Am Ende der Straße - das Meer -  - E-Book

Am Ende der Straße - das Meer E-Book

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Beschreibung

Am Ende der Straße -- das Meer. Nicht alle 55 Texte enden am Meer, aber alle enden.  In zwei Jahren haben elf Menschen ihre besonderen Erlebnisse, Träume und Gedanken niedergeschrieben. Einen Teil davon findest du in diesem Buch. Vergiss dein Hier und Jetzt, tauche ein in unsere bunte Welt: Märchenhaft, verspielt, spannend und mit Tiefgang -- alles gebündelt und nebeneinander. Du erlebst Kitschiges, begegnest dem neuen König, verzweifelten Wanderern, einem Zaren, einem frechen Affen, dem gestiefelten Kater, einem Monster und Kittelmännern. Magische Orte wie der Aralsee, Syrakus oder Hollys Garten und Marilyn am Bodensee trieben uns um. Alle Jahre wieder gibt es auch Weihnachtsglanz, Lichtertanz, Hackbraten und Rentiere -- grad richtig für die staade Zeit und die wahre Liebe.

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Seitenzahl: 326

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Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind Zufall und keine Absicht.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorgeschichte

Einladung

Am Ende der Straße – das Meer

Ella

Jámas

Fünf Kerzen für die Wanderer

Dicke Luft

Der Affe Charly

Auf Reisen

Ni Hao in Qingdao

Eine edle Meute

Am Schlund der Göttin – Gedanken am Ring of Fire

Syrakus

Urlaub ohne Wiederkehr

Marilyn am Bodensee

Ausgebremst

(

1) Festgetackert im Büro

(

2) Ich beiße ins Lenkrad

(

3) Der frühe Vogel kann mich mal

Der neue König

Opas Krönung – Prinz Louis erzählt

Not my King

Narzissen für Camilla

Kaiserlicher Besuch

Ludwig VI von Bayern

König oder Bettler

Ohne Krimi geht es nicht

Die Möwe von Helgoland

Die Kittelmänner

Ein sehr teures Handy

Herz und Schmerz

Ein bisschen Kitsch muss sein

Wahre Liebe

Katerwäsche

Das Foto in der Sofaritze

Mach's gut, Grübchenface

Das Monster am Parksee

Im Auge des Sturms

Unsere Märchen

Der Gestiefelte Kater – Fortsetzung

Der Kater Stiefelchen

Der Prada Kater

Der Kater aus der Haselmühle

Die Zofe des Froschkönigs

Aralsee - Allen Widerständen zum Trotz

Ein Muzhik schreibt an den Zaren

Gartenuntersilben

Alle Jahre wieder

Der Weihnachtsvogel

Irgendwas geht immer

Nichts zu verschenken

Neujahrspost

Das Ende einer Weihnachtstradition

Lichtertanz

Schnell! Schnell!

Der Hackbraten

Weihnachtsretter

Kleines Rentier

Mixed Pickles

Rollatorrennen anno 2037

Ein Satan namens KI

Gelber Hut und grünes Kleid

Der verlorene Ring

Holly wühlt

Kleiner-Großer Traum 410

Erlebnisse auf Violetta

Ein Bild für die Götter

Über uns

Lust auf mehr?

Vorgeschichte

Ute Taube

Wir Hachinger Autoren sind Freunde des kreativen Schreibens. Wir treffen uns regelmäßig und tauschen uns über Literatur und unsere Texte aus.

Vieles haben wir in unserem Leben erfahren und beobachtet: Trauriges und Schönes. Manches haben wir zusammen geträumt und gefunden.

Weil Menschen sich schon immer Geschichten erzählt haben, schreiben auch wir, weil die Worte aus uns herausströmen. Gesehenes und Erlebtes wollen wir nicht vergessen. Schreibend verstehen wir die Welt um uns herum besser.

Wir schreiben nicht nur für uns. Auch unseren Lesern wollen wir verschiedenen Sichtweisen auf die Welt aufzeigen. Vor allem aber wollen wir unterhalten und in diesen unsicheren Zeiten einen Funken der Hoffnung entzünden.

Wir laden Euch alle herzlich ein, in das Potpourri unserer Geschichten einzutauchen und mit uns auf eine literarische Reise zu gehen.

Wir erzählen alte Märchen neu, berichten von Kaisern und modernen Märchenkönigen, von Liebe und kleinen und großen Abenteuern, von Reisen in die Berge und ans Meer. Auch Leichen nehmen wir dabei nicht auf die leichte Schulter. Aber alle Jahre wieder geht immer irgendwas zum Weihnachtsfest mit zusätzlichen Schmankerln.

Einladung

Gertraud Schubert

Liebe Leserin, lieber Leser!

Du willst wissen, wie diese Geschichten entstanden sind? Dich interessiert, wie unsere Treffen ablaufen? Du hättest Lust, auch einmal dabei zu sein?

Dann lüfte ich hier das Geheimnis der Hachinger Autoren:

Jeden Monat gibt es eine Schreibanregung:

›Der König kommt‹ oder ›Am Ende der Straße das Meer‹ oder ›ein Schubkarren mit einem Handy, einem Paar Handschuhen und noch irgend etwas‹. Wir hatten auch schon Anregungen wie ›Bügeleisen‹ oder ›Oh Himmel, strahlender Azur‹.

Manchmal ploppt ein Thema ganz von selber auf. Manchmal fangen wir gleich an, eine Geschichte zu spinnen. Manchmal sind wir schon am Auseinandergehen, da fragt noch einer schnell: »Und was schreiben wir bis zum nächsten Mal?«

Die Themen sollen das Gehirn anregen, sollen einen kleinen Stups geben.

Wenn Dir aber gar nichts dazu einfällt? Wenn du grad wirklich keine Zeit hast, etwas zu schreiben? Macht nichts! Wir sind ja nicht in der Schule. Es gibt keine Strafpunkte.

Du kannst das Thema auch ein bisschen abändern. Dann kommt halt eine Kaiserin statt einem König. Oder du warst grad in Lindau und möchtest etwas über die Warhol-Ausstellung schreiben? Nur zu! Dann schreibst du eben über Lindau. Wichtig ist nur, dass du schreibst.

