Am Anfang war der Knoten - Michael Simon Karg - E-Book

Am Anfang war der Knoten E-Book

Michael Simon Karg

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Beschreibung

Der Knoten – wir alle kennen und verwenden ihn. Doch kaum jemand weiß Genaueres über seinen Ursprung und seine lange Geschichte. Dabei verwandeln Menschen seit Tausenden Generationen mit dem Knoten einfache Leinen – ob Schnur, Strick oder Seil – in Werkzeuge, Symbole, Zeichen, Zierden oder Mittel der Magie. Einst unverzichtbarer Alltagsgegenstand, wird der Knoten in der Konsumgesellschaft zunehmend von Billigprodukten ersetzt – und bleibt doch das einzige Werkzeug der Vorzeit, das sich noch heute in jedem Haushalt befindet. Weder im Alltag noch in der Wissenschaft wird der unscheinbaren und zugleich hocheffektiven Technik des Knotens besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wäre unsere Menschwerdung ohne den Knoten vermutlich nicht möglich gewesen. Michael Kargs Buch zeichnet die Menschheitsgeschichte mit dem Blick durch die Knotenbrille nach. Entstanden ist eine Hommage an das, was die Menschheit verbindet.

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Michael S. Karg

Am Anfang war der Knoten

Die zentrale Bedeutung des Knotens für die Menschheit Eine Kulturgeschichte

Meinen Eltern

Die Kunst des Knotenknüpfens, Gipfel sowohl der geistigen Abstraktion wie der Fingerfertigkeit, könnte geradezu als das Hauptmerkmal des Menschen betrachtet werden, vielleicht noch mehr als die Sprache.

Italo Calvino

Dieses Werk wurde vermittelt durch Schoneburg. Literaturagentur und Autorenberatung, Berlin.

© 2023 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe · zuklampen.de

Lektorat: Regina Derr und Miriam Hirschauer

unter Beratung von Robert Brosch

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden · München · hildendesign.de

unter Verwendung mehrerer Motive von shutterstock.com

Satz: Germano Wallmann · Gronau · geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt

ISBN Printbuch 978-3-86674-990-0

ISBN E-Book-PDF 978-3-98737-365-7

ISBN E-Book-epub 978-3-98737-364-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Durch die Knotenbrille

Teil 1 Vergangenheit

Am Anfang war das Knoten

Begreifen der Welt

Mythologie und die Vergrößerung des Raums

Symbol und Magie

Knoten, Zeichen, Schrift

Knoten in der Kunst

Teil 2 Gegenwart

Übergänge

Devil’s Rope

Knotenmonster

Der genderungerechte Knoten

Verkehrte Produkte und verkehrte Lösungen

Das Antiprodukt

Clevere Fäden

Das Seil in den Weltraum

Teil 3 Das Wesen von Leine und Knoten

Das Knotenbinden

Das Geheimnis eines Seils

Der unbeschreibliche Charakter von Leine und Knoten

Der Kreuzknoten

Der Palstek

Der Pfahlstek

Der Tarbuck-Knoten

Der Kettenplatting

Der Konstriktor

Der Trossenstek

Der Achterknoten

Verbindungen

Anhang

Verwendete Literatur

Empfohlene Literatur

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

Der Autor

Abb. 1: Dieses Teppichseite genannte Deckblatt aus dem Book of Durrow, einem illustrierten Evangeliar, steht am Anfang des Markusevangeliums, Entstehung ca. 660–680 n. Chr., Keltische Kunst Trinity College, Dublin, Irland.

Durch die Knotenbrille

Wir leben in einer digitalisierten Welt mit Smartphones, selbstfahrenden Autos, Virtual Reality, Künstlicher Intelligenz, Kryptowährung und privater Raumfahrt. Gleichzeitig haben wir als Menschheit gewaltige Herausforderungen vor uns: Klimaerwärmung, Pandemien, Müllprobleme, Energiefragen, Wirtschaftskrisen, Artensterben, Überbevölkerung. Was sollen uns in dieser Welt Knoten noch zu sagen haben? Auf den ersten Blick scheint die archaische Methode, Dinge miteinander zu verbinden, völlig aus der Zeit gefallen.

Dabei handelt sich um das vielleicht älteste, womöglich sogar wichtigste, ganz sicherlich aber erstaunlichste Werkzeug unserer Menschheit.1 Leinen und Knoten – im Folgenden wird über all das, was wir in der Hand halten und womit wir Knoten machen können, als Leine und Knoten gesprochen – sind das einzige Werkzeug der Prähistorie, das sich heute immer noch in jedem Haushalt befindet. Alles, was in irgendeiner Form verknotet werden kann, gehört dazu. Vielleicht besitzen Sie eine Hose, einen Kapuzenpulli oder eine Regenjacke mit einem Kordelbund? Oder in einem Schrank liegt irgendwo ein Rucksack oder eine Strandtasche mit einem Kordelzug? Im Garten oder auf dem Balkon findet sich womöglich eine Bastschnur, in der Küche das Küchengarn oder irgendwo eine Wäscheleine? Mindestens ein paar Schuhe mit Schnürsenkeln werden wohl die meisten haben und in einer Schublade mehr Kabel zum Aufladen eines Handys, als man benötigt. In all diese Schnüre, Stricke, Kabel, Leinen lassen sich Knoten machen, und nicht selten verknoten sie sich zu unserem Ärgernis selbst. Dieses Ärgernis verweist bereits auf eines der rätselhaftesten Merkmale von Knoten: Sie existieren unabhängig von uns. Wir bedienen uns lediglich ihres Prinzips. Dabei sind sie so selbstverständlicher Teil unseres Lebens, dass wir die Einzigartigkeit ihrer Beschaffenheit und Möglichkeiten kaum mehr erkennen. Es lohnt sich daher, die Knotenbrille aufzusetzen, und mit ihr einen Blick auf die Vergangenheit (Teil 1) und die Gegenwart (Teil 2) zu werfen. Mit ihrer Hilfe erkennen wir überraschende Zusammenhänge von Altbekanntem, neue Bedeutungen von Selbstverständlichem und Verrücktes im Gewohnten. Lösen wir das Versprechen an dieser Stelle doch gleich mal ein und schauen auf ein kleines amüsantes Beispiel. Wussten Sie, dass die Schweizer Tennisikone Roger Federer kein Match spielte ohne die Gewissheit, mit sieben perfekten Knoten auf den Platz zu gehen? Federer selbst ist dieser Umstand wohl kaum bewusst, und dennoch legte er die höchste Sorgfalt darauf. Zwei Schnürsenkel, sein Bandana und die vier Knoten in der Schlägerbesaitung hatten alle die für ihn perfekte Festigkeit. Begann sich nur einer zu lösen, wurde entweder nachjustiert oder der Schläger gewechselt. Und in der Tat, am Ende seiner Karriere teilt er auf die Frage, wie es ihm vor seinem letzten Match gehe, mit, dass er ganz besonders das Ritual und das Gefühl des Schuhebindens und Bandanaanlegens vor einem Match vermissen werde, bevor er sich selbst im Spiegel eine letzte Anfeuerung zurief.2 Der Knoten als kontrollierte Zündung seines Adrenalins.

