Ich in deinen Augen - Paige Toon - E-Book
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Ich in deinen Augen E-Book

Paige Toon

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Beschreibung

Ein tiefer Blick in seine Augen, und es ist um sie geschehen … Doch ist Hannah auch bereit für die Liebe? Sonny ist attraktiv, selbstbewusst – und nur den Sommer über in der Stadt. Für Hannah die perfekte Gelegenheit, denn sie lässt sich nicht auf feste Beziehungen ein. Genauso wenig wie Sonny. Doch je besser sie sich kennenlernen, desto mehr fühlen sie sich zueinander hingezogen. Dabei haben beide mit Dämonen der Vergangenheit zu kämpfen. Hat ihre Liebe dennoch eine Chance? »So einzigartig und berührend. Ich liebe jedes entzückende Wort daran!« Josie Silver Noch mehr glückliche Lesestunden mit Paige Toon: Lucy in the Sky Du bist mein Stern Einmal rund ums Glück Immer wieder du Diesmal für immer Ohne dich fehlt mir was Sommer für immer Endlich dein Wer, wenn nicht du? Nur in dich verliebt Alles Liebe zu Weihnachten Dein Platz in meinem Herzen Im Herzen so nah Du schenkst mir die Welt Am Ende gibt es nur uns Ich in deinen Augen

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Seitenzahl: 466

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Paige Toon

Ich in deinen Augen

 

Übersetzt von Heidi Lichtblau

 

Über dieses Buch

 

 

Als Hannah Sonny zum ersten Mal sieht, ist es sofort um sie geschehen. Doch sie geht keine festen Beziehungen ein – niemals. Stattdessen freunden sich die beiden an, und nach und nach entsteht etwas, das tiefer ist als jede oberflächliche Liebesbeziehung. Je besser sie sich kennenlernen, desto gefährdeter sind die schmerzhaften Geheimnisse, die beide mit sich herumtragen. Werden sie alles kaputtmachen, oder hat ihre Liebe tatsächlich eine Chance?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Paige Toon ist eine internationale Bestsellerautorin, ihre Bücher haben sich weltweit knapp 2 Millionen Mal verkauft. Sie schreibt dramatische und emotionale Liebesgeschichten mit unvergesslichen Figuren und Settings, die ihre Leserinnen auf einzigartige Reisen mitnehmen. Ihre Liebesromane behandeln oft große Themen, die nachdenklich stimmen, und laden immer zum Träumen ein. Lachend und weinend wird man Teil einer neuen Familie. Paige Toon lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Cambridgeshire. Auf TikTok, Instagram und Facebook ist sie unter @paigetoonauthor zu finden.

 

Heidi Lichtblau studierte Anglistik, Amerikanistik und Geschichte an der LMU München sowie Literarische Übersetzung aus dem Englischen. Seit 1991 übersetzt sie freiberuflich Belletristik und Sachbücher ins Deutsche. Sie lebt und arbeitet in München.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

1

Ja, hallo …

Ein gutaussehender Typ steht vor unserem Geschäft und telefoniert. Seine Augen sind hinter einer Sonnenbrille verborgen, doch man kann erkennen, dass er die Stirn runzelt.

Als er sich zu unserem Schaufenster umdreht, sehe ich, dass er sein kurzes dunkles Haar oben länger trägt und es im Stil der fünfziger Jahre nach hinten gekämmt hat. Die Sonne hat es dort zu einem Karamellton aufgehellt.

Er beendet das Gespräch und steckt sein Handy in die Tasche. Kurz verschwindet er aus meinem Blickfeld und erscheint gleich darauf vor der Ladentür.

»Guten Morgen!«, begrüßt Abbey ihn überschwänglich, sobald er hereingekommen ist. Er nimmt seine Sonnenbrille ab und klappt sie zusammen. Automatisch setzen wir uns beide aufrechter hin. »Was können wir für Sie tun?«

»Ich habe um Viertel vor zwölf einen Termin.«

Während Abbey das auf ihrem Monitor checkt, sieht er mit einem höflichen Lächeln zu mir.

»Hallo!« Ich streiche mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr.

»Hi«, erwidert er und lässt seine Sonnenbrille zwischen Daumen- und Zeigefingerspitze hin- und herschwingen.

Blaue Augen …

»Sonny Denton?«, fragt Abbey, und lenkt seine Aufmerksamkeit damit wieder auf sich.

»Genau.«

Sonny? Selbst sein Name ist retro.

»Ihr letzter Augentest ist über zwei Jahre her?«

»Muss wohl so sein.«

»Dürfte ich Sie bitten, dieses Formular auszufüllen und Ihre Angaben zu überprüfen?« Sie überreicht ihm ein Klemmbrett mit den entsprechenden Unterlagen und fügt mit einem Kopfnicken auf mich hinzu: »Hannah, unsere Augenoptikerin, kümmert sich gleich um Sie.«

Ich deute auf den schwarzen Lederstuhl im Erkerfenster gegenüber meinem Schreibtisch. Während er zu mir kommt und Platz nimmt, grinsen Abbey und ich uns verstohlen an.

Danach riskiere ich lieber keinen Blick mehr zu ihr. Anfang der Woche kam ein ähnlich heißer Kunde herein, und sobald er sich wegdrehte, leckte sie sich verzückt die Lippen. Doch genau in diesem Moment wollte er etwas fragen und wandte sich um. Um ein Haar hätte ich mich an meinem Tee verschluckt.

Zum Glück bekam unsere Chefin, Umeko, davon nichts mit. Sie ist Optometristin und die Besitzerin des Geschäfts. Sie ist freundlich und klug, stellt aber auch hohe Ansprüche an uns. Ich bin erst seit ein paar Wochen hier und möchte meinen Job auf keinen Fall gleich wieder verlieren – vielen Dank auch!

Dass es junge Leute herzieht, ist keine Seltenheit – Umeko’s ist ein kleines unabhängiges Unternehmen mit einem stylishen, wenn auch etwas hochpreisigen Brillensortiment. Unser Laden befindet sich in Newnham, einem Vorort im Südwesten von Cambridge, und liegt nur einen kurzen Fußmarsch vom Stadtzentrum entfernt. Wie auch die Straßen ringsherum wird unsere Straße von hübschen viktorianischen Reihenhäusern gesäumt. Das Geschäft selbst ist allerdings neben einer Apotheke in einem relativ gewöhnlichen Backsteingebäude untergebracht, das an einer Straßenecke liegt. Gleich gegenüber befindet sich ein netter kleiner Feinkostladen und ein paar Türen weiter ein Friseur. Es ist ein liebenswerter Stadtteil, der zudem nur fünfundzwanzig Gehminuten von Grantchester entfernt liegt, dem Dorf, in dem ich derzeit wohne.

Abbey und ich arbeiten vorwiegend in dem hellen und luftigen Ladenbereich. Abbeys Schreibtisch steht an der Rückwand, meiner auf der rechten Seite, von Abbeys durch den Mittelgang getrennt und mit Blick auf das Erkerfenster. Überall im Raum verteilt befinden sich gläserne Brillenauslagen.

Der Gang dahinter führt zu zwei Beratungsräumen, von denen einer von Umeko in Beschlag genommen wird. Meine Aufgabe besteht darin, mit den Kunden im zweiten Raum Vorabtests vorzunehmen und sie dann für die Hauptberatung an Umeko zu übergeben. Und genau dorthin geht es auch, sobald Sonny sein Formular ausgefüllt hat.

»Fertig?«, frage ich, als er aufsteht.

»Ja.«

Ich nehme ihm das Klemmbrett ab und überfliege es kurz. »Sie sind Fotograf?«

»Ja.«

Er ist groß, aber nicht riesig – ich tippe mal auf knapp über ein Meter achtzig – jedenfalls ist er einen guten Kopf größer als ich. Er trägt ein Jeanshemd über einem weißen T-Shirt, dazu eine schmal geschnittene, dunkelgraue Chinohose.

»Wie cool!« Mir springen zwei weitere wichtige Details ins Auge: Zum einen, dass er im höchstens zehn Autominuten entfernten Barton wohnt, und zum anderen, dass er seinem Geburtsdatum zufolge zweiunddreißig ist. »Wir müssen noch ein paar Tests machen, dann bringe ich Sie zu Umeko. Sie kennen den Ablauf von Ihrem letzten Besuch hier ja sicher noch.«

Ich meide Abbeys Blick – bloß kein Risiko eingehen! – und führe ihn den Gang entlang zu dem Raum auf der rechten Seite. Als er an mir vorbeigeht, nehme ich einen Hauch seines würzigen Aftershaves wahr.

»Tragen Sie heute Kontaktlinsen?«

»Ja, Monatslinsen. Ich habe eine Lösung dabei.«

»Super. Könnten Sie die jetzt rausnehmen?«

Seine Augen sind überraschend blau. Azurblau, würde ich sagen. Durch seine dunklen Wimpern kommen sie noch besser zur Geltung.