Wenn unsere Geschichte fertig ist, schicken wir sie an die anderen Freunde aus unserem Kreis. Die sollen sie doch bitte lesen, sich ein paar Gedanken darüber machen und ihren Senf dazugeben. Kritik ist erwünscht. Rechtschreibfehler ausbessern ist nicht nötig. Da sind wir tolerant. Aber falsche Sprachbilder darf man monieren, die Grammatik zurecht rücken, Formulierungen umdrehen und Vorschläge für die Wortwahl machen. Ganz schwierig ist es, ein gutes Ende zu finden. Da helfen wir zusammen.

Es kommt aber auch vor, dass dir vier Wochen lang nichts, rein gar nichts einfällt und dann auf einmal in der S-Bahn auf dem Heimweg, da blitzt die Idee auf. Dann musst du es noch schnell schreiben. Zum Rumschicken reicht es nicht mehr. Macht nichts.

Beim nächsten Treffen dann werden die Geschichten vorgelesen. Das Vorlesen ist sehr wichtig. Da merkt man als Autor, wenn der Text holpert. Da sieht man an den Gesichtern, ob der Zuhörer alles versteht. Ja, und die Geschichte, die dir grad vor drei Stunden eingefallen ist – gar nicht so schlecht! Musst du nur noch einmal drüber gehen. Feinschliff halt.

Wir sind ganz sanft. Wir verreißen die Geschichten nicht. Schlimmstenfalls sagt niemand etwas dazu. Aber meistens gibt es gute Hinweise!

So sind die Geschichten dieses Buches entstanden. Wir sind stolz darauf! Denn das ist schon unsere vierte Sammlung.

Also dann, auf geht’s!

Das nächste Thema:

»Der blaue Bus, der mich hierher gebracht hatte, setzte seine Fahrt rumpelnd fort. Wasser spritzte zu beiden Seiten auf. Dann verschwand er hinter der nächsten Biegung.

Ich zog mir eine Kapuze über den Kopf, schulterte den Geigenkasten und die Tasche und zog den Griff aus dem Koffer, um ihn hinter mir herzuziehen.«

Rumort es schon im Gehirn? Dann, ab an den PC und eintippen! Oder lass der Geschichte etwas Zeit, sich zu formen. Ganz wie du willst.

Die fertige Geschichte kannst du mir dann schicken. Natürlich kannst du auch einfach zu unseren Treffen kommen, um uns erst einmal kennen zu lernen.

Schick mir eine Mail!

[email protected]

Ich melde mich bei dir!

Am Ende der Straße – das Meer

Ella

Kristin Windisch

Ella rannte. Sie wollte einfach nur weg. Fort von ihren Mitschülern, die sie verspottet hatten, von ihrem Lehrer, der nichts unternommen hatte, nicht dazwischen gegangen war. Sie wollte diesen Tag vergessen, die Erinnerung an die Blamage, an ihre Verzweiflung in den hintersten Raum ihres Gehirns verbannen, die Tür absperren und den Schlüssel im Ozean versenken.

Aber natürlich funktionierte das nicht. Immer wieder spielte sich die Szene vor ihrem inneren Auge ab. Jeder in der Klasse hatte ein Gedicht auswendig lernen müssen und heute sollten alle die wenigen Zeilen vortragen. Nicht jeder konnte Goethes ›Erlkönig‹ perfekt rezitieren, aber einer nach dem anderen schummelte sich jeder Schüler irgendwie durch die Verse. Jeder außer Ella.

Als Ella sich vor die Klasse stellte, konnte sie an nichts anderes denken als daran, dass alle sie anstarrten. Sie konnte förmlich spüren wie sich die Blicke jedes einzelnen ihrer Mitschüler in sie hineinbohrte. Sie fühlte sich schon ganz löchrig und schlapp wie ein platter Fahrradreifen. Ella atmete tief durch, starrte die Wand an und fing an das Gedicht aufzusagen. Jedenfalls wollte sie das tun, bemerkte aber, dass ihr kein einziges Wort mehr einfiel. Nicht einmal den Titel wusste sie noch.

Unruhig begann sie am Saum ihres Shirts zu zupfen. Vereinzelt fingen Kinder an zu kichern, immer mehr fielen ein in den Chor aus Lachen, dem zunehmend auch fiese Bemerkungen beigefügt waren. Wie diese genau lauteten, brauchst du nicht zu wissen. Wichtig ist nur, dass Ella jedes einzelne Wort wie einen Messerstich ins Herz empfand. Hilflos drehte sie sich zu ihrem Lehrer, der jedoch lediglich am Fensterbrett lehnte und ihr aufmunternd zunickte.

Das brachte das Fass zum Überlaufen, leider wortwörtlich. Als die erste Träne ihre Wange hinabrann, machte sie eine Kehrtwende und lief – hinaus aus dem Klassenzimmer, den Flur entlang und die Treppe hinunter, raus aus dem Schulgebäude und dann immer geradeaus. Es kümmerte sie nicht, wohin sie rannte, Ella wollte einfach nur weg. Das Echo der Worte ihrer Mitschüler ausblendend konzentrierte sie sich ausschließlich auf ihren stechenden Atem und das Gefühl des Schotters unter ihren Schuhen. Sie rannte ohne Pause oder Ziel, rannte einfach bis sie eine Straße sah und am Ende der Straße – das Meer.

Das einzige was Matze hörte war der Wind, der in seinen Ohren rauschte. Er saß in seinem schwarzen Anzug auf einem klapprigen Fahrrad, das wie er schon bessere Tage gesehen hatte, und strampelte was das Zeug hielt. Hätte Else ihn so gesehen, würde sie ihn sicher schelten, dass er seinen besten Anzug beschmutzte, aber sie war nicht hier, würde es nie wieder sein.

Er hatte keine Zeit gehabt die Kleidung zu wechseln. Nach dem heutigen Vormittag brauchte er einfach sofort die Einsamkeit und Geschwindigkeit, die nur ein Sprint auf dem Drahtesel mit sich brachte. Wobei Sprint wohl ein wenig übertrieben wäre, denn sowohl die Gangschaltung der Gefährts, als auch die Knie seines Reiters waren ein wenig vom Alter geschwächt. Aber dennoch erfüllte die Radtour ihren Zweck und übertönte übergangsweise die Stimmen in Matzes Kopf.

Vor einer Woche war Matzes Schwester verstorben. Keiner hatte ihren Tod kommen sehen und ausgerechnet Matze hatte sie gefunden. Er hatte ein mulmiges Gefühl gehabt, als Else auf sein Klingeln nicht geöffnet hatte. Sie waren verabredet gewesen für einen Strandspaziergang. Das war Elses Idee gewesen, damit ihr Stubenhocker von Bruder mal wieder etwas Sonne abkriegte. So waren sie schon als Kinder gewesen, Matze immer im Haus in seine Bücher vertieft und Else im Garten auf der Suche nach ihren eigenen Abenteuern.