Würde man ihn fragen, ob Knoten in seinem Leben eine besondere Bedeutung haben, dann würde er dies wohl verdutzt verneinen – zumindest gibt es keine öffentliche Aussage von ihm, die auf ein besonderes Verhältnis zu Knoten im Speziellen hindeuten würde. Und das, obwohl sein ganzes Leben daraus bestand, seine Kunst innerhalb der erwähnten sieben Knoten auszuüben, in stetem Bemühen, die tausend Knoten des Netzes zu überwinden und seinen Gegner dazu zu zwingen, in selbige zu schlagen. Wie kann sich ein Leben noch stärker um Knoten drehen als dieses?

Die Gleichzeitigkeit der offensichtlichen Bedeutung von Knoten und ihrem Verschwinden hinter fragloser Selbstverständlichkeit wird uns noch in vielen Beispielen beschäftigen.

Eines der größten Wunder, die Knotenbinder früher oder später erleben, liegt in der Unendlichkeit von Anwendungen, die einer einfachen Leine innewohnen. Ein Stock und ein Stein waren für unsere Vorfahren jahrtausendelang ebenso wichtig, aber nur mit der Leine konnten sich unsere Vorfahren auf höhere Entwicklungsstufen begeben. Es gibt weit mehr als 3000 verschiedene Knoten zum Verschnüren und Verschließen, Abbinden, Abseilen, Anbinden, Aufhängen, Befestigen, Begrenzen, Bündeln, Dekorieren, Fangen, Fesseln, Flechten, Halten, Spannen, Stoppen, Ummanteln, Vernetzen und Ziehen. Wir sprechen wohlgemerkt immer noch von einer einfachen Leine. Und das sind nur die mechanischen Anwendungsbereiche. Knoten dienen seit Urzeiten auch als Mittel zur Darstellung abstrakter Werte wie Zahlen, Daten und Geschichten. Sie waren das erste Mittel zur Organisierung von Wissen. Mit ihnen wurde gerechnet, sie dienten als Messinstrument ebenso wie als Gedächtnisstütze und waren die ersten Dokumentationsmittel zur Überlieferung von Wissen. Vielleicht haben Sie schon mal von den Quipus gehört, den Knotendokumenten der alten Inkas, mit denen sie ihre Wirtschaft und Gesellschaft organisierten? Das Festhalten von Geschichten, Rechnen mit Zahlen und Erinnern an Ereignisse war keine exotische Verwendungsform des Andenvolkes, sondern in ähnlichen Formen gängige Praxis überall auf der Erde zu allen Zeiten. Menschen verwendeten kleine Leinen und Knoten als ihr persönliches Notizbuch, mit dem sie Daten festhielten oder sich an Ereignisse erinnerten. Leinen und Knoten weisen in ihrer Vielfältigkeit eine Qualität auf, die wir sonst nur noch von der Sprache und Schrift kennen, und die der Sprachphilosoph Wilhelm von Humboldt als den »unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln«3 beschrieb. Angesichts der Fülle an Funktionen, die so eine Leine mit Knoten neben den bereits genannten noch erfüllen konnte, von einfachen, aber präzisen kommunikativen Handlungen bis hin zu kleinen Spielchen und Tricks, kann man dabei vom Smartphone der Vorzeit sprechen.

Wir definieren uns meist darüber, was wir heute anders machen als frühere Generationen. Dabei wird unser Alltag immer noch von uralten Praktiken bestimmt, die unsere Vorfahren ebenso verrichteten. Zugegeben, das Wischen auf dem Smartphone gibt es so erst seit 2007 mit Einführung des iPhones. Wenn wir telefonieren, dann geht diese Praxis immerhin schon hundert Jahre zurück. Das gedruckte Buch in Ihren Händen ist eine Erfindung aus dem 15. Jahrhundert, aber das Blättern in einem Buch geht noch einige Jahrhunderte weiter zurück. Die Notiz, die Sie sich mit einem Stift machen, unterscheidet sich kaum von der eines Römers, der vor 2000 Jahren mit den gleichen lateinischen Buchstaben geschrieben hat. Bestimmt kennen Sie den Brauch, sich einen Knoten zu machen, um sich selbst an etwas zu erinnern. Wir sprechen dabei von einer Praktik, die unsere Vorfahren wohl schon vor mehr als 40.000 Jahren gemacht haben. Diese Praktik, Knoten als Erinnerungsmethode zu verwenden, geht zurück auf eine Zeit, als man Ausschau nach Mammutherden hielt. Wenn wir mit einem Knoten etwas festbinden, dann reicht diese Praxis sogar noch weiter zurück. Wir können es nicht datieren, aber sicher ist, dass die uns vorhergehenden Menschenspezies bereits geknotet haben.

Obwohl wir Menschen des 21. Jahrhunderts digital vernetzt und vermessen sind, ist ein einfacher Knoten für uns übrigens immer noch eines der wichtigsten Kriterien zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit und des Gesundheitszustands eines Menschen. Können Sie sich noch an die Zeit erinnern, in der es von einem noch nicht erwartet wurde, sich selbst die Schuhe zu binden? Eine Zeit, die von Kindern mit untrüglichem Instinkt für die Belastbarkeit elterlicher Fürsorge gerne ein wenig ausgereizt wird? Spätestens wenn ein Spielkamerad mit provokanter Heiterkeit verkündet, sich seit gestern selbst die Schuhe binden zu können, wird der Lerndruck zu groß. Sich selbst die Schuhe binden zu können, ist vielleicht die Kompetenz schlechthin, die wir von einem Mitglied unserer Gesellschaft erwarten. Sie ist eine noch grundlegendere Kompetenz als Lesen. Nicht oder noch nicht lesen zu können, kann viele Ursachen haben. Es verbietet jegliche Rückschlüsse auf die Fähigkeiten oder Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern. Sich ab einem bestimmten Alter nicht selbst die Schuhe binden zu können, ist dagegen bedenklich. Auch würden wir uns Sorgen um den Gesundheitszustand eines erwachsenen Menschen machen, der aus welchem Grund auch immer, von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der Lage ist, sich seine Schuhe selbst zu binden. Weshalb das Bild, die Schuhe gebunden zu bekommen, sowohl Ausdruck von Unreife oder Hilflosigkeit als auch eine Metapher höchster Macht darstellt, ist nur eines von vielen Rätseln, denen wir noch begegnen werden.

Wir wissen zwar nicht, woher das Knoten kommt, aber wie wir noch erfahren werden, gäbe es ohne Knoten weder Wissenschaften noch Religion. Das erscheint zu weit gegriffen? Wissenschaftliches Forschen erfordert Beobachtung, Experiment und Analyse. Religiöses Leben organisiert Empfindungen wie Glaube, Vertrauen und Hoffnung. Bevor wir zu viel vorwegnehmen, führen wir lieber ein kleines Gedankenexperiment durch. Stellen wir uns vor, wir sind auf einer einsamen Insel gestrandet und zurückgeworfen in die Anfänge unserer Menschheit. Es geht ums nackte Überleben, aber einer der wenigen Gegenstände, die wir besitzen, ist glücklicherweise ein Seil. Wir beginnen, uns zu überlegen, wie wir an die hoch hängenden Früchte eines Baumes gelangen oder mit Schlingen Fallen stellen. Dazu müssen sehr nüchterne, rationale und analytische Überlegungen angestellt, Knoten ausprobiert und Konstruktionen ausgetüftelt werden. Beim Erkunden der Insel haben wir eine Süßwasserstelle entdeckt. Allerdings müssen wir uns abseilen, um sie zu erreichen, weil sie sich am Fuß einer Steilwand befindet. Wir befestigen also unseren Knoten an einem Baum, hängen uns vorsichtig an das Seil – und hoffen, dass beides hält. Wir würden das nicht machen, wenn wir dem Knoten und dem Seil nicht vertrauen würden und nicht an ihre Festigkeit glaubten. Ein Seil und ein Knoten sind zwar ohne Verstand und Kenntnis nicht herzustellen, aber ohne Glauben und Vertrauen nicht zu verwenden. Das Funktionieren von Knoten hatte für unsere Vorfahren existenzielle Bedeutung. Es verwundert nicht, dass Knotensymbole und Knotenornamentik gerade im sakral-spirituellen Bereich seit Tausenden von Jahren so weit verbreitet sind.

