Am Ende gibt es nur uns - Paige Toon - E-Book
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Am Ende gibt es nur uns E-Book

Paige Toon

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Beschreibung

Nichts tut so weh wie die Liebe. Doch sie hat auch die Kraft zu heilen … Der unvergessliche neue Liebesroman von der englischen Bestsellerautorin Paige Toon  Als Wren den Moment beobachtet, in dem sich ihr Verlobter in eine andere verliebt, verlässt sie fluchtartig ihre Heimatstadt und zieht über den Sommer zu ihrem Vater auf seine Farm in den USA. Dort verliebt sich Wren in den stillen Anders. Er hat vor ein paar Jahren seine Frau verloren und trauert immer noch. Und nun platzt Wren mitten in seine Welt. Doch Anders hat ein Geheimnis, und wenn er seinen wachsenden Gefühlen für sie nachgibt, wird das schreckliche Konsequenzen für sein ganzes Umfeld haben. Allen voran für Wren. Noch mehr glückliche Lesestunden mit Paige Toon: Lucy in the Sky Du bist mein Stern Einmal rund ums Glück Immer wieder du Diesmal für immer Ohne dich fehlt mir was Sommer für immer Endlich dein Wer, wenn nicht du? Nur in dich verliebt Alles Liebe zu Weihnachten Dein Platz in meinem Herzen Im Herzen so nah Du schenkst mir die Welt

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Seitenzahl: 485

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Paige Toon

Am Ende gibt es nur uns

Ein erschütterndes Geheimnis. Eine Liebe, die alles verändert.

 

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

 

Über dieses Buch

 

 

In einem Moment bist du glücklich, im nächsten steht deine Welt Kopf.

 

Wren muss aus dem englischen Städtchen Bury St Edmunds raus. Sie hat gerade den genauen Moment beobachtet, als sich ihr Verlobter in seine Arbeitskollegin verliebt hat. Bleibt nur Home Office und ein Sommer bei ihrem Vater und ihrer Stieffamilie auf ihrer Selbstpflückerfarm in Indiana, USA. 

Es dauert nicht lange und Wren lernt die charismatischen Brüder von der Nachbarfarm kennen: Jonas ist der örtliche Herzensbrecher, aber Wren verliebt sich in den nachdenklichen Anders. Er hat seine Frau vor drei Jahren bei einem tragischen Unfall verloren. Was Wren nicht weiß: Anders hat ein Geheimnis. Und wenn er ihrer gegenseitigen Anziehungskraft nachgibt, wird er damit die wichtigsten Personen in seinem Leben verletzen. Und damit auch Wren.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Paige Toon ist eine internationale Bestsellerautorin, ihre Bücher haben sich weltweit knapp 2 Millionen Mal verkauft. Sie schreibt dramatische und emotionale Liebesgeschichten mit unvergesslichen Figuren und Settings, die ihre Leserinnen auf einzigartige Reisen mitnehmen. Ihre Liebesromane behandeln oft große Themen, die nachdenklich stimmen, und laden immer zum Träumen ein. Lachend und weinend wird man Teil einer neuen Familie. Paige Toon lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Cambridgeshire.

 

Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über zwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im nördlichen Münsterland.

 

Inhalt

[Widmung]

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Ich biege in [...]

Epilog

Danksagung

[Leseprobe]

Für Greg.

Welch großes Glück, dass du an meiner Seite bist, in meinem Team, Jahr für Jahr.

Prolog

An Tagen wie diesen liebe ich Bury St Edmunds, wenn die cremefarbenen Türme der Kathedrale vor dem strahlend blauen Himmel leuchten und selbst der schwarze Feuerstein der Abteiruinen im Sonnenschein funkelt, als hätte man ihn poliert.

Es ist Anfang April, bisher der bei weitem wärmste Tag des Jahres, und seit ich das Büro verlassen habe, geht es mir deutlich besser. Ich hatte ein Telefongespräch mit der furchtbarsten Kundin aller Zeiten – die Frau, die ihr Haus renovieren lassen möchte, ist kurz davor, mir den Beruf als Architektin für den Rest meines Lebens zu vergällen Ich brauche dringend eine Kaffeepause.

Ich bummele an den Abteiruinen vorbei, auf der Suche nach einem Mäuerchen, das niedrig genug ist, um mich draufzusetzen und meinen Kaffee zu trinken. Da entdecke ich meinen Verlobten Scott. Er sitzt im Schatten einer großen Tanne auf einer Bank. Gerade will ich ihn rufen und zu ihm gehen, da sehe ich, dass Nadine bei ihm ist.

Als wir vor einem Jahr aus London hergezogen sind, gründete Scott seine Firma für Garten- und Landschaftsbau. Ein paar Tage, bevor er mich im Rosengarten des örtlichen Herrenhauses bat, ihn zu heiraten, fing Nadine bei ihm an. Sie ist neunundzwanzig, groß und stark, hat goldbraune Haut und ein ansteckendes Lachen. Ich habe sie von Beginn an gemocht und mag sie immer noch, deshalb begreife ich gar nicht, warum ich mich intuitiv zurückziehe und meinen Freund nicht begrüße.

Scott und seine Kollegin sitzen mindestens einen halben Meter auseinander, trotzdem kommt mir ihre Körpersprache irgendwie seltsam vor. Scott beugt sich vor, sein weißes T-Shirt spannt sich über seinen breiten Rücken. Er stützt die Unterarme auf die Oberschenkel. Nadine hat Arme und Beine verschränkt und das Gesicht Scott zugewandt. Ihr hoch angesetzter, stets hüpfender blonder Pferdeschwanz hält ungewöhnlich ruhig. Scott hat Nadine den Kopf im selben Winkel zugeneigt, trotzdem sehen sich die beiden nicht an. Sie reden auch nicht. Sie wirken wie erstarrt. Angespannt.

Ein Eichhörnchen huscht über die Mauerreste links von mir. In den Bäumen ringsum singen Vögel, auf dem Spielplatz in der Ferne lachen Kinder. Ich stehe da, schaue hinüber, und Unbehagen breitet sich in mir aus.

Sie sitzen nicht eng beisammen. Sie tun nichts Verbotenes. Und trotzdem …

Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an.

Schließlich dreht sich Scott ganz zu Nadine um und schaut ihr ins Gesicht. Es ist ein seltsamer Blick, ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann. Als Nadine langsam den Kopf hebt und ihm tief in die Augen sieht, klopft mir das Herz bis zum Hals. Zwei perfekte Profile: Scotts dicke dunkle Augenbrauen, Nadines makellos geschwungene Bögen, seine gerade Nase, ihr kleines Stupsnäschen, zwei volle Lippenpaare, absolut ernst.

Die Sekunden vergehen, und um mich herum wird es düster. Eben war noch alles hell und warm, jetzt ist es kalt, und mir wird schlecht.

Die beiden sehen sich immer noch an. Sie sagen kein einziges Wort.

Als Scott aufsteht und in Richtung Zentrum davongeht, mache ich mich klein. Nadine blickt ihm nach, bis er außer Sicht ist, dann atmet sie tief durch, beugt sich vor und birgt den Kopf in den Händen. In der Haltung verharrt sie eine gute Minute, dann erhebt sie sich ebenfalls und geht.

Ich merke, dass ich zittere.

Was war das?

Hat mein Verlobter eine Affäre? Und wenn nicht: Überlegt er, ob er eine anfangen soll?

Moment mal. Die beiden haben sich nur angesehen. Sie haben nichts Verbotenes getan. Ich mag Nadine. Ich vertraue Scott.

Dennoch, irgendwas scheint zwischen ihnen vorzugehen.

Meine Mutter hat mir immer geraten, auf mein Bauchgefühl zu hören. Gar nicht so leicht, wenn es einem das Herz bricht.

1

Drei Monate später

New York liegt unter einer Wolkendecke. Bisher bin ich immer über Chicago nach Indianapolis geflogen, deshalb hatte ich gehofft, heute die berühmte grüne Fläche des Central Parks inmitten der Wolkenkratzer zu sehen, doch als der Himmel endlich klar wird, erkenne ich tief unten nur einen Patchworkteppich aus Feldern und Höfen.

Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, und bis ich endlich lande, wird es nach siebzehn Uhr sein. In England ist es dann zehn Uhr abends. Ich bin kaputt, aber zum Glück holt mich Dad vom Flughafen ab. Mir ist bewusst, dass meine Erschöpfung nicht nur auf Schlafmangel zurückzuführen ist. Die letzten drei Monate hatten es in sich.

***

Als ich an jenem Tag im April nach einem grausamen Nachmittag voll widersprüchlicher Gefühle nach Hause kam, saß Scott am Küchentisch. Ich war hin- und hergerissen, mal völlig aufgelöst und dann wieder überzeugt, dass der Blick zwischen ihm und Nadine nichts zu bedeuten hatte. Doch sobald ich Scott sah, wusste ich, dass mein Instinkt mich nicht getrogen hatte: Zwischen den beiden war etwas, allerdings nichts Körperliches, sondern eher etwas Emotionales.