Matze hatte den Zweitschlüssel aus dem Blumentopf gefischt, die Tür aufgeschlossen und dabei Elses Namen gerufen. Er fand sie in ihrem Bett vor. Friedlich lag sie dort. Wären die Stille und die unnatürliche Färbung ihrer Haut nicht gewesen, hätte man meinen können, sie schliefe einfach. Matze wünschte, sie würde sich aufsetzen, würde ihn anschauen und sich beschweren, dass er in ihr Schlafzimmer eingedrungen war. Er wünschte, sie würden sich auf den Weg zum Strand machen und über den Vorfall lachen können. Aber so leicht macht es einem das Leben nicht, stattdessen spürte Matze wie sich in seinem Herzen eine große Leere ausbreitete, die den Namen seiner Schwester trug.

Dieses Loch fühlte er auch wenige Tage später auf Elses Beerdigung, die Matze betäubt vor Trauer wie durch Watte wahrnahm. Auch die Beileidsbekundungen der anderen Gäste kamen nur gedämpft bei ihm an, prallten an ihm ab, weil er nicht hören wollte, wie sehr sie über Else schwärmten, wie sehr sie geschätzt wurde. Er wusste genau, was für einen tollen Menschen er mit seiner Schwester verloren hatte.

Als ihm der Tumult schließlich zu viel wurde, verließ er den Friedhof, stieg auf sein altes Fahrrad und radelte los. Matze wusste genau wohin er wollte: zum Meer, dorthin, wo Else mit ihm hatte spazieren wollen. Er blendete seine Umgebung aus, fuhr wie automatisch die so vertraute Strecke und hörte nur noch den rauschenden Wind und die Wellen in der Ferne. Und endlich sah er sie. Die Straße zum Strand und am Ende der Straße – das Meer.

~~~~

Jonas drehte die Musik noch ein wenig lauter, ließ zu, dass sie alles andere, alle unnützen Gedanken in seinem Kopf verdrängte. Er war vor fast 2,5 Stunden in Berlin allein in das Auto seines Bruders gestiegen und seitdem immer weiter nach Norden gefahren. Er brauchte eine Verschnaufpause, musste weg von seinem stressigen, ungewissen Leben.

Vor wenigen Monaten hatte er die Schule abgeschlossen. Seitdem war Jonas herumgereist, hatte sich irgendwie beschäftigt, alles und nichts gemacht und war dabei der großen Entscheidung aus dem Weg gegangen. Doch je mehr Zeit verronnen war, desto schwieriger wurde es, den bohrenden Fragen auszuweichen. Jonas hasste diese Worte, die gespannt nach seinen Plänen fragten. Er hasste die Neugierde in den Augen seiner Mitschüler, Lehrer, Nachbarn. Er hasste es, nach seinen Plänen für die Zukunft gefragt zu werden, weil er keine hatte. Was war so falsch daran, nicht zu wissen, womit er sich die nächsten vierzig Jahre seiner Lebenszeit beschäftigen wollte? Die ewigen Fragen, der Druck von seinen Eltern, sich endlich zu entscheiden, machte die Angelegenheit nicht einfacher. Wenn Jonas an die Zukunft dachte, spürte er nichts als panische Ungewissheit.

Deswegen hatte er weg gemusst. Er wollte einfach abschalten können, seine Probleme vergessen und nur im Moment leben. Für den Augenblick – bis er an seinem Ziel ankam – reichte dafür die Musik, die laut in seinen Ohren dröhnte und für andere Gedanken keinen Platz ließ. Jonas setzte den Blinker, bog ab und sah sie endlich vor sich: die Straße und am Ende der Straße – das Meer.

~~~~~

Karla saß am Straßenrand, hatte die Augen geschlossen und grübelte. In den letzten Tagen war sie mehr und mehr zu dem Schluss gekommen, wie unglücklich sie doch mit ihrem Leben war. Sie hatte es auch schon vorher gewusst, eigentlich seit Monaten – irgendwie.

Wann genau das angefangen hatte, wusste sie nicht. Das Unglück war nicht eines Tages in ihr Leben geplatzt und hatte um Aufmerksamkeit gebuhlt. Nein, es schlich sich langsam in ihr Leben, kroch im Zeitlupentempo in ihr Sichtfeld und machte langsam aber sicher auf sich aufmerksam. In den letzten Monaten hatte sie immer wieder einen Blick auf den Eindringling erhascht. Vor wenigen Tagen schließlich hatte sie es sich eingestanden, dass sie nicht mehr zufrieden mit ihrem scheinbar so perfekten Leben war, dass sie mehr wollte, als ihr der gut bezahlte Bürojob geben konnte.

Warum? Das wusste sie nicht. Sie hatte alles, was sie sich erträumen konnte. Ihre Freundinnen beneideten sie um die Stabilität in ihrem Leben. Warum auch nicht? Sie stand mit beiden Beinen fest im Leben, war finanziell gut abgesichert und hatte einen prima Bekanntenkreis. Ihr Leben war perfekt. Warum also war Karla so unzufrieden? Sie fühlte sich schuldig deswegen, sie sollte dankbar sein für die Möglichkeiten, die ihr geboten wurden. Und das war sie ja auch, aber das war ihr nun mal nicht mehr genug.

Die Sehnsucht nach mehr hatte an ihrer Tür geklopft und Karla hatte sie eingelassen. Jetzt wollte sie nicht mehr gehen. Aber was wollte sie? Wonach schrie die Sehnsucht in ihr? Ein Kind, eine eigene Familie, war es nicht. Auf Familienfeiern wurde sie inzwischen allzu häufig gefragt, wann sie endlich heiratete, eine Familie gründete. Meist antwortete sie, dass sie noch nicht bereit war für die Verantwortung, dass ihr der richtige Partner noch nicht über den Weg gelaufen sei.

Aber manchmal hinterfragte Karla, ob sie wohl je bereit sein würde. Sie ließ ihre Gedanken kreisen wie die Möwen über ihr am Himmel, erlaubte sich selbst dem Drang nachzugeben und sich eine andere Zukunft zu erträumen. Sie überlegte, welche Entscheidungen sie treffen würde, wenn nur die Arbeit, ihre Verpflichtungen, die Meinungen der Anderen nicht wären.