Noch heute sieht man symbolische Knoten bei Franziskanermönchen, die drei Knoten in ihre Kordel – das Cingulum – knüpfen. Sie stehen für die drei Tugenden Armut, Gehorsam und Keuschheit. Knotensymbolik kann auch eine Form der Kommunikation sein, beziehungsweise Kommunikation regeln. In weniger sakralen Umgebungen wie einem bayerischen Volksfest sollte die Position der Schlaufe am Dirndl, ob rechts oder links gebunden, Rückschlüsse über den Ehestand der Trägerin ermöglichen. Damit wurde von vornherein geregelt, mit wem, über was und wie zu reden sei. Angesichts einer bierseligen und enthemmten Atmosphäre könnte man in diesen Knoten sogar ein Instrument zur Wahrung des sozialen Friedens sehen. Wo die einen mit der Stellung des Knotens die Familienplanung beginnen wollen, verwenden andere den Vornamen, um sie zu beenden. So bedeutet der Name Knut im Skandinavischen Knoten. Man nannte denjenigen Sohn Knut, mit dem man die Familienplanung abzuschließen – zuzuknoten – gedachte.4

Die Vorstellung, dass Knoten nicht nur physisch etwas festhalten, sondern auch gedanklich, ist nicht nur bei den Skandinaviern tief verwurzelt. Es gibt buddhistische Rituale, bei denen der Priester nur die Finger bewegt, als ob er einen Knoten machen würde, um den Raum der Zeremonie vor bösen Kräften zu feien.5 Es muss nicht einmal ein echter Knoten geknüpft werden, damit ein Knoten etwas halten soll.

Die rätselhafte Geschichte von Leine und Knoten, der in diesem Buch nachgespürt wird, entpuppt sich als das transparente Deckblatt einer viel größeren Geschichte: der menschlichen Geistes- und Entwicklungsgeschichte. Nicht, weil die Menschheit Leine und Knoten immer in ihren Mittelpunkt genommen und sie bewusst als ihr wichtigstes Werkzeug stetig weiterentwickelt hätte. Sondern im Gegenteil, weil sie so selbstverständlicher Bestandteil des Lebens und Überlebens waren. Weil die Entwicklung von Leinen – vom Garn bis zum Tauwerk – und die Entdeckung von Knoten immer höherrangigeren Zielen dienten. Weil die Bedeutung von Leinen und Knoten sich aus tiefen Bewusstseinsebenen heraus in Symboliken, Zeichen und Ornamentik widerspiegelte. Weil sie so häufig wesentliche Aufgaben in zahllosen Menschheitserzählungen erfüllen. Weil sie für alle Menschen überall auf der Erde unabhängig voneinander gleich hohe Bedeutungen hatten. Aus ihnen entstanden die Schriftsysteme und sie bilden das Fundament für alles, was wir heute als Literatur, Geschichte und Wissenschaft kennen. Stock und Stein mögen dem Menschen unverzichtbare Begleiter während der Entwicklung zum aufrechten Gang und wichtige Instrumente zum Überleben in kleinen Gemeinschaften gewesen sein. Leine und Knoten aber sind das anthropologische Starterkit für Kulturen.

Menschen haben beispielsweise in allen Teilen der Welt unabhängig voneinander Seile auf dieselbe Art hergestellt, dieselben Knoten entdeckt und diese Knoten auf sehr ähnliche Weise verwendet.6 Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen schon vor mehr als 40.000 Jahren Seile selbst herstellten. Und als ob das nicht schon verblüffend genug wäre: Funde lassen darauf schließen, dass die Neandertaler die Seilerei schon 10.000 Jahre zuvor betrieben.

Wir Menschen haben eine spezielle anatomische Veranlagung bei Gaumen und Zunge zum Sprechen. Wir haben auch die spezielle Fingerfertigkeit und das Vorstellungsvermögen zur Herstellung von Seilen und Knoten. Wer sich mit Knoten auseinandersetzt, stellt fest, dass das Knotenlernen dem Sprachenlernen nicht unähnlich ist. In der Tat gibt es seit Längerem Studien, die zur Überzeugung gelangt sind, dass Sprachentwicklung und Werkzeugbau nicht nur parallel stattfanden, sondern sich mit steigender Komplexität in ihrer Systematik und der Entwicklung unseres Gehirns gegenseitig bedingt haben.

Wir können diesem Zusammenhang zwischen erweiterter Fingerfertigkeit, gedanklicher Reflexion und sprachlicher Abbildung heute noch am eigenen Leib – oder besser gesagt am eigenen Gehirn – nachspüren. Wer einige Knoten beherrscht und anwendet, beginnt, seine Umgebung anders zu betrachten und zu beschreiben. Man blickt ganz automatisch durch die Knotenbrille und erkennt auf einmal einfache Lösungen für Probleme des Alltags, wo wir uns ansonsten zahlreicher eigens für den einen Zweck hergestellter Hilfsmittel bedienen. Einfachheit, Eleganz, Raffinesse, Vielschichtigkeit und Nachhaltigkeit – all diese Qualitäten vereinen Leine und Knoten in ihren Anwendungsmöglichkeiten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das eigene Denken bei der Auseinandersetzung mit Leine und Knoten so stark verändert wird, dass man in vielen Dingen, die uns täglich mit dem Versprechen begegnen, unser Leben einfacher zu machen, auf einmal keine raffinierten Produkte mehr erkennt, sondern nur noch unsinnigen Müll. Und in den Prozessen zur Herstellung und Vermarktung dieses unsinnigen Mülls ein Sinnbild für – na, greifen wir nicht zu weit voraus. Wir werden beim Blick durch die Knotenbrille auf unsere Gegenwart noch auf industriell gefertigte Knotenmonster stoßen, die natürliche Lebensräume verwüsten, und auf alltägliche Knoten, die auf sehr dezente Weise soziale Ungleichheiten schaffen. Wir werden aber auch eine magische – oder besser gesagt technologische – Welt der cleveren Fäden kennenlernen, die eingewebt in Stoffen in der Lage sind, unterschiedlichste Energieformen der Natur und des menschlichen Körpers in Strom umzuwandeln, auf Veränderungen zu reagieren und darüber zu informieren oder sich dank Memory-Effekten selbständig in unterschiedliche Formen zu verwandeln. Die Möglichkeiten von diesen Fäden könnten unsere Zukunft genauso prägen wie die einfache und sehr alte Idee, mithilfe eines Seils die Weltraumfahrt zu revolutionieren. Aber dazu später mehr.

