dass eine Nachricht auf der Mailbox eingeht. Während ich warte, fällt mein Blick auf die Initialen auf Davids Tasche. Ich hatte sie vorne draufstanzen lassen, eine Geste, die ihm beweisen sollte, dass ich es ernst meinte mit unserer Zusammenarbeit – dass ich ihn anlernen würde und wir Partner sein würden. Er hat es ganz gut gemacht, er konnte genug, aber er war nie mit dem Herzen dabei. Ich frage mich, ob er das bei irgendetwas gewesen wäre? Er hat nie seine wahre Berufung gefunden. Wir waren Gegensätze, er und ich.

Eine Mailboxnachricht erlöst mich. Ich stelle auf Lautsprecher und suche in meinem Overall und meiner Werkzeugtasche nach einem funktionierenden Stift.

»Hallo, hier spricht Schwester Kat Davies vom Sheffield Hospital. Wir haben eine Patientin mit Ihrer Telefonnummer in ihrem Terminkalender hier. Es wäre schön, wenn Sie uns anrufen könnten, um zu klären, ob sie mit Ihnen verwandt ist? Meine Telefonnummer ist …«

Da ich kein Papier habe, versuche ich, die Zahlen auf meine inzwischen verschwitzte Handfläche zu schreiben. Das Herz will mir aus der Brust springen, und ich kann meine Autoschlüssel nicht finden. Warum lege ich sie nie an dieselbe Stelle? Warum hat Mum mich heute Morgen nicht zurückgerufen? Oder auf meine SMS geantwortet? Warum ruft das Krankenhaus an? Was ist mit ihr passiert? Ich nehme drei Stufen auf einmal.

»Haben Sie meine Schlüssel gesehen, Mrs. J?«

»Bist du schon fertig?«, fragt sie überrascht.

»Nein.« Ich sehe die Schlüssel auf der Arbeitsplatte, stürze hin und lasse sie auf den Boden fallen. »Verdammt.«

»Alles in Ordnung?«

»Ich weiß es nicht. Hören Sie, es tut mir leid, ich komme wieder, aber ich muss jetzt los!« Ich höre, wie Mrs. J mir etwas hinterherruft, als ich aus dem Haus stürme und in meinen Lieferwagen springe, der nach dem vierten Versuch anspringt. Ich brauche ein neues Auto. Und was ich jetzt gar nicht gebrauchen kann, ist ein Stau. Und es wäre auch nicht schlecht, wenn der Osten der Stadt näher an dem Krankenhaus läge.

Scheiße.

Ich brauche zwanzig Minuten für die dreißigminütige Fahrt und hoffe und bete, dass der erst kürzlich demolierte Blitzer noch nicht wieder funktioniert. Das Einbahnstraßensystem und die diversen Busspuren sind auch nicht optimal für jemanden, der es eilig hat. Ich bin außer Atem, als ich über den großen Parkplatz zu dem noch größeren Krankenhaus renne. Alle Flure sehen gleich aus. Jedes Schild scheint in jede Richtung zu weisen, nur nicht in die, in die ich will.

Ich drehe um und steuere die Rezeption an, hampele davor herum und warte, dass die Schlange der Wartenden vorankommt, sodass ich fragen kann, in welche Richtung ich muss.

»Woods«, wiederhole ich, als ich endlich dran bin, habe aber kein Glück bei der übereifrigen Frau an der Rezeption.

»Wann ist sie eingeliefert worden?«, fragt die Dame, tippt etwas in ihren Computer und runzelt die Stirn.

»Ich weiß es nicht, ich bin vor einer halben Stunde angerufen worden.« Ich versuche, mich an den Namen der Krankenschwester zu erinnern. »Kat!«, sage ich und schlage mit der Hand auf die Theke. »Von Schwester Kat Davies.« Die Dame an der Rezeption murmelt etwas Unverständliches. Ich klopfe ungeduldig auf die Theke.

»Station vier«, sagt sie unbeeindruckt.

Ich weiche einem älteren Ehepaar und einer hochschwangeren Frau aus, als ich zu den Fahrstühlen laufe, auf alle Knöpfe drücke und die Lampen und Stockwerkanzeigen beobachte, während ich warte, dass einer der Aufzüge kommt. Als ich auf der Station ankomme, schleiche ich hinter ein paar Putzfrauen und einer Frau in einem dieser hinten offenen Nachthemden her. Ich springe auf die Rezeption zu und schrecke eine Schwester auf, die etwas auf ein Whiteboard schreibt. »Schwester Davies?«, frage ich. »Schwester Kat Davies?« Verdammt. Ich bin total außer Atem. »Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen, ich glaube, meine Mutter liegt hier.« Ich suche mit den Augen die Zimmer ab und hoffe auf irgendein Anzeichen, das mir sagt, dass sie okay ist.

Die Schwester dreht sich um und sieht mich an; ihr Namensschild sagt mir, dass ich bei der Richtigen gelandet bin. »Sie! Sie haben mich angerufen. Ich bin Rhys.« Ich atme tief durch und frage mich, wann ich meine Kondition eingebüßt habe. »Rhys Woods.«

»Oh, Mr. Woods«, sagt sie überrascht. Sie kommt hinter der Rezeption hervor und führt mich den Flur hinunter. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie … Ich dachte, ich …« Sie sieht auf ihre Uhr und zeigt auf einen Warteraum für Angehörige, und mein Mund wird ganz trocken. Ich muss erst einmal auf der Schwelle stehen bleiben, bevor ich eintreten kann. Ich habe das schon einmal erlebt. Diese Räume sehen alle gleich aus. Riechen gleich, irgendwie sauber, doch angefüllt mit einer Mischung aus schlechten Nachrichten und Verzweiflung. Die Schwester, Kat, macht mir ein Zeichen einzutreten. Ich reibe mir das Kinn, Stoppeln kratzen über meine Handfläche, ich mache einen Schritt, dann noch einen und stehe mitten in einem Raum, der genauso aussieht wie der, in dem man mir und Mum gesagt hat, dass David nicht gerettet werden konnte. Wir hatten ihn zu spät gefunden. Es wäre nicht zu seinem Besten gewesen, wenn sie ihn am Leben erhalten hätten.

Kat bietet mir einen Stuhl an. Ich setze mich nicht.

»Sind Sie okay?«, fragt sie. Es gibt keinen Spiegel, in dem ich sehen kann, was sie sieht, aber wenn mein Gesicht so aussieht, wie meine Brust sich anfühlt … »Bitte, setzen Sie sich«, wiederholt sie. Diesmal tue ich, was sie sagt. Sie schlägt die Beine übereinander, stützt die Ellenbogen auf die Knie und beugt sich vor. Dunkles braunes Haar fällt nach vorne, und sie schiebt es sich hinter die Ohren. Sie trägt Ohrstecker, kleine goldene wie Mum. »Danke, dass Sie gekommen sind, Mr. Woods. Mein Name ist Kat, ich bin die Stationsschwester.«

»Ist sie in Ordnung?«, frage ich ungeduldig, weil sie nicht schneller macht und ich mich unwohl in diesem Raum fühle. »Sie haben mich angerufen. Sie haben gesagt, dass Sie eine Patientin hier haben. Ist es meine Mutter? Ist sie in Ordnung? Bitte, sagen Sie mir, dass sie in Ordnung ist, denn ich glaube nicht, dass ich das noch einmal aushalten kann.« Ich stehe wieder auf, gehe im Raum auf und ab, die Wände rücken näher.