Reisen, stellte sie fest. Ich will die Welt sehen. Ich möchte auf Island über Vulkane und in Brasilien durch Regenwälder gehen. Vor ihrem inneren Auge erschienen immer neue Bilder von immer neuen Orten, die sie entdecken wollte. Karla spürte den Sog des Fernwehs. Sie roch das Meer, hörte die Möwen über sich und die Wellen vor sich zusammen ein Lied singen. Und dann öffnete sie die Augen, sah vor sich die Straße, die womöglich den Anfang vieler Abenteuer bildet, und am Ende der Straße – das Meer.

~~~~~

Ella steht im Wasser. Trotz der Kühle des Spätsommers hat sie – am Strand angekommen, völlig aus der Puste – ihre Schuhe und Socken ausgezogen, ihre Hose hochgekrempelt und ist ins Meer gewatet. Der Strand ist fast leer, jetzt wo die Sommerhitze die Touristen nicht mehr magnetisch anzieht.

Ein älterer Herr – Matze Jansen, erkennt Ella – hat sein rostiges Fahrrad in die Dünen gelegt und spaziert jetzt einsam über den Strand. Seine Zwillingsschwester ist letzte Woche gestorben, erinnert sich Ella. Sie war das letzte Familienmitglied, das ihm noch geblieben war. Ella beschließt, ihm bei Zeiten einen Besuch abzustatten. Vielleicht kann sie ihn aufmuntern, ihn seine Trauer für kurze Zeit vergessen lassen.

Ein Junge, den sie nicht kennt, steht am Wasser, die Kopfhörer auf den Ohren und starrt gedankenverloren auf das Meer hinaus. Dass die Wellen über seine Schuhe schwappen, scheint ihn nicht zu stören.

Auf einem Stein sitzt Karla. An ihren Nachnamen erinnert sich Ella nicht mehr, aber Karla hatte früher manchmal auf Ella aufgepasst, wenn ihre Eltern abends länger unterwegs gewesen waren. Karla hat schon immer viel und hart gearbeitet. Manchmal sieht sie ein wenig verbissen aus. Ganz so als hätte sie in dem ganzen Arbeitsstress gar keine Zeit mehr das Leben zu genießen. Heute sieht sie irgendwie anders aus als sonst, friedlicher, fast schon glücklich.

Ella richtet ihre Augen wieder auf den Horizont. Sie spürt das kalte Wasser der Ostsee. Es leckt an ihren Beinen wie ein übermütiger Hundewelpe. Sie spürt die kleinen Steine unter ihren Füßen. Jeder ist anders als sein Nachbar. Es gibt kleinere, größere, runde und spitze, die sich ganz besonders tief in Ellas Haut bohren. Ella spürt den lauen Wind auf ihrer Haut. Sanft streicht er über ihr Gesicht, liebkost ihre Ecken und Kanten, lässt keinen Raum für Imperfektionen. In diesem Moment ist alles perfekt.

Ella kümmern die Gedanken und Aussagen ihrer Klassenkameraden nicht mehr, die meisten kennen sie ja kaum. Egal sind ihr die Gedanken anderer, die Meinung, die sie sich über sie bilden. Befreit schließt Ella die Augen, legt den Kopf in den Nacken und lässt alle negativen Gefühle, die ganze Wut und Traurigkeit in einem einzigen Schrei aus sich heraus.

Jámas

Gertraud Schubert

In Griechenland enden alle Straßen am Meer. Sie schlängeln sich den Berg hinunter, zwischen den schwarzen Baumgerippen vom vorjährigen Waldbrand hindurch. Dann stehen graue Häuser links und rechts, meist mit herunter gelassenen Rollläden, da schon lange verlassen. Ein Obstgeschäft hat geöffnet, Kisten mit Tomaten und Zwiebeln stehen vor der Tür, ein Handyladen und da ist auch schon das Meer. Und gleich am Ende der Straße, direkt am Meer eine Taverne: Eine Veranda, zum Teil über dem Wasser, gedeckt mit Palmwedeln, blaue Stühle, blaue Tische. Das Wasser plätschert auf den Kieseln. Auf einer Schnur sind Kalamari zum Trocknen aufgehängt.

Aus der Bar dudelt Griechenpop. Der Kellner schlendert heran, balanciert auf seinem Tablett einen Frappé für ihn und einen Café Elliniko metrios für sie. Die Eiswürfel im Frappé klirren leise. Der Café ist heiß und stark. Bei jedem Schluck bleibt Kaffeepulver auf der Zunge.

»Ich werde ins Meer steigen und hinaus schwimmen. Immer weiter hinaus. Dem Sonnenuntergang entgegen.«

»Ich werde dir nachschwimmen und dich wieder an Land ziehen.«

Er saugt am Strohhalm. Der Frappé ist noch halbvoll. Vom Café Elliniko ist nur noch Kaffeesatz übrig.

»Ich lese im Kaffeesatz, dass du wieder gesund wirst. Bald.«

»Wer's glaubt.«

»Eben. Du musst daran glauben.«

Sie seufzt. Schiebt das kupferne Kaffeekännchen weg.

»Fängst du wieder damit an?«

Ein Bus kommt die Straße herab, bleibt direkt am Wasser stehen. Die Türen öffnen sich, die Fahrgäste klettern heraus. Mindestens 40. Plumpsen heraus. Hüpfen heraus. Wälzen sich heraus. Beige Trekkinghosen und Westen mit vielen Taschen, Sonnenhut am Kopf, Kamera vorm Bauch. Die Damen aber tragen bunte Hosen, weiße Spitzenblusen. Seidenschals flattern. Das ist keine Wandergruppe. Die neckischen Hütchen, die klingelnden Armreifen – das ist ein Kulturbus. Alle haben einen Knopf im Ohr und ein kleines Gerät vor der Brust und lauschen den Ausführungen ihres Führers. Dann stürzen sie hinunter zum Wasser, ziehen die Schuhe aus und krempeln die Hosenbeine hoch. Ein Strohhut fliegt davon. Kameras klicken und surren.

»Magst du ein Crêpe mit Schokolade?«

»Lieber baden.«

»Hier? Oder vorne an der Landspitze?«

»An der Landspitze. Wir spazieren gemütlich hin.«

»Warte noch bis der Trupp hier weg ist. Die bleiben doch nicht lange.«