Kaum war ich zu Hause, wollte er mit mir sprechen, was mich irritierte. Ich war davon ausgegangen, dass ich ihn zur Rede stellen müsste. Stattdessen bekam ich die Antworten, ohne dass ich danach fragen musste. Als er mir seine Gefühle beichtete, dachte ich immer noch, er wolle mich um Verzeihung bitten – und ich hätte ihm verziehen. Wir wollten im Dezember heiraten und es im nächsten Jahr mit einem Kind versuchen. Ich würde das alles sicher nicht so einfach aufgeben, nur weil er sich kurzzeitig für eine andere interessierte.

Vielleicht war ich naiv, aber es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er mich verließ.

Ich erinnere mich noch deutlich an alle Einzelheiten unseres Gesprächs. Ich weiß sogar noch, dass er ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln hatte, einen schmalen schwarzen Rand, und dass er nach Erde roch, nach frischer Luft und Gartenboden. Er war mir so vertraut und doch ein Fremder. Noch nie hatte ich ihn so zwiegespalten und gequält gesehen.

»Ich liebe dich wirklich, Wren«, behauptete Scott. Tränen verklebten seine braunen Wimpern. »Manchmal wünsche ich mir, ich hätte Nadine nie kennengelernt. Ich glaube schon, dass wir zwei, du und ich, hätten glücklich werden können. Aber in letzter Zeit habe ich mich immer öfter gefragt, ob wir wirklich füreinander geschaffen sind.«

Er hatte erst Nadine treffen und Tag für Tag mit ihr arbeiten müssen, um zu erkennen, wie gut sie miteinander auskamen, dass sie und er auf einer tieferen Ebene miteinander verbunden waren.

Bis dahin hatten sie noch nicht über ihre Gefühle gesprochen. Nadine hatte Urlaub genommen, um ihre Eltern zu besuchen, und Scott hatte geahnt, dass sie ein wenig Abstand brauchte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Als sie an jenem Tag im April zurück zur Arbeit kam und ihm ihre Kündigung überreichte, war ihm klargeworden, dass er sie nicht gehen lassen konnte.

Unter Tränen fragte ich ihn, ob sie seine Seelenverwandte sei, und als er mir in die Augen schaute, brauchte er nicht mehr zu antworten.

Ich hatte es in Büchern gelesen, in Filmen gesehen: Manchmal hat ein Mensch den falschen Partner, der ihn nicht versteht. Auf einmal findet er die Liebe bei jemand anderem und fühlt sich vollkommen geborgen. Diesen beiden kann dann nichts etwas anhaben. Das gesamte Publikum fiebert mit ihnen.

Nicht in tausend Jahren hätte ich mir vorstellen können, dass mir so etwas passiert, dass ich diejenige sein könnte, die der wahren Liebe im Weg steht.

Als mir endlich der Ernst der Lage klarwurde, versank ich in Schmerz und absoluter Hilflosigkeit. Ich konnte nichts tun. Diesen Kampf konnte ich nicht gewinnen. Ich hatte die Liebe meines Lebens verloren.

Scott und Nadine sind jetzt ein Paar. Ich habe sie ein paarmal in der Stadt gesehen und bin immer auf der Hut, falls sie mir zufällig über den Weg laufen. Vorletzte Woche wurde es mir zu viel. Da saß ich in meinem Lieblingscafé gegenüber dem Abbey Gate, als sie plötzlich aus dem Torbogen kamen, Hand in Hand und lächelnd. Nadines blonde Haare leuchteten in der Sonne, während Scott sie über die stark befahrene Straße lotste. Als sie ins Café kamen, wo ich mit meiner Mutter saß, entschuldigte Scott sich und drehte schnell wieder um, doch als er am Fenster vorbeiging und ich sein Gesicht sah, ganz zerknirscht und missmutig, wurde mir richtig schlecht. Ich musste die Tränen zurückhalten.

»Diese Stadt ist zu klein für euch beide, Schatz«, sagte meine Mutter mitfühlend.

»Und warum soll ausgerechnet ich gehen?«, fragte ich leise.

»Weil er hier seine Firma hat. So schnell wird er nicht verschwinden. Nimm dir eine Auszeit, Wren, und wenn es nur ein paar Wochen sind«, schlug sie vor. »Geh auf Abstand zu ihm, gib deinem Herzen Zeit zum Heilen.«

Mum hatte recht. Ich brauchte eine Pause von Bury St Edmunds, von der Arbeit, von Scott, von den Straßen, in denen wir früher gemeinsam unterwegs gewesen waren, als er noch meine Hand hielt und mich über die Straße lotste.

Deshalb rief ich abends meinen Vater in den Staaten an und fragte, ob ich ihn besuchen könne.

***

Als ich in die Ankunftshalle komme, wartet Dad schon hinter der Absperrung, das blau-rot karierte Hemd in der Jeans.

Bei meinem Anblick verzieht sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, seine Wangen mit den dichten Bartstoppeln wirken noch runder als bei unserem letzten Treffen an Weihnachten. Er und seine Frau Sheryl waren über die Feiertage in Paris, deshalb fuhr ich mit Scott im Zug rüber und verbrachte ein bisschen Zeit mit den beiden. Dies ist meine erste Reise nach Amerika seit zwei Jahren.

»Hallo!«, ruft mein Vater.

»Hallo, Dad.«

Als sich seine Arme um mich schließen, wird mir wohlig warm. Ich atme seinen vertrauten Geruch ein – Seife und Waschpulver – und weiß, dass wir uns erst wieder drücken werden, wenn wir uns in zwei Wochen an eben diesem Flughafen voneinander verabschieden. Bei der Erkenntnis durchfährt mich ein Stich. Ich löse mich von ihm.

Das Markenzeichen meines Vaters, seine strubbeligen Haare, die sonst denselben mittelbraunen Farbton hatten wie meine, sind inzwischen grau meliert. Immerhin haben wir beide grünbraune Augen, aber da endet die Ähnlichkeit zwischen uns auch schon.

Mit meiner Mutter Robin habe ich auch nicht viel gemein. Mum mag bunte Muster und wallende Kleider; ich bevorzuge schlichte Röcke und Pullis in gedeckten Farben. Sie hat ein warmes, offenes Gesicht, meins ist schmaler; ich habe es mal als »verkniffen« bezeichnet, was sie jedoch vehement bestritt. Stattdessen versicherte sie mir, ich hätte die feinen Gesichtszüge einer Adligen, worüber ich herzlich lachen musste.

»Wie war der Flug?«, fragt Dad heiter und nimmt mir den Koffer ab.

»Ganz gut«, erwidere ich.

»Müde?«

»Bisschen.«

»Du kannst ja im Auto schlafen. Bis zu unserem neuen Haus sind es zwei Stunden.«

Meine Halbschwester Bailey, sechs Jahre jünger als ich, hat in diesem Jahr geheiratet und sich in der Heimatstadt ihres Mannes im südlichen Indiana niedergelassen. Mein Vater und Sheryl sind vor kurzem in dieselbe Kleinstadt gezogen, um in der Nähe des jungen Paares zu sein.

Vieles an dieser Entwicklung tut einfach nur weh.

Mein Dad ist ein liebevoller Ehemann und Vater. Nur habe ich ihn nie so kennengelernt. Ich weiß natürlich, dass er mich lieb hat, aber er ist nie richtig für mich dagewesen. Er kennt mich nicht wirklich. Wie sollte er auch, wo wir fast viertausend Meilen voneinander entfernt leben und jedes Jahr höchstens ein paar Wochen miteinander verbringen?

Als wir aus dem Flughafengebäude kommen, legt sich die Juliluft wie eine warme Decke um meine Schultern. Es dauert nicht lange, da sind wir auf dem dreispurigen Highway, der uns aus Indianapolis hinausführt. Die Stadt ist zu weit entfernt, um die Wolkenkratzer sehen zu können, ich kenne sie jedoch von früheren Shoppingtouren. Weiter draußen ist die Landschaft flach und weit, betupft mit roten Scheunen und Getreidesilos.

»Wie gefällt Bailey das Eheleben?« Ich ignoriere den kleinen neidischen Stich.

Meine hübsche Halbschwester schien nie einen Wettbewerb daraus machen zu wollen, deshalb bin ich mir sicher, dass es ihr nicht darum ging, mir zuvorzukommen, als sie kurzfristig beschloss, in Las Vegas zu heiraten. Nun, da meine Hochzeit abgesagt wurde, tut es schon etwas weh, den Ring an ihrem Finger zu sehen.

»Sie ist zufrieden«, erwidert Dad achselzuckend und dreht die Klimaanlage runter, da es im Wagen schon kühler geworden ist.

»Verstehst du dich gut mit Casey?«

Ich kenne Baileys Ehemann noch nicht. Scott und ich waren zur Hochzeit eingeladen, aber die Einladung kam erst eine Woche vor dem Termin, so dass wir das Gefühl hatten, nicht wirklich erwartet zu werden. Bailey war immer schon spontan.

»Mit dem versteht sich jeder«, antwortet Dad. »Ist ein prima Kerl.«

»Das ist schön.«

Ich will nicht, dass meine Stimme so piepsig klingt. Dad wirft mir einen besorgten Blick zu.

