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1551: Elze wächst mit ihren Geschwistern als Eigenbehörige auf dem großen Hof Kalmule auf. Die harte Arbeit auf den Feldern ist ihr Alltag. Doch ihr Leben wandelt sich von Grund auf, als sie ihre Familie verlassen muss und ihren Pflichtdienst als Küchenmagd in der Stadt Münster antritt. Eines Tages wird sie jedoch mit einer Magd der Herren von Oer getauscht und muss künftig auf der Wasserburg Kakesbeck leben, auf der ein Fluch liegt. Dort trifft sie auch Jacob wieder. Aber um den Müllerssohn ranken sich geheimnisvolle Gerüchte. Soll sie diesen Glauben schenken? Und wird Elze nun Teil der alten Prophezeiung werden, um den Fluch der Familie von Oer zu brechen?
Auftakt eines historischen Mehrteilers von Ulrike Renk vor dem Hintergrund des Spanisch-Niederländischen und des Dreißigjährigen Krieges
Dieser eindrucksvolle Roman basiert auf der eigenen Familiengeschichte der SPIEGEL-Bestseller-Autorin.
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Seitenzahl: 778
1551: Elze wächst mit ihren Geschwistern als Eigenbehörige auf dem großen Hof Kalmule auf. Die harte Arbeit auf den Feldern ist ihr Alltag. Doch ihr Leben wandelt sich von Grund auf, als sie ihre Familie verlassen muss und ihren Pflichtdienst als Küchenmagd in der Stadt Münster antritt. Eines Tages wird sie jedoch mit einer Magd der Herren von Oer getauscht und muss künftig auf der Wasserburg Kakesbeck leben, auf der ein Fluch liegt. Dort trifft sie auch Jacob wieder. Aber um den Müllerssohn ranken sich geheimnisvolle Gerüchte. Soll sie diesen Glauben schenken? Und wird Elze nun Teil der alten Prophezeiung werden, um den Fluch der Familie von Oer zu brechen? Auftakt eines historischen Mehrteilers von Ulrike Renk vor dem Hintergrund des Spanisch-Niederländischen und des Dreißigjährigen Krieges Dieser eindrucksvolle Roman basiert auf der eigenen Familiengeschichte der SPIEGEL-Bestseller-Autorin.
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Die SPIEGEL-Bestseller-Autorin greift dabei wahre Begebenheiten auf und schreibt über Menschen, deren Leben nie in Vergessenheit geraten sollen.
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Vervielfältigung dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten
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Schanzenstraße 6–20, Köln
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Einband-/Umschlagmotiv: © stock.adobe.com. Olex Runda | Mockup Lab |Kathy | Анастсия Смирнова | Kimo | Leonid Tit | Stefan | evannovostro
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-6113-0
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Für Christian, meinen Lieblingsbruder
Personenverzeichnis und Glossar sind am Ende des Buches zu finden.
»Zwei Schillinge, drei Pfennige, zehn Scheffel Roggen, drei Scheffel Weizen, einen Scheffel Gerste, einen Scheffel Malz«, sagte Amtmann Wilhelm Valcke zu Drees. »Eine Sau, vier Jungschweine, zehn Gänse, fünfzehn Hühner zu Martini im November.«
»Ja, Herr.« Drees sah den Amtmann nicht an, knetete die Kappe, die er in den klammen Händen hielt. »Ihr wisst doch, das letzte Jahr war schwer. Erst das trockene Frühjahr, der heiße Sommer bis zur Roggenernte. Danach kam das Unwetter. Das hat uns die Hafer- und Gerstenernte zum Teil verdorben. Wir sind gerade so über die Runden gekommen. Und dann … mein Vater …«
»Alle hatten es schwer. Ihr müsst eure Abgaben dennoch zahlen.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Drees und räusperte sich. »Das tun wir ja auch. Aber … mein Vater …«
»Es geht Heinrich nicht besser?« Drees schüttelte den Kopf. »Du willst jetzt auf den Hof auffahren?«
»Ja, Herr«, sagte Drees leise.
»Dann musst du die Auffahrt verdingen.« Amtmann Valcke sah ihn an, schaute in seine Bücher. »Das werden dreihundert Thaler für die Übernahme des Hofes.«
Drees schluckte. »Herr, Ihr wisst, das kann ich in diesem Jahr nicht leisten.«
»Soso.« Der Amtmann lehnte sich zurück, seufzte. »Nun, mich tut es wundern, dass du schon verheiratet bist.«
»Ja«, Drees räusperte sich wieder. »Es musste damals schnell gehen mit der Heirat. Der Sohn ist inzwischen geboren«, fuhr er flüsternd fort, »und das zweite Kind bald da.«
Der Amtmann schmunzelte. »Ich verstehe. Das heiße Blut und die Säfte sind manchmal schwer zu beschwichtigen.« Er beugte sich wieder über seine Bücher. »Der Hof Kalmule hat unserem Amt und dem Domkapitel Münster bisher immer gut gedient, und natürlich sind wir daran interessiert, dass die Familie weiter so gut wirtschaftet. Für einen Erben hast du ja schon gesorgt.« Er lachte heiser. »Ich schlage vor, dass du für die Auffahrt in jedem Jahr fünfzig Thaler zahlst. In sechs Jahren bist du die Schuld los.«
»Danke, Herr. Danke vielmals.« Drees verbeugte sich erleichtert, es war weniger, als er gedacht hatte. »Das werden wir sicherlich schaffen können.«
»Hmm …«, meinte der Amtmann nun. »Wer lebt alles auf dem Hof?«
»Meine Eltern, meine alte Tante Stine, meine beiden Brüder Ludger und Claes, ich und meine Frau Käthe, mein Sohn, meine beiden Schwestern Elze und Nele. Bald der Säugling.«
»Aha«, machte der Amtmann. »Hmm … Wie alt sind deine Schwestern?«
»Siebzehn und vierzehn.«
»Das trifft sich gut. Die Ältere soll sich zum Gesindedienst in Münster melden.«
»Aber … aber …«, stammelte Drees. »Wir brauchen Elze auf dem Hof. Meine Mutter … sie muss sich um meinen Vater kümmern.«
»Und ich brauche eine Dienstmagd in Münster.« Der Amtmann sah ihn an, sein Blick ließ keinen Widerspruch zu. »Sie soll sich so schnell es geht melden.«
»Meine Tante … sie hat ihren Gesindedienst in Münster geleistet … damals … als die Täufer …«, sagte Drees beklommen und brach ab.
»Ja, das waren schlimme Zeiten, sehr schlimme Zeiten.« Wilhelm Valcke hob den Kopf. »Die sind nun vorbei.«
»Aber … Elze … wir … also …«, stammelte Drees. »Sie wird Angst haben …«
»Das muss sie nicht.« Der Amtmann schlug das Buch zu und zog die Augenbrauen fragend hoch. »Sonst noch etwas?«
»Nein«, sagte Drees verzagend. »Nein. Und Dank dafür, dass Ihr uns die Auffahrt stundet.«
Was wird mit Claes werden?, dachte er beklommen. Und wie soll ich das Elze erklären? Ihm war ganz flau, als er das Gebäude verließ. Wie soll ich Elze das nur beibringen?
Die Sonne stand tief am fahlen Himmel, kein Lüftchen strich über das Feld. Elze wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, sah zu ihrem Vater, den Brüdern und den Männern der Nachbarschaft, die unermüdlich und mit gleichmäßigen Schnitten den Roggen ernteten. Käthe, ihre Schwägerin, kam und reichte ihr einen Krug mit kühlem Wasser, aus dem Elze dankbar und durstig trank.
»Es wird spät«, sagte Käthe.
»Vater will das Feld noch abernten«, erwiderte Elze und bückte sich wieder, um die Halme aufzunehmen und sie zu Garben zu binden.
»Ein Gewitter wird kommen«, bemerkte Käthe und ging weiter zu Nele, reichte ihr auch den Krug.