Ein Ausflugsboot tuckert herbei. Sofort wuselt der Trupp zum Kai. Das Schiff hat noch nicht richtig festgemacht, da stürmen die ersten an Deck. Andere brauchen zwei helfende Hände, die sie an Bord hieven.

Der Kellner und der Koch aus der Bar schleppen zwei große Isolierkisten. Der Wirt winkt.

»Kommt mit. Wir fahren nach Paleo Trikeri.«

»Was ist dort?«

»Eine Ikone. Ein Monasterium.«

»Panaghia, die heilige Mutter von Trikeri«, setzt der Kellner hinzu.

»Wir wollten baden.«

»Ihr könnt auch dort baden.«

Er drückt ihr einen großen Korb mit Brot in die Hand und ihm einen Karton mit Servietten und eine Rolle mit Papiertischdecken.

Meer, Wellen, Sonne, leichter Wind. Und eine dicke Schwarze Wolke aus dem Abzug des Schiffes, als der Kapitän an Fahrt zulegt.

»Überraschung am Morgen. Mit dem Schiff auf die Insel, auf die man sonst nie kommt.«

»Weil es kein Schiff dorthin gibt.«

Der Kellner lehnt neben ihnen an der Reling, raucht.

»Viele Fische hier?«

Der Kellner schüttelt dein Kopf.

»Alles leer, alles kaputt. Dynamit, weißt du. Ist jetzt verboten.«

»Wo habt ihr dann die Fisch her, die ihr bratet?«

Der Kellner grinst.

»Geschäft in Volos, großes Geschäft.«

Die Passagiere rutschen aufgeregt auf ihren Sitzen hin und her. Einige Tapfere halten am Bug die Nase in den Wind.

Der Hafen von Paleo Trikeri kommt in Sicht. Eine Mole, ein paar Boote, ein paar Häuser.

»Was können wir auf der Insel sehen?«

»Das Kloster mit der Ikone der Panaghia.«

»Ich will lieber baden.«

»Dann geht ihr nach Agia Sofia. Eine halbe Stunde. Aber seid rechtzeitig zum Essen wieder da.«

Das Schiff legt an. Sie verlassen es als letzte, helfen noch mit, Kisten und Kartons an Land zu schaffen. In der Küche der kleinen Taverne heizt der Koch den Grill an.

»Man kann doch auch direkt hier baden. Das Wasser scheint sauber zu sein.«

»Baden kannst du überall. Geh lieber zur Panaghia. Ist ganz besondere Ikone. Kerze anzünden und Wunsch sagen. Panaghia hilft. Ganz sicher.«

Sie gehen den Weg hinauf. Die Truppe ist schon voraus, aber sie holen sie kurz vor dem Kloster ein. Eine alte Frau schließt das Tor auf. Sie haben keine Lust, den Erklärungen des Führers zu folgen und gehen voraus in die Kirche. Sie ist klein und dunkel. Es riecht nach Bienenwachs und Weihrauch. Vor dem heiligen Bild glost eine Öllampe. Die vergoldeten Schnitzereien funkeln. Sie kauft drei von den dünnen, langen, gelben Kerzen und steckt sie vor dem Bild in das Sandbett. Die alte Frau reicht ihr ein Feuerzeug zum Anzünden. Die Panaghia hat ein langes schmales Gesicht, von einem blauen Schleier umhüllt, der goldene Heiligenschein füllt den Rest aus. Eine lange schmale Nase. Ernst schaut sie ihr direkt in die Augen.

Ein Blitzlicht leuchtet auf. Für einen Moment steht das Bild in einem Rahmen aus goldenen Feuer. Versinkt wieder im Halbdunkel.

Die Truppe drängt herein. Zückt die Fotoapparate. Noch mehr Blitzlicht.

Die alte Frau folgt ihr nach draußen. Sie tätschelt ihr die Hand.

»Kala«, sagt sie, »good, Panaghia, godmother, kala.«

Hand in Hand schlendern sie hinunter zum Hafen. Die Tische sind mit weiß-blauen Tischdecken gedeckt. Teller und Gläser stehen bereit, Karaffen mit Wasser, Brotstücke in kleinen Körben und große Teller mit griechischem Salat. Am Grill brutzeln die Souflaki.

Der Kellner gießt aus einer grünen Adelholznerflasche eine klare Flüssigkeit in drei Gläser.

»Jámas!«

»Jámas!«

»Das ist doch kein Wasser!«

»Ist Tsiparo von Großvater.«

»Das darf ich nicht trinken.«

»Doch. Ist Medizin. Viele Kräuter aus den Bergen.«

»Jámas.«

Sie leeren die Gläser. Er schaut sie verblüfft an.

»Du? Schnaps? Das ganze Glas?«

Sie lächelt.

»Ist Medizin.«

Er lacht. Verschluckt sich beim Lachen. Sie klopft ihm auf den Rücken.

»Willst du haben Flasche? Nur 10 Evro.«

Abends vor dem Hotel. Es ist schon dunkel. Fledermäuse segeln über ihre Köpfe. Eine Nachtigall singt ihr süßes Lied. Es duftet nach Pinienharz.

Sie löffeln ihren Nachtisch, Joghurt mit Honig und Walnüssen.

»Müde?«

»Es geht.«

»War doch ein anstrengender Tag heute.«

»Aber schön. Die Fahrt auf die Insel war schön.«

»Also geht es dir gut.«

»Es geht mir sehr gut.«

Auf der Veranda der kleinen Taverne am Ende der Straße, halb über das Meer gebaut. Mit blauen Stühlen und Tischen. Aus der Bar dudelt Griechenpop. Der Kellner schlendert heran, balanciert auf seinem Tablett einen Frappé für ihn und einen Café Elliniko metrios für sie. Die Eiswürfel im Frappé klirren leise. Der Café ist heiß und stark. Bei jedem Schluck bleibt Kaffeepulver auf der Zunge.

»Gehen wir dann schwimmen?«

»Auf die Landzunge?«

»Gerne.«

»Und du schwimmst nicht ganz weit hinaus? Schwimmst nicht immer weiter und weiter? Versprichst du mir das?«

Sie schaut in die kleine Kaffeetasse.

»Der Kaffeesatz sagt mir, dass ich gesund bin.«

Er hält die Luft an.

»Panaghia hat geholfen.«

Er winkt dem Kellner.

»Zwei Tsiparo, bitte.«

»Vielleicht war es auch der Schnaps vom Großvater. Der ist ja Medizin.«

»Jámas!«

Fünf Kerzen für die Wanderer

Klaus-Peter Schubert

»Ja, mach nur einen Plan!

Sei nur ein großes Licht!

Und mach dann noch ’nen zweiten Plan