»Hat mir leidgetan, die Sache mit Scott«, sagt er. »Der war auch ein prima Kerl.«

»Stimmt«, bestätige ich leise. »Ist er wohl immer noch.« Ich schlucke den Kloß im Hals hinunter und füge mit aufgesetzter Fröhlichkeit hinzu: »Was soll man machen, wenn man sich verliebt?«

Dad räuspert sich. »Tja.«

Eine Weile schwebt der Satz zwischen uns.

Meine Eltern lernten sich mit Anfang zwanzig bei einer Reise durch Europa kennen. Sie verliebten sich Hals über Kopf ineinander, und als Dads Visum ablief, zog Mum zu ihm nach Phoenix, Arizona. Innerhalb eines Jahres heirateten sie und erwarteten mich.

Sie haben es einfach überstürzt. So jedenfalls beschrieb es mir Dad, als ich als verbitterte Jugendliche zu begreifen versuchte, warum er sich in eine andere Frau verliebt hatte, eine Professorin an der Universität von Arizona, wo mein Vater als Hausmeister arbeitete.

Es ist mir immer ein Rätsel geblieben, was jemand wie Sheryl an einen Mann wie meinen Vater findet – sie ist neun Jahre älter als er und sehr viel klüger. Das mit der körperlichen Anziehung verstehe ich; mein Dad sah wirklich nicht schlecht aus. Sheryl verbrachte ihre Kaffeepause gern draußen im Park, damit sie mit meinem Vater reden konnte.

Schwerer zu verstehen ist eher, wie eine Affäre zwischen einer Akademikerin und einem Hausmeister so ernst werden konnte, dass die beiden bereit waren, das Leben von seiner Frau und seinem Kind zu zerstören.

Denn als Sheryl mit Bailey schwanger wurde, entschied Dad sich für sie. Sheryl überredete ihn, nach Indiana zu ziehen, um näher bei ihrer Familie zu wohnen. Sie fand eine Stelle an der Universität in Bloomington. Meine untröstliche Mutter ging mit mir zurück nach England, und Bailey wuchs mit einem Vater auf, den sie ganz für sich hatte.

Zumindest was das Emotionale betrifft, verspricht dieser Urlaub ziemlich kompliziert zu werden.

***

Ich muss eingenickt sein. Als Dad mich weckt, habe ich nicht das Gefühl, zwei Stunden gefahren zu sein.

»Wir kommen jetzt in den Ort«, sagt er. »Ich dachte, du willst ihn vielleicht sehen.«

Mit brennenden, müden Augen registriere ich die Umgebung. Wir fahren auf einer langen, geraden Straße, vorbei an Fastfood-Restaurants und anderen Ketten: Taco Bell, KFC, Hardee’s, Wendy’s. Ich sehe eine Autowaschanlage und eine Werkstatt, dann gelangen wir in ein Wohngebiet, in dem alle paar hundert Meter Querstraßen von der Hauptstraße abgehen. Viele Häuser sind zweigeschossig und haben rote Dächer, Gaubenfenster und sorgfältig gemähte Vorgärten, aber auch weiß verschalte Bungalows mit bunten Fensterläden in Limettengrün oder Kornblumenblau sind zu sehen. Es geht eine kleine Anhöhe hinauf, dahinter sind weitere Wohnstraßen, bis wir das von Dad so bezeichnete »historische Zentrum« erreichen.

Vor uns liegt ein großer Platz mit einem mittig errichteten Gerichtsgebäude und einem großen Uhrenturm. In der untergehenden Sonne leuchtet das Gebäude weiß, und als Dad darum herumfährt, entdecke ich dahinter eine Reihe dorischer Säulen.

»Das da in der Ferne ist der Hoosier National Forest«, erklärt Dad, als wir das Stadtzentrum hinter uns lassen und durch das nächste Wohngebiet fahren, wo an vielen Veranden rot-weiß-blaue Flaggen hängen. Ich habe den 4. Juli um nur eine Woche verpasst.

»Bailey und Casey wohnen da drüben.« Dad weist aus dem Seitenfenster.

Am Ende der Straße steht ein Schild mit der Aufschrift: Wetherill Farm – Obst und Gemüse zum Selberpflücken. Ein Pfeil zeigt in die Richtung, in die wir fahren.

»Das seid ihr?«, frage ich.

»Jep.« Mein Vater nickt stolz.

Unter die leicht seitlich geneigten, schwarz umrandeten Buchstaben sind Obst- und Gemüsesorten gemalt. Im Vorbeifahren erkenne ich einen Pfirsich, eine Birne, einen Apfel, einen Kürbis und eine Wassermelone.

»Wassermelonen habt ihr auch?«

»Dieses Jahr nicht«, antwortet Dad und fährt auf eine rostrot gestrichene alte Eisenbrücke über ein glucksendes Flüsschen. »Nur Kürbisse für Halloween. Die Vorbesitzer haben Melonen angebaut, aber wir dachten, wir lassen uns ein bisschen Zeit, um den Obstgarten in den Griff zu bekommen. Hoffentlich gibt es keinen Ärger wegen irreführender Werbung«, witzelt er.

Als ich Mum erzählte, dass Dad und Sheryl einen Bauernhof gekauft hätten, wo die Leute die Erzeugnisse selbst pflücken können, reagierte sie gereizt. Damals in Phoenix war sie Pflückerin auf einer Zitronenfarm, jetzt arbeitet sie in einem Gartencenter. Sie war immer schon gern an der frischen Luft und in der Natur, auch wenn die Tätigkeiten selbst keine große Herausforderung sind.

Einmal gestand sie mir, es sei für sie besonders schwer gewesen, dass Dad sie nicht nur für eine andere Frau verlassen hatte, sondern für eine Professorin. Jetzt hat Sheryl die akademische Welt gegen eine Arbeit eingetauscht, die im Grunde Mums Traumjob ist. Kein Wunder, dass es ihr weh tut.

Hinter der Brücke erstreckt sich meilenweit Ackerland. Eine Zeitlang fahren wir an einem Feld entlang, auf dem blättriges Grünzeug wächst, dann biegt Dad links auf einen unbefestigten Weg und sofort dahinter rechts in eine lange, baumgesäumte Auffahrt ab.

»Jetzt sind wir da«, verkündet er.

Am grasbewachsenen Wegrand steht noch mal ein Schild mit Wetherill Farm – Obst und Gemüse zum Selbstpflücken. Dort teilt sich die Auffahrt und führt links zu einer schwarzen Scheune aus Holz, hinter der ein Feld mit Obstbäumen zu erkennen ist. Am Ende der rechten Abzweigung steht ein hellgrau verkleidetes Farmhaus. Das linke Drittel hat eine Giebelfront mit drei großen Fenstern. Rechts auf dem grauen Schieferdach sitzen drei kleinere Giebelfenster im selben Stil. Darunter zieht sich ein langer Balkon entlang. In den Rosenbeeten vor dem Haus strahlen Blüten in Rosa und Orange. Drei Steinstufen führen zu einer dunkelblau gestrichenen Haustür hoch.

Als Dad den Motor ausstellt, geht die Tür auf. Ich steige aus, um Sheryl zu begrüßen.

»Wren! Herzlich willkommen!«, ruft sie und kommt die Stufen hinunter.

Einmal habe ich erlebt, wie Sheryl entsetzt die Augen aufriss, als sie ein graues Haar in ihren glänzenden dunkelbraunen Locken fand. Sie verließ das Haus immer nur komplett geschminkt. In den letzten Jahren ist sie lockerer geworden. Statt der langen Haare trägt sie jetzt einen kurzen grauen Bob, und ihr Gesicht ist frei von Kosmetik – nicht mal ihren violetten Lippenstift hat sie aufgetragen.

Ihre Persönlichkeit ist mit Sicherheit unverändert. Sie wird so starrsinnig und rechthaberisch sein wie eh und je. An der Art, wie sie die Treppe hinuntergeht, kann ich sehen, dass sie sich immer noch sehr wichtig nimmt. Trotz dieser nicht besonders sympathisch klingenden Beschreibung habe ich eigentlich nichts gegen sie. Ich habe in vielerlei Hinsicht Respekt vor Sheryl und schildere sie Freundinnen gegenüber gern als »dynamisch«, eine Zuschreibung, bei der ich immer das Gefühl habe, Mum zu hintergehen. Sheryl und ich kommen ganz gut miteinander aus, aber dafür haben wir Jahre gebraucht. Früher war unsere Beziehung alles andere als harmonisch.

»Hallo, Sheryl!« Ich umarme sie kurz und schmerzlos, weil sie es nicht leiden kann, wenn Menschen ihr zu dicht auf die Pelle rücken.

Mit ihren eins zweiundsiebzig ist sie zehn Zentimeter größer als ich, und sie war immer schon beneidenswert kurvig und vollbusig, jetzt noch mehr. Dad hat mir erzählt, dass Sheryl viel gebacken hat, seit sie die Stelle an der Uni aufgegeben hat und in den Ruhestand gegangen ist. Ich musste grinsen, weil mein Vater früher immer den Löwenanteil der Küchenarbeit übernahm. Ich hätte mir Sheryl nie als Landfrau vorstellen können, aber jetzt, da sie vor mir steht, ist das nicht mehr so undenkbar.