»Nehmen Sie bitte Platz und legen Ihr Kinn auf die Stütze«, bitte ich ihn, als er so weit ist.

Nachdem ich vom Hintergrund beider Augen Aufnahmen gemacht habe, wechseln wir an ein weiteres Gerät, um seine Sehstärke zu erfassen.

»Arbeiten Sie schon lange hier?«, erkundigt er sich.

»Nein, erst seit ein paar Wochen.«

»Und was ist aus Mr. Grumpy geworden?«

Sonny lehnt sich grinsend in seinem Stuhl zurück und schaukelt leicht hin und her.

»Falls Sie Bernard meinen – und davon will ich jetzt mal nicht ausgehen –, der ist nach Schottland gezogen, um näher bei seinen kranken Eltern zu sein.«

Er schmunzelt. »Kann nicht behaupten, dass ich seinen Mundgeruch vermissen werde.«

»Warten Sie mal ab, bis wir uns nähergekommen sind!«

Nein, nein, nein.

Nein, nein, nein, nein, nein!

Das ist mir jetzt doch nicht wirklich gerade rausgerutscht?

Doch, seiner Miene nach zu urteilen, schon. Er reißt die Augen auf, und sein Grinsen spricht Bände.

»Äh, das habe ich nicht so gemeint, wie es geklungen hat!«

Er lacht schallend, und obwohl mir das Ganze peinlich ist, spüre ich beim Klang seines Lachens ein Kribbeln.

»Ein letzter Test«, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Der mit den Videospielen?« Hoffnungsvoll richtet er sich auf.

»Sie meinen den Gesichtsfeldtest?«

»Ja, bei dem man jedes Mal auf einen Knopf drücken muss, wenn am Rand eine wackelige Linie erscheint.«

»Unsere männlichen Kunden lieben das!«, erwidere ich lächelnd. »Aber ich muss Sie enttäuschen, es geht um den Test zur Messung des Augeninnendrucks.« Mit ihm lässt sich das Risiko berechnen, ein Glaukom zu entwickeln. Ich stelle das Gerät auf die richtige Höhe ein. »Wir fangen mit der rechten Seite an. Bitte mit weit geöffneten Augen immer geradeaus schauen.«

Bei jedem der drei Luftstöße, die ich ihm ins Auge blase, zuckt er zusammen. Das Ganze tut zwar nicht weh, besonders angenehm ist es jedoch auch nicht.

»So, das wär’s erst mal von meiner Seite.« Ich sammele die Ausdrucke mit den Netzhautbildern und Testergebnissen zusammen. »Ich sehe mal nach, ob Umeko schon Zeit für Sie hat. Macht es Ihnen etwas aus, hier einen Augenblick zu warten?«

»Kein Problem.«

Umeko sitzt an ihrem Computer und lässt die Finger über die Tasten fliegen.

»Sonny Denton ist hier, um Sie zu sehen.«

»Ah, Sonny!« Mit einem Lächeln nimmt sie mir die Unterlagen ab.

»Ist er schon lange Kunde bei Ihnen?« Ich versuche, nicht allzu interessiert zu klingen.

»Ja, schon seit seiner Teenagerzeit.« Sie überfliegt die Informationen. »Sein Vater macht unsere Buchhaltung«, setzt sie hinzu.

Seit fast vierzig Jahren lebt Umeko nun schon in Großbritannien, konnte ihren japanischen Akzent aber nie ganz ablegen. Sie ist zwar bereits Anfang sechzig, doch mit ihrer glatten, faltenlosen Haut und kaum einer grauen Strähne im nachtschwarzen Haar würde man sie gute zehn Jahre jünger schätzen. Für die Arbeit frisiert sie sich die Haare immer zu einem eleganten Knoten, aber wenn sie es zu privaten Anlässen offen trägt, hängt es ihr den halben Rücken hinab.

Insofern ähnelt es meinem Haar, nur dass ihres ganz glatt ist, während sich meines wellt: hellbraun und mit natürlichen Strähnchen. Für die Arbeit trage ich es auch hochgesteckt, wobei dann bestenfalls ein unordentlicher Dutt herauskommt.

Nachdem ich noch mitbekommen habe, wie Sonny und Umeko sich wie alte Freunde begrüßen, gehe ich an meinen Schreibtisch zurück und zwinkere Abbey grinsend zu. Sie schnappt sich eine Zeitschrift und fächelt sich Luft zu, so dass die erdbeerblonden Strähnen, die sich aus ihrem hohen Pferdeschwanz gelöst haben, aus ihrem runden Engelsgesicht fliegen.

»Wie heiß ist der denn?«, raunt sie.

»Pst«, ermahne ich sie, schmunzele dabei aber. »Anscheinend kommt er schon seit Jahren her. Hast du ihn noch nie gesehen?«

»Nein.«

Logisch eigentlich, sie ist ja erst seit zwölf Monaten hier.

Umekos vorherige Praxismanagerin war eine herrische Matrone, die schon mit dreiundfünfzig Jahren in Rente ging. Vorher arbeitete sie Abbey aber noch ein. Abbey hatte dann zunächst Bernard an ihrer Seite, war allerdings auch nicht besonders traurig, als er sich entschloss, zu seinen Eltern zu ziehen. Sie meint, Umeko habe bewusst nach jüngeren Mitarbeiterinnen gesucht – Abbey ist sechsundzwanzig, ich siebenundzwanzig.

Ich mache mich wieder an die Ablage der Formulare des National Health Service, kann mich bei dem Gedanken, dass Sonny demnächst wieder hier auftauchen wird, allerdings nicht so richtig konzentrieren.

Nach einer Viertelstunde sind die beiden fertig.

Umeko begleitet ihn in den Ladenbereich. »Sieh dich in Ruhe um und schau, was dir gefällt!«

»Kann ich Ihnen einen Tee oder Kaffee bringen?«, erkundige ich mich. »Latte? Cappuccino?«

In unserer Küche steht eine schicke Kaffeemaschine.

»Ein Latte wäre toll«, erwidert er.

Während ich den Kaffee zubereite, besprechen Umeko und ich uns kurz. Es ist alles völlig unkompliziert – Sonny trägt meistens Kontaktlinsen, setzt aber lieber eine Brille auf, wenn er – manchmal bis spät in die Nacht – vor dem Bildschirm sitzt, um Fotos zu bearbeiten.

Bei meiner Rückkehr probiert er vor dem Spiegel gerade ein Modell mit einem Metallrahmen auf.

»Die gefällt mir«, meint Abbey, als ich seinen Kaffee auf meinen Schreibtisch stelle.

»Sie ist mir ein bisschen zu hell«, antwortet er. »Und auch ein wenig zu auffällig.«

»Aber ein Metallgestell soll es sein?«, frage ich.

»Schon, aber ich hätte lieber eins in Blaugrau.«

»Dann gehen Sie sich doch mal zu den Kilsgaards.« Ich führe ihn an einen Stand mit mehreren Modellen dieser dänischen Marke.

Er nimmt eine Brille, setzt sie auf und betrachtet sich im Spiegel. »Genau diese Farbe meinte ich.«

»Die steht Ihnen super«, bemerkt Abbey bewundernd.

»Das finde ich auch«, stimme ich zu. »Probieren Sie aber auch mal die hier.« Ich reiche ihm eine weitere. Er soll spüren, dass er sich alles in Ruhe ansehen kann.

Wir ermuntern ihn, auch zu den anderen Ständen zu gehen, doch schließlich entscheidet er sich für das Modell von Kilsgaard, das er als Erstes anprobiert hat.

»Ich muss auf einen Sprung zu meiner Schwester«, meldet sich Abbey zu Wort. Ihre Schwester wohnt in der Nähe und lässt gerade ihr Haus renovieren. Abbey hat versprochen, einen der Handwerker hereinzulassen. »Kann ich Ihnen noch einen Kaffee bringen, bevor ich gehe?«, fragt sie, während Sonny und ich an meinen Schreibtisch zurückkehren.

»Danke, nicht nötig, der hier ist noch warm«, antwortet er und trinkt einen Schluck.

»Möchten Sie die Brille noch mal aufsetzen?«, frage ich, als Abbey gegangen ist, und drehe den kleinen Spiegel auf dem Tisch zu ihm herum. »Sie steht Ihnen wirklich gut«, wiederhole ich. Wobei ihm die meisten, die er anprobiert hat, gut standen. »Darf ich die Passform überprüfen?«

»Gern.«

Er lehnt sich über den schmalen Tisch zu mir herüber. Wow, er riecht phantastisch!

Ich bewege prüfend die Brillenfassung und streife dabei mit den Daumenkuppen ganz leicht seine Wangen.

Seine Mundwinkel wandern nach oben, doch dann presst er hastig die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu unterdrücken.

In dem Versuch, ebenfalls weiterhin ernst zu schauen, beiße ich mir auf die Unterlippe. Seine gute Laune ist ansteckend.

»Sorry«, entschuldigt er sich.