Geh'n tun sie beide nicht.«

(Bert Brecht)

»In den Pfingstferien am 3.6.2006 um 18:00 Uhr, Treffpunkt Bahnhof Larisa, Thessalien, Griechenland!«

So war es ausgemacht. Ich stehe hier am Busbahnhof mit meinem Kleinbus und warte auf meine Reisegruppe. Der Linienbus aus Igoumenitsa kommt fast pünktlich. Alle steigen aus. Aber wo ist meine Reisegruppe? Zefix, wo stecken die bloß? Von denen kann doch keiner Griechisch! Wenn das schon so losgeht, wie sollen wir dann zum gebuchten Termin wieder an der Fähre sein? Freie Plätze auf den Fähren gibt es um diese Jahreszeit nicht.

Ich habe wie immer alles so sorgfältig geplant: Lisa fährt mit ihren fünf Frauen im Schuhgrößenalter – also ungefähr im Alter ihrer Schuhgröße – und dem Urlaubsgepäck der Wanderer mit meinem Kleinbus weiter nach Lafkos auf der Halbinsel Pilion zum Meditations-Tanzen. Ich wandere mit zwei Rentnerehepaaren mit Rucksack in fünf Tagen um den Ossa herum und entlang der Ostküste nach Süden auf den Pilion – streckenweise geht das nur auf einem Fischerboot – und komme dann auch nach Lafkos.

Mein Handy klingelt, Lisa meldet sich: »Wir stehen hier am Hauptbahnhof. Wo steckst du denn?«

»Zefix, ich hab doch den Busbahnhof gemeint! Ihr kommt doch nicht mit der Eisenbahn! Bleibt dort. Ich komme.« Ein blödes Missverständnis. Ich fahre zum Hauptbahnhof. Lisa verlädt ihre ›Mädels‹ und das viele Gepäck in unseren Kleinbus und zischt ab nach Lafkos.

Unser Anschlussbus zum Ossa ist natürlich bereits weg. Also organisiere ich zwei Taxis, die uns fünf Wanderer mit unseren Rucksäcken nach Spilia bringen. Das liegt weit oben am kahlen Hang des fast 2000 m hohen Ossa. Beim Abendessen auf der Terrasse des brandneuen Hotels schauen wir hinunter auf das weite Tal fast 1000 m unter uns. In Larisa gehen langsam die Lichter an. Ich zeige nach Nordwesten: »Das ist der Olymp, der Göttersitz. Der ist noch 1000 m höher als der Ossa. Übrigens, dieser Bezirk Thessaliens hier entlang der Ägäis, den wir durchwandern werden, heißt Magnesia. Die Bewohner wurden tatsächlich Magneten genannt.« Die vier müssen lachen. Wir kennen uns alle von früheren Reisen. Sind alle unkomplizierte und verträgliche Typen. Die halten auch was aus. Ich freue mich auf eine angenehme Tour.

Sie erzählen, dass bisher fast alles gut geklappt hat:

»Mit dem Nachtzug von München nach Ancona war perfekt.« – »In Ancona wollte ein Teil der Gruppe am Hafen bei der Gepäckaufbewahrung bleiben, die anderen erkundeten die Stadt. Als sie zurück kamen, fanden sie niemanden von uns vor der Halle vor. Große Aufregung! Panik! Aber die Zurückgebliebenen warteten im Schatten hinter der Halle.« – »Die Kabinen auf dem Schiff sind für vier Leute schon sakrisch eng. Aber die Dusche drin ist toll.« – »Manche haben sich in dem Riesendampfer auch wieder verlaufen.« – »In Igoumenitsa haben sich einige der Damen mit den übergroßen Koffern nicht rechtzeitig um Kavaliere gekümmert, die ihre Monster- Koffer zum Linienbus schleppen.« – »Warum braucht man eigentlich für die Meditations-Tänze so viele Kleider?« – »In Ioannina konnten nach der langen Pause einige Damen fast den Bus nicht wiederfinden. Sie latschten dauer-quasselnd an ihm vorbei.« – »Die Fahrt quer durch Griechenland an den Meteora-Klöster vorbei über Trikala nach Larisa ist schon ganz schön ermüdend.«

»Endlos sind jene Straßen, die wir gezogen sind.

Unzählbar sind die Lieder, gesungen in den Wind.«

Am nächsten Tag wandern wir auf einer Sandstraße hinunter zum Meer nach Kokkino Nero. Der Ossa fällt ziemlich steil zum Meer hin ab: 2000 m auf 10 km. Der Weg führt aber sanft über die Schulter des Ossa erst 500 Höhenmeter hinauf und dann 1300 m hinunter. 25 km weit, ganz schön hart für den ersten Tag. Der Rucksack für fünf Tage drückt.

»Ich habe sogar von meiner Zahnbürste den Stiel abgesägt. Jedes Gramm zählt«, berichtet Angelika stolz. Die Sonne brennt. Erst geht es über kahle Flächen mit vielen Blumen. Ziegenherden drücken sich in den Schatten von Sträuchern und Felsen.

Oben haben wir endlich den weiten Blick auf die Ägäis. Die Sonne brennt. Ich zeige nach Osten: »Dort seht ihr die Halbinsel Chalkidike. Der majestätische Berg darüber ist der Athos in der Mönchsrepublik Athos, über 2000 m hoch.«

Die Straße schlängelt sich in unendlich vielen Windungen gemächlich bergab. Die Sonne brennt. Endlich erreichen wir die Waldzone. Die Sonne brennt. Ich muntere die vier auf: »Jetzt müsste bald die Stelle kommen, wo hinter dem Gebüsch neben der Straße ein Bach fließt.« – »Da!« Wir reißen uns die Kleider vom Leibe und tauchen in eine Gumpe ein.

»Herrlich!«, jubelt Gerlinde.

»Au!« Paul ist auf dem glatten Fels ausgerutscht und hat sich das Knie gezerrt. »Blutet nix«, beruhigt er. »Wird bald wieder gut sein.«

Mist! Gleich am Anfang eine Verletzung. Ob der die fünf Tage durchhält? Die Sonne brennt. Wir füllen unsere Wasserflaschen am Bach. Der ist sauber, oberhalb gibt es ja nichts. Weiter geht es. Die Sonne brennt. Wir sind den ganzen Tag noch keinem Menschen begegnet.