»Was für ein schönes Haus!«, sage ich.

Sheryl strahlt, stemmt die Hände in die Hüften und sieht zum ersten Stock hinauf. »Wir sind auch ganz verliebt. Komm rein und schau dich um! Oder willst du dir erst die Obstgärten ansehen? Nein, komm mit rein!«, entscheidet sie, bevor Dad und ich ein Wort dazwischen bekommen. »Du bist bestimmt ganz kaputt.«

Innen wirkt das Haus sehr traditionell: Die Wände sind in abgetöntem Grün, Grau und Blau gehalten, abgesetzt mit weißen Fensterrahmen, Zierleisten und Geländern. Die Möbel kenne ich noch aus dem alten Haus: Antiquitäten, die Sheryl von ihren Eltern geerbt hat. Auf dem glänzenden dunklen Holzboden liegen abgetretene Teppiche, die Küche ist mit Terrakotta gefliest. Es duftet nach Zimt.

»Pfirsich-Zimt-Kuchen«, verkündet Sheryl stolz, als ich den Kuchen auf der Arbeitsfläche entdecke. »Extra für dich gebacken.«

»Oh, danke!« Ich bin gerührt.

Am nächsten Wochenende soll die Farm für pfirsichpflückende Kunden geöffnet werden. Später in der Saison folgen Äpfel und Birnen.

»Möchtest du jetzt ein Stück Kuchen oder willst du dich vorher oben umsehen?«, fragt Sheryl. »Ach, wir bringen erst mal deinen Koffer hoch. Ich zeige dir dein Zimmer.«

Bevor ich antworten kann, ist sie durch den Flur verschwunden. Dad und ich grinsen uns an und folgen ihr.

Mittlerweile komme ich mit Sheryls dominanter Art zurecht, aber es gab Zeiten, als ich nicht so entspannt war. Da kämpfte ich gegen die Fesseln und versuchte, Territorium zu erobern, das längst ihres war. Das war nicht besonders lustig, für keinen von uns.

Inzwischen habe ich gelernt, mich nicht mit ihr anzulegen. In den kommenden zwei Wochen werde ich auf jeden Fall versuchen, es ihr möglichst recht zu machen.

Ich brauche weiß Gott nicht noch mehr Stress in meinem Leben.

2

Am nächsten Morgen erwache ich früh nach einem erstaunlich erholsamen Schlaf. Ich habe mich bis ungefähr zehn Uhr abends wach gehalten, dann ließ ich mich in das marshmallowweiche Doppelbett fallen, das schon im Gästezimmer von Sheryls und Dads altem Haus stand.

Vorher wohnten sie in Bloomington, einer hübschen, lebhaften Universitätsstadt, in die sie kurz vor Baileys Geburt gezogen waren. Bloomington liegt eine Stunde nördlich, genau zwischen dem neuen Haus und Indianapolis. Die drei wohnten in einem grünen Vorort, in einem Haus aus cremefarbenem Backstein auf einem Eckgrundstück.

Einmal war ich im Herbst da, und die Farben der Bäume, die fast alle Straßen säumten, waren atemberaubend schön.

Das ist das Besondere an Indiana: Im Winter ist es sehr kalt und im Sommer sehr warm. Diese extremen Temperaturunterschiede machen den Herbst zum Star der Jahreszeiten. Ich würde gern noch mal zu der Zeit wiederkommen. Im Moment haben wir Hochsommer.

Blasses Licht sickert durch die weißen Rollläden vor den beiden Gaubenfenstern. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt noch keine sieben Uhr.

Auch hier riecht es nach Zimt, allerdings in synthetischer Form dank des Duftpotpourris auf der Fensterbank. Ich mag den Geruch – er erinnert mich an amerikanische Shopping Malls und Einrichtungsläden: warm und heimelig.

Mum sagte immer, Phoenix würde nach Orangenbaumblüten riechen. Sie behauptete, der Duft liege in der Wüstenluft.

Ich war erst sechs Jahre alt, als wir wegzogen, deshalb habe ich nur vage Erinnerungen an Phoenix. Ich weiß noch, dass wir drei dicke große Kakteen im Garten hatten, dass der künstliche Stadtstrand über Sprinkler bewässert wurde, weil der Sand sonst zu heiß zum Drüberlaufen gewesen wäre, und dass das Schwimmbad vor Ort einen so hohen Chlorgehalt hatte, dass mein Haar grün wurde. Ich erinnere mich an den Wüstensand, der über die Straßen fegte, und an den Camelback Mountain, der hinter fernen Bungalows mit der Skyline der Stadt verschmolz. Ich erinnere mich an die gewaltigen bunten Gesteinsschichten des Grand Canyon und an das klare grüne Wasser und die glatten Felswände von Lake Powell. Ich erinnere mich an winzige Kolibris, die wie Schmetterlinge flatterten, und an Präriehunde, die ich immer erfolglos zu füttern versuchte. Und ich erinnere mich, wie mein Vater mich abends ins Bett brachte und mich sein »Vögelchen« nannte, ein Spitzname, den er sich ganz am Anfang für mich ausdachte, aber schon lange nicht mehr benutzt.

Ich erinnere mich auch an die Streitereien. An das Geschrei. Die vergossenen Tränen. Ich erinnere mich an die Streifen auf der Wange meines Vaters, als er mir zum Abschied einen Kuss gab und für immer durch die Haustür verschwand.

Ich verdränge diese Bilder, denn manches möchte ich lieber vergessen.

***

Als wir uns zum Frühstücken hinsetzen, platzt Bailey herein, ohne jede Vorwarnung oder Einladung. Sie hat sich selbst die Haustür aufgeschlossen und steht plötzlich im Flur.

»Heyyyy!«, ruft sie begeistert. Sie ist die jüngere Ausgabe von Sheryl und hat alles, was mir fehlt.

Ich stehe auf, und sie wirft sich geradezu auf mich. Bailey trägt einen schicken schwarzen Rock und eine weiße Bluse mit angeschnittenen Ärmeln. Sie riecht nach Ylang-Ylang.

»Ich freu mich so, dich zu sehen!«, ruft sie und drückt mir fast die Luft aus der Lunge.

»Ich mich auch«, entgegne ich.

Unser Vater strahlt mich an, auch wenn man seine beiden Grübchen unter den Bartstoppeln nicht so richtig sehen kann. Bailey hat riesengroße braune, ausdrucksvolle Augen, die ihr als Kind den Spitznamen Boo einbrachten, weil sie immer aussieht, als würde sie sich gerade erschrecken.

»Wie war der Flug? Wie geht es dir?« Sie wirft sich die glänzenden kastanienbraunen Locken über die Schulter.

Als Jugendliche reichten ihr die Haare in langen Wellen fast bis zur Taille, doch beim letzten Mal hatte sie sie auf Kinnhöhe abgeschnitten.

Meine glatten, faden Haare sehen aus wie immer. Man kann die Farbe nicht mal als schoko- oder kastanienbraun bezeichnen: Es ist einfach nur ein Straßenköterblond.

»Gut und gut«, antworte ich. »Und bei dir? Wie geht es Casey?« Der Kloß in meinem Hals erinnert mich daran, dass ich ihr in nächster Zeit nicht vor den Altar folgen werde.

»Super. Hey, hast du heute Abend schon was vor?«

Ich schaue zu Dad und Sheryl hinüber.

»Dich meine ich nicht«, sagt Bailey stirnrunzelnd zu unserem Vater. Er erstarrt mitten im Nicken. Sie lacht über seinen überrumpelten Gesichtsausdruck. »Ich will meine große Schwester ganz für mich allein haben. Es ist Freitag! Ich dachte, wir könnten zu Dirk gehen.«

»Ich nehme an, das ist eine Kneipe, kein Mann, oder?« Ich schiele zu Dad hinüber, um zu sehen, ob er es okay findet, zu Hause zu bleiben. Er zuckt gutmütig mit den Schultern und schaut Sheryl an.

»Beides. Dirk ist der Inhaber der Kneipe Dirk’s. Ist so ähnlich wie die Kneipe in Bloomington, wo wir das letzte Mal waren. Weißt du noch?«

Allerdings weiß ich das noch. Es ist fünf Jahre her: Bailey war zweiundzwanzig und ich achtundzwanzig. Es war der beste Abend, den wir je zusammen hatten, das erste Mal, dass ich mich nicht nur wie ihre Halbschwester fühlte, sondern mir auch vorstellen konnte, mit ihr befreundet zu sein.

Es ist nicht so, dass wir vorher nicht miteinander ausgekommen wären, aber als ich ein Teenager war und Bailey ein nerviges Gör, das den ganzen Tag um unseren Vater herumscharwenzelte, war es nicht leicht.

Leider war dieser gemeinsame Abend auch das letzte Mal, das wir uns gesehen haben. Kurz darauf zog Bailey an die Westküste.