»Schon okay.« Ich fahre mit den Fingern an den Brillenbügeln entlang, um mich zu vergewissern, dass sie ausreichend lang sind und richtig auf den Ohren sitzen.

Wieder zucken seine Lippen.

»Tut mir leid, tut mir leid«, sagt er – hach, wie süß! –, und wir grinsen uns breit an.

»Da fällt es vielen schwer, ernst zu bleiben«, versichere ich ihm und schließe meine Überprüfung ab.

»Bei Bernard ging es mir nie so«, bemerkt er trocken, und mich überrieselt es wohlig.

»Äh, verstehe. Ich muss jetzt jedenfalls ein paar Maße nehmen.« Ich nehme einen Textmarker. »Sehen Sie mich bitte wieder an.«

Er blickt mir direkt in die Augen, und ich markiere die Stellen, an denen die Mitte seiner Pupillen auf die des Brillenglases trifft. Seine Nähe ist mir viel bewusster, als es bei anderen Kunden der Fall wäre. Trotzdem konzentriere ich mich auf meine Aufgabe – der Abgleich muss stimmen!

»Sie haben wirklich ungewöhnliche Augen«, meint er leise, als ich fast fertig bin.

»Ach, wirklich?« Eigentlich weiß ich es. Meine Augen haben eine seltsame, fast goldene Farbe, sind gesprenkelt und grün umrandet.

»Allerdings!« Er sieht mich unverwandt an.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Sie können die Brille jetzt abnehmen.«

Ich weiß, dass er mich beobachtet, während ich mit einem Lineal die Maße seiner Brille nehme und die entsprechenden Informationen in den Computer eintippe, und mein Puls rast. Bis es so weit ist, die Linsenoptionen zu besprechen, hat er sich zum Glück wieder beruhigt.

»Wer stellt die Gläser her?«, möchte Sonny wissen.

»Zeiss.« Das ist eine clevere Frage, aber er ist ja auch Fotograf. »Machen die nicht auch Kameralinsen?«

Er nickt. »Ein paar von meinen sind auch von Zeiss.«

»Was fotografieren Sie denn so?«

»Mode in erster Linie.«

»Und wo? Hier?«

»Nein, überall. In Amsterdam, London, New York. Ich wohne in Amsterdam«, erklärt er und fügt angesichts meines verwirrten Blicks hinzu: »In dem Formular habe ich die Adresse meiner Eltern angegeben.«

»Ah, okay.« Dann ist er also doch nicht von hier. Interessant … »Eine meiner Freundinnen ist vor ein paar Monaten nach Amsterdam gezogen. Diesen Sommer möchte ich sie unbedingt mal besuchen.«

»Kann ich nur empfehlen. Die Stadt eignet sich perfekt für einen Wochenend-Trip.«

»Wann geht’s denn zurück?«

»Morgen in zwei Wochen. Hoffentlich ist die Brille bis dahin fertig?«

Ich werfe einen Blick auf meinen Online-Kalender. »Sie fahren am Samstag, den Fünfundzwanzigsten?«

»Genau.«

»Das müsste klappen. Sollen wir für den Tag vor Ihrer Abreise einen Termin vereinbaren?«

Ich muss ihm die neue Brille anpassen und diverse Korrekturen vornehmen, einfach nur abholen kann er sie also nicht.

»Gern.«

»Um die gleiche Zeit?«

»Perfekt.«

»Nicht, dass ich vorschlagen möchte, anderswo hinzugehen als in dieses großartige Geschäft, aber warum besorgen Sie sich Ihre Brille eigentlich nicht in Amsterdam?«

»Na, ich mag Umeko eben. Und komme schon seit Jahren her. Nicht mal Gammelrachen-Bernie hat mich davon abhalten können.« Er schmunzelt.

Lachend drehe ich den Computerbildschirm zu ihm herum. »Okay, wir kämen dann insgesamt auf …«

Der Preis scheint ihn nicht abzuschrecken.

»Und was machen Sie während Ihres Aufenthalts hier?«, frage ich beiläufig, während er mir seine Kreditkarte gibt. »Urlaub? Oder müssen Sie arbeiten?«

»Die Zeit über Ostern verbringe ich mit der Familie, danach geht’s wieder an die Arbeit.«

»Kommen Sie oft nach Hause?« Ich tippe den Betrag ein.

»Nicht so oft, wie ich sollte.«

Ob er in Amsterdam wohl eine Freundin hat? Einen Ehering trägt er jedenfalls nicht.

»So, dann hätten wir’s.« Lächelnd gebe ich ihm seine Karte zurück. Dabei berühren sich unsere Finger, und ein heißes Prickeln schießt meinen Arm hinauf.

»Danke. Dann sehe ich Sie wohl in zwei Wochen.«

»So wird’s sein, schätze ich.«

Wir grinsen beide, als er zur Tür hinausgeht, und dann wirft er mir vor seinem Verschwinden noch einen letzten Blick über die Schulter zu.

Ich schnuppere an meinen Händen und stelle fest, dass sie von der kurzen Berührung seiner Wangen immer noch etwas nach seinem Aftershave duften. Seltsam, am liebsten würde ich mir nie wieder die Hände waschen! Doch jeden Moment erscheint hier der nächste Kunde, um den ich mich kümmern muss.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen ähnlich tiefen Eindruck hinterlassen wird.

2

Heute ist es so weit!«, erkläre ich laut und grinse meinen Spiegelbildern in dem Dreifachspiegel im Bad zu. Dann schnappe ich mir die Zahnbürste und putze mir die Zähne, kann dabei aber einfach nicht aufhören zu lächeln.

Es ist Freitag, der 24. April. Heute Mittag holt Sonny seine Brille ab.

Hätte ich den Termin doch nur schon für den Vormittag ausgemacht! Ich frisiere mein Haar zu einem Knoten und befestige ihn mit Haarklammern. Dann nehme ich mein Silberarmband vom Waschbeckenrand und lege es mir ums Handgelenk.

Als ich ins Schlafzimmer gehe und entdecke, dass Bertie es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht hat, erlischt mein Lächeln. »Hey, du Frechdachs!«

Ich schnipse mit den Fingern und ernte von der schwarzen Labradorhündin meines Onkels einen traurigen Blick aus ihren braunen Augen.

»Runter da, aber dalli!«

Mit müden Gliedern rappelt sich Bertie widerwillig auf und lässt sich auf den Teppich plumpsen. Ich kraule sie hinter den Ohren, was sie mit einem anerkennenden Schwanzwedeln quittiert. Sie weiß, nun geht es zum Frühstück in die Küche, und verzichtet daher darauf, sich wieder hinzulegen.

Mein Onkel Charles unternimmt bis Ende September eine Kreuzfahrt quer über den ganzen Erdball. Währenddessen passe ich auf sein Cottage auf – und zu meiner Freude auch auf Bertie. Mit ihren zwölf Jahren ist sie schon etwas betagt, Charles ist mit seinen achtzig Jahren jedoch auch nicht mehr der Jüngste. Auf Reisen gehen wollte er immer schon, doch seine Frau konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als mit Hunderten von Fremden auf einem Schiff eingepfercht zu sein. Außerdem litt June an Seekrankheit, war introvertiert und, wie sich herausstellte, leider herzkrank. Daran starb sie vor ein paar Jahren schließlich auch. Doch erst kürzlich konnte sich Charles dazu durchringen, sich seinen lebenslangen Wunsch zu erfüllen, allerdings nur, wenn ich nach England zurückkehren und mich in der Zeit um sein Haus und um Bertie kümmern würde. Dabei musste er mich gar nicht lange überreden. Als sein Anruf kam, war ich gerade in Indien, nachdem ich schon eine ganze Weile in der Weltgeschichte herumgegondelt war. Durch Charles’ Bitte wurde mir klar, wie sehr ich mich darauf freute, wieder nach Hause zu kommen.

Berties Krallen klacken und kratzen auf den roten Bodenfliesen, als sie mir in die gemütliche Küche folgt und sich vor dem stets warmen Aga-Herd zusammenrollt.

Lediglich ein kleines Fenster bietet Blick auf die nahe gelegene Straße und den weißen Lattenzaun davor, der von Junes Rosen gesäumt wird. Die grünen Büsche zeigen sich bereits in den schönsten Farben, von pastelligen Pink- und Gelbtönen bis hin zu leuchtenden Schattierungen in Orange und Kirschrot. Im Juni stehen sie dann endgültig in voller Pracht.

Ich schütte Trockenfutter in Berties Napf, bereite mir Tee und Toast zu und setze mich damit an den Küchentisch. Draußen scheint die Sonne, nur ein paar Wolken sind am blassblauen Himmel zu sehen.

»Perfektes Wetter, um zu Fuß zur Arbeit zu gehen«, sinniere ich, und Bertie klopft begeistert mit dem Schwanz auf den Boden.