Vielleicht wird sich der eine oder andere nun fragen: Wenn Leine und Knoten in unserer Vergangenheit so bedeutend waren und für unser gegenwärtiges Denken so viel Potenzial bereithalten, warum weiß man dann so wenig davon, warum sind wir uns dessen kaum bewusst? Es liegt zum einen daran, dass es aufgrund von Verrottungsprozessen kaum archäologische Funde zu Knoten gibt und sie daher im Gegensatz zu Steinwerkzeugen im Rückblick kaum eine Rolle spielen. Es liegt aber auch daran, dass sich viele Anwendungsformen von Knoten schon vor Tausenden von Jahren verloren haben. Wie wir noch sehen werden, gibt es in der Bibel zahlreiche Stellen, die erst verständlich oder noch verständlicher werden, wenn wir sie durch die Knotenbrille betrachten. Unser Unverständnis alter Zusammenhänge müssen wir ausnahmsweise nicht auf unseren postmodernen entfremdeten Lebensstil schieben, denn selbst schreibkundige Bibelexegeten vor mehr als tausend Jahren konnten sich keinen rechten Reim mehr auf Schnüre in Textstellen machen, die dem Zweck des Dokumentierens dienten.

Das Prinzip des Knotens ist in seiner Anwendungsvielfalt, seinen Erscheinungsformen und Bedeutungen so anarchisch, dass es noch nicht mal eine eigene Wissenschaft dazu gibt. Obgleich Knoten dazu dienen, etwas festzuhalten, sind sie selbst sprachlich kaum zu fassen oder einem bestimmten Fach zuzuordnen. Knoten kommen zwar so gut wie überall vor und ohne sie wäre nichts entstanden. Trotzdem wurde die wissenschaftliche oder gesellschaftliche Relevanz von Knoten noch nie als förderungswürdig betrachtet. Die Hammatologie, wie man sie nennen könnte, vom griechischen ἅµµα, ἅµµατος (hamma, hammatos – der Knoten, Gen. des Knotens), die allen Facetten von Knoten – als Werkzeug, Symbol, Ornament, Zeichen, Zierde, Fetisch, Magie – innerhalb einer Wissenschaft gerecht werden wollte, wäre ein im wahrsten Sinne des Wortes spinöses Unterfangen, eine Fantasiewissenschaft, die vielleicht als Nebenfach in Hogwarts gelehrt wird, im Proseminar bei Prof. Dr. Indiana Jones oder sich als ledernes Konvolut in der Bibliothek von Sherlock Holmes befindet. Dabei wurde schon im 4. Jahrhundert nach Christus ein erster Versuch unternommen, Knoten zu kategorisieren – zumindest aus medizinischer Sicht. Der griechische Arzt Oreibasius war Leibarzt des römischen Kaisers Julian. In seinem Werk beschrieb er achtzehn verschiedene Knoten, die der Entlastung von Gliedmaßen, Fixierung von Brüchen und Unterstützung von Körperteilen, beispielsweise bei der Heilung eines Kieferbruchs, dienten.7

Am weitesten innerhalb einer Disziplin hat es der Knoten in der Mathematik geschafft. Der Vater der Knotentheorie ist kein Geringerer als der größte Mathematiker: Carl Friedrich von Gauss. Seither haben sich viele Mathematiker mit der Knotentheorie befasst, hierzu findet sich mehr Literatur als zu allen anderen Knotenbelangen, sie kann von mathematisch Interessierten ausgiebig nachgelesen und studiert werden. Allerdings interessieren die Mathematiker nur die ideellen Knoten, die in sich geschlossen keine Enden aufweisen und immer schon fertige Gebilde sind. Ihre Befunde zu Knoten als dreidimensionale Gebilde spielen mittlerweile eine wichtige Rolle in der Quantenphysik, der Genetik und Chemie.8

Die Hammatologie dagegen würde ein Dutzend bestehender Disziplinen umfassen: Kraft, Zug und Belastbarkeit sind Sache der Physik; die reiche Geschichte der bildlichen Darstellung von Knoten wären Gegenstand von Kunstgeschichte, Semiotik und Heraldik; die Ethnologie untersucht kulturelle Eigenheiten und Bedeutungen von Knoten; archäologische Funde geben uns Aufschluss über die Verwendung von Knoten bei unseren Ahnen, wobei man aufgrund der Vergänglichkeit von Knotenmedien auf Gegenstände angewiesen ist, die mit der Seilherstellung und Knoten zu tun haben. Mit Methoden der Experimentalarchäologie lassen sich dann Abläufe rekonstruieren; Knotendarstellungen als reine Zierde wären Sache der Mode- oder Architekturgeschichte; wo die Zierde Bedeutung für Rang und Macht erlangt, wäre der Knoten Gegenstand der Modesoziologie.

Kommen wir schließlich zu den Disziplinen der praktischen Anwendbarkeit: die Nautik, die Alpinistik und der Sport, die Baumpflege, die Mode- und Textilwirtschaft, die Wartungs- und Reinigungsbranche bei schwer zugänglichen Objekten wie Fassaden, Bohrtürmen oder Windrädern, die Berg- oder Höhenrettung, oder die als Rigging bezeichnete Seiltechnik bei Film, Fernsehen, Theater, Shows und Veranstaltungen bis hin zu Shibari und Bondage als kunstvolle Fesseltechniken. In der Medizin werden Nähte noch wie vor 2000 Jahren mit dem Kreuzknoten verschlossen.

Die sehr markante Eigenschaft einer Leine, auch tödlich sein zu können, ruft zuletzt noch Forensiker auf den Plan. Sie untersuchen bei Todesfällen durch Strangulation die Knoten nach ihrem Aufbau und ihrer Knüpfung (zum Beispiel: Wurden sie von einem Rechtshänder oder Linkshänder geknüpft?) sowie ihrer Wirkungsweise und damit die Frage, ob es sich um Selbstmord, Mord oder eine verunglückte sexuelle Praktik handelte.9 Im Jahr 1994 konnte Lynne Herold, eine Expertin des FBI, anhand einer Knotenuntersuchung die Schuld des österreichischen Serienmörders Johann »Jack« Unterweger an drei in den USA ermordeten Prostituierten nachweisen. Es war der Henkersknoten, derselbe, mit dem sich Unterweger nach der Urteilsverkündung in seiner Zelle erhängte.10 Da Knoten wie gesagt nirgends in ihren Anwendungsbereichen erfasst sind, ist es nicht auszuschließen, dass es noch weitaus mehr Bereiche gibt, in denen sie relevant sind.

Genau in diesem anarchischen Wesen von Knoten, sich allen Kategorien und Schubladen zu entziehen, sich auf nichts festlegen zu lassen, mal Werkzeug zu sein, mal Symbol, mal beides, mal weder noch, immer wieder mit neuen Bedeutungen dem sprachlichen Zugriff entschlüpfend, liegt der ungeheure Reiz. Denn wir kommen ihnen mit unseren üblichen Denkmustern und Denkschubladen, in die wir ansonsten immer alles sortieren können, nicht bei. Knoten fordern uns heraus, über uns hinauszudenken. Dieses Buch widmet sich daher Knoten nicht nur in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen, sondern auch in dem Versuch, das Wesen von Leine und Knoten zu ergründen (Teil 3).