»Ich hole dich um sieben Uhr ab.«

»Ist das in Ordnung?«, frage ich Dad. Ich bin gespannt, ob Bailey und ich wirklich da weitermachen können, wo wir aufgehört haben.

Bei der Vorstellung kommt ein wenig Optimismus in mir auf, der jedoch schnell von Zweifeln vertrieben wird. In den letzten fünf Jahren ist so viel passiert. Ach, in den letzten fünf Monaten ist viel passiert. Letztlich kenne ich meine Halbschwester kaum und sie mich ebenso wenig.

»Für uns kein Problem«, erwidert Dad. »Wir haben noch jede Menge Zeit zum Erzählen.«

»Ich weiß aber nicht, wie lange ich durchhalte«, warne ich Bailey. »Ich habe mit Sicherheit Jetlag.«

Falls sie erwartet, mit mir die Nacht durchzufeiern, wird sie schwer enttäuscht sein.

»Ja, ja«, bügelt sie ab und schaut auf die Uhr. »Muss weiter! Sonst komme ich zu spät zur Arbeit. Bis später!«

»Bis heute Abend.«

Nach Küssen auf Dads und Sheryls Wangen ist der Wirbelwind verschwunden.

***

Um Punkt sieben Uhr ist meine Halbschwester wieder da, um mich abzuholen.

»Du siehst super aus!«, ruft sie zur Begrüßung.

Ich habe ein enges, knielanges, ärmelloses schwarzes Kleid angezogen, dessen V-Ausschnitt mit weißen Perlen besetzt ist. So was würde ich in England zum Ausgehen tragen, doch als ich feststelle, dass Bailey statt ihrer Arbeitskleidung Jeansrock und ein weißes T-Shirt trägt, fühle ich mich overdressed.

»Du auch. Meinst du, ich kann wirklich so gehen?«, frage ich unsicher.

»Na klar!«, versichert sie mir. »Komm, freitags ist immer viel los. Gehen wir!«

Das Dirk’s liegt auf der Westseite des Platzes, um den wir am Vortag herumgefahren sind, und zwar im Keller eines dreistöckigen, zweckmäßig wirkenden Gebäudes mit Flachdach. Große Fenster mit schwarzen Rahmen unterbrechen die schlichte Fassade aus rotem Backstein. Als wir hineingehen, ist gerade das Riff aus »Fever« von den Black Keys zu hören. Während wir die Treppe hinuntersteigen und die Tür zu dem Laden öffnen, wird die Musik lauter. An den unverputzten roten Ziegelwänden hängen Bilder von Rockbands – von den Rolling Stones bis zu den Kings of Leon.

Es ist ein bisschen einfach und etwas schmuddelig, aber es gefällt mir. »Fever« wird von »R U Mine?« von den Arctic Monkeys abgelöst, und ich fühle mich noch ein bisschen wohler.

Vielleicht sehe ich nicht so aus, aber im Grunde meines Herzens bin ich eine Rockerin. Scott hatte mit Musik nicht so viel am Hut – wenn er die Wahl hatte, stellte er eher den Fernseher als das Radio an. Was Nadine wohl lieber mag?

Nein, heute Abend will ich nicht an Scott und Nadine denken. Sicherlich werden die beiden auch keinen Gedanken an mich verschwenden.

»Was trinken wir?«, fragt Bailey. Hinter der Theke drängen sich die Flaschen in Regalen.

Ich nehme mir eine Speisekarte vom Tresen. Auf einmal bin ich wild entschlossen, heute Abend Spaß zu haben. Auf der klebrigen Karte finden sich verschiedene Burger, Hotdogs, Pommes und Nachos. Ich blättere um, suche die Cocktails, doch die Rückseite ist leer.

Ich bin echt bescheuert. In so einem Laden gibt es definitiv keine Cocktails.

Der Barkeeper erscheint vor uns. Er hat Tunnel in den Ohren und so dünnes blondes Haar, dass man seine Kopfhaut sehen kann. Ohne zu lächeln oder etwas zu sagen, knallt er zwei Bierdeckel auf den Tresen und nickt Bailey zu.

»Hey, Dirk!«, grüßt sie fröhlich. Er verzieht keine Miene. Sie sieht mich fragend an. »Rum-Cola?«

»Okay.«

Dirk macht sich an die Arbeit. Bailey flüstert mir schmunzelnd ins Ohr: »Er ist immer so schlecht gelaunt, aber ein Original. Irgendwann schaffe ich es noch, ihn zum Lachen zu bringen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

Das kaufe ich ihr ohne weiteres ab.

»Wollen wir den Tisch da nehmen? Ich bringe die Getränke rüber.«

Mehrere Augenpaare folgen mir durch den Raum. Inzwischen bereue ich meine Kleiderwahl. Wäre besser gewesen, wenn Bailey mir geraten hätte, mich umzuziehen. Sie ist viel extrovertierter als ich – overdressed zu sein, würde ihr nichts ausmachen. Das ist nur einer von vielen Unterschieden zwischen uns.

Ich setze mich an den Tisch. Auf der einen Seite hocken vier grauhaarige alter Biker, auf der anderen drei Männer mittleren Alters mit Baseballkappen und T-Shirts in knalligen Farben. Ich habe das Gefühl, dass Bailey und ich die Jüngsten hier sind, außerdem sind wir die einzigen Frauen, doch falls das meine Halbschwester stören sollte, lässt sie sich nichts anmerken.

»Prost!«, sagt sie und setzt sich zu mir.

»Prost! Ach ja: Nachträglich noch herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit!«

Um meine Unsicherheit zu überspielen, gebe ich mich überschwänglich, doch Bailey nimmt das gar nicht wahr.

Sie lacht. »Mom ist immer noch sauer, dass ich ihr die große Chance genommen habe, als Brautmutter aufzutreten. Immerhin habe ich das Ganze angekündigt, wenn auch nur eine Woche im Voraus.«

»Gab es einen Grund für die Eile?«, erkundige ich mich vorsichtig.

»Nee.« Sie ahnt, worauf meine Frage abzielt. »Wir wollten einfach ohne großen Stress heiraten. Davon habe ich beruflich schon genug.«

Bailey ist Eventmanagerin.

»Was macht die Arbeit? Du bist doch da, wo Casey auch arbeitet, oder?«

»Ja, im Golfclub.« Sie weist mit dem Daumen über die Schulter. »Der liegt am Stadtrand, ungefähr zehn Minuten in die Richtung.«

Casey ist Golfprofi. Die beiden haben sich in Kalifornien kennengelernt, wo er an einem Turnier teilnahm, das Bailey mitorganisiert hatte. Casey hat nie ganz vorne mitgespielt, jetzt gibt er Unterricht. Als ihm eine Stelle in seiner Heimatstadt angeboten wurde, zögerte er nicht lange und kam zurück, denn auch seine Eltern und sein Bruder wohnen hier.

»Und dir gefällt dein Job?«, frage ich.

Bailey zuckt mit den Schultern. »Ist in Ordnung. Bisher habe ich drei Hochzeiten und zwei Abschiedspartys ausgerichtet, aber es wiederholt sich. Bis Weihnachten hängt mir das wahrscheinlich zum Hals raus. Wenn es nach Casey und seinen Eltern geht, bin ich dann schon in anderen Umständen.«

»Willst du das denn?«

»Auf gar keinen Fall! Dafür bin ich noch viel zu jung!«

Sie reißt die Augen so weit auf, dass sie ihrem Spitznamen Boo alle Ehre macht. Unweigerlich muss ich lachen.

»Wie alt ist Casey eigentlich?« Bailey ist siebenundzwanzig, aber er ist ja ein ganzes Stück älter.

»Vierunddreißig. Total der Greis«, witzelt sie, um mich zu ärgern, denn ihr Mann ist nur ein Jahr älter als ich.

»Hehe!« Ich tauche den Finger ins Glas und schnipse die Flüssigkeit in Baileys Richtung.

Sie quietscht vor Lachen, und in mir kribbelt es plötzlich vor Freude. Vielleicht können wir wirklich da weitermachen, wo wir aufgehört haben …

Je länger wir dort sitzen, uns unterhalten und trinken, desto fröhlicher und entspannter werde ich. Ich habe wirklich Abstand von Bury St Edmunds gebraucht und finde es schön, meiner Halbschwester wieder näherzukommen. In Begleitung von Scott wäre das nicht so leicht.

Wir bestellen Burger und noch mal zwei Rum-Cola, um das Essen runterzuspülen, dann geht Bailey zur Toilette und ich begebe mich an die Theke, um die dritte Runde zu holen.

Oder schon die vierte? Ich habe den Überblick verloren.

»Ain’t No Rest for the Wicked« von Cage the Elephant dröhnt aus den Lautsprechern, und ich summe mit, denn ich liebe das Lied. Dann kommt »Edge of Seventeen« von Stevie Nicks, und ich kann mich nicht mehr zusammenreißen.