Sie weiß, sie darf mitkommen. Robert, Umekos bereits pensionierter Ehemann, kümmert sich tagsüber um sie. Er und Charles haben sich vor vielen, vielenJahren an der Uni kennengelernt und sind gute Freunde. Robert mag Berties Gesellschaft, sie mag seine, und Charles weiß, dass sein altes Mädchen sich nicht einsam zu fühlen braucht. Eine absolute Win-Win-Situation.

Als ich meine alte ausgefranste Jeansjacke über meine marineblaue Arbeitskleidung ziehe, wuselt Bertie mir bereits um die Beine herum, wirft mich vor Freude darüber hinauszukommen, fast um, und ist dabei wieder ganz der vor Entzücken hechelnde Welpe, der sie früher war. Ich nehme ihre rote Leine vom Kleiderhaken, befestige sie an ihrem gleichfarbigen Halsband und öffne die Tür. Als wir aus dem strohgedeckten Vorbau hinaustreten, empfängt uns kühle Frühlingsluft. Da der im Schatten liegende Rasen noch feucht vom Tau ist, bemühe ich mich, nicht vom Gartenweg abzukommen, während Bertie mich zum Tor zerrt.

Ein Wagen biegt in die Einfahrt ein. Es ist Evelyn, die Therapeutin, die sich in den Anbau von Charles’ Haus eingemietet hat. Wir bezeichnen es als »Anbau«, aber eigentlich ist es ein Teil des Wohnzimmers, der abgetrennt wurde, wodurch es jetzt wesentlich kleiner ist. Betreten kann man ihn durch einen privaten Seiteneingang, der von der Kommune bewilligt wurde, bevor man das Haus unter Denkmalschutz gestellt hat.

Ich winke ihr zu, und sie winkt zurück, warmherzig und freundlich wie immer. Sie ist Ende fünfzig und ihr zu einem Bob geschnittenes Haar graumeliert. Als wir uns kennenlernten, war es noch platinblond.

Sie verschwindet seitlich am Cottage vorbei nach hinten zum Parkplatz ihres Wagens.

Bertie und ich machen uns zu einem Spaziergang nach Newnham auf und kommen dabei an zwei Pubs vorbei. Insgesamt gibt es in Grantchester vier, die jeweils nur einen Katzensprung voneinander entfernt liegen. Momentan blickt man durch die Fenster noch in dunkle, leere Räume, und die Tische davor sind feucht und wenig einladend. Doch wenn sich das schöne Wetter wie vorhergesagt tatsächlich übers Wochenende hält, wird das bald ganz anders aussehen.

Das Gras ist zu lang und zu nass, um unten am Fluss entlangzugehen, aber hin und wieder erhasche ich einen Blick auf das in der frühen Morgensonne glitzernde Wasser.

Schließlich lassen wir die grünen Felder hinter uns und erreichen die Wohnstraßen Newnhams. Ich werfe einen Blick nach links, und tatsächlich, da ist sie wieder: die junge Frau aus der Apotheke von nebenan.

Grinsend bleibe ich stehen und warte auf sie.

»So, jetzt reicht’s aber!«, ruft sie beim Näherkommen und lacht. »So oft, wie wir uns über den Weg laufen, wird es Zeit, dass wir uns einander mal vorstellen.«

Diese Woche war es wirklich verrückt. Nicht nur, dass wir uns auf dem Weg zur Arbeit ständig begegnen, wir machen uns auch zur gleichen Zeit wieder auf den Heimweg. Egal, ob ich fünf Minuten zu früh oder zu spät dran bin – sie ist es ebenfalls. Gestern habe ich sogar absichtlich einige Sekunden in der Türöffnung unseres Brillenladens gewartet, bevor ich auf den Bürgersteig getreten bin. Doch genau in diesem Moment tauchte sie neben mir auf. Wir sahen uns nur sprachlos an und prusteten dann los.

»Ich muss noch in den Supermarkt«, sagte sie schließlich und wischte sich eine Lachträne aus den funkelnden grünen Augen.

»Okay, dann bis morgen früh!«, rief ich ihr hinterher und machte mich in die entgegengesetzte Richtung auf.

»Ich heiße Hannah«, erkläre ich ihr jetzt. »Und das ist Bertie.«

»Hallo, Bertie!« Sie beugt sich zu ihr hinunter und krault sie liebevoll. »Und hallo, Hannah!« Sie grinst zu mir auf. »Ich heiße Matilda.«

»Schön, dich endlich mal kennenzulernen!«

Sie dürfte Anfang dreißig sein und hat dunkles schulterlanges Haar. Mit den hohen Wangenknochen und der von ein paar Sommersprossen gesprenkelten Stupsnase erinnert sie mich ein bisschen an eine Elfe.

»Wo wohnst du denn?«, frage ich.

»In der Selwyn Avenue.« Sie richtet sich auf und deutet mit dem Daumen hinter sich. »Und du?«

»In Grantchester.«

»Cool! Wohnst du schon lange dort?« Gemeinsam setzen wir unseren Weg fort.

»Seit ungefähr sechs Wochen. Mein Onkel ist auf Reisen, und ich passe in der Zeit auf diese freche Fellnase hier auf.«

»Ein toller Hund!« Wieder streicht sie Bertie zärtlich über den Kopf. »Einen schwarzen Labrador wollte ich schon immer.«

»Und was hindert dich daran, dir einen zulegen?«

»Mein Freund und ich müssen tagsüber arbeiten. Was machst du in der Zeit mit Bertie?«

Wir unterhalten uns, bis wir unser Gebäude erreichen. Ich erfahre, dass Matilda und ihr Freund über Ostern in Sri Lanka Urlaub gemacht haben, was erklärt, warum wir uns bis vor kurzem nie begegnet sind.

»Wir sehen uns um fünf«, scherze ich und bleibe vor dem Eingang von Robert und Umeko stehen. Die beiden wohnen in der Wohnung direkt über dem Geschäft, die Tür befindet sich auf der rechten Gebäudeseite.

»Oder vielleicht sogar schon zur Mittagszeit!«, erwidert sie mit einem belustigten Augenzwinkern.

Ich lache und klopfe an die Tür. Bis Robert die Treppe heruntergekommen ist, um sie zu öffnen, bin ich in Gedanken schon wieder bei der Frage, was heute wohl sonst noch so passieren wird …

***

Abbey macht sich auf den Weg in die Pause und lässt mich allein im Laden zurück. In wenigen Minuten ist Sonnys Termin, und in meinem Bauch flattern die Schmetterlinge bereits wild durcheinander.

Der Auslöser dafür war diese Bemerkung über meine Augen, dazu dieser letzte Blick, den er mir noch zugeworfen hat. Ich bilde mir das nicht nur ein, er hat sich wirklich für mich interessiert.

Ja, ich weiß, morgen fliegt er nach Amsterdam zurück.

Aber uns bleibt immer noch der heutige Abend …

Ich lächele in mich hinein und mache dann schnell wieder eine ernste Miene. Wer will schon wie eine Irre rüberkommen?

Es ist schon eine Weile her, dass es zwischen mir und einem Mann gefunkt hat, deswegen fiebere ich dem heutigen Nachmittag umso mehr entgegen. Heute Abend werde ich dann in meine langweilige Realität zurückkehren, und mit den Tagträumereien ist wieder Schluss.

Seufzend trommele ich mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Sonny hat in den Niederlanden doch garantiert eine Freundin. Ein hochgewachsenes, umwerfendes Model vermutlich, das er bei einem Fotoshooting kennengelernt hat.

Okay, inzwischen ist er spät dran. Aber er wird kommen, da bin ich mir sicher. Abbey hat ihn gestern angerufen, um den Termin zu bestätigen.

Die Tür geht auf, und mich durchfährt ein Ruck.

Er ist es! Heute trägt er schwarze Jeans und ein armeegrünes T-Shirt.

Als Nächstes fällt mir auf, dass er den Kopf gesenkt hält.

»Hi!«, begrüße ich ihn fröhlich.

»Hey«, murmelt er.

Er richtet den Blick zwar weiterhin auf den Boden, doch ich erkenne, dass er eine Brille trägt.

»Nehmen Sie doch Platz. Ich habe hier Ihre neue Brille für Sie«, erkläre ich freundlich.

Sonny kommt her und zieht sich einen Stuhl heran, weicht meinem Blick aber immer noch aus. Er wirkt wie ausgewechselt. Dieser Mann ist kein bisschen an mir interessiert, stelle ich mit leiser Enttäuschung fest. Wie konnte ich mit meiner Einschätzung nur so danebenliegen?

Ich reiche ihm sein stylishes neues Brillenetui und hoffe, dass er sich darüber freut. Aber seine Miene bleibt ausdruckslos.

Ob ihm das Ganze peinlich ist? Ich meine, schließlich war sein Verhalten beim letzten Termin schon ziemlich eindeutig – er hat mich immerzu angelächelt und mir tief in die Augen gesehen. Vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen seiner Freundin gegenüber und versucht nun, sich aus der Affäre zu ziehen.