Greifen wir daher noch einmal die eingangs gestellte Frage auf: Was können uns Knoten in unserer digitalisierten Welt heute noch sagen? Die Probleme dieser Welt lassen sich mit ein paar Knoten definitiv nicht lösen. Wenn wir uns aber einig sind, dass wir die künftigen Herausforderungen nicht dadurch bestehen, dass wir alles genauso machen wie immer, sondern dass wir uns Neues einfallen lassen müssen, neue Blickwinkel benötigen, Dinge neu bewerten müssen, ›out of the box‹ denken müssen – voilà! Dann bietet die Knotenbrille eine ebenso schöne wie bereichernde Methode, über die üblichen Bahnen und Strukturen hinauszublicken. Wir werden nicht nur unsere Vergangenheit und Entwicklung anders interpretieren können, sondern auch neue Blicke auf die Gegenwart und die Zukunft entwickeln.

Aber beginnen wir ganz vorn. Seilen wir uns zuerst in die Tiefen unserer menschlichen Geschichte hinab, wo wir auf die Anfänge des menschlichen Knotens, Begreifens und Denkens blicken.

1 »Arguably, this is one of the most important tools ever used by man.« (zu Deutsch: »Dies ist wohl eines der wichtigsten Werkzeuge, die der Mensch je benutzt hat.«) Aström u. Aström (2018): Art and Science of Rope, in: Handbook of the Mathematics of the Arts and Sciences, S. 2; oder Jabr (2018): The Long, Knotty, World-Spanning Story of String, in: Hakai Magazine, o. S.: »String is far more important than the wheel in the pantheon of inventions.« (zu Deutsch: »Die Schnur ist im Pantheon der Erfindungen viel wichtiger als das Rad.«)

2 Vgl. Slot (2022): Roger Federer: Don’t Ask Me If I’m OK – This Is a Celebration, Not a Commiseration, in: The Times, o. S.

3 Vgl. Humboldt (1968): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, S. 106.

4 Vgl. Öhrvall (1916): Om knutar, S. 200.

5 Vgl. Calvino (2016): Sag’s durch Knoten, in: Gesammelter Sand. Essays, S. 69.

6 »These various evidence of cordage and their corresponding geographical finding sites indicates that it is plausible that the invention of rope and cordage is something that have [sic] happened at many locations independently.« (zu Deutsch: »Diese verschiedenen Belege für Tauwerk und die entsprechenden geografischen Fundorte zeigen, dass es plausibel ist, dass die Erfindung von Seilen und Tauwerk an vielen Orten unabhängig voneinander stattgefunden hat.«) Aström u. Aström (2018), S. 2.

7 Vgl. Öhrvall (1916), S. 207 f.

8 Vgl. Santos (2019): The knowledge of knots, in: Spatial Cognition & Computation, S. 334.

9 Vgl. Chisnall (2022): Analysing knot evidence, in: Scandinavian Journal of Forensic Science.

10 Vgl. Stockner (2022): Unterweger vor Gericht, in: Kronen-Zeitung, o. S.

Teil 1

Vergangenheit

Am Anfang war das Knoten

Die Anfänge vom Knoten, Flechten und Weben liegen streng genommen Hunderte von Millionen Jahren zurück, als Pflanzen das Prinzip der Verdrillung für sich erkannten, um an etwas hochzuwachsen. Sie erreichten damit Höhen, die ihnen ihre eigene Statik nie erlaubt hätte. Wir begegnen hier zum ersten Mal dem Motiv der List, auf das wir später noch kommen werden. Spinnen entwickelten vor Jahrmillionen bereits ihre geniale Jagdmethode und woben Netze. Pirolen wurden dabei beobachtet, wie sie beim Nestbau mehrere unterschiedliche Knotenformen verwendeten. Beginnend mit einem einfachen Überhandknoten, festigen die Singvögel diesen entweder mit einem Altweiberknoten oder einem Kreuzknoten.11 Gorillas verwenden einen einfachen Überhandknoten mit Zweigen beim Nestbau, und es gibt Geschichten von Orang-Utans, die sich selbst eine Leine flochten, um auf dieser zu schaukeln.

Eines der größten Rätsel, das Leine und Knoten umgibt, ist die Frage nach ihrem Ursprung. Der australische Forscher und Knotenliebhaber Charles Warner schreibt, dass der Beginn des Knotenbindens bei Hominiden irgendwo im Zeitraum zwischen 2,5 Millionen und 250.000 Jahren vor heute zu verorten sei. Genauer werde man es nie sagen können.12 In der Tat wissen wir über Ursprünge des Lebens auf der Erde mehr als über die Ursprünge des Knotenbindens, obwohl es die vielleicht älteste Technik ist, die wir Menschen kennen. Seil oder Strick, Lederriemen, Schnur, Darm, Baumwurzeln, Grashalme – was immer lang und schmal genug ist, um um sich selbst geschlungen werden zu können, um etwas zu befestigen, anzuziehen, zu spannen, zu bündeln, war neben Stock und Stein vermutlich das erste Werkzeug der Menschheit. Doch der Mensch hat Leine und Knoten nicht erfunden. Wie wir im Folgenden sehen werden, spielen Leine und Knoten vielmehr eine entscheidende, wenn nicht sogar die größte Rolle bei der Menschwerdung.

Es gibt nur sehr wenige Funde, die uns Aufschluss darüber geben, wann unsere Vorfahren wie geknotet haben, da die Materialien für Knoten vergänglich sind. Es bleiben hauptsächlich Artefakte, zu denen wir uns die Verwendung von Seilen und Knoten hinzudenken müssen. Es gibt perforierte Knochen oder Perlen, die bis zu 100.000 Jahre alt sind. Es ist naheliegend, dass die Löcher für Fäden gemacht wurden, die man hindurchziehen konnte. Weibliche Fruchtbarkeitsfiguren, etwa 20.000 bis 24.000 Jahre alt, werden bereits mit geflochtenen Gürteln dargestellt. Und in seltenen Fällen gibt es glückliche Funde, wo Klima und Erde eine Atmosphäre schufen, in der die Materialen nicht verrotteten. In Israel wurde so Anfang 2021 der bisher älteste geflochtene Korb entdeckt mit einem Alter von 10.500 Jahren. Er fasst 92 Liter und sieht so gut erhalten aus, dass niemandem sein Alter auffallen würde, stünde er heute bei einem Straßenhändler. Die Forscher konnten feststellen, dass er von zwei Menschen geflochten wurde, wobei eine Person Linkshänder war.13 Die niederländische Archäologin Willemina Wendrich merkte einmal an, dass es weit treffender wäre, statt von Steinzeit von einer Korbzeit zu sprechen, da seit etwa 10.000 Jahren weitaus mehr Herausforderungen des Alltags mithilfe von geflochtenen Körben oder anderen Flechtwerken gelöst wurden als mit Stein.14 Allerdings, so wirft sie ein, ist diese Bezeichnung zu weit gegriffen, da das Korbzeitalter streng genommen bis ins 20. Jahrhundert hineinreicht, bevor der Kunststoff die Welt in kürzester Zeit neu erfand.