Dirk stellt unsere Getränke auf den Tresen, und ich könnte schwören, dass er die Augenbraue hebt, als ich ihn anstrahle. Aus dem Augenwinkel sehe ich zwei große, breitschultrige Männer hereinkommen, dann muss ich aufpassen, dass ich unsere Getränke auf dem Weg zum Tisch nicht verschütte. Als ich mich endlich setze und zur Theke hinüberschaue, haben mir die Neuankömmlinge den Rücken zugekehrt.

Der rechte hat zerzauste braune Haare und trägt eine verblichene Jeans mit einem grauen T-Shirt. Er ist etwas größer und breiter als sein Freund mit den dunkelblonden Haaren. Der trägt eine schwarze Hose mit Wildlederboots und ein kariertes Hemd, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Gerade legt er dem anderen die Hand auf die Schulter.

»Wren?«

Ein Mann steht an unserem Tisch.

Mit etwas Verspätung macht es bei mir Klick. »Casey!« Ich springe auf.

Natürlich kenne ich Baileys Mann von Fotos, aber seine glatten schwarzen Haare waren sonst länger, außerdem hatte er einen Schnurrbart.

»Wie schön, dass ich dich endlich kennenlerne!«, ruft mir Casey ins Ohr und drückt mich fest an sich.

»Ja, genau!«

»Case!« Bailey kommt zurück und schlingt die Arme um ihren Mann.

Er ist höchstens drei Zentimeter größer als sie.

Lachend klopft er ihr mit rosigen Wangen auf den Rücken. Sie lässt ihn los und sinkt auf ihren Stuhl. Deutlich nüchterner zieht Casey einen Stuhl hervor.

»Willst du was trinken, Casey? Soll ich dir was holen?« Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie betrunken ich bin, und versage kläglich.

»Nein, nein, ich gehe schon selbst.« Er schiebt den Stuhl nach hinten und hält inne. »Alles in Ordnung?«

»Absolut!« Bailey hebt ihr volles Glas an, um gegen meins zu stoßen. Casey steht auf.

»Ich mache einen unmöglichen Eindruck auf deinen frisch angetrauten Ehemann«, flüstere ich lauter als beabsichtigt.

»Überhaupt nicht! Er wird dich mögen. Quatsch, er mag dich längst. Du bist mit mir verwandt. Und er liebt mich. Sehr, sehr, sehr.«

»Das merkt man.«

»Und ich liebe ihn.« Bailey betont jedes einzelne Wort.

»Er scheint auch sehr liebenswert zu sein«, sage ich.

»Du hast ihn ja gerade erst kennengelernt!« Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und sieht mich vorwurfsvoll an. Dann werden ihre Gesichtszüge wieder weich, und sie lächelt weise. »Aber du hast recht. Er ist absolut liebenswert.«

»Freut mich zu hören«, sagt Casey und setzt sich wieder zu uns.

Bailey und ich sehen ihn staunend an.

»Wie hast du so schnell was zu trinken bekommen?«, fragt meine Halbschwester ihren Mann, der einen Schluck von seinem Bier nimmt.

»Dirk hatte es schon für mich auf die Theke gestellt«, erwidert Casey und macht ein schmatzendes Geräusch.

»Aber Dirk ist ein alter Griesgram.« Bailey versteht es immer noch nicht.

Schmunzelnd schüttelt Casey den Kopf. »Ach, er ist ganz in Ordnung. Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten. In diesem Laden war ich das erste Mal so richtig besoffen. Dirk hat mich damals nach Hause gefahren, damit ich nicht im Graben lande.«

»Wieso habe ich die Geschichte noch nie gehört?«, fragt Bailey stirnrunzelnd.

»Keine Ahnung.« Casey zuckt mit den Schultern.

»Ich dachte, du hasst diesen Laden.«

»Ich hasse ihn nicht, ich habe bloß keinen Bock, jedes zweite Wochenende hier abzuhängen.«

»Alles ist besser als der Golfclub«, sagt Bailey mit monotoner Stimme.

Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her. Meine Halbschwester scheint sich zu erinnern, dass ich auch noch da bin, und strahlt mich an.

»Egal«, ruft sie. »Wren mag es hier, stimmt’s, Wren?«

»Doch, auf jeden Fall. Die Musik ist toll.«

Die beiden Männer an der Theke haben sich zum Billardtisch durchgekämpft. Bailey bemerkt meinen Blick und schaut sich über die Schulter nach den beiden um. Dann grinst sie mich mit hochgezogener Augenbraue an.

»Was?«, sage ich.

»Was meinst du mit was?«

»Was meinst du mit was meinst du mit was?«

Sie lacht. »Wie bekommst du das raus, ohne dich zu verhaspeln?«

»Ich hatte sechs Jahre mehr Zeit, um das Sprechen unter Alkoholeinfluss zu perfektionieren. «

»Um das Sprechen unter Alkoholeinfluss zu perfektionieren«, wiederholt Bailey mit einem hochnäsigen englischen Akzent. Ich weiß nicht, ob das Lispeln Absicht ist, aber es klingt zum Piepen.

Wir kichern, Casey sieht uns fragend an.

»Tut mir leid, Casey«, sage ich, als wir uns mehr oder weniger beruhigt haben. »Du hast einiges aufzuholen. Am besten bestellst du einen Tequila oder so.«

»Ich dachte, ich bringe euch nach Hause. Dein Auto steht auf dem Parkplatz, oder?«, fragt er Bailey.

»Nein, Case!«, entgegnet Bailey. »Bleib noch hier. Wir können zu Fuß gehen!«

»Komm schon«, versuche ich ihn zu überreden. »Trink noch was mit uns! Das ist seit Monaten der schönste Abend für mich.«

»Ah!« Bailey freut sich über meine Aussage.

»Wirklich.«

Sie grinst in ihr Glas und hat offensichtlich keine Ahnung davon, wie schlecht es mir in letzter Zeit wirklich ging. Ich wollte nicht mal vor die Tür gehen.

Bailey hat sich nicht nach Scott erkundigt. Wir haben über die Arbeit, über unsere Eltern und unverfängliche Themen wie Musik und Filme gesprochen, aber meinen ehemaligen Verlobten haben wir bislang außen vor gelassen.

Wahrscheinlich ist das gut so. Ich möchte heute Abend eh nicht über Scott nachdenken, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn bei meiner Halbschwester überhaupt zum Thema machen will. Zwischen Bailey und Casey läuft es offenbar gut; ich habe keine Lust, den beiden die Stimmung zu verderben.

Mittlerweile sind mehr Frauen und jüngere Leute im Laden, unter anderem ein paar Collegetypen in pastellfarbenen Poloshirts, dennoch fallen die Männer am Billardtisch ins Auge. Der größere der beiden schaut in unsere Richtung. Er sieht auf verwegene Art gut aus, was ich wohl noch nie über jemanden gesagt habe, aber sonderbarerweise passt es. Er ist stark gebräunt, hat eine breite Stirn und einen kantigen Kiefer, den man unter seinen dicken dunklen Bartstoppeln nur erahnen kann. Eine Mischung aus Fotomodell und Conan.

Sein Freund mit den schmutzig blonden Haaren und dem gelb-schwarz karierten Hemd kehrt uns weiterhin den Rücken zu.

Bailey schiebt den Kopf nah an mich heran und bewegt ihn wackelnd von links nach rechts wie in »Walk Like an Egyptian«.

»Erde an Wren!« Sie schaut sich über die Schulter um und grinst mich dann an.

»Sorry«, entschuldige ich mich und greife nach meinem Glas.

»Da ist aber jemand ganz schön abgelenkt«, flötet sie. »Oder sucht vielmehr nach einer Ablenkung?«

Beinahe hätte ich mich verschluckt.

»Das ist Jonas, oder?« Nachdrücklich blickt Bailey zu dem gut aussehenden Conan hinüber, dann zu ihrem Mann, der bestätigend nickt. »Falls du wirklich Ablenkung suchst, ist er genau der Richtige«, fügt sie hinzu.

»Bailey!«, rügt Casey seine Frau liebevoll.

»Ach, komm!« Sie gibt ihm einen Klaps auf den Arm. »Als wir ihn hier das letzte Mal gesehen haben, hast du mir erzählt, er hätte mit fast der Hälfte der Frauen hier was gehabt.«

»Das ist übertrieben«, erwidert Casey. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Schwester Lust hat, eine weitere Kerbe an seinem Bettpfosten zu sein.« Er sieht mich erwartungsvoll an.

»Im Moment möchte ich bei niemandem eine Kerbe am Bettpfosten sein, vielen Dank auch.«

Ich könnte nicht mal sagen, ob ich auf ihn stehe.

Wenn ich nüchtern wäre, wüsste ich es.

»Wer ist der andere?«, fragt Bailey ihren Mann.

»Hör auf, die ganze Zeit rüberzustarren!«, mahnt er.

Bailey grinst mich an, dreht sich aber wieder uns zu. Sie versperrt mir teilweise die Sicht, so dass ich an ihr vorbeischielen kann, ohne dass es auffällt.

»Das ist Anders«, gibt Casey zurück. »Sein Bruder.«

»Case kennt jeden in diesem Ort«, raunt Bailey mir zu.