Elze sah in den Himmel. »Glaubst du?«, fragte sie zweifelnd. »Ich sehe keine Wolken.«
»Stine sagt das. Sie sagt, ein Unwetter wird kommen, schlimmer als jedes, das wir bisher erlebt haben.« Käthe, die nur zwei Jahre älter als ihre sechzehnjährige Schwägerin war, sah Elze voller Furcht an. »Sie sagt es die ganze Zeit.«
Nele, Elzes jüngere Schwester, lachte auf, dann bückte sie sich wieder und band die nächste Garbe. »Stine sagt das doch immer. Hast du dich noch nicht daran gewöhnt?«
»Aber diesmal klingt es anders. So … ernst.«
»Die Arbeit tut sich nicht von alleine«, rief nun Gesa, Elzes Mutter. »Hört auf zu klönen. Wir wollen heute noch mit dem Feld fertig werden.«
Elze richtete sich auf, streckte sich und sah über das Feld bis zum ausgefransten Wiesenrand. Es war noch ein ganzes Stück Arbeit, das vor ihnen lag. Schnell trank sie einen Schluck Wasser, dann machte sie sich daran, die nächste Garbe zu binden.
»Hast du das Essen aufgesetzt?«, fragte Gesa Käthe. »Wenn wir heimkommen, wollen alle essen.«
»Ja, habe ich, Mutter«, sagte Käthe. »Die Rüben aus dem Hausgarten sind ganz schrumpelig.« Sie senkte den Kopf.
Nun nahm Gesa den Krug, trank und sah ihre Schwiegertochter an. »Hol noch mal Wasser, und bring den Männern einen Krug von dem Bier. Ich habe noch nie so ein trockenes Jahr erlebt. Und ich habe viele Jahre auf dem Buckel. Dazu noch die Hitze! Nicht nur die Rüben sind schrumpelig, alles verdorrt«, sagte sie missmutig.
»Die Welt wird untergehen, Mutter«, feixte Nele. »Das Ende naht.«
Gesa sah sie an und lachte auf. »Stine hat euch verdorben«, meinte sie kopfschüttelnd und gab Käthe den Krug zurück. »Pass auf, dass das Kaninchen nicht anbrennt. Es muss immer Flüssigkeit im Topf sein. Und stell ihn an den Rand der Herdstelle, sonst trocknet das Ragout aus.« Fleisch wurde immer in einem dreibeinigen eisernen Topf geschmort, der direkt im Feuer stehen konnte.
»Ich kann den Grapen nicht versetzen«, sagte Käthe leise. »Er ist mir zu schwer.« Sie sah an sich hinunter, zeigte auf den gewölbten Bauch.
»Dann soll Stine dir helfen. Zu zweit werdet ihr es schon schaffen, den Topf zur Seite zu schieben. Und nun eil dich, die Männer haben Durst.«
Die Sonne war schon fast untergegangen, im Osten war der Himmel nachtblau, als die letzten Garben endlich gebunden und zu Hocken aufgestellt worden waren, damit der Roggen vor dem Dreschen noch trocknen konnte.
»Morgen machen wir das nächste Feld, Egbert«, sagte Heinrich, Elzes Vater, zu seinem Nachbarn und nahm seinen Kittel, den er wegen der Hitze ausgezogen hatte wie die anderen Männer auch. Er zog ihn über das Leibhemd, schnürte den Gürtel in der Taille. Die engen Beinlinge klebten nass geschwitzt an seinen Schenkeln. »Und dann arbeiten wir bei dir auf den Feldern weiter.«
»Wir müssen uns sputen«, meinte Egbert nachdenklich und griff ebenfalls nach seinem Kittel. »Das Wetter ändert sich. Regen wäre zwar gut für das Gemüse und den Hafer, aber wenigstens den Roggen sollten wir trocken einfahren.«
»Ein Frühjahr ganz ohne Regen hatten wir nur selten«, brummte Heinrich. »In den nächsten Tagen können wir allerdings darauf verzichten.«
»Wir sind doch gut vorangekommen«, meinte Drees, Elzas ältester Bruder, und streckte sich stöhnend. »Den Rest schaffen wir auch noch.«
»Stine sagt, dass ein Unwetter kommt. Ein Unwetter, so schlimm, wie wir es noch nie erlebt haben.« Nele kicherte, rieb sich jedoch den schmerzenden Rücken.
»Stine …« Der Vater verdrehte die Augen. »Wir haben uns keinen Gefallen damit getan, meine Schwester damals wieder bei uns aufzunehmen.«
»Nun sei nicht so harsch, Hein«, zischte Gesa ihrem Mann zu. »Wo hätte sie hinsollen? Sie ist doch schließlich hier vom Hof, und sie hat bei den Täufern Schreckliches erlebt.«
»Jaja …« Heinrich stapfte über die Brücke, dann durch das Torhaus in den Hof.
Er ging zum Brunnen, zog einen Eimer mit Wasser heraus, schlüpfte aus Kittel und Leibhemd und wusch sich. Claes, Ludger und Drees, die Söhne, taten es ihm nach, während Gesa mit den beiden Töchtern durch die Seitentür in das Flett, den Wohnbereich des Deelenhauses, trat. Im Haus war es dunkel, nur das Feuer in der gemauerten Herdstelle brannte, und einige Talglichter auf dem Tisch und in den Nischen spendeten ein wenig Licht. Der große Tisch stand schon in der Mitte des Fletts, Schalen, Messer und Löffel lagen bereit.
Die Frauen wuschen sich am großen Spülstein neben der Seitentür. Dort hing ein Krug mit Wasser, den man kippen konnte.
Schnell zog sich Gesa ihr Überkleid wieder an, ging zur Herdstelle, sah in den Grapen und rührte um. Sie gab eine Handvoll getrockneter Kräuter hinein. Ein köstlicher Duft stieg auf. Danach schaute sie in den großen Topf, der an einem Stab mit mehreren Zinken über dem Feuer hing.
»Hast du Schmalz in das Mus getan?«, fragte sie Käthe. Käthe nickte. »Sehr gut«, lobte die Mutter.
»Die Hühner sind schon im Stall«, sagte Käthe. »Und den Ziegen habe ich Wasser gebracht. Ich habe auch nach den Kühen und den Pferden gesehen.«
»Du machst das gut.« Die Mutter nahm die große Steingutschüssel, die auf einem Brett an der Wand stand, füllte das Kaninchenragout hinein und stellte sie auf den Tisch. »Elzeken, hol bitte Bier. Wir sind alle durstig.«
Elze ging durch die Deele zum großen Tor, das an diesem Abend weit offen stand, um ein wenig Luft hereinzulassen. Von dort aus waren es nur ein paar Schritte bis zum Torhaus, das an der Gräfte, dem Wassergraben, der die Gebäude und den Hof umschloss, stand. Hier waren die Bierfässer untergebracht, denn am Wasser war es kühler als im Hof. Arko, der Hofhund, lag am Torhaus an der Kette und sah Elze erwartungsvoll entgegen. Sie hockte sich hin und kraulte ihn am Kinn. Er legte sich auf den Rücken und streckte alle viere von sich, genoss es, gestreichelt zu werden.
»Du bist ein Herzehund«, sagte Elze belustigt. »Was keiner glauben würde, wenn er dich zähnefletschend sieht. Und das ist gut so.«
Sie tätschelte Arko noch einmal, stand dann wieder auf und füllte zwei Krüge Bier ab, die sie zum Tisch brachte. Stine gab Heinrich, der sich schon hingesetzt hatte, das Sauerteigbrot, während Claes und Ludger den großen Topf mit dem Getreidemus vom Haken über dem Feuer nahmen und ihn zum Ragout auf den Tisch stellten.
Gesa füllte die Schüsseln, und dann falteten alle die Hände und senkten den Kopf.
»Aller Augen warten auf dich, Herr. Du tust deine milde Hand auf und sättigst alles, was lebet, mit Wohlgefallen. Amen«, sagte der Vater.
»Amen«, antworteten alle.
Eine Zeit lang hörte man nur das Schaben der Löffel in den Schüsseln und das Gluckern, wenn Bier nachgeschenkt wurde.