Im Alltag Tausender Generationen vor uns dürfte es nur wenige Herausforderungen gegeben haben, die man nicht mithilfe von Knoten zu lösen versuchte. Charles Warner geht davon aus, dass in der Frühzeit so ziemlich jeder Mensch jeden Tag etliche Knoten verwendete.15 Unsere Vorfahren begriffen ihre Umwelt in ›Seilproblemen‹ und ›Knotenlösungen‹. Menschen lösten eine Vielzahl von Herausforderungen im Alltag, indem sie sprichwörtlich im Binden von Knoten dachten: Leinen und Knoten halfen dabei, Gegenstände zusammenzubinden, Brennholz zu bündeln, Felle oder Fleisch aufzuhängen, Sehnen über Bögen zu spannen; Schlingen und Schlaufen dienten dem Heben und Ziehen von Lasten sowie dem Fallenstellen; mit Steks verband man Balken für Flöße, Hütten und Dächer; einfache Knoten verschlossen Nähte an Kleidung; Netze erweiterten irgendwann die Jagdmethoden und Transportmöglichkeiten.16

Alle Bücher über die Anfänge der Menschheit können ebenso wie dieses nur spekulieren. Es ist dabei auffallend, dass die Spekulation auf Grundlage von Leinen und Knoten sich ausschließlich in der überschaubaren Knotenliteratur findet, der man entweder in Universitätsbibliotheken begegnet oder online auf Forschungsplattformen. Dort steht außer Zweifel, dass ohne Leinen und Knoten so gut wie nichts entstanden wäre, und sie zu den ersten Werkzeugen der Menschheit gehörten. In anderen teils berühmten Büchern über die Anfänge der Menschheit, die in Bestsellerlisten und den Auslagen der Buchläden zu finden sind, sucht man vergeblich nach der Bedeutung von Leinen und Knoten für unsere Ahnen. Die Autoren sind offensichtlich keine Knotenbinder. Es handelt sich um einen erstaunlich blinden Fleck in der Populärwissenschaftsliteratur. Besonders kurios ist es, wenn man diese Literatur durch die Knotenbrille liest. Leinen und Knoten werden zwar erwähnt, aber es wird nicht über sie gesprochen. So wird beispielsweise von Fallen für Hasen gesprochen – oder von Netzen und Decken. Werkzeugbau wird erwähnt und in seiner Bedeutung hervorgehoben. Aber das Offensichtlichste, die Herstellung von Leinen und von Knoten, wird komplett übersehen.

Da die Bedeutung von Leinen und Knoten seit jeher ausgeblendet wurde, ist das Bild, das wir von unseren Urahnen haben, geprägt von Steinen, Feuer und Mammutjagd. Und irgendwann bemalten sie Felswände, schufen beeindruckende Skulpturen und wurden einige Tausend Jahre später auf einmal Ackerbauern. Erst ab dieser sogenannten neolithischen Revolution und der Sesshaftigkeit vor etwa 12.000 bis 10.000 Jahren sehen wir den Anfang einer logischen Entwicklung hin zu den heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. So richtig klar werden diese Sprünge in unserer Entwicklung nicht. Wir erkennen lediglich eine Fortentwicklung des menschlichen Geistes, die uns heute alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens beschert. In der Literatur wird mittlerweile im Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit keine geistige Fortentwicklung gesehen. Für den Historiker Yuval Noah Harari steht in seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit sogar außer Zweifel, dass unsere Nomadenvorfahren klüger waren als unsere Ackerbauvorfahren.17 Die Aufgabe ›Mammut erlegen‹ ist in Bezug auf Zusammenarbeit, Interaktion und Auseinandersetzung mit Materialien sicherlich anspruchsvoller als die Aufgabe ›Bestellen eines Feldes‹. Es wurden viele Jäger benötigt, die untereinander gut organisiert und koordiniert werden mussten. Sie benötigten exzellente Waffen, zu deren Herstellung eine Menge an Erfahrungswerten nötig war. Wenn ein Mammut erfolgreich erlegt wurde, hatte man es mit einem riesigen Angebot aus schnell verderblicher Ware zu tun. Es musste rasch zerlegt werden, wiederum mit eigenen Werkzeugen. War es kalt genug, konnte es einige Zeit aufbewahrt werden. Vielleicht wurde das Fleisch auch getrocknet oder geräuchert. Dafür musste es an geeigneten Vorrichtungen aufgehängt werden. Alle anderen Teile des Tieres, Sehnen, Knochen, Felle, wurden selbstverständlich gesondert verarbeitet, wobei es sicherlich Experten für die jeweiligen Materialien und Verarbeitungen gab. Solch eine Aufgabe stemmt nicht eine Handvoll Leute. Es bedurfte einer großen Gemeinschaft, um so ein tonnenschweres Tier zeitnah zu verarbeiten und es in keiner Phase vom Erlegen bis zum Verzehr anderen Fressfeinden zu überlassen. Wir sprechen von einem kleinen mittelständischen Unternehmen mit Wissensunterschieden und klarer Aufgabenteilung. Doch das war nicht der Anfang unserer Menschheit. Das war Ergebnis jahrtausendelanger Entwicklung. Ein Entwicklungstreiber waren Leine und Knoten – Gegenstände, die für das oben erwähnte Unternehmen bereits selbstverständliche Hilfsmittel waren. Denn bevor der Mensch sich zu so einer gefährlichen und aufwändigen Großjagd aufschwang, liegt es nahe, dass er etliche Jahrtausende zuvor bereits die Kleinjagd verfolgte, indem er Fallen stellte. Kleines Getier wie Hasen, Kaninchen, Hühner, Murmeltiere, Füchse, Bisamratten, Rehe, Frischlinge kann mit Fallen aus Schlingen gefangen werden. Mit Netzen wiederum konnten größere Mengen an Fisch gefangen werden. Zeit war kein Problem. Das Fleisch war schnell komplett verarbeitet. Diese Jagdmethode war risikoarm, brachte relativ sichere Beute und erlaubte eine einfache Verwertung. Lange vor den Beilen und Bögen wusste der Frühmensch um Schlingen, Schlaufen, Netze und Knoten. In der Tat dauert es mehr als 1,6 Millionen Jahre seit dem ersten uns bekannten Faustkeil, bis der Innovationsschub eintrat, einen bearbeiteten Stein mithilfe eines Stiels in eine Axt zu verwandeln. Einen Stein so mit einem Stiel zu verbinden, dass er den heftigsten Schlägen und Erschütterungen standhält, ist alles andere als trivial. Ein funktionsfähiges und haltbares Beil eines Steinzeitmenschen beinhaltet Jahrtausende an Entwicklung. Die Überlegungen, wie Knoten in der Zwischenzeit gebunden wurden, mit welchen Materialien, zu welchen Zwecken, entziehen sich in dieser Zeitspanne (1,75 Millionen bis etwa 50.000 Jahre vor unserer Zeit) jeglicher wissenschaftlicher Überprüfung. Sicher ist nur, dass das Knotenbinden nicht erst zum Zwecke der Erstellung von Beilen und Speeren erfunden wurde. Charles Warner unterscheidet bei seinen Spekulationen über frühe Knoten zwischen »conglomerate knots« und »composite knots«18. Ersteres wäre zum Beispiel die Aneinanderreihung einfacher Überhandknoten. Also das, was jeder macht, der keine Knoten kennt.