»Aber nicht jeden persönlich«, korrigiert Casey sie. »Die beiden da kenne ich nicht gut genug, um mit ihnen zu sprechen. Anders war auf der Schule ein Jahr über mir. Jonas ist noch zwei Jahre älter.«

Dementsprechend müssen sie fünfunddreißig und siebenunddreißig Jahre alt sein.

»Kommen sie von hier?«, will ich wissen. »Die Namen klingen irgendwie skandinavisch.«

»Die ganze Familie hat schwedische Namen, seit Generationen. Sie nehmen ihre Herkunft sehr ernst. Die Farm der Fredricksons ist schon seit rund zweihundert Jahren in Familienbesitz.« In Caseys Stimme schwingt eine gewisse Bewunderung mit.

»Sind sie Farmer?«, frage ich.

»Jonas ja«, antwortet Casey. »Die Eltern auch. Anders wohnt in Indy.« Das ist der Spitzname von Indianapolis. »Hab gehört, er arbeitet für einen IndyCar-Rennstall, echt cool.«

Das ist wirklich was Besonderes. Dad und Sheryl waren mal mit Bailey und mir beim Indy 500, einem 500-Meilen-Rennen auf einer oval angelegten Rennstrecke. Die Veranstaltung ist angeblich das »größte Spektakel des Rennsports« und gehört mit dem Großen Preis von Monaco und dem 24-Stunden-Rennen von Le Mans zu der Triple Crown im Motorsport. Als Dad erzählte, er hätte Eintrittskarten für Indy 500 gekauft, dachte ich, das sei langweilig. Aber als ich dann vor Ort war, riss mich die Aufregung regelrecht mit.

»Ich hab ihn lange nicht gesehen«, fährt Casey fort. »Hab nur gehört, dass er vor ein paar Jahren seine Frau verloren hat.«

»Was ist mit ihr passiert?«, fragt Bailey.

»Ein Autounfall, meine ich«, erwidert Casey.

In dem Moment geht Anders hinten um den Billardtisch herum und bleibt stehen, gut sichtbar für mich.

Ich halte die Luft an.

Im Gegensatz zu seinem Bruder hat er nichts von Conan an sich. Er ist glatt rasiert, hat einen goldbraunen Teint, seine Augenbrauen sind eher schmal. Sein schwarz-gelb kariertes Hemd trägt er offen über einem verblassten schwarzen T-Shirt. Als er sich vorbeugt, um den nächsten Stoß vorzubereiten, kommt mir der Ausdruck »lässige Coolness« in den Sinn. Die dunkelblonden Haare fallen ihm in Strähnen in die Augen, doch er streicht sie nicht zur Seite, bevor er die Kugel spielt. Es klackt, und mit einem Plumps verschwindet eine andere in der Tasche. Dann schaut er hoch, und sein Blick trifft mich.

Als er sich langsam aufrichtet, stockt mir der Atem. Unsere Blicke versenken sich quer durch den überfüllten Raum ineinander. Mein Herz fängt an zu flattern. Die Sekunden vergehen, das Flattern wird zu einem lauten Klopfen im Brustkorb. Gebannt sehe ich ihn an, seine Augen werden immer dunkler. Dann runzelt er die Stirn, fährt sich durch die Haare und bricht den Blickkontakt ab.

Blut schießt mir ins Gesicht. Ich greife zum Glas. Es fühlt sich an, als würde mein Puls sich selbstständig machen. Zum Glück spricht Bailey gerade mit Casey und merkt nicht, wie schwer ich atme.

Anders schaut nicht noch mal in meine Richtung, zumindest merke ich es nicht. Immer wieder wandert meine Aufmerksamkeit zu diesem Mann hinüber, angelockt von einer unerklärlichen Anziehungskraft, der ich mich nicht entziehen kann.

Schließlich kann ich mir nur helfen, indem ich mich so umsetze, dass Bailey mir komplett den Blick versperrt.

3

»Das ist doch wirklich lächerlich! Dad und Sheryl wohnen da vorne!«, rufe ich und weise über den Fluss. »Ihr könnt ruhig nach Hause gehen.«

Bailey und ihr Mann haben mich bis zur Brücke gebracht, hätten aber schon vor ein paar Minuten umdrehen können.

»In Ordnung«, sagt meine Schwester schließlich, springt auf mich zu und nimmt mich so heftig in die Arme, dass ich rückwärtstaumele und fast hinfalle. »Ich komme morgen vorbei«, verspricht sie. »Dann können wir unseren Kater gemeinsam auskurieren.«

»Du musst morgen arbeiten«, erinnert Casey seine Frau. Er schwankt bedenklich.

»Erst ab Mittag«, gibt Bailey zurück. »Wir sehen uns morgen früh«, sagt sie zu mir.

»Abgemacht.« Ich grinse sie an und freue mich schon.

Es ist elf Uhr abends, dementsprechend vier Uhr morgens in England, dennoch fühle ich mich sonderbar wach und beschwingt. Ich höre das rauschende Wasser unter der Brücke, das Scharren meiner Stiefeletten auf dem Asphalt und das eine oder andere Auto in der Ferne.

So viel Spaß ich heute Abend mit meiner Halbschwester und ihrem Mann auch hatte, bin ich doch irgendwie froh, das letzte Stück des Wegs allein zurückzulegen. Es ist schön, eine Weile mit meinen Gedanken allein zu sein.

Als ich die letzte Straßenlaterne hinter mir lasse, beginnt der Nachthimmel zu leuchten. Der Vollmond scheint wie eine Taschenlampe, nicht eine Wolke nimmt den Sternen ihren Glanz. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, und als ich den Blick vom Himmel über das Feld vor mir schweifen lasse, halte ich vor Staunen die Luft an. Im kniehohen Getreide schweben kleine Lichter, die blinken und funkeln wie Feenstaub.

Glühwürmchen. Oder Leuchtkäfer, wie Sheryl sie nennt.

Bei früheren Aufenthalten in Indiana habe ich schon welche gesehen, aber noch nie so viele an einem Ort. Der Anblick ist geradezu magisch.

Plötzlich verspüre ich den Wunsch, mich mitten hinein zu stellen. Direkt vor mir führen zwei schmale Spuren ins Feld, plattgewalzt von Traktorreifen und gerade breit genug für einen Menschen.

Eine leichte Brise weht mir die verschwitzten Haare aus dem Nacken. Der Wind bringt das Getreide zum Flüstern.

Ohne groß zu überlegen, folge ich den beiden Spuren und trete auf das Feld. Der Boden unter meinen Stiefeln ist trocken und hart, mit leichtem Gefälle. Ich weiß nicht, wie lange ich laufe – zehn, zwanzig Minuten –, die ganze Zeit mit einem Lächeln im Gesicht. Die Glühwürmchen, die frische Luft und die Dunkelheit, das Sternenlicht und der Mond – das alles hypnotisiert mich. Dieses Gefühl von Freiheit …

Jetzt bin ich wirklich frei. Frei und ungebunden. Zum ersten Mal seit der Trennung macht mir die Vorstellung, allein zu sein, keine Angst mehr. Ich bin zufrieden, fast wieder wie früher. Freude wallt in mir auf.

Hinter dem Feld gelange ich auf einen langen Streifen frisch gemähten Grases, dessen Duft sich mit etwas noch Süßerem vermischt. Vor mir erstreckt sich ein Maisfeld, die Blüten – Fahnen genannt – zieren die drei Meter hohen Stängel vor dem mondbeschienenen Himmel. Ich gehe weiter, entferne mich von dem kniehohen Getreide mit den schimmernden Glühwürmchen und finde mich schnell in einem Wald aus Maisstängeln wieder. Nach wenigen Minuten bleibe ich stehen.

Was mache ich hier? Ich könnte mich verlaufen. Mit einem Anflug von Panik kehre ich um und gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin, bin mir aber nicht sicher, dass es wirklich die richtige Richtung ist.

Das Brummen eines sehr lauten Moskitos lässt mich erstarren, bis ich irgendwann merke, dass es sich um ein Motorrad handelt. Ich bin mir sicher, dass sich die Stadt hinter der Anhöhe befindet, doch das Geräusch kommt aus der anderen Richtung und wird immer lauter.

Ich gehe dem Brummen entgegen und springe in eben dem Moment aus dem Maisfeld, als ein Lichtstrahl auf den Grasstreifen daneben fällt. Schnell hechte ich zurück und drücke mich zwischen die Stängel, doch zu spät: Das Licht streift mein Gesicht, ein Mann schreit auf, der Motor gibt ein verzweifeltes Kreischen von sich und erstirbt.

Auf dem Boden liegt ein dunkler Umriss. Der Scheinwerfer des Motorrads blendet mich, so dass ich nicht viel erkennen kann.

»Fuck! Was soll das?«, ruft der Mann mit amerikanischem Akzent. Er stemmt das Motorrad hoch und steht auf.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

Ich wäre besser verschwunden, als ich noch konnte. Der Typ könnte irre oder ein Mörder sein, doch ich bin zu betrunken, um Angst zu haben.

»Was machst du hier draußen?«, will er wissen. »Hast du dich verlaufen?«

»Nein«, erwidere ich abwehrend. »Und was hast du hier zu suchen?« Wer fährt zu dieser Uhrzeit mit einem Motorrad durch die Felder?