Endlich erreichen wir Karitsa mit seinen Gärten, mit Kirschbäumen und großen, alten Maronibäumen. Zeit für eine Pause. Hier sind viele griechische Familien, picknicken, grillen. Kinder rennen herum. Zu essen brauchen wir kaum etwas, hauptsächlich haben wir Durst. Aber da gibt es einen Kiosk, an dem man gekühltes Wasser kaufen kann. Noch drei Kilometer bis zum Ziel. Aber die ziehen sich. Und nun schmerzt auch Pauls Knie ziemlich, so dass wir langsamer gehen müssen. Hoffentlich wird es nicht schlimmer.

Wie in allen Dörfern sitzen alte Männer am Wegrand. Ein ziemlich fitter 93-Jähriger begrüßt uns. Offensichtlich kommen hier nur selten Touristen vorbei. Dann ist die Straße zu Ende. Wir sind am Meer! Eine kleine Taverne, Terrasse am Wasser – da lassen wir uns das Abendessen schmecken: Salat, Fisch, Tsatsiki, Rotwein, und zum Abschluss noch einen Schnaps. Dann wanken wir in unser kleines Hotel. Wellenrauschen ist ein angenehmes Schlafmittel.

»Auf heißer Straß' im Sonnenglast,

Tippelino, Tippelo.

Nichts hält uns auf, nichts hemmt den Lauf. Tippelino,

Tippelo …«

Nach einem guten Frühstück auf der Terrasse am Wasser geht es weiter nach Süden, immer am Meer entlang. Manchmal kleine Dörfer in den Buchten. Kaum Touristen, eher Tagesausflügler von Volos oder Larisa. Die Küste ist recht steil, wenig Platz für die Straße.

Im Hotel Paradiso am Ortsende von Polydendri werden wir auf Deutsch begrüßt – die Wirtsleute haben lange in Deutschland gearbeitet. Zum Abendessen gibt es eine ordentliche Portion Stockfisch. Unser Wirt Dimitrios erzählt uns: »Polydendri bedeutet viele Bäume. Wir selbst haben 8000 qm Maroniwald. Aber wir ernten sie nie. Der Baum vor dem Haus reicht uns. Und da oben ist der Wald von König Konstantin. Das waren mal große Plantagen. Kirschen, Walnüsse, Oliven, Maroni. Ist jetzt alles verwildert. Undurchdringlich. Naturschutzgebiet. Und dort drüben ist das Haus meines Onkels. Er hat 800 Ziegen. Drum ist da alles kahlgefressen.«

Nach Polydendri biegt die Straße ins Landesinnere ab. Entlang der Küste schleicht sich ein rumpeliger Schotterweg den Steilhängen entlang, führt durch dichte, dunkle Wälder, dann wieder Macchien, Olivenhaine. Für nicht geländegängige Fahrzeuge ist der Weg nur mit etwas Mut passierbar. Immer wieder liegt das Meer in beängstigender Tiefe ganz tief links unten. Ganz selten überholt uns ein Auto. Es muss manchmal rangieren, um unbeschädigt über die Bodenwellen zu kommen. Die Beifahrer müssen dabei aussteigen.

In Kamari ist dann endgültig die Straße am Meer zu Ende: Kamari, mit 50 Einwohnern – ein Ende der Welt. Es war früher der Hafen des weiter oben versteckt in den Bergen liegenden Dorfes Keramidi. Am Strand ist wenig Betrieb, das Wasser glasklar.

An der Küste gibt es kein Weiterkommen. Alte Saumpfade in 300 m Höhe sind völlig zugewachsen und verfallen. Geplant ist, mit einem Schiff nach Veneton weiter zu reisen. Um 10 Uhr soll der Schiffer kommen, aber er sagt ab. Ein Sturm ist angekündigt. In der Bucht ist das Meer noch total glatt, aber angeblich außerhalb der Bucht bereits zu unruhig.

»Zefix!«, fluche ich. »Wie kommen wir weiter südlich wieder ans Meer?« Ich studiere meine Busfahrpläne und verkünde dann: »Wir müssen leider umplanen. Wir müssen quer über die Halbinsel nach Westen nach Volos fahren. Von dort können wir wieder nach Osten quer über den Pilion nach Tsangarada.«

Zum Glück nehmen meine Wanderer es gleichmütig zur Kenntnis. »Ist halt so!«, meint Uli.

»Pauls Knie wird sich im Bus sicher gut erholen«, freut sich Gerlinde.

Dazu müssen wir zuerst 350 Höhenmeter hinauf nach Keramidi. Unser Wirt zeigt mir die ›alte Straße‹. Sie endet am Gartentor eines Hauses. Nach einigen Sackgassen finden wir doch einen Weg durch die Gärten hinauf in die Berge. Mittlerweile stauen sich dichte Gewitterwolken über uns.

»Warum haben die ihre Dörfer so weit oben im Gebirge und nur so versteckte, schwierige Wege dorthin gebaut?«, fragt Uli.

»Die eigentlichen Dörfer an dieser unwegsamen, steilen Küste liegen meist 200 bis 500 m hoch. Sie sind zum Schutz vor den Piraten vom Meer aus nicht sichtbar. Unten waren nur die Häfen für die Fischer und die Maultierpfade hinauf möglichst versteckt«, erkläre ich.

Nach zwei Stunden steilen Anstiegs erreichen wir die Straße kurz unterhalb von Keramidi. Das angekündigte Wetter bricht los. Es beginnt heftig zu blitzen und zu donnern. Ein Wolkenbruch überschüttet uns. Zum Glück sind wir gerade kurz vor einer Taverne und können uns retten. Es gibt ein gutes Essen. Danach spazieren wir weiter hinauf zum Dorf.

Keramidi hat 400 Einwohner. Es ist einer der ganz wenigen, hoch gelegenen Pilion-Orte, der noch nicht vom Tourismus entstellt worden ist. Wie in allen griechischen Bergdörfern sind die Gassen eng, steil, verwinkelt und gepflastert. Die Dächer mit Steinplatten gedeckt. Balkone ragen über die Gasse. Viele der Häuser sind noch aus spätosmanischer Zeit der 1880er Jahre. Ein zentraler Platz, die Platia mit uralten Platanen und Kastanien – der Schatten ist wichtig –, die Kirche, die früher ursprünglich offensichtlich eine Moschee war, eine Schule mit zwei Räumen, kein Café.