»War ein langer Tag«, sagte Heinrich. »Und morgen wird es ähnlich sein.«
»Ein Unwetter zieht auf.« Stines Stimme klang duster. »Es wird alles vernichten. Nur die, die des wahren Glaubens sind, werden verschont. Auf sie wartet das Himmelreich.«
Käthe zog verängstigt die Schultern nach oben und sah nach draußen. Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch.
»Nun mach doch den Kindern keine Angst«, sagte Heinrich verärgert.
»Es wurde prophezeit, und ich spüre es. Ich spüre, dass es kommt.«
»Ja, das Wetter wechselt«, brummte der Vater. »Alle Anzeichen sprechen dafür. Ein reinigendes Gewitter tut gut, und Regen können wir auch gebrauchen. Doch die Ernte möchte ich vorher eingebracht haben.« Er sah zu Drees. »Der Roggen ist so trocken, wir sollten ihn so schnell es geht in die Deele bringen. Wir können uns morgen sparen, das Getreide vom Westfeld zu Hocken aufzustellen, und es direkt einfahren. Auch die heutige Ernte.«
»Aber das kostet uns Zeit, und wir sind Egbert verpflichtet«, meinte Drees.
»Ja, das sind wir.« Heinrich seufzte müde. »Lass uns sehen, was der morgige Tag bringt.«
Elze und Nele halfen mit, den Tisch abzuräumen. Claes holte frisches Wasser aus dem Brunnen, schüttete es in die große Kanne und hängte sie über das Feuer in der Herdstelle, sodass sie später heißes Wasser zum Spülen haben würden.
Die Männer begaben sich zu Bett – der Vater und Drees in die beiden Alkoven auf der Rückseite des Fletts rechts und links von der gemauerten Herdstelle. Ludger und Claes kletterten auf den Heuboden über den Stallungen der Pferde, wo sie ihre Schlafstätte hatten.
Nachdem die Frauen das Geschirr abgewaschen und aufgeräumt hatten, gab Gesa einen Teil der Glut in einen irdenen Topf, sodass sie am Morgen das Feuer schnell wieder entfachen konnten. Den Rest der Glut kehrte sie mit einer Schaufel zusammen und stülpte das Eisengitter darüber. Es war schon vorgekommen, dass ein aufgeschrecktes Huhn oder eine neugierige Katze den Flammen zu nahe gekommen war. Fell und Federn gerieten rasch in Brand, und so manches Haus hatte dadurch großen Schaden genommen. Der umgestülpte Feuerkorb schützte davor.
Stine zog sich in ihre kleine Kammer neben den Ständen der Kühe zurück, Nele kroch in den Alkoven, den sie sich mit ihrer Schwester teilte. Schnell kletterte Elze zu ihr. Die Türen des Alkovens, die bei schlechtem Wetter und bei Kälte geschlossen werden konnten, ließen sie offen, denn selbst in dem großen Deelenhaus war es an diesem Tag heiß und stickig. Das Deelentor blieb auch geöffnet, aber der Vater hatte die Türen des Torhauses verschlossen und die Balken vorgelegt, an Arko kam sowieso niemand vorbei, ohne dass er Laut gab.
Elze stopfte sich ihr Kissen zurecht und lehnte sich zurück. Im Deelenhaus wurde es still. Ihre Mutter löschte noch die letzten Talglichter und stieg dann in den Alkoven zum Vater, der friedlich vor sich hin schnarchte. Käthe legte sich zu Drees.
»Warum mussten wir Tante Stine bei uns aufnehmen?«, wisperte Nele Elze zu. »Keiner will darüber sprechen.«
»Weil sie Vaters Schwester ist, du Dummerchen«, sagte Elze. »Sie gehört zur Familie. Bis letztes Jahr lebte doch auch Onkel Hubert bei uns als Halbknecht. Er war Vaters Vetter.«
»Aber wo war sie vorher?«
»In Münster. Sie diente dort einem der Domherren. Sie war wohl eine Küchenmagd.«
»Niemand will mir erzählen, warum sie so seltsam ist«, sagte Nele schmollend.
»Sie hat Furchtbares erlebt, aber das war lange vor deiner Geburt. Und jetzt sollten wir schlafen.«
»Schreckliche Dinge?« Nele erschauderte. »Ob sie wohl als eine der drei Jungfrauen auf der Burg Kakesbeck war? Um den Fluch zu lösen, der auf den Erben liegt?«
»Oh, Nele, hör auf!« Elze stöhnte und zog nun doch das dünne Leinentuch über sich, obwohl es so warm war. »Das ist nur eine Mär, sagt Mutter.«
»Aber wenn es doch stimmt?«, hauchte Nele fast tonlos. »Manchmal hört man ganz seltsame Geräusche von der Burg. Dort geistert es, da bin ich mir sicher.«
Elze antwortete nicht, sondern schloss die Augen. Sie war fast vier Jahre älter als Nele, und eigentlich sollte sie nicht mehr an Geister und Flüche glauben, ganz sicher war sie sich jedoch nicht. Ihre Schwester stupste sie noch einmal vorsichtig an, drehte sich dann jedoch um, und schon bald waren tiefe und gleichmäßige Atemzüge von ihr zu hören. Elze lauschte ins Flett und die Deele. Im Winter standen die Pferde und Kühe vorne in der Abstallung, man konnte dann ihr langsames Kauen und Schnauben hören. Die Ziegen und die Schweine hatten einen Stall auf der anderen Seite des Hofes, aber auch sie konnte man in mancher Nacht vernehmen. Nun waren die Tiere auf der Weide jenseits der Gräfte, bis auf die Schweine, die im Stall nebenan standen. Dennoch raschelte und knackte es immer wieder im Haus, die Mäuse liefen durch das Stroh und huschten über die Binsenmatten des Fletts. Die drei Katzen waren stets auf der Lauer, doch der Mäuseschar wurden sie nicht Herr. Das alte Gebälk ächzte, schien zu atmen und sich zu strecken, jetzt in der Nacht, da es ein wenig abkühlte.
Elze konnte das tiefe Schnarchen ihres Vaters hören, das Seufzen von Käthe, die wohl auch noch nicht schlief und versuchte, eine bequeme Position im Alkoven zu finden. Aus Stines Kammer hörte man ein leises Jammern, so wie jede Nacht. Elze wusste nur, dass ihre Tante während des Täuferreichs in Münster gewesen war. Dieses Reich hatte ein schreckliches Ende gefunden, fast alle Täufer waren hingerichtet worden. An der Lambertikirche hingen noch drei Käfige mit den Knochen der Anführer als Abschreckung.
Was Stine wohl widerfahren ist?, fragte sich Elze, aber bisher hatte sie nie eine Antwort darauf erhalten, nur dass es furchterregend gewesen war. Das Ende der Welt sagte Stine regelmäßig voraus, doch bisher waren ihre Prophezeiungen zum Glück noch nicht eingetroffen. Möge es so bleiben, dachte Elze und fand endlich auch in den Schlaf.
Der nächste Morgen begann früh, die Sonne ging gerade erst auf, als Gesa die Mädchen weckte. Nele hatte sich um die Hühner zu kümmern, während sich Elze mit Stine zur Weide aufmachte, um Ziegen und Kühe zu melken.
Den ganzen Weg über murmelte Stine düster vor sich hin. »Sie werden es schon sehen. Es wird kommen. Und dann werden sie es sehen. Die Anzeichen sind da. Es kann nicht mehr lange dauern.«
Elze kannte das Lamentieren ihrer Tante gut, denn die Sprüche waren fast immer gleich.
»Meinst du das Wetter?«, fragte sie nun und biss sich auf die Lippen.
Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, Stine nicht auszufragen.
Sie hat Dinge erlebt, die sehr abträglich waren. Dinge, die sie in ihr Inneres eingeschlossen hat, und dort sollten sie auch bleiben.
Ja, das hatte ihre Mutter gesagt. Doch das ständige missmutige Geraune grämte Elze. Zudem ängstigte es sie tatsächlich, selbst wenn sie es kaum zugeben mochte.