»Das geht dich gar nichts an.«

»Und was ich hier tue, hat dich auch nicht zu interessieren«, gebe ich zurück. Seine Stimme macht mich seltsam nervös.

Sie ist tief, aber nicht zu dunkel. Sie hat eine gewisse Schwere, die mich an Honig erinnert.

»Du bist auf einem fremden Grundstück, von daher geht mich das schon was an.«

Oh. Meine wirren Gedanken verhakeln sich ineinander.

»Tja, ich verschwinde ja jetzt, also alles gut.« Entschlossen schlage ich den Weg ein, auf dem ich meiner Meinung nach hergekommen bin.

»Wo willst du hin?«, fragt der Motorradfahrer genervt.

Meine Augen müssen sich an die Dunkelheit gewöhnen – ich sehe immer noch zwei helle Flecken.

»Wenn du in die Stadt willst, musst du hoch zur Straße und dann nach links«, ruft er mir nach.

Leicht schwankend drehe ich mich um. »Wo hoch?«

»Da.«

Die große, dunkle Gestalt vor dem mondbeschienenen Himmel streckt einen langen Arm aus und zeigt auf den Grasstreifen.

»Mittendurch ist doch viel schneller«, gebe ich zurück. Der Mann lässt den Arm sinken. Er hat unglaublich breite Schultern, fällt mir auf.

Wenn ich doch nur das Gesicht sehen könnte – wer ist dieser Typ?

»Falls du unbedingt wie ein Elefant die Sojabohnen kaputt trampeln willst …«

Das sind Sojabohnen? Die wachsen hier? Moment mal, das war gerade ganz schön frech!

»Ich trampele nichts kaputt, hier ist schließlich ein Weg!«

»Das ist kein Weg für Spaziergänger, das sind Spurrillen vom Traktor.«

»Ist doch egal! Komm mal runter von deinem hohen Ross! Beziehungsweise vom Motorrad. Oder was das sein soll. Na ja, du bist ja schon freiwillig runtergestiegen.« Ein betrunkenes Kichern entschlüpft mir bei dem Gedanken daran, wie er mit dem Motorrad umgekippt ist. Obwohl es nicht lustig ist …

Doch, war schon komisch.

»Du bist betrunken.«

»Nur ein bisschen.«

»Das war keine Frage.«

»Ich werde von Minute zu Minute nüchterner. Nüchternerer?« Ich erwarte gar keine Antwort von ihm. »Gibt es das Wort überhaupt?« Ich gehe an ihm vorbei.

»O Mann«, stöhnt er. »Wo musst du hin?«

»Da hoch und dann links«, erwidere ich. »Wie das lebendige Navigationsgerät hier eben gesagt hat.«

»Nein, ich meinte, wo wohnst du? So, wie du sprichst, kommst du von ziemlich weit her.«

»Da drüben wohnt mein Vater.« Ich deute über das Feld. Der Scheinwerfer seines Motorrads leuchtet auf den Grasstreifen.

»Da wohnt mein Vater, deswegen bezweifele ich das.«

»Dann da.« Ich weise in eine andere Richtung.

»Du bist Ralphs Tochter? Ja, logisch! Meine Mutter hat erzählt, dass seine Tochter aus England kommt. Das bist du?«

»Das bin ich.«

»Tja, dann ist es schneller, wenn du hier runtergehst und rechts den Feldweg nimmst.«

Ich seufze theatralisch, drehe ab und stöhne entnervt, als mich sein Scheinwerferlicht wieder blendet.

»Du brauchst mir nicht hinterherzufahren«, sage ich, als mir klarwird dass er genau das vorhat. »Lass dich von mir nicht aufhalten. Du wolltest doch irgendwohin.«

»Dass du dir den Knöchel brichst, ist das Letzte, was ich gebrauchen kann. Meine Mutter würde mich umbringen.«

»Du scheinst mir ein bisschen zu alt zu sein, um dir Sorgen darüber zu machen, was deine Mutter denkt«, bemerke ich trocken.

»Niemand ist zu alt, um sich Sorgen darüber zu machen, was seine Mutter denkt.«

»Dann ist das also dein Land hier? Was bist du, Farmer?«

»Nein, mein Bruder ist der Farmer.«

Unvermittelt bleibe ich stehen.

»Pass doch auf!«, ruft er und fährt fast in mich hinein.

Ich schnelle herum und bin wieder geblendet. »Verdammt noch mal!«, rufe ich und schirme meine Augen ab. »Bei Mondlicht sieht man deutlich besser!«

Der Mann stößt ein Lachen aus, ich drehe mich ab. Jetzt wird mir klar, mit wem ich spreche. Mein Herz schlägt schneller.

»Du bist Anders, stimmt’s?« Bevor er antworten kann, füge ich hinzu: »Und Jonas ist dein Bruder?«

»Ja«, erwidert er nach leichtem Zögern, wahrscheinlich erstaunt, dass ich das weiß.

Ich erinnere mich an unseren langen Blick in der Bar, und auf einmal bin ich trotz des Alkohols, der mir eigentlich die Hemmungen nehmen müsste, unglaublich schüchtern.

»Verrätst du mir auch, wie du heißt?«

»Wren.«

Mir fällt wieder ein, dass er als Erster den Blick abwandte, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht wieder zu mir hinübergeschaut hat, nicht mal, als er ging. Ich schäme mich zuzugeben, dass ich darauf geachtet habe. Denn seit wir uns so tief in die Augen schauten, spüre ich eine Sehnsucht, die ich nicht erklären kann.

Ich wappne mich für eine Abfuhr.

»Kannst du vielleicht mal aufhören, mir hinterherzufahren?«

»Ich will nur nicht, dass du dich verirrst.«

Ich lache höhnisch. »Ich verlaufe mich nicht. Ich bin Architektin. Ich habe ein hervorragendes Orientierungsvermögen.«

Er lacht leise, ein Geräusch, das mir unter die Haut geht. »Ist das so?« Nach einer Weile atmet er tief durch. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«

Ich muss laut lachen. »Das soll wohl ein Witz sein! Nein, danke. Ich habe gesehen, wie du auf dem Teil fährst.«

Auf gar keinen Fall spiele ich für einen Fremden das hilflose Frauchen.

»Ich hab mich nur auf die Schnauze gelegt, weil du wie ein Gespenst aus dem Mais gesprungen bist«, fährt er mich an.

»Trotzdem, das riskiere ich nicht.«

»Stell dich nicht so an: Steig auf!«

»Auf gar keinen Fall! Lieber gehe ich zu Fuß, und ich verspreche auch, dass ich nicht noch mal die Sojabohnen kaputt trample wie ein dicker, fetter Elefant.«

Wichser.

»Hier rechts ab«, sagt er, als wir auf den Feldweg stoßen. Sein Motorradscheinwerfer schwenkt über ein großes rotes Gebäude.

»Ich weiß.«

»Natürlich. Du bist ja Architektin und hast ein hervorragendes Orientierungsvermögen.«

Ich werfe ihm einen vielsagenden Blick zu.

Es nervt mich total, dass ich sein Gesicht nicht erkennen kann.

»Und, wie lange bleibst du hier?«, fragt er beiläufig, während er sein Motorrad neben mir herschiebt.

»Wie, machen wir jetzt Smalltalk, oder was?«, frage ich.

»Wir sind schließlich keine Tiere«, gibt er zurück.

»Nein, aber du wirkst auch nicht gerade so, als würdest du gerne Smalltalk machen.«

»Eine interessante Einschätzung, wenn man bedenkt, dass du mich gerade erst kennengelernt hast.«

»Also magst du Smalltalk?«

»Nein, finde ich furchtbar, aber ich habe dich ja nur gefragt, wie lange du hier bleibst, nicht nach deiner Lieblingsfarbe oder ob du Haustiere hast. Mensch, du bist echt eine harte Nuss.«

Ich grinse vor mich hin. »Zwei Wochen, schwarz und nicht mehr, aber ich hatte mal eine Katze namens Zaha.«

»Nach Zaha Hadid?«

»Ja.«

Das ist meine Lieblingsarchitektin.

»Ich bin eher ein Hundemensch.«

»Dann kannst du nicht mein Freund sein«, sage ich voller Ernst.

Das ist ein Witz. Ich liebe Hunde.

»Wir können schon deshalb keine Freunde sein, weil du dafür gesorgt hast, dass ich mich mit meinem Motorrad hingelegt habe. Und Schwarz ist keine Farbe.«

»Ah, jetzt streiten wir also über Farben, oder was?«

»Wir streiten nicht. Das ist eine Tatsache.«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine absolute Nervensäge bist? Danke, keine Antwort nötig«, sage ich in dem Moment, als er mit »Ja« antwortet.

Er lacht wieder, und mir wird ganz mulmig.

»Wenn du mich loswerden willst, steig auf. Ich bringe dich in Nullkommanichts nach Hause.« Er klingt belustigt.

»Nie und nimmer.«

Ehe ich mich versehe, sind wir an der Wetherill Farm angekommen.