So wird es wohl sein, begreife ich betrübt, als er seine alte Brille abnimmt, und komme mir dämlich vor.

Eigentlich hatte ich vor, ihn zu fragen, wie sein Osterfest war und was er so in Cambridge unternommen hat. Doch nun hat es mir die Sprache verschlagen.

Er öffnet das Brillenetui und holt die Kilsgaard heraus.

Huch! Zittern seine Hände etwa?

»Könnten Sie sie anprobieren?« Verdutzt schiebe ich ihm den Spiegel hinüber.

Irgendetwas stimmt definitiv nicht. Seine Hände zittern wirklich. Selbst er wirkt zittrig. Ist er krank?

Ohne sich sein Spiegelbild anzuschauen, dreht er sich zu mir. Noch immer mit gesenktem Blick. Ein Lächeln ist heute nicht drin, so viel steht fest.

»Ich muss den Sitz überprüfen«, erkläre ich, und er lehnt sich mit abwesender Miene über den Schreibtisch gehorsam zu mir.

Die Atmosphäre im Raum ist so eigenartig! Nervös greife ich nach dem Brillenrahmen.

Seinen Bartstoppeln nach zu urteilen hat er sich schon seit etlichen Tagen nicht mehr rasiert. Als ich den Sitz der Brille prüfe und feststelle, dass die Bügel bequem aufliegen, streifen meine Daumenkuppen seine Wangenknochen. Um mich zu vergewissern, dass das Gestell gut sitzt und nicht von seiner Nase rutscht, bewege ich es leicht hin und her.

»An einem der Nasenpads würde ich gern eine kleine Anpassung vornehmen«, sage ich, und er nimmt die Brille ab und reicht sie mir.

Diesmal schaut er mir nicht bei der Arbeit zu.

»Kneift sie an der Nase?«, erkundige ich mich, als er sie wieder aufsetzt.

»Nein.«

»Können Sie gut damit sehen?«

»Ja.«

»Würden Sie sich mal im Laden umschauen? Ist alles deutlich zu erkennen? Können Sie lesen, was da auf dem Poster steht?«

Er schluckt und nickt.

»Wollen Sie sich im Spiegel ansehen?«

Er schüttelt den Kopf und nimmt die Brille wieder herunter, schluckt erneut und verstaut sie im Etui.

»Sonny?«, frage ich besorgt. »Alles okay?«

Unvermittelt schaut er mir direkt in die Augen, und was ich sehe, lässt mein Blut gefrieren. Er will sich erheben und schiebt abrupt seinen Stuhl zurück.

Ehe ich mich versehe, stehe ich auch schon vor ihm. »Sonny?«

»Die Brille ist prima«, murmelt er, den Blick wieder abgewandt.

»Was ist denn nur los?«

Nach einem weiteren Kopfschütteln setzt er seine alte Brille auf. »Nichts. Sind wir dann fertig?«

Dabei sieht er mich direkt an, und wieder erschrecke ich. Ihm stehen Tränen in den Augen.

Ich bin fassungslos, vor allem aber besorgt. Doch noch ehe ich etwas sagen kann, schiebt er sich an mir vorbei und marschiert zur Tür hinaus.

3

Falls ich dachte, ich könnte mir Sonny aus dem Kopf schlagen, so habe ich mich geirrt.

Auf den April folgte der Mai, doch ich konnte einfach nicht aufhören, an Sonny zu denken. Wenn auch nicht mehr auf so angenehme Art wie zuvor.

Sein Blick hatte mich wirklich umgehauen. Er wirkte so trostlos, gebrochen. Ich konnte ihn einfach nicht vergessen.

Ich vertraute Umeko an, dass er beim Abholen seiner Brille verstört gewirkt hatte. Daraufhin meinte sie, sie würde seinen Vater nicht gut genug kennen, um ihn wegen so etwas Persönlichem anzurufen, aber sie versprach, sich bei der nächsten Gelegenheit nach Sonny zu erkundigen. Soweit ich weiß, war das bislang noch nicht der Fall.

***

Als ich Mitte Mai spätnachmittags im Vorgarten verblühte Rosenblüten abschneide, bekomme ich mit, wie sich die Tür zu Evelyns Praxis öffnet. Evelyns abgeklärte, melodische Stimme ist zu hören, darauf die tiefe Stimme eines Mannes. Den genauen Wortlaut verstehe ich allerdings nicht. Kurz darauf taucht vermutlich ebendieser Mann hinter dem Gebäude auf und schiebt sein Fahrrad die Kieseinfahrt zur Straße hinunter. Ruckartig richte ich mich auf. Sonny!

Meine jähe Bewegung lenkt seinen Blick auf mich, und er nickt mir flüchtig zu. Dann stutzt er, schaut noch mal her und runzelt verwundert die Stirn.

»Sonny!«, rufe ich.

»Oh, hi«, erwidert er geistesabwesend und bleibt stehen.

»Hannah. Ich arbeite für Umeko«, helfe ich ihm verlegen auf die Sprünge, während er seinen Blick über mich wandern lässt.

»Ich habe Sie gar nicht erkannt«, gesteht er.

Na gut, das kann ich verstehen. Mit meinen Alltagsklamotten sehe ich völlig anders aus als in der dunkelblauen Arbeitsuniform. Bis auf einige klitzekleine, von bunten Perlen durchsetzte Zöpfe trage ich mein langes, gewelltes und sonnengebleichtes Haar nun offen. Ich habe einen blauen, langen Rock mit Blümchenmuster an und dazu ein weißes Spitzen-Top, das einen schönen Kontrast zu meiner gebräunten Haut bildet.

Er nickt in Richtung des weiß getünchten Cottages hinter mir. »Wohnen Sie hier?«

»Äh, wollen wir uns nicht duzen? Das Haus gehört meinem Onkel. Er ist momentan auf Reisen.«

»Oh.«

»Alles okay mit der Brille?«

Er trägt sie, und sie steht ihm gut, doch er selbst hat schon deutlich besser ausgesehen. Seine blauen Augen sind gerötet, er muss sich seit einer Woche nicht mehr rasiert haben, und sein stoppeliges Gesicht wirkt eingefallen.

»Ja, alles bestens.«

Es spielt keine Rolle, dass mir die Worte fehlen, er hat ja offensichtlich sowieso keine Lust, sich zu unterhalten. Und ich kann schlecht fragen, ob es ihm gut geht, wenn sein Besuch bei Evelyn eindeutig anderes vermuten lässt.

»Es war jedenfalls schön, dich zu sehen.« Ich bemühe mich, mir meine Besorgnis nicht anmerken zu lassen.

»Gleichfalls.« Er schwingt sich aufs Rad und fährt auf die Straße hinaus.

Sobald er außer Sicht ist, wende ich mich wieder den Rosen zu, und in meinem Kopf beginnt es zu rattern.

Warum ist er nicht nach Amsterdam zurückgekehrt?

Oder falls doch, warum ist er so schnell wieder hergekommen?

Und warum geht er zu einer Therapeutin?

Als mein Onkel in den Ruhestand trat, übernahm Evelyn seine Praxis. Früher war es tatsächlich so, dass Charles June einen Abschiedskuss gab, zur Hintertür hinaus- und am Seiteneingang wieder hereintrat. Dabei hätte er genauso gut durch die inzwischen verschlossene Verbindungstür im Wohnzimmer in die Praxis gelangen können. Doch das tat er nie. Er wolle Arbeits- und Privatleben strikt getrennt halten, sagte er, was aber Quatsch war – Charles brachte seine Arbeit immer mit nach Hause. Und man kann auch nicht sagen, dass er sich jetzt im Ruhestand wirklich ausruht.

Nachdem ich den Großteil meiner Teenagerjahre hier verbracht habe, weiß ich, wovon ich spreche.

Charles ist wie ein Vater für mich, und June war wie eine Mutter. Ich habe zwar eine Mutter und einen Vater, aber Eltern im klassischen Sinne waren sie nie. Sie zogen mich auf einer kleinen Farm auf, weit weg von allem, was auch nur im Entferntesten an Zivilisation erinnerte, und unterrichteten mich in meinen frühen Jahren zu Hause. Nur weil Charles und June meine Eltern davon überzeugen konnten, dass eine klassische Ausbildung das Beste für mich sei, bin ich mit dreizehn nach Cambridge gezogen.

Charles ist der ältere Bruder meiner Mutter, aber die beiden sind so verschieden wie Tag und Nacht. Charles ist … na ja, ich schätze, er ist das, was die meisten Leute als normal bezeichnen würden. Meine Mutter hingegen ist ein freigeistiger Hippie, der auf Regeln nicht viel gibt.

Manchmal fühle ich mich hin- und hergerissen zwischen meiner wilden, unkonventionellen Kindheit und dem Leben, das ich jetzt führe, aber für den Moment weiß ich, ich bin genau da, wo ich hingehöre.

Nach allem, was Charles über die Jahre für mich getan hat, schulde ich es ihm, dass er in aller Ruhe und in der Gewissheit auf Reisen gehen kann, dass zu Hause alles rundläuft.