»Jaja, das Wetter«, sagte Stine. »So trocken, zu trocken. Wir werden alle verhungern.«
Elze gab Arko ein paar der Kaninchenknochen des Ragouts vom Vortag. Er nahm sie dankbar, wedelte freundlich mit der Rute und leckte ihre Hand.
»Du bist ein Guter«, sagte Elze und öffnete das Tor.
Sie gingen durch das Torhaus, dann über die Brücke, unter der die Gräfte müde murmelte, statt wie sonst munter zu fließen. Über allem lag Staub, die Bäume standen wie benommen am Wegesrand. Manche Blätter der Eichen und Buchen hatten sich schon verfärbt. Doch es waren nicht leuchtende Rot- oder Gelbtöne, die Elze im Herbst so liebte – die Blätter waren jetzt im Sommer schon fahlgelb und braun, zogen sich zusammen wie eine Hand, die sich ballte. Und so schwebten sie auch nicht in anmutigen Schwüngen auf die Erde, sondern sanken einfach nur herab. Selbst die Stever führte in diesem Jahr viel weniger Wasser.
»So schnell verhungern wir nicht, hat Mutter gesagt«, entgegnete Elze betont munter. Sie wollte sich nicht von Stines dunklen Gedanken schrecken lassen. »Es gab immer mal trockene Sommer, und dennoch mussten wir nicht sehr darben.«
»Es ist anders, merkst du das denn nicht? Es liegt Ungemach in der Luft.«
Elze hob den Kopf, holte tief Luft. »Ich würde sagen, das sind die Spelzen und der Staub, die in der Luft liegen. Der Roggen ist sehr trocken.«
»Jaja. Die Körner sind zu klein, viel zu klein. Wir werden verhungern.«
»Aber wir haben doch schon einen großen Teil geerntet, Stine.« Elze lächelte ihre Tante an, doch Stine schüttelte nur den Kopf.
»Du wirst es schon sehen«, sagte sie wieder. »Ihr alle werdet es sehen. Es ist uns prophezeit worden, die Apokalypse steht bevor.«
Elze war froh, dass sie nun die Weide erreicht hatten. Die drei Kühe warteten schon, stoisch und wiederkäuend standen sie da, während sich Stine neben sie auf den kleinen Schemel hockte und den Eimer unter das Euter schob. Währenddessen lockte Elze die Ziegen mit den welken Blättern der Rüben, die im Mus gewesen waren, das sie am Abend zuvor gegessen hatten. Jeden Tag setzte die Mutter Getreidemus an und schaffte es immer, daraus eine köstliche Mahlzeit zu machen. Mal gab sie erntefrisches Gemüse hinein, mal getrocknete Früchte. Elze liebte es, wenn die Körner zuerst ein wenig angeröstet wurden, bevor man Schmalz und Wasser hinzugab. Beim Gedanken daran knurrte Elzes Magen.
»Kommt, kommt, kommt«, lockte sie die Ziegen. »Kommt, ich habe Hunger.«
Die Ziegen folgten dem Ruf eilig, denn meist hatte Elze einen kleinen Salzstein in ihrer Kitteltasche, an dem sie die Tiere lecken ließ. So konnte sie ihnen schnell den Strick um den Hals legen und sie festbinden. Nacheinander molk sie die acht Geißen, dann ließ sie sie wieder laufen.
»Nicht viel, ist nicht viel Milch«, sagte Stine und zeigte in ihren Eimer. »Es kommen schlimme Zeiten, die Zeichen sind schon da.« Stines Stimmlage war höher als sonst. Sie blickte zum Himmel. »Da! Siehst du es nicht?«
Elze schluckte, folgte Stines Blick. Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber es wurde heller. Nur war der Himmel nicht blau, sondern eher gelblich. Die Schwalben flogen tief über die Wiese und den Hof.
»Es wird wohl wirklich bald regnen«, sagte sie. »Wir müssen uns sputen, wir müssen aufs Feld.«
»Es wird nicht regnen, die Welt wird untergehen. Ich sage es dir, du wirst noch an meine Worte denken. Der Herr ist gnädig mit denen, die rechten Glaubens sind.«
»Zum Glück sind wir das ja«, erwiderte Elze und nahm beide Eimer, eilte schon voraus.
Stines Worte waren ihr nicht geheuer, oder vielmehr war es die Art, wie die Tante auf einmal sprach, anders als sonst.
»Sie haben wieder nicht viel Milch gegeben«, sagte Elze zur Mutter und zeigte ihr die Eimer.
»Kein Wunder«, brummte der Vater. »Das Gras ist zu trocken.«
»Es wird regnen«, meinte Elze nun.
»Und die Welt wird untergehen?«, setzte Nele nach und kicherte.
Elze warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
»Ja, das wird es wohl«, sagte der Vater. »Regnen, meinte ich«, fügte er an. »Nur regnen. Die Schwalben fliegen tief, und es ist diesig. Aber mit ein wenig Glück haben wir noch diesen trockenen Tag. Claes ist schon los zum Kleuterhof, um Egbert zu helfen. Wir müssen alle gemeinsam anfassen, damit wir den Roggen eingefahren bekommen.«
»Können wir nicht auch beim Elvertshof fragen?«
Nele sprang auf. Ursa vom Elvertshof war ihre Freundin. In der Kirche standen sie immer nebeneinander.
»Nein, der Elvertshof gehört zur Burg Kakesbeck, der Kleuterhof und Kalmule, unser Hof, haben das Amt Lüdinghausen und somit das Domkapitel von Münster zum Grundherrn, das weißt du doch«, sagte der Vater und schnitt einen großen Laib Brot in dicke Scheiben.
»In Zeiten der Not sollten alle allen helfen«, meinte die Mutter.
»Wenn Not ansteht, ist das auch so. Jetzt geht es nur um die Ernte.« Vater schnaubte. »Ihr tut ja so, als würden Stines unselige Worte wahr werden. Es kommt ein Guss, vielleicht ein Gewitter, aber die Welt wird sicher nicht untergehen.«
»Du wirst sehen, dass ich recht habe«, sagte Stine, die in diesem Moment ins Flett kam.
»Jaja. Und du wirst sehen, dass du dich heute um die Milch und das Essen kümmerst. Kannst auch mit anpacken, wenn wir die Garben einbringen.« Vater nahm die Brotscheiben, dazu ein großes Stück Speck und wickelte beides in ein Tuch, das er sich über die Schulter hängte. »Ich geh zum Westfeld mit Drees. Ludger wird gleich den Braunen vor den Karren spannen und zum abgeernteten Feld fahren. Ihr werdet die Hocken aufladen, in die Deele bringen und dann zu uns kommen.« Er stapfte in den Hof.
»Warte«, rief die Mutter und ging ihm hinterher. Sie zog einen Krug aus dem Brunnenschacht. »Buttermilch. Noch frisch und kühl. Stell sie in den Graben. Ich bring mehr und auch Bier, wenn wir nachkommen.«
»Ist gut.« Heinrich nickte.
»Dann lasst uns schnell machen«, sagte die Mutter, als sie zurück ins Flett trat. »Das Mus habe ich schon aufgestellt. Käthe, du gehst in den Garten und siehst nach, was an Gewächsen reif ist. Erbsen müssten wir noch haben, und auch die ersten Bohnen könnten schon reif sein. Sonst nimmst du von den Wurzeln. Im Rauch hängt ein großes Stück Bauchspeck, das kannst du schmoren, Käthe.«
»Speck?«, fragte Käthe ungläubig. »An einem Tag inmitten der Woche?«
»Ausnahmsweise. Die Männer arbeiten hart, härter als sonst. Die Ernte muss schnell eingefahren werden. Und deshalb brauchen sie Kraft. Also nimm den Speck und schmor ihn. Der Brotteig muss auch angesetzt werden, wir müssen spätestens übermorgen backen. Du weißt ja, wie das geht, Käthe.« Sie sah ihre sehr junge Schwiegertochter an. »Aber nicht alles vom sauren Vorteig verwenden.« Dann wandte sie sich an Stine. »Du kümmerst dich um die Milch. Es ist nicht viel, buttern kannst du dennoch. Die Ziegenmilch kannst du schon aufkochen und dicklegen. Hilf Käthe, das Mädchen soll nicht zu früh niederkommen.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Und mach dem Kind keine Angst, Stine.«
»Jaja, Gesa, ist schon gut.«
Gesa nickte zufrieden. »Dort ist das restliche Mus von gestern, esst schnell, Mädchen, ich geh schon vor.«
Eilig nahmen sich Elze und Nele etwas Getreidemus. Auch kalt schmeckte es noch köstlich, fand Elze. Sie stellten die Schalen auf den Spülstein, und Elze griff nach einem Krug.