Abb. 2: Ein Überhandknoten.

Keiner muss sich das überlegen, wir machen es instinktiv. Letzteres sind die bewusst gebundenen Knoten mit ganz bestimmten Eigenschaften. Sie bedürfen vertieften Wissens des Knotenbindens. Der niederländische Mathematiker Pieter van de Griend zeichnet bereits in den 1990er Jahren ein allzu zeitgemäßes Bild für solche »composite knots«. Er verwendete den Begriff Algorithmus, um einen Knoten richtig zu binden. Es ist die genaue Abfolge von Schritten, die mit dem Knoten zur Lösung eines Problems führen. Und diese genaue Abfolge von Schritten ist bei den jahrtausendealten Algorithmen genauso wichtig wie bei den modernen digital programmierten. Es dürfte außer Frage stehen, dass die Beile und Speere und die Sehnen an Bögen mit »composite knots« gebunden wurden. Es musste sich um äußerst stabile Knoten handeln. Zu diesem Zwecke gibt es nicht beliebig viele taugliche Knoten, weshalb den richtigen zu entdecken zeitaufwändig und wohl manches Mal frustrierend gewesen sein dürfte. Am richtigen Knoten entscheidet sich in der Frühzeit die Chance auf das Überleben. Es fängt bereits mit einem Stein am Stiel an. Wer diese beiden Werkstücke gut zu verbinden weiß, erhöht seine Schlagkraft und zerstörerische Wirkung um eine Potenz, die ein Gegner ohne eine solche Waffe nur in seltensten Fällen mit reiner Geschicklichkeit und Kampfkunst auszugleichen im Stande gewesen sein dürfte. Speerspitzen mussten so stabil und balanciert an einen Stiel gebunden werden, dass sie mit hoher Krafteinwirkung und ohne zu knicken die dicke Haut von Mammuts durchbohren konnten. Das Wissen um das strapazierfähigste Medium, den besten Knoten, die effektivste Verwendung von Klebematerial aus Harz, den geeigneten Stein und das beste Holz für den Stiel: Dieses Wissen entschied darüber, wie erfolgreich und wie oft der Benutzer die Waffe verwenden konnte, ohne dass sie ihm ihre Dienste, vielleicht in entscheidenden Momenten, versagte. Der Vorteil des richtigen Knotens damals ist vergleichbar mit dem Vorteil in den heutigen gesellschaftlich domestizierten Bereichen des Kampfes, dem Sport. Bei Rennsportarten aller Art, ob auf Kufen oder Asphalt, ist der Erfolg in höchster Weise von der Güte des Materials abhängig. Diese entschied nicht nur vor Tausenden Jahren im Kampf über Leben und Tod, sondern auch in der Gegenwart wie dem Motorsport oder Skirennsport, wo kleinste Materialfehler den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage oder sogar Leben und Tod ausmachen können.

Allerdings haben unsere Vorfahren irgendwann die Erfahrung gemacht, dass ein Knoten nur so gut ist wie die Leine, mit der er geknüpft wurde. Wer kennt nicht die Momente der Frustration, als die gewünschte Software – vielleicht das neueste Game – die Möglichkeit der Hardware unseres alten PCs überstieg? Ebenso wurde dem Frühmenschen die natürliche Hardware aus Lederriemen, Sehnen, Därmen oder Wurzeln seinen Knotenbedürfnissen und Knotenkenntnissen nicht mehr gerecht. Heutzutage schaffen wir uns einen neuen Computer an mit leistungsstärkerer Hardware, mehr Arbeitsspeicher und besserem Prozessor. Der Frühmensch beschloss, sich seine eigene Hardware herzustellen. Er probierte und studierte und fand mit dem Verdrillungsprinzip schließlich zu der Bauart, mit der bis heute Seile hergestellt werden. Die Antwort auf die Frage, wann denn unsere Vorfahren zu solch komplexer Bauart fanden, mag überraschen. Denn sie begann wohl schon vor mehr als 40.000 Jahren. Ergebnisse der Experimentalarchäologie und Gehirnforschung geben uns dabei erstaunliche Aufschlüsse über unsere Menschwerdung.

Der französische Experimentalarchäologe Toomaï Boucherat befasst sich seit Jahren mit der Seilherstellung in der Alt- und Neusteinzeit, also dem Zeitraum zwischen 50.000 bis etwa 12.000 Jahre vor unserer Gegenwart. In der Experimentalarchäologe wird anhand von Funden versucht, den ursprünglichen Zweck von Gegenständen herauszufinden, indem mögliche Praktiken nachgeahmt werden, um anhand der Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, mehr über den Alltag und die Arbeitsweise unserer Vorfahren zu erfahren. Gleichzeitig gibt sie Aufschluss über die Denkweise unserer Ahnen.

Die Seilherstellung aus pflanzlichen Materialien wie Flachs, Hanf oder Brennnessel ist dabei ein komplexer Vorgang mit so vielen Arbeitsschritten und Know-how, dass Toomaï Boucherat zufolge bis zu zwölf verschiedene Werkzeuge erforderlich waren. Für lange Zeit mag es der komplexeste Arbeitsprozess unserer Vorfahren gewesen sein.

Skulpturen oder Malereien waren zwar Ausdruck höchster Kunstfertigkeit, erforderten aber in ihrer Herstellung vergleichsweise direkte und unmittelbare Werkzeuge wie Asche oder Rötel zum Malen oder Steine zum Schnitzen. Für die Jagd wiederum war der Schritt vom Holzstock über den Faustkeil hin zu Äxten und Speeren zwar langwierig, aber sehr konsequent und naheliegend. Die Seilherstellung ist allerdings so komplex, dass zuerst Werkzeuge hergestellt werden mussten, mit denen man andere Werkzeuge herstellte, die erst in direkter Weise der Seilherstellung dienten. In der Tat war die Seilherstellung im Paläolithikum, also einem Zeitraum bis vor 10.000 Jahren, ein Rätsel, das die Wissenschaft jahrzehntelang beschäftigte.

Neben dem Wissen um die Werkzeuge war Wissen um den Aufbau der geeigneten Pflanzen und ihrer verwertbaren Teile nötig. Die Trennung der Fasern von der ganzen Pflanze erforderte die Kenntnis über chemische und biologische Abbauprozesse, denn sie erfolgte durch einen Gärungsprozess, bei dem die Pflanzenteile in einem Wasserloch einige Wochen lang in luftdichter Umgebung unter regelmäßiger Zugabe von Frischwasser gärten. Gärtner kennen diesen Vorgang vom Brennnesselsud, einem hochaktiven natürlichen Stickstoffdünger, der seine Wirkung nicht zuletzt durch einen intensiven Gestank verspricht. Diese aufgeweichten Pflanzenteile mussten anschließend getrocknet werden, bevor sie auf geeigneter Grundlage, etwa einem Baumstamm, mit einem Holzstock gedroschen werden konnten, wo sich die Fasern schließlich vom Rest lösen ließen. Toomaï Boucherat entdeckte bei seinen Experimenten, dass Muschelschalen, in deren Ränder winzige Einkerbungen gesägt wurden, als Kämme dienten,19 um die freigedroschenen Fasern für den weiteren Arbeitsschritt zu kämmen.