Das Geräusch von Evelyns Wagen, dessen Motor anspringt, holt mich in die Gegenwart zurück. Einen Augenblick darauf fährt sie die Einfahrt hinunter. Bevor sie auf die Straße biegt, winkt sie mir noch freundlich zu.

Und ich frage mich erneut, was den letzten Patienten des Tages wohl zu ihr geführt haben könnte.

4

Um wie viel Uhr geht ihr hin?«, frage ich Matilda.

Nach einem wirklich anstrengenden Arbeitstag haben wir uns nun gemeinsam auf den Heimweg gemacht. Ich brauche dringend einen Drink, und das Schöne ist, dass ich nicht mehr lange darauf warten muss.

»Bis Archie heimkommt, dauert es noch eine Weile. Sagen wir also um halb acht?«

»Perfekt. Dann habe ich genug Zeit, die kleine Dame hier zu füttern und mich umzuziehen.«

»Ich hoffe, du bringst sie mit!« Liebevoll krault Matilda Bertie am Kopf.

»Vermutlich würde sie sich vor dem Aga-Herd wohler fühlen, aber schön, dann schleife ich sie eben mit.«

»Prima!«

Es ist nun schon über einen Monat her, dass Matilda und ich auf dem Weg zur Arbeit ins Gespräch gekommen sind. Kurz darauf begegneten wir uns in der Warteschlange eines Coffee-Shops wieder und setzten uns nach einem leicht verlegenen »Hallo« zusammen an einen Tisch.

Seitdem haben wir uns bei zahlreichen gemeinsamen Mittagspausen näher kennengelernt. Heute Abend geht sie mit ihrem Freund und seinen Kumpeln in einen Pub und hat gefragt, ob ich mitkommen möchte. Ich freue mich sehr darauf, mal wieder auszugehen. Meine einzige Schulfreundin, die noch hier in der Gegend wohnt, hat vor kurzem ein Kind bekommen und deswegen leider kaum Zeit für so etwas.

»Bis später!«, sagt Matilda und überquert die Straße.

»Ja, bis später«, rufe ich zurück, und schon bald befinde ich mich auf dem Weg durchs Grüne, der mich nach Hause führt.

Heute am Freitagabend sind mehr Radfahrer unterwegs als sonst. Alle wollen schnell nach Hause und das Wochenende einläuten, und ich muss ständig auf die Wiese ausweichen, um nicht von ihnen umgefahren zu werden. Noch kniffeliger wird es dadurch, dass dort Kühe grasen, von denen einige ein gesteigertes Interesse an Bertie zeigen …

Ich kann nur hoffen, dass wir heil nach Hause kommen!

»Ich möchte unbedingt gut aussehen. Heute Abend lerne ich nämlich neue Leute kennen,« erkläre ich, während ich mir vor dem Spiegel die Zöpfe flechte. »Was hältst du von einem schwarzen schulterfreien Top?«

Schließlich entscheide ich mich für einen langen, fließenden Rock mit schwarzem und ockerfarbenem Muster und gehe auf der Suche nach den passenden Schuhen nach unten.

Hinter mir tapst Bertie in den schmalen Flur.

»Ich sollte die da tragen, schon klar.« Niedergeschlagen betrachte ich meine bequemen, aber langweiligen schwarzen Arbeitsschuhe. »Aber eigentlich würde ich viel lieber die hier anziehen!« Ich greife nach den smaragdgrünen Sandalen, die ich mir vor ein paar Tagen aus einer Laune heraus gekauft habe. »Ich weiß, sie sind nicht gerade ideal zum Laufen, aber es ist ja nicht weit.«

Während ich hineinschlüpfe, schaut Bertie mir mit gespitzten Ohren zu.

»Du hast mitbekommen, dass es losgeht, stimmt’s?«

Sie wedelt bestätigend mit dem Schwanz, flippt aber nicht völlig aus. Sie muss wohl müde sein. Vielleicht sollte ich sie doch zu Hause lassen? Immerhin hat sie mich heute schon zur Arbeit begleitet und wieder zurück.

»Kommst du mit, oder bleibst du hier?« Noch immer unentschlossen, öffne ich die Tür.

Nun gerät sie so außer Rand und Band, wie ich es kenne.

»Na, dann komm.« Ich hole die Leine von der Garderobe. »Wir lassen uns Zeit, versprochen. Bin selbst auch ein bisschen erschöpft.«

Ich ziehe die Tür zu und halte erschrocken inne, als ich plötzlich Sonny vor dem Gartentor stehen sehe.

»So trifft man sich wieder!«, bringe ich heraus.

»Hi.« Er lächelt verlegen.

Ich bekomme Mitleid mit ihm. Wer möchte beim Besuch seiner Therapeutin schon ständig irgendwelchen Bekannten über den Weg laufen?

»Ich habe dich reden hören«, sagt er, und ich werde sofort nervös. »Ist dein Onkel zurück?«

»Nein, der ist noch bis Ende September unterwegs. Das ist sein Hund. Wir leisten uns gegenseitig Gesellschaft.«

»Wie heißt er denn?« Er geht in die Hocke und streichelt Bertie.

»Bertie. Es ist eine Sie.« Hach, sie ist wirklich hilfreich, wenn es darum geht, das Eis zu brechen! »Heute gar nicht mit dem Fahrrad unterwegs?«

»Nein, ich hab das Auto genommen und es beim Pub geparkt. Bin dort mit einem Freund verabredet.« Er blickt zu mir auf. Okay, er sucht nicht ständig Augenkontakt wie bei unserer ersten Begegnung, weicht ihm aber auch nicht aus. Von seinem früheren selbstbewussten Auftreten ist er noch weit entfernt, doch es scheint bergauf zu gehen. Seine Wangen haben mehr Farbe, die blauen Augen blicken aufgeweckter. Rasiert hat er sich auch.

»In welchen Pub geht ihr denn?«

»In den Blue Ball.«

»Dahin will ich auch gerade!«

»Na, dann.« Mit einem verschämten Lachen richtet er sich auf.

»Geh ruhig schon vor. Wir sind nicht so schnell.«

»Kein Problem für mich!«

Schweigend machen wir uns auf den Weg, und ich zermartere mir das Hirn nach einem Gesprächsthema.

»Ehrlich gesagt bin ich froh, dass wir uns wiedersehen«, kommt er mir zuvor. »Ich wollte mich nämlich für mein Verhalten beim Abholen der Brille entschuldigen.«

»Aber das ist doch nicht nötig.«

»An dem Tag gab es schlechte Neuigkeiten, und ich stand völlig neben mir.«

»Das tut mir leid.« Es würde mich ja schon interessieren, um was genau es sich gehandelt hat, verkneife mir die Frage aber, und er geht auch nicht weiter darauf ein.

»Musstest du heute arbeiten?«, fragt er stattdessen.

»Ja. Morgen auch wieder.«

»Wirklich, am Samstag?«

Ich nicke. »Wir haben dafür montags frei.«

»Dann kannst du heute Abend gar keinen draufmachen?«

»Wohl eher nicht«, erwidere ich niedergeschlagen. »Mir ist aber auch nicht danach.«

»Wie kommt’s?« Er wirft mir einen Seitenblick zu.

Nach kurzem Zögern beschließe ich, ehrlich zu sein. »Heute ist ein kleines Mädchen zum Augentest gekommen, und es könnte sein, dass es einen Hirntumor hat.«

»Oje. Wie alt?«

»Noch keine drei.«

»O Gott!«

Die Eltern kamen mit der Kleinen zu uns, weil eine ihrer Pupillen geweitet war. Ich brachte sie sofort zu Umeko, die schließlich das Krankenhaus wegen einer Notfall-Einweisung anrief. Das Mädchen, Ella, zeigte die klassischen Anzeichen für einen seltenen Tumor.

»Wird sie denn wieder gesund?«, fragt Sonny.

Mir kommen die Tränen. »Ich hoffe es!«

Er seufzt tief auf. »Da sehe ich meine Probleme doch gleich in einem ganz anderen Licht!«

»Wir haben alle unser Päckchen zu tragen«, erwidere ich leise.

Schweigend setzen wir unseren Weg fort. Nach einer Weile wirft er einen Blick auf mein linkes Bein.

»Alles okay?«, fragt er. »Hast du dir dein Bein verletzt?«

»Ach, eine alte Geschichte.«

»Was ist passiert?«

»Ein Unfall. Ein Autounfall. Schon Jahre her«, wische ich seine Besorgnis beiseite. »Normalerweise trage ich spezielle Schuhe, aber heute Abend ist es ja nicht weit.« Dadurch ist ihm im Optikergeschäft auch mein Hinken nicht aufgefallen.

»Du hättest darauf bestehen sollen, dass ihr in den Green Man geht. Oder in den Red Lion.«

»Oder in den Rupert Brooke!« Lächelnd deute ich auf den dritten Pub, an dem wir gleich vorbeikommen.