»Ich nehme noch Wasser mit. Es hat gar nicht richtig abgekühlt in der Nacht, wir werden schnell durstig sein.«
»Aber nicht aus dem Brunnen«, sagte Stine entschieden. »Der Brunnen ist zu leer, das Wasser steht zu lange, es ist verdorben.«
»Ich werde etwas aus dem Bach schöpfen«, beruhigte Elze sie.
Stine nickte. »Ja, das ist lebendiges Wasser, das ist besser.«
»Das Brunnenwasser ist unrein?«, fragte Käthe entsetzt.
Nele schüttelte hinter Stines Rücken den Kopf und verdrehte die Augen, lächelte Käthe dann zu. Dennoch schien Käthe bestürzt zu sein.
»Zum Kochen taugt es noch«, sagte Stine. »Es ist ja nicht brackig.« Sie schwieg kurz. »Noch nicht«, fügte sie hinzu.
»Denk an Mutters Worte«, ermahnte Elze sie und ging.
Nele folgte ihr eilig. »So schlimm war Stine lange nicht mehr«, sagte sie nachdenklich.
»Das wird am Wetter liegen«, meinte Elze. »Die Hitze ist ja auch unerträglich. Heute ist es dazu noch so drückend, kein Lüftchen regt sich. Das schlägt allen aufs Gemüt.«
Nele zuckte nur mit den Schultern.
Sie hatten das Feld erreicht. Die Mutter war schon eifrig dabei, die Hocken am Rand zusammenzustellen. Schnell packten die Mädchen mit an.
»Das habt ihr gut gemacht«, sagte die Mutter, als sie schließlich alle Hocken zusammengetragen hatten. »Nele und ich gehen jetzt schon weiter zum Westfeld. Elze, du bleibst hier und hilfst Ludger, den Wagen zu beladen. Ich kann ihn schon hören. Ihr bringt den Roggen in die Deele und kommt dann zu uns.«
Elze hatte sich eine Scheibe Brot genommen und setzte sich auf die Erde, lehnte sich an eine Hocke und wartete auf ihren Bruder. Sie kaute das Brot langsam und gründlich, so machte es länger satt. Eine lange Ruhezeit hatte sie nicht, denn bald schon tauchte Ludger mit dem Leiterwagen auf. Er nickte seiner Schwester kurz zu, sprang vom Wagen und fing sofort an, die Garben hinaufzuhieven. Elze half ihm, so gut sie konnte. Der Leiterwagen war hoch beladen, als sie endlich fertig waren.
Ludger besah sich die Fuhre. »Steig obendrauf«, sagte er dann zu Elze.
»Auf den Roggen?« Elze sah ihn entgeistert an. »Muss das sein?« Sie traute sich kaum, dort oben zu sitzen.
»Natürlich. Dein Gewicht drückt die Hocken zusammen, ich hoffe, das reicht, damit die Ladung nicht runterfällt.« Er stieg zurück auf den Bock. »Nun mach schon.«
»Aber … Was, wenn das nicht reicht?«
»Dann fällst du eben. Wird schon nicht passieren. Los jetzt, wir haben keine Zeit.«
Besorgt schaute Ludger zum Himmel. Die Sonne stand nun ein gutes Stück über dem Horizont, aber sie sah ausgefranst und verblichen aus, so als hätte jemand Wachspapier, wie sie es manchmal im Winter vor die Fenster nagelten, um den Frost abzuhalten, über den Himmel gelegt. Wolken waren nicht zu sehen, die Hitze wurde immer drückender.
Elze raffte ihren Kittel und zog das Unterkleid hoch, dann klettere sie auf den Wagen, setzte sich breitbeinig auf das Getreide. Ludger schnalzte, und der Braune stemmte sich in das Geschirr, schnaubte kurz, doch endlich setzte sich der Wagen ächzend und schaukelnd in Bewegung. Elze hielt kurz die Luft an, denn die Fuhre neigte sich bedenklich erst nach links, dann nach rechts, und sie glaubte abzurutschen und zu fallen. Bald jedoch gewöhnte sie sich an das Schaukeln und war schon fast ein wenig enttäuscht, als der Wagen vor dem Torhaus anhielt.
»Ich denke, du solltest herunterkommen«, meinte Ludger wortkarg wie immer. »Wird knapp von der Höhe, haben viel Ladung.«
Elze kletterte hinunter. Sie kniff besorgt die Augen zusammen, als Ludger den Braunen wieder antrieb und der Wagen auf das Torhaus zurollte, aber er passte hindurch, und Ludger brachte das Gefährt vor dem Deelenhaus zum Stehen. Nur ein paar Garben waren bei der Durchfahrt hinuntergefallen, die Elze eilig einsammelte.
»Lauf auf das Westfeld«, sagte Ludger. »Ich entlade schnell alleine und komme nach.«
Das zweite Feld lag hinter einer Baumreihe. Elze konnte sehen, dass auch die Männer vom Kleuterhof mitschnitten, vier Frauen, darunter ihre Mutter und Nele, banden die Garben. Nun gesellte sie sich dazu.
»Bring du die fertigen Garben an den Weg«, wies Gesa sie an. »Dann können wir sie gleich aufladen. Wir haben schon mehr als die Hälfte geschafft.«
Sogleich machte sich Elze an die Arbeit, und bald darauf kam Mette, die Kleuter-Tochter, um ihr zu helfen. Sie grüßten sich nur kurz, arbeiteten dann emsig weiter.
Es war schon nach Mittag, als das Feld abgeerntet war. Endlich gab es eine kurze Pause für die Männer. Ludger war mit dem Wagen gekommen und brachte einen großen Topf deftiger Getreidesuppe und kühles Bier mit.
»Mit Gruß von Stine.«
Alle seufzten erleichtert auf, dehnten ihre verspannten Rücken und wischten sich den Schweiß aus den Augen. Der Schweiß, der ihnen über die Körper ran, vermengte sich mit dem Staub der Spelzen, wurde zu einer klebrigen Schicht auf der Haut, die unangenehm juckte und spannte. Sie sehnten sich nach frischem Wasser, aber zum Waschen war jetzt keine Zeit.
»Na, die Stine scheint ja nicht ganz verblödet zu sein«, murmelte Heinrich.
Schüsseln gab es nicht, die Männer löffelten die Suppe aus dem Topf, tranken das Bier aus den Krügen, die herumgereicht wurden. Nach nur kurzer Rast begaben sie sich auf das nächste Feld, eins vom Kleuterhof. Währenddessen banden die Frauen weiter emsig die Garben. Erst als sie fertig waren, konnten auch sie ein wenig ausruhen, etwas essen und trinken. Dann folgten sie den Männern.
Den ganzen Tag arbeiteten sie Hand in Hand. Schneiden, binden, zusammentragen und schließlich die Fuhren zu den Höfen bringen. Die Hitze lag wie eine dicke Decke, die man nicht lüften konnte, über den Feldern. Kein Lüftchen regte sich, und der Staub hing wie Nebel über allem, machte das Atmen schwer. Gegen Abend zogen die ersten Wolken am fahlen Himmel auf, das Licht änderte sich, die Luft schien noch stickiger zu werden. Immer wieder grollte es in der Ferne. Elze und ihre Familie waren gerade auf den Hof Kalmule zurückgekehrt, als die ersten noch sanften Tropfen fielen.