Und spätestens hier zeigt sich die Vielschichtigkeit des Denkens unserer Ahnen. Denn auch diese Muscheln mussten erst einmal als das geeignete Werkzeug für diesen wichtigen Prozess erkannt werden. Muschelschalen liegen ohne Zweifel angenehm zwischen Daumen und Zeigefinger. Aber sie benötigen noch tiefe Rillen, um die Fasern zu kämmen. Das Präparieren der Muschelschale gelingt nur mit einem scharfen Stein. Toomaï Boucherat fand heraus, dass das Sägen der Rillen am einfachsten bei einer lebenden Muschel gelingt, da sie sich aufgrund des Angriffs nicht nur fest zusammenzieht und somit mehr Stabilität ermöglicht.20 Das eingeschlossene Meerwasser dient zudem als kühlende Schleifflüssigkeit und sorgt somit für eine besonders genaue und schonende Arbeitsweise.

Um noch einmal kurz zu rekapitulieren: Man benötigte ein Werkzeug (Stein) zur Herstellung eines Werkzeugs (Muschelkamm), mit dem man einen Rohstoff, den man zuvor durch gezielte biologische Abbauprozesse gewonnen hat (Pflanzenreste), zu einem Zwischenprodukt (Faser) verarbeiten konnte. Bis zum Endprodukt folgten noch eine Vielzahl weiterer Arbeitsschritte. Es dürfte nicht viele Menschen des 21. Jahrhunderts geben, die in komplexere Arbeitsprozesse eingebunden sind. Diese gewonnenen Fasern wurden nun zu Garnen verdrillt und somit zur Grundlage für die Seilherstellung. Toomaï Boucherat sieht in diesem Arbeitsschritt die »Magie« am Werk, da hier gedanklich vorweggenommene Arbeitsvorgänge zu dem ersten greifbaren und nutzbaren Ergebnis, dem Garn, führten.21 Zur Seilherstellung mussten wiederum mehrere Garne zu einem Strick verdrillt werden. Die längste Zeit hatten Forscher kaum eine Ahnung, wie unsere Vorfahren Seile herstellten. Besonders viel geforscht wurde offenbar auch nicht, da das Feld der verrottbaren prähistorischen Artefakte unter den Forschern als »extremely unsexy« gilt.22

Am 22. Juli 2016 versetzte allerdings eine Pressemitteilung der Universität Tübingen die Fachwelt in Aufregung. Darin wurde von einem Fund berichtet, den man in der weltberühmten Grabungsstätte Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb entdeckte und der nach Ansicht der Wissenschaftler nichts weniger als eine »archäologische Sensation«23 war. Es handelt sich um ein kleines Mammutelfenbeinstöckchen, etwa zwanzig Zentimeter lang, mit vier durchbohrten Löchern, deren Eingangsmulden wiederum halbrunde, sich zur Mitte hin verjüngende Einkerbungen haben, ein Schraubengewinde also. Die C14-Datierug ergab ein Alter von etwa 40.000 Jahren.

Laut Nicholas Conrad, Professor für prähistorische Archäologie an der Universität Tübingen und mit den Ausgrabungen betraut, stellt das Stöckchen ein steinzeitliches Hightechgerät dar, denn es sei »das erste Werkzeug in der Menschheitsgeschichte, von dem wir wissen, dass es zur Herstellung von Seilen verwendet wurde«.24 In Zusammenarbeit mit einem Archäologenteam der Universität Lüttich in Belgien unter Leitung von Veerle Rots wurde diese Hypothese einem experimentalarchäologischen Versuch unterzogen. Rots kam zum Schluss: »Dieses Werkzeug beantwortet die Frage, wie im Paläolithikum Seile hergestellt wurden.«25

Die Funktionsweise des Stöckchens ist leicht ersichtlich. Mehrere Garne werden durch je ein Loch des Elfenbeinstöckchens gezogen. Das Schraubengewinde sorgt dafür, die Garne beim Hindurchziehen in eine Ordnung zu zwingen, sodass sie auf der anderen Seite in gleiche Winkel verdrillt herauskommen.

Abb. 3: Lochstab, Werkzeug zur (mutmaßlichen) Herstellung von Seilen aus Mammutelfenbein. Dieses Objekt wurde mithilfe der C14-Datierung auf ein Alter von 34.000 bis 42.000 Jahre geschätzt.

Als Resultat hatte man vier zu Stricken verdrillte Garne an einem Stöckchen hängen. Diese separaten Stricke konnten nun selbst wieder verdrillt werden, indem die vier Enden festgehalten wurden und das Stöckchen rotiert wurde. Auf diese Weise sollen unsere Vorfahren Seile mit Zuglasten von bis zu tausend Kilogramm hergestellt haben, so Toomaï Boucherat, der die Verwendung in einem eigenen Versuch rekonstruierte.26 So weit, so unfassbar spektakulär. Allerdings gibt es Zweifel an dieser Version.

Christoffer und Alexander Aström, zwei schwedische Brüder, beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Seilen, der Seilherstellung und der Archäologie von Seilen. In einem losen Forschungsverbund mit anderen Seilereispezialisten kamen sie zu dem Schluss, dass das Stöckchen kein Seilereiwerkzeug war. Ihr Haupteinwand folgt der berühmten Rasierklinge von Ockham, auch bekannt als Occam’s razor. Es handelt sich dabei um ein Forschungsprinzip, bei dem von allen bestehenden Erklärungen die einfachste immer vorzuziehen sei.27 Für die beiden Brüder ist der oben beschriebene Herstellungsprozess eines Seils viel zu kompliziert angesichts einfacherer Methoden der Seilherstellung. Beobachtungen in Urwaldstämmen Neuguineas, wo Fäden und Schnüre nahezu andauernd von Frauen und Kindern ohne Werkzeuge hergestellt werden, scheinen ihnen Recht zu geben.28 Auch für die berühmte Grasbrücke der Inka, genannt Qeswachaka, werden jedes Jahr aufs Neue die langen Grashalme des Q’oya-Grases der peruanischen Hochebenen ausschließlich mit Händen und Körperkraft zu Schnüren, Stricken, Seilen und Tauen verdrillt.29

Außerdem argumentieren die Aström-Brüder, dass die Einkerbungen des Schraubengewindes nicht die ganze Eingangsmulde umfassen, sondern nur einen Teil davon, was ihre vermutete Zweckmäßigkeit zur Ausrichtung der Fäden relativiere. Weitaus schwerer noch wiegt allerdings die Tatsache, dass nicht alle Einkerbungen in dieselbe Richtung weisen. Dieser Umstand widerspricht den klaren Vorgaben der Seilherstellung, wonach alle Stränge in dieselbe Richtung verdrillt sein müssen, bevor sie im nächsten Schritt zusammen in die entgegengesetzte verdrillt werden. Die sehr enge Anordnung der Löcher erlaube, wenn überhaupt, nur eine Herstellung von sehr kurzen Seilen, wenn sich die einzelnen Stränge nicht bereits gegenseitig verhakt oder aufgetrennt haben.

Der Befund der Aström-Brüder und der Seilerei-Community reißt uns zugegebenermaßen aus unseren Vorstellungen der Hightechvorfahren. Warum sollten sich die Frühmenschen eine solche Mühe gemacht haben, wenn es doch viel einfacher ging? Vielleicht, so ließe sich an diesem Punkt einwenden, weil sie Zeit hatten.