Das Blue Ball Inn liegt zwar am weitesten von mir entfernt, zu Archies und Matildas Wohnung in Cambridge jedoch am nächsten. Da der Weg insgesamt für mich immer noch kürzer ist, kann ich mich nicht beschweren. Und überhaupt, der Blue Ball Inn ist mein Lieblingspub.

»Du, ich muss noch was aus dem Wagen holen«, meint Sonny, als wir fast da sind. »Er steht ein Stück weiter vorn.« Er deutet die Straße entlang. »Wir sehen uns ja bestimmt drinnen noch mal.«

So klein, wie das Lokal ist, dürfte er recht haben.

»Und wenn nicht, dann laufen wir uns sicher auch so mal wieder über den Weg.«

Bertie und ich steigen die Stufen zum Eingang hinauf, und Sonny hebt lächelnd die Hand zum Gruß und geht weiter.

Ich horche in mich hinein und merke, dass ich mich nicht mehr zu Sonny hingezogen fühle. Er sieht gut aus, keine Frage, doch seine selbstbewusste Art war es, mit der er mir den Kopf verdreht hat. Ohne wirkt er normaler. Merkwürdigerweise erleichtert mich das.

Das Blue Ball Inn liegt an einer von kleinen Reihenhäusern gesäumten Straße. Die wenigen Tische auf der sonnenbeschienenen Terrasse davor sind alle besetzt, und da ich Matilda nirgends entdecken kann, gehe ich mit Bertie hinein und sehe mich drinnen um. Nachdem sie in den beiden gemütlichen Vorderräumen auch nirgendwo zu finden ist, marschieren wir an der Bar vorbei und in den Biergarten hinaus.

Als sie mich sieht, springt Matilda auf. »Hannah!«

Sie sitzt mit drei Männern an einem Tisch, von denen einer ebenfalls aufsteht.

»Das ist Archie«, stellt sie ihren Freund vor.

Er ist groß und breitschultrig, hat herrlich zerzaustes dunkelblondes Haar und warmherzige braune Augen.

»Hey!« Er gibt mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. »Das sind Kev und Warren.« Er deutet mit dem Kopf auf seine Kumpel.

Kev ist groß, blond und schätzungsweise Anfang dreißig. Warren, der ein paar Jahre älter zu sein scheint, hat kurze schwarzen Haare, olivfarbene Haut und derart kräftige Bartstoppel, dass sein Rasierer seine liebe Mühe damit haben dürfte.

»Ich gehe zur Bar«, verkündet Archie, der noch immer steht. »Was möchtest du trinken, Hannah?«

»Ich mach das schon!«

»Nein, nimm Platz«, erwidert er. »Diese Runde geht auf mich. Jungs? Dasselbe noch mal?«

Wir nennen unsere Wünsche, und Archie verschwindet ins Lokal.

Matilda klopft auf den Stuhl, den er freigemacht hat, und schiebt ihn vom Tisch weg, damit auch Bertie Platz hat. »Komm, setz dich zu mir. Ich brauche dringend weibliche Gesellschaft. Die Jungs reden über nichts anderes als Kricket.« Sie verdreht die Augen. »Sie spielen nämlich zusammen im Team.«

»Ja, Wahnsinn!« Ich lächele ihnen zu.

»Ach, von wegen. Mein ganzer Sommer geht damit drauf, neben Kricketfeldern rumzuhocken!«

Kev und Warren lachen.

»Tja, das Leben ist hart«, spottet Warren, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und streckt die Beine aus.

»Immerhin sehen die Spieler in den weißen Kricketklamotten ziemlich heiß aus«, fährt sie fort. »Wobei ich natürlich von den Gegnern spreche«, betont sie, und die beiden prusten wieder los.

»Seid ihr schon lange hier?«, frage ich Matilda, als sich Kev und Warren in ein Gespräch vertiefen. Ihr Roséglas ist schon fast leer.

»Seit zwanzig Minuten etwa. Archie hat doch früher Feierabend gemacht und wollte sofort los. Mir blieb kaum Zeit, mich frischzumachen.«

»Du siehst toll aus. Und diese Kleid, einfach wow!« Es ist knielang, schwarz und mit winzigen violetten Blümchen übersät.

Sie lehnt sich verschwörerisch zu mir. »Du siehst toll aus! Und deine Frisur, einfach wow! Ich habe noch nie gesehen, dass du deine Haare offen trägst.« Sie spielt mit einem meiner Zöpfe. »Ich hatte ja keine Ahnung, was für ein megacooles Hippie-Mädchen du bist!«

»Danke für das Kompliment!«, sage ich lachend. »Ich bin so froh, aus dieser schrecklichen Arbeitskluft raus zu sein.«

»Na, deine ist immerhin noch besser als meine«, erwidert sie gutmütig. »Marineblau schlägt Königsblau. Nicht dass ich mich beschweren würde. Mein jetziger Job macht mir deutlich mehr Spaß als der letzte.«

Matilda ist eigentlich gelernte Buchhalterin, hat sich vor ein paar Jahren aber wieder an der Uni eingeschrieben. Nun lässt sie sich zur Pharmazeutin umschulen, legt zurzeit allerdings ein Praxisjahr ein.

»Wie bist du eigentlich darauf gekommen, Apothekerin zu werden?«, frage ich.

»Als ich klein war, wollte ich immer Ärztin sein, als Teenager bin ich aber wieder davon abgekommen. Im Übrigen hätten meine Noten auch gar nicht gereicht. Nach dem Tod meines Vaters hat mich Archie dann darin bestärkt, wieder an die Uni zu gehen. In Naturwissenschaften und Mathe war ich schon immer gut, insofern lag Pharmazie nahe. Und nachdem mir mein Vater sein Haus hinterlassen hatte, konnte ich mir das Studium auch leisten, ohne arbeiten zu müssen.«

»Wow«, sage ich. »Auch wenn mir das mit deinem Dad natürlich leidtut.«

»Danke.« Ihre Mundwinkel wandern nach unten. »Es würde ihn freuen, dass sein Verlust für mich auch eine gute Seite hatte. Zunächst mal habe ich auf die Art auch Archie kennengelernt.«

»Wie denn genau?«

Sie lächelt. »Damals habe ich noch in London gewohnt und bin über das Wochenende nach Cambridge gefahren. Ich musste ja Dads Haus leerräumen.« Ihr Lächeln lässt ein wenig nach. »Ich war dabei ganz allein, meine Eltern hatten sich vor Jahren getrennt, und ich bin ein Einzelkind. Irgendwann habe ich dann eine Pause eingelegt und bin Stechkahn gefahren. Dad und ich haben das immer zusammen gemacht, und es war der Tag seines Geburtstags. Archie war mit seiner Schwester und ein paar Freunden ebenfalls mit dem Stechkahn unterwegs und blieb mit seiner Stange im Schlamm stecken. Na, und da bin ich ihm zu Hilfe gekommen. Das Stechkahnfahren hatte er definitiv nicht drauf.« Matilda hebt die Stimme. »Und daran hat sich auch bis heute nichts geändert!« Sie grinst an mir vorbei ihren Freund an, der, wie ich vermute, gerade an unseren Tisch zurückkehrt.

Lächelnd drehe ich mich um und entdecke Archie, der mit einem Pint Bier, einem halben Pint Cider und Matildas Rosé auf uns zusteuert.

»Wozu muss ich Stechkahn fahren, wenn du es so gut kannst!« Schmunzelnd verteilt er die Drinks und wirft dann einen Blick hinter sich. »Sonny ist genau im richtigen Augenblick gekommen, um mir beim Tragen zu helfen.«

Sonny? Ich fasse es nicht! Doch da ist er. Schon wieder. Taucht mit drei Pints Bier in den Händen hinter Archie auf.

Er entdeckt mich sofort.

»Ja, hi!«, ruft er, und seine Augenbrauen schnellen in die Höhe.

»Selber hi!«, antworte ich ebenso überrascht.

»Kennst du die Typen hier?« Er stellt die Getränke auf dem Tisch ab.

»Überhaupt nicht. Ich dachte nur, ich setze mich mal an ihren Tisch und mach mich über ihre Drinks her.«

Er zieht die Nase kraus, und ich lache. Dann gibt er Matilda einen Kuss auf die Wange und begrüßt Kev und Warren.

Matilda lehnt sich zu mir. »Woher kennst du Sonny?«, flüstert sie mir ins Ohr.

»Er hat letzten Monat einen Augentest bei uns gemacht«, flüstere ich zurück.

»Ah. Dann hast du mit ihm also nicht …«

»Was? Nein!«

Sie atmet sichtlich auf.

Sonny holt sich einen Stuhl vom Nebentisch, setzt sich neben mich, beugt sich zu Bertie hinunter und krault sie energisch.

»Tja, anscheinend wirst du mich nicht los«, murmelt er und lächelt mich dabei schief an.