»Wir haben hart gearbeitet. Der Roggen ist geerntet und eingebracht«, sagte Heinrich zufrieden und ließ sich erschöpft auf die Bank fallen. »Der Regen kommt zur rechten Zeit, er wird dem Hafer und der Gerste guttun.« Er rieb sich den Nacken, seine Haut war grau und braun vom Staub. »Die Erntezeit ist immer hart, aber diesmal …« Er seufzte.
»Wir haben viel geschafft, Hein.« Gesa schloss kurz die Augen. »Viel mehr, als ich gedacht hätte. Hoffentlich kühlt es auch ein wenig ab.« Gesa war in der Fletttür stehen geblieben und sah nachdenklich in den Hof, strich sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. »Was ist mit den Tieren? Holen wir sie rein?«
»Ein Gewitter und etwas Regen bringen sie nicht um. Und in der Deele liegt der ganze Roggen, wir können sie nicht in die Abstallung führen. Nein.« Heinrich schüttelte den Kopf.
Käthe stellte die Schüsseln auf den Tisch, es duftete herrlich nach geschmortem Schweinebauch und würzigem Getreidemus. Ihnen allen knurrte der Magen. Nur Stine saß schweigend am Tisch, aß kaum etwas. Hin und wieder murmelte sie vor sich hin, sah zur Tür, die noch offen stand und durch die endlich ein frischer Luftzug kam.
»Siehst du«, sagte der Vater zu ihr, als er sich bettfertig machte, »es regnet. Du hattest also recht. Aber die Welt geht nicht unter.«
»Nicht heute«, sagte Stine. »Nein, heute nicht.«
Doch ihre Worte klangen nicht beruhigend.
Nachdem es die Nacht durchgeregnet und hin und wieder gedonnert und geblitzt hatte, war es am nächsten Morgen nur trübe und nieselig. Die Männer waren früh aufgestanden und hatten gleich begonnen, den Roggen in der Deele zu dreschen. Die Frauen kehrten das Korn zusammen, fegten die Spelzen auf die Seite. Gegen Mittag zogen mit einem Mal tiefschwarze Wolken auf. Der Wind nahm zu, heulte unter der Dachtraufe und fuhr durch das Reetdach des Hauses. Noch hatten sie nicht alles Getreide gedroschen oder untergebracht, doch schnell harkten die Frauen die Reste aus der Deele hin zum Flett, während die Männer die Tiere von den Weiden holten und im Haus einstallten.
Ludger und Claes kletterten zurück auf die Hille, die Zwischendecke über der Abstallung, und zogen mit einem Seilzug das gebündelte, ausgedroschene Stroh nach oben. Den Roggen hatten sie in den Mäusepfeilerspeicher gebracht, der Teil für ihren Grundherrn, den Amtmann von Lüdinghausen, stand in Säcken abgefüllt in der Deele.
Und dann setzte plötzlich sintflutartiger Regen ein, es war wie eine Wand aus eisigem Wasser. Dazu kam ein heftiger Wind, der die Bäume an der Gräfte bog. Eimer und andere Gerätschaften wirbelten über den Hof. Heinrich und Drees hatten Mühe, das zweiflügelige Deelentor zu schließen. Draußen war es schwarz wie in der finstersten Nacht geworden, Blitze zuckten ohne Unterlass über den Himmel. Käthe hatte sich in ihrem Alkoven zusammengerollt, zitterte und erschauderte bei jedem der Donnerschläge, die durch Mark und Bein gingen.
»Nun«, rief Stine mit schriller Stimme, »nun kommt es, das Ende der Welt!«
»Halt deinen Mund«, fuhr Heinrich sie an. »Siehst du nicht, dass alle schon verängstigt genug sind, auch ohne dein dummes Geplapper?«
Stines Augen waren weit aufgerissen, sie hob die Arme. »Ich habe es gesagt! Ich habe es gewusst. Es ist das Ende!«
In diesem Moment hörten sie die Sturmglocke läuten. Elzes Knie wurden schwach, sie schaute zur Mutter, die die Hände vor den Mund schlug, dann zum Vater, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Von Käthe aus dem Alkoven kam ein hohes, lautes Wimmern, das in das Heulen des Windes einstimmte.
Nur Ludger schien die Nerven zu behalten. Er sprang von der Hille nach unten. »Los, los!«, rief er. »Es ist die Sturmglocke! Wir müssen helfen.«
Die Sturmglocke war auf einem Turm angebracht, der zwischen den Bauerschaften in der Nähe des Kleuterbaches stand. Früher war der Turm aus Holz gebaut gewesen, aber immer wieder hatten ihn Söldner, die durch das Land zogen, in Brand gesetzt, damit sich die Bauern nicht warnen und gegen die Plünderungen wappnen konnten. Ein paar Jahre zuvor hatte man deshalb einen Turm gemauert. Selten hatte Elze bisher den Klang der Glocke gehört, der nun durch den Wind mal von Nahem, mal aus der Ferne zu kommen schien. Meistens waren es Brände, die alle zusammenriefen, um gemeinsam gegen das Feuer anzugehen. Doch bei diesem Wetter war ein Brand kaum möglich.
»Die Engel sind gekommen. Sie rufen uns zusammen. Die Glocken werden erklingen, hat der Prophet gesagt, und alle werden gerichtet.« Stine heulte triumphierend auf.
»Lass es!«, schrie Heinrich. »Lass es und komm endlich zur Vernunft. Du kümmerst dich um den Hof und schützt das Herdfeuer. Alle anderen kommen mit.«
Elze griff nach ihrem Tuch, schlang es sich um den Kopf und die Schultern, merkte aber schon nach den ersten Schritten, wie sinnlos es war. Die gewalkte Wolle, die normalerweise Wasser abhielt, schützte nicht vor diesem durchdringenden Regen, im Gegenteil, schnell sog sich der Loden voll, wurde schwer und lastend. Elze überlegte nur kurz, warf dann das nasse Tuch in das Torhaus, durch das sie rannten.
»Wie kann es brennen?«, schrie sie Drees, der neben ihr lief, gegen den Wind zu. »Wie kann es irgendwo brennen, wenn es so schüttet?«
Drees schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Blitzschlag«, rief er zurück. Sein Gesicht war mit sorgenvollen Falten überzogen.
Wie um seine Worte zu unterstützen, zuckte ein Blitz, so gleißend hell, dass sie die Augen schließen mussten, vor ihnen nieder, gleich darauf bebte die Erde durch den gewaltigen Donnerknall. Elze meinte, taub geworden zu sein, so sehr dröhnte es in ihren Ohren. Ihr Herz flatterte wild wie ein kleines Vögelchen, das in einem Weidenkäfig gefangen war.
»Stine …«, sie schluchzte auf, »… Stine hat die Wahrheit gesagt.«
Drees wandte sich ihr zu, blieb stehen und hielt ihre Schultern fest, sah sie an. »Hör auf!«, brüllte er. »Selbst wenn, dann ist es Gottes Wille, und wir können es nicht ändern. Aber vermutlich ist dies nur ein furchtbares Unwetter, und jemand braucht Hilfe. Voller Angst und Furcht ist niemand hilfreich.«
Er ließ sie so abrupt los und lief weiter, dass Elze zurücktaumelte und beinahe gefallen wäre. Doch der Schreck brachte sie wieder zur Vernunft, und so nahm sie all ihren Mut zusammen und rannte ihm hinterher. Das Wasser in der Gräfte unter der Brücke rauschte, es klang unheimlich, so als würde es nach ihr rufen. Immer noch klatschten eisige Regentropfen schmerzend auf den Kopf, die Arme, gegen die Beine. Der Weg war fast zu einem Bachlauf geworden. Elze musste aufpassen, dass sie nicht ausrutschte, aber allen anderen ging es ebenso. Ihr Vater ging mit großen Schritten voran, fluchte laut.
»Hein!«, ermahnte die Mutter ihn erschrocken.