Beim Warten auf den Linienbus erzähle ich über den Pilion: »Die Küstenregion hier ist nur sehr dünn besiedelt. Es gibt an der Ägäisküste nur einen einzigen natürlichen Hafen: Damouchari (d'amour chari: ›Dank der Liebe‹) – eine ehemals genuesische Festung. Auf dem Pilion gibt es etwa 40 Bergdörfer und Küstenstädtchen. Der Pilion wurde übrigens auch während der 400-jährigen Besetzung Griechenlands durch das Osmanische Reich nie von den Türken besetzt. Bis in die frühen 1950er Jahre war Keramidi nur mit Maultieren und Pferden vom Meer aus erreichbar.«

Gerlinde ergänzt: »Ganz früher galt der Pilion als Heimat der Kentauren. Von hier starteten Jason und die Argonauten zur Suche nach dem Goldenen Vlies.«

Am Busbahnhof in Volos erfahre ich dann, dass heute nach Tsangarada kein Bus mehr geht. »Zefix! Schon wieder müssen wir umplanen!« Nach dem Studium der Fahrpläne entscheiden wir: »Dann fahren wir halt mit dem Bus wieder hinauf auf den Pilion nach Milies.«

Milies ist die Endstation einer Kleinbahn aus Volos. 1943 wurde es von den deutschen Besatzern niedergebrannt, weil im Pilion der Widerstand besonders massiv war. In Milies halten wir Rat:

»Von hier kann man man in einem Fußmarsch von etwa vier Stunden quer durch den Wald, vorbei an Apfelplantagen das auf der anderen Seite des Pilion gelegene Tsangarada erreichen. Die Zeit ist aber schon knapp. – Paul, wie geht es deinem Knie? Schaffst du das?«

»Oh je, vier Stunden ist lang – und dann nur ein Pfad!«

Gerlinde fragt: »Kann Paul nicht irgendwie dahin fahren?«

Das Risiko ist zu hoch, dass wir in die Nacht kommen. Ich plane ich doch lieber noch mal um: »Zefix! Dann fahren wir eben diese Strecke mit dem Bus. Der geht leider erst am nächsten Morgen. Dann gehen wir halt da drüben in das Hotel.«

Auf der Hotelterrasse genießen wir das Abendessen mit einer Aussicht hinunter auf die Olivenhaine und die große Bucht des Pagasitischen Golfs. Schwalben fliegen, eine Nachtigall singt, Fledermäuse gleiten geräuschlos über uns herum. Spinatkuchen und Oliven, noch ein Schluck Retsina und dann ab ins Bett.

Nach einer Nacht ohne Wellenrauschen bringt uns der Bus wieder 300 m hinunter zum Meer, umsteigen und wieder 450 Höhenmeter hinauf nach Osten in die Berge des Pilion.

In Tsangarada wandern wir auf der Platia von Agia Paraskevi erst einmal um die berühmte 1000 Jahre alte Platane. Die hat einen Stammumfang von knapp 14 Metern!

Von hier oben steigen wir nach Norden immer steiler auf alten gepflasterten Saumpfaden, zum Schluss fast wie eine Treppe, hinunter zum Meer. Nach zwei Stunden können wir zum ersten Mal die Küstendörfer und malerische, kleine Buchten sehen. Unten am Meer überqueren wir auf einer Brücke einen ausgetrockneten Bach und erreichen Damouchari. Weiter geht es wieder 50 m hinauf entlang der Felswand nach Papa Nero. Dort quartieren wir uns ein. Papa Nero ist ein beliebtes Ausflugsziel für die Leute aus Volos.

Beim Spaziergang ins nördlich benachbarte Agios Ioannis befinden wir uns wieder im üblichen Tourismus. Ich beobachte, wie Gerlinde in der Kapelle unauffällig fünf Kerzen anzündet, für jeden von uns eine. Glaubt sie, dass wir übernatürliche Hilfe brauchen werden? Schaden kann es ja nicht.

Am nächsten Morgen steigen wir von Papa Nero steil hinauf nach Mouresi, ein teilweise verlassenes Dorf, 350 m hoch über dem Meer. Alte Steinpfade kürzen die Kurven der Straße ab. Wir schwitzen fürchterlich. Oben ist es sehr kalt. Wir kommen durch Ortsteile, die teilweise verlassen sind. Seltsam so ein Ort, wo die Fenster verrammelt oder zugemauert sind. »Oh! Kirschen!«, jubelt Gerlinde und stürmt gleich in einen verwilderten Garten. Alle futtern wie wild – und trinken. Der Aufstieg machte durstig. »Jetzt fehlt nur noch ein kräftiger Durchfall«, fürchtet Angelika.

Wolken kommen vom Meer. Um eine Schlucht herum geht es nach Kissos, noch einmal 200 Höhenmeter hinauf. Steile Wege zwischen Brennnesseln und Brombeeren. Ausgesetzte Hunde folgen uns. Sehenswerte alte Kirche, aber verschlossen.

An der Taverne schnallen wir erschöpft unsere Rucksäcke ab, die Kellnerin bringt gleich ein Tablett mit Gläsern und Wasser. Sie fragt mich nach dem Woher und Wohin und ich erfahre zu meinem Schrecken, dass es den Bus gar nicht gibt, den wir nehmen wollen. Es ist Pfingsten, da gelten die normalen Pläne nicht. Aber in einer Stunde gibt es angeblich einen Bus. Bei einem leeren Verkaufsstand – Cola 2,50 € stand auf einer Schiefertafel – warten wir im Schatten. Aber der Bus fährt nach Agios Joannis – da kommen wir ja gerade her.

Zefix! Ich werde langsam unruhig. Wir sind schon einen Tag über der Zeit! Unser Zeitpuffer ist verbraucht. Die Fähre in Igoumenitsa wartet nicht auf uns. Was nun? Wie kommen wir nach Lafkos in unser Standquartier? Es sind noch 52 km! Und je 1500 m aufwärts und abwärts. Mindestens drei Tagesetappen zu Fuß. Wann wohl die Busse wieder planmäßig fahren? Ich muss schon wieder umplanen.

»Ich habe keine frische Unterwäsche mehr«, jammert Angelika. »Meine Zahnpasta ist auch verbraucht!«

Mein Handy klingelt. Lisa: »Wo bleibt ihr denn? Was ist passiert? – Meine fünf Weiber gehen mir allmählich auf den Keks. Wir brauchen Gesellschaft!«