»Na, du mich aber auch nicht!«

Er hebt sein Glas. »Cheers!«

»Cheers!« Wir stoßen miteinander an und tun es mit den anderen am Tisch dann pflichtschuldig auch.

»Warum hast du dich eigentlich für Optometrie entschieden?«, setzt Matilda unsere vorangegangene Unterhaltung fort, nachdem Archie Sonny in ein Gespräch verwickelt hat. »Moment mal, Optometrie ist es ja gar nicht, oder?«

»Nein, ich bin Augenoptikerin, das ist eine Stufe unter der Optometristin und eine über der Optikassistentin. Für mehr haben die Noten nicht gereicht. Vielleicht studiere ich eines Tages noch mal, aber für den Moment bin ich ganz zufrieden so, wie es ist.«

»Und wie bist du auf den Beruf gekommen?«, spielt sie die Reporterin.

Mal abgesehen davon, dass Charles und June mich praktisch im Hauruckverfahren zu einer soliden Berufsausbildung gedrängt haben?

»Ähm … Der Auslöser war eigentlich das, was eine meiner besten Freundinnen durchmachen musste.«

Angesichts meines veränderten Tonfalls wird ihre Miene ernst. »Was denn?«

»Sie hatte einen Gehirntumor. Und der wurde bei einem Augentest entdeckt. Das hat ihr das Leben gerettet, und es geht ihr inzwischen wieder gut.«

»Ach du je!«

Sonny, der offenbar mit einem Ohr zugehört hat, hält in seinem Gespräch inne. Vermutlich reimt er sich gerade zusammen, was für schlimme Erinnerungen der heutige Tag wachgerufen haben muss.

»Damals war ich oft bei ihr im Krankenhaus, um ihr beizustehen.«

»Wann genau war das?«, fragt Matilda.

»Wir haben da gerade mitten in unseren Abschlussprüfungen gesteckt.«

»Das muss sich doch aber auf deine Ergebnisse ausgewirkt haben?«, meint sie stirnrunzelnd.

»Das darf keine Entschuldigung sein.«

»Verstehe. Mir geht es mit der Scheidung meiner Eltern genauso. Während meiner Prüfungen haben die beiden immer wieder heftig gestritten, und trotzdem gebe ich ihnen nicht gern die Schuld. Wie dem auch sei, ich komme damit klar. Letztlich ist alles gut so, wie es gelaufen ist.«

»Worüber unterhaltet ihr zwei euch?«, unterbricht uns Archie neugierig.

Während Matilda ihn einweiht, rappelt Bertie sich auf und quetscht sich zwischen Sonnys Beine.

»Sorry!« Ich greife nach ihrem Halsband und versuche, sie wegzuziehen.

Dabei steigt mir ein Hauch seines Aftershaves in die Nase, und mir wird leicht schummerig. Riechen tut er immer noch phantastisch!

»Wie geht’s den Kindern?«, erkundigt sich Matilda bei Sonny.

»Denen geht’s gut.«

»Hast du Rochelle schon überredet, sich auch eine Fellnase zuzulegen?«, fragt Archie und deutet auf Bertie.

»Davon will sie nichts hören.«

Moment mal, hallo? Sonny ist verheiratet und hat Kinder?

»Du hast Kinder?«, frage ich.

»Ja, zwei Töchter. Imogen und Natalie. Imogen würde sich mit einer Katze zufriedengeben, aber für Natalie kommt nur ein Hund in Frage. Sie will Tierärztin werden, wenn sie mal groß ist.«

»Das wollte ich in dem Alter auch«, wirft Matilda wehmütig ein. »Wie alle Neunjährigen, schätze ich.«

»Äh, ich dachte, du wolltest Ärztin werden?«, fragt Archie sie mit gerunzelter Stirn.

»Ärztin, Tierärztin, was auch immer.«

Sonny hat eine neunjährige Tochter? Er ist doch gerade mal zweiunddreißig!

»Und wie geht es Rochelle?«, möchte Archie wissen.

»Gut«, antwortet Sonny unverbindlich.

Meine Neugierde gewinnt die Oberhand. »Ist Rochelle deine Frau?«

Archie schnaubt, und Sonny sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Was ist?«, fragt Sonny seinen Freund in trockenem, spitzem Ton.

»Sorry.« Archie kann sich das Grinsen nicht verkneifen. »Aber die Vorstellung, du könntest verheiratet sein, ist einfach zu absurd.«

Sonny verdreht die Augen und wendet sich wieder mir zu. »Wir sind nicht zusammen.«

Ich habe keine Ahnung, worum es bei diesem Austausch gerade ging.

»Wie habt ihr Jungs euch eigentlich kennengelernt?«, wechsele ich das Thema.

»Wir zwei an der Uni«, erwidert Archie und deutet auf Sonny und sich selbst. »Wir sind hier in Cambridge auf die Anglia Ruskin gegangen. Warren ist auch im Kricketteam, und Kev und ich sind Arbeitskollegen.«

»Und was machst du beruflich?« Das hat mir Matilda noch nicht erzählt.

»Ich bin Grafikdesigner.« Er deutet auf Sonny. »Wir haben beide Grafikdesign studiert, aber Sonny hat sich schließlich für die Fotografie entschieden. Im Rahmen unseres Studiums haben wir ein Semester in den Niederlanden verbracht. Sonny hat es dort so gut gefallen, dass er beschlossen hat, nach unserem Abschluss ganz hinzuziehen.« Er schenkt seinem Freund ein freches Grinsen.

»Wie lange bleibst du denn in England?«, fragt Matilda Sonny.

Er zuckt die Achseln. »Bin mir noch nicht sicher. Vielleicht den Sommer über.«

»Legst du einfach mal eine Pause ein?«

Wieder zuckt er die Achseln. Er scheint sich unbehaglich zu fühlen. »Ja. Und ich wollte etwas Zeit mit den Mädchen verbringen.«

»Du musst unbedingt in unser Team kommen«, wirft Warren ein. Das Gespräch dreht sich wieder um Kricket, und meine Gedanken schweifen ab.

Seine Kinder leben hier, und er wohnt in Amsterdam? Wie soll das funktionieren?

Weiß wohl noch jemand hier am Tisch, dass er zu einer Therapeutin geht?

Und wenn ja, weiß er auch, warum?

Ich beiße mir auf die Zunge, damit mir keine weiteren zu persönlichen Fragen herausrutschen.

5

Als ich am Montagnachmittag mit Bertie zum Gassigehen aufbreche, laufe ich Sonny erneut in die Arme. Offensichtlich hat er eine weitere Sitzung bei Evelyn hinter sich.

»Hey, Hannah!«, grüßt er mich herzlich und völlig unbefangen. »Führst du mal wieder Selbstgespräche?«

»Was? Oh, äh …« Ich lache verlegen und schaue zum Cottage zurück. Er hat wohl wieder einmal mitbekommen, wie wir das Haus verlassen haben.

»Solltest du dem Wahnsinn verfallen, hast du es immerhin nicht weit.« Er öffnet das Gartentor für uns.

»Evelyn ist Therapeutin, keine Psychiaterin.« Ich bemühe mich um einen lockeren Ton.

»Du kennst sie?«

»Ja, die Praxis hat früher meinem Onkel gehört. Sie hat sie übernommen.«

»Wo steckt dein Onkel eigentlich?«

»Der macht eine Kreuzfahrt um die Welt und schippert augenblicklich irgendwo auf dem Atlantik herum.«

Gestern hat mich Charles von den Falklandinseln angerufen und war richtig gut drauf. Sonst schickt er immer nur E-Mails, und es war so schön, endlich mal wieder seine Stimme zu hören. Er hat einen Haufen Freunde gefunden und ist nun unterwegs nach Südamerika.

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragt Sonny.

»Wir wollen unten am Fluss entlangspazieren.«

»Stört’s dich, wenn ich euch begleite? Ich muss noch ein bisschen Zeit totschlagen.«

»Nein, gar nicht, klar!« Seine Frage freut mich, überrascht mich aber auch ein wenig.

Andererseits haben wir uns am Freitag ja auch wirklich gut verstanden. Obwohl die Situation anfangs etwas eigenartig war, wurde es noch ein richtig lustiger Abend. Es war schön zu sehen, wie entspannt Sonny im Umgang mit seinen Freunden ist. Egal was ihn gerade bedrückt, zumindest hat er nette Leute um sich.

»Gibt es Neuigkeiten von dem kleinen Mädchen?«, möchte er wissen, als wir nebeneinander auf dem schmalen Bürgersteig entlanggehen.

Es rührt mich, dass er sich nach ihr erkundigt. »Ja, Umeko hat mich heute Morgen angerufen und erzählt, dass die Scans den Tumorverdacht bestätigt haben. Es handelt sich um eine seltene Art, von der nur etwa eine Person von zwanzig Millionen betroffen ist. Der Arzt meinte, hätte man noch ein oder zwei Wochen länger gewartet, hätte die Kleine es nicht überlebt.«

»O Gott.«