»Ach, lass mich. Wenn dies das Ende der Welt ist, ist es eh egal!«, rief er kaum hörbar durch das Prasseln des Regens, das Heulen des Windes.
»Dort!«, schrie Ludger, der vorausgeeilt war. »Dort sind Leute! Heda, heda! Wo brennt es?«
»Es sind die Kleuters«, rief Drees. »Dann brennt es nicht dort.«
Auch die Kleuters hatten sie entdeckt und warteten nun an der Weggabelung auf sie. Die Blitze ließen etwas nach, und der Donner dröhnte nicht mehr ganz so heftig, doch es schüttete unablässig vom Himmel.
»Ich hatte schon befürchtet, dass es bei euch brennt«, rief Egbert ihnen entgegen. »Es muss der Elvertshof sein oder sogar die Burg.«
»Müssten wir dann jetzt nicht einen Feuerschein sehen?«, fragte Heinrich zurück. Der Himmel war immer noch schwarz wie die Nacht, obwohl der Mittag kaum vergangen war.
Sie liefen weiter Richtung Norden, denn dort stand die Sturmglocke. Wer auch immer sie läutete, und man konnte die eindringlichen, schnellen Glockenschläge noch hören, wusste, weshalb er Alarm gab.
Die Männer eilten voran, die Frauen folgten. Alle gemeinsam kämpften sie sich gegen den Wind und den Regen, der ihnen ins Gesicht peitschte. Es war mühsam voranzukommen, denn nun kam ihnen nicht nur Wasser auf dem Weg entgegen, sondern auch Schlamm, in dem ihre Holzpantinen oder Lederschuhe stecken blieben und sich vollsogen. Sie zogen die Schuhe aus, steckten sie in die Taschen der Kittel, liefen barfuß weiter durch den Matsch. Es gluckerte und rauschte, als ob sie sich in der Mitte eines breiten Stroms befänden. Plötzlich blieben die Ersten stehen.
»Was zum Henker …!«, rief Heinrich.
»Großer Gott!«, stieß Egbert aus.
Etwa zweihundert Meter vor ihnen teilte sich der Kleuterbach an einem großen Felsen. Ein kleiner Lauf floss in Richtung der Burg Kakesbeck, während der Hauptbach hinunter zum Kleuterhof strömte. Der kleine Bachlauf vereinte sich mit einem Nebenarm der Stever hinter dem großen Wassergraben der Burg und speiste die Gräfte des Hofes Kalmule.
Doch nun war von dem Felsen nichts mehr zu sehen. Auch von den Feldern, dem Weg und dem Gebüsch war keine Spur mehr. Vor ihnen lag ein aufgewühlter See, der zu brodeln schien und sich ihnen entgegendrängte. Das Glockengeläut war verstummt. Ein Mann kam auf sie zugestolpert, bis zur Mitte des Leibes schlammverdreckt. Er fuchtelte mit beiden Armen.
»Der Damm«, schrie er, »der Damm am Wassergraben ist gebrochen. Die Stever tritt über die Ufer. Es ist eine Flut. Sichert euch und eure Höfe! Die Wassermassen sind gewaltig.«
»Welcher Damm?«, fragte Heinrich verblüfft. »Woher kommt das Wasser?«
»Die Stever steigt, der Kleuterbach ist auch nicht mehr in seinem Bett, es ist zu viel Wasser auf einmal. Die Böden sind so trocken, sie können nichts aufnehmen. Der Damm am äußeren Burggraben, er hat nicht gehalten«, schrie der Mann. »Lauft, lauft! Kümmert euch um eure Höfe. Das Wasser kommt, es kommt zu euch!«
Egbert war bleich geworden, er drehte sich zu seinen Söhnen um. Der Kleuterbach lief direkt an seinem Hof vorbei, bildete sogar einen Teil der Gräfte um den Hof. »Wenn die Flutwelle kommt, wird sie den Hof überschwemmen«, stieß er entsetzt aus.
»Dann müssen wir einen Damm bauen«, sagte Martin, sein Ältester.
»Einen Damm? Wie willst du so schnell einen Damm bauen?«, fragte Heinrich. »Nein, das Einzige, was hilft, wird ein Graben sein, um die Flut in eine andere Richtung zu lenken, weg von eurem Hof.«
Egbert nickte. »Auf das Haferfeld und in die Schonung.«
»Aber dann … verlieren wir die Ernte«, sagte Martin entsetzt.
»Besser als den Hof. Kommt!« Egbert kehrte eilig um. »Hier können wir nichts tun.«
Alle folgten ihm. Es regnete immer noch, doch langsam lichteten sich die Wolken, und der schmutzig graue Himmel blitzte hindurch.
»Gesa, nimm die Mädchen und eil zum Hof. Öffne die Schleuse an der alten Mühle. Nehmt die großen Planken, die hinter der Scheune liegen, und stellt sie waagerecht unten vor die Tore der Häuser. Wenn ihr könnt, füllt Säcke mit Stroh, so dicht gestopft wie möglich, und verschließt damit jede Lücke. Bringt die Schafe und Ziegen ins Haus, das Federvieh in die Deele und auf die Hille. Die Schweine müssen bleiben, wo sie sind, aber wenn es geht, legt auch dort Planken vor die Eingänge. Alles Mehl, alle Vorräte auf die Hille oder unter die Dachbalken.«
»Und du?«, fragte Gesa verwirrt. »Was machst du?«
»Die Jungen und ich werden bei Kleuters helfen. Ihr Hof ist bedrohter als unserer. Wir müssen versuchen, wenigstens einen Teil des Wassers abzuleiten.«
Gesa nickte verstehend. Als sie an die Kreuzung kamen, sahen sie eine weitere Gruppe Menschen auf sich zulaufen.
»Wigand vom Elvertshof und seine Familie«, rief Heinrich erleichtert. »Ihr kommt wie gerufen.«
»Wo brennt es?«
»Es brennt nicht, eine Flut kommt, der Damm am Wassergraben der Burg ist gebrochen«, quetschte Egbert zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Mein Hof ist in Gefahr. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Gut, wir helfen wo wir können«, entschied Wigand. »Was ist mit dem Kalmulehof?«
»Die Frauen werden tun, was sie können, aber dem Kleuterhof droht größeres Ungemach«, sagte Heinrich.
»Annike, Ursa, Beke, ihr geht mit zum Kalmulehof, wir andern folgen Egbert.«
»Müssen wir nicht erst zur Burg?«, wandte Annike, Wigands Frau, ein. »Schließlich sind wir der Burg verpflichtet.«
Wigand schnaubte auf. »Die haben genügend Leute. Wir Bauern helfen uns untereinander. Danach können wir immer noch unsere Pflicht erfüllen.«
Und so teilten sie sich auf.
Als sie zum Hof kamen, sah Elze, dass die Gräfte deutlich angestiegen war, doch noch blieb sie in ihrem Bett.
»Elze, zur alten Mühle. Nele, hol das Federvieh«, rief Gesa.
»Beke, du gehst mit Elze«, sagte Annike und folgte Gesa dann zum Haus.
Die kleine Wassermühle lag oberhalb des Hofes, da, wo der Bach in die Gräfte mündete. Dort war ein kleiner gemauerter Schacht, in dem das Wasserrad hing, das früher die Mühle angetrieben hatte. Der Schacht war tiefer und enger ausgehoben als das Bachbett – der so gestaute Bachlauf trieb das Mühlrad an, wenn er hindurchströmte. Doch nur wenn die Mühle betrieben worden war, hatten sie den Zufluss zum Schacht geöffnet. Zudem hatte der Schacht noch einen zweiten Ablauf, der in die Wiese führte und von da zu einer Kuhle, die früher ein Fischteich gewesen war. Die Mühle war jedoch seit Jahren nicht mehr in Betrieb. Nun sollte Elze beide Zugänge öffnen.
Die Böen hatten nachgelassen, aber der Wind war deutlich kälter geworden. Elze war bis auf die Haut durchnässt, und ihre Finger waren klamm. Sie hatte ihren Vater ein paarmal begleitet, wenn er die mit Bolzen gesicherten Schleusentore geöffnet hatte, um die Wiesen zu bewässern, alleine hatte sie das indes noch nie gemacht. Zweifelnd blieb Elze davor stehen, rieb sich die Hände. Das Wasser in der Gräfte stieg, man konnte es geradezu sehen. Weil der Stand in den letzten Wochen so gesunken war, schien es noch nicht bedrohlich zu sein, aber Elze hatte den See unterhalb des Dammbruchs gesehen. All das Wasser würde innerhalb kurzer Zeit zu ihnen herunterfließen.
»Was müssen wir tun?«, fragte Beke, die ihr gefolgt war. Auch sie triefte vor Nässe, zitterte schon.
»Wir müssen dieses Brett entfernen und das dort unten auch, damit das Wasser hier ablaufen kann«, sagte Elze. »Ich glaube, Vater hat die Bolzen herausgezogen, sie sichern das Brett. Ich kann mich nicht so genau erinnern.«
»Lass es uns versuchen«, sagte Beke. »Je eher wir es hinbekommen, desto schneller sind wir im Haus und am Feuer.« Sie kniete sich auf den Boden und besah sich einen der Bolzen. »Wenn wir diesen Stab hier herausziehen, der dort durch das Loch im Bolzen geht, müssten wir ihn lösen können.«
»Ja, aber es ist auf jeder Seite einer, und wenn wir es nicht richtig machen, verkeilt sich das Brett.« Elze kniete sich neben sie. Vorsichtig zog sie an dem Stab, er ließ sich nicht bewegen. »Ich glaube, das Eisen ist verrostet. Vater hat immer Fett darauf geschmiert.«
Schnell sprang sie auf und lief zum kleinen Mühlenhaus. Dort drinnen war es dunkel, doch Elze wusste, dass immer ein Krug mit Talg auf einer Bank dort stand. Sie tastete sich an der Wand entlang, fand den Krug und eilte wieder nach draußen. Mit bebenden Fingern rieben die Mädchen Fett auf den Stab und den Bolzen. Elze wischte ihre Finger an ihrem Kittel ab, packte den Stab erneut und zog daran. Er ließ sich ein wenig bewegen, aber nicht herausziehen.
»Es geht nicht«, sagte Beke.
»Es muss gehen.« Elze nahm all ihre Kraft zusammen. »Es muss einfach.«
Sie zog, so fest sie nur konnte, aber ihre Finger waren nun fettig durch den Talg, und sie rutschte wieder und wieder ab.
Das Wasser in der Gräfte wirkte bedrohlich hoch, klatschte ans Schleusenbrett, sog daran, drückte dagegen. Das Holz ächzte.
»Wir müssen das Brett entfernen«, schrie Elze, »Sieh nur, der Graben füllt sich. Wenn das so weitergeht, wird der Hof überflutet.«
Beke nickte. Sie sah sich um, griff nach einem Stein. »Vielleicht können wir den Stab hindurchstoßen.«
»Ja.«
Beke schlug auf den Stift, der den Bolzen hielt. Er rutschte ein wenig nach unten.
»Noch einmal«, feuerte Elze sie an. »Mit aller Kraft!«
Und diesmal gelang es, sie schlug den Stift fast ganz durch das Bolzenloch. Elze packte ihn und zog, dann gab er so plötzlich nach, dass sie fast in den Schacht gerutscht wäre. Sie keuchte entsetzt auf, aber konnte sich halten. Erleichtert sahen sich die Mädchen an. Doch nun wurde das Schleusenbrett von den Wassermassen in den Schacht gedrückt und drohte dort zu verkeilen.
»Versuch, es zu halten«, rief Elze gegen das Getöse an. »Ich gehe auf die andere Seite und löse dort den Bolzen.«
Sie wischte sich ihre Hände an ihrem durchnässten Kittel ab, nahm allen Mut zusammen. Die Planke, die auf die andere Seite des Schachts führte, war vermoost und glitschig.
Wenn ich ausrutsche, falle ich entweder in den Schacht oder in die Gräfte, dachte sie voller Angst. Beides war gefährlich. Elze schob vorsichtig den rechten nackten Fuß vor, dann zog sie den linken nach. Schritt für Schritt balancierte sie über die Planke zur anderen Seite. Schnell schmierte sie auch hier Fett auf den Bolzen und den Stift. Diesmal versuchte sie erst gar nicht, ihn herauszuziehen, sondern schlug mit dem Stein auf die obere Kante. Wieder und wieder schlug sie, die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Endlich bewegte der Stift sich, und sie schaffte es, auch ihn herauszuziehen. Gerade wollte sie Beke anweisen, das Brett loszulassen, doch nun drückte das Wasser mit einer solchen Wucht dagegen, dass es ihnen aus den Händen gerissen wurde und gegen das alte und morsche Mühlrad krachte. Schäumend strömte das Wasser in den Mühlschacht, das Rad setzte sich ächzend in Bewegung, Bretter lösten sich und wurden nach unten gerissen, krachten gegen die Schleusenwand.
»Wir müssen das untere Tor auch öffnen«, rief Elze Beke zu. Nun teilte sich das Wasser der Gräfte, floss aber unterhalb des Mühlenschachts wieder zusammen. Nur wenn sie den kleinen Ablauf, der auf die Wiese führte, öffneten, konnten sie einen Teil des Wassers umleiten. Und die Flut drohte, alles mit sich zu reißen, das konnte Elze hören und spüren.
Sie eilte am Mühlenschacht entlang, auch hinter dem Mühlrad wurde das Schleusentor von Bolzen gehalten. Diese ließen sich jedoch leichter öffnen, und gurgelnd ergoss sich das Wasser in den ausgetrockneten Graben und weiter bis hin zur Kuhle in der Wiese, wo früher ein Teich gewesen war.
Erleichtert schüttelte sich Elze, so wie Arko nach einem Wolkenbruch, doch sie konnte sich nicht trocknen wie ein Hund. Hier, am unteren Ende des Mühlenbachs, führte eine kleine Brücke über die Gräfte, und Elze lief mit Beke zurück auf den Hof.
Die Nachbarstochter sah sie fragend an. »Und nun?«
Elze schaute sich um, zuckte dann mit den Schultern. »Ich glaube«, rief sie über das Strömen und Tosen hinweg, »mehr können wir hier nicht tun.«
Sie nickten sich einvernehmlich zu und eilten zum Haus.
Auf dem Hof herrschte emsige Betriebsamkeit. Gesa und Annike versuchten, den Schweinestall mit Planken abzuschotten, Ursa und Nele stopfte Stroh in Säcke. Einige lagen schon im Flett. Das Feuer in der Herdstelle loderte warm und anziehend, aber Elze begriff, dass die Zeit zum Ausruhen und Trocknen noch nicht gekommen war. Vom sonst so friedlich murmelnden Kleuterbach war ein gefährliches Rauschen zu hören. Auch knackte es immer wieder ohrenbetäubend laut, als würde ein Riese Bäume wie Reisig zertreten.
»Was können wir tun?«, fragte Elze Stine, die an der Feuerstelle stand, über der ein großer Kessel hing. Es duftete köstlich, und Elzes Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Stine musterte sie. »Es müssen noch Planken an das Deelentor. Aber lauf erst zum Torhaus und sieh nach, wie hoch das Wasser dort steht.«
Zum Glück, dachte Elze, scheint Stine im Moment ganz vernünftig zu sein. Sie hatte befürchtet, dass ihre Tante klagend in der Ecke sitzen und wieder mal vom Ende der Welt lamentieren würde. Elze zog die Schultern hoch, es kostete sie Überwindung, wieder in Wind und Regen hinauszutreten, statt am warmen Feuer zu verweilen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Wasser aus dem Kleuterbach so steigt, dass der Hof in Gefahr wäre«, sagte Beke nun.
»Oh doch«, sagte Stine bitter. »Oh doch. Und wenn das Wasser der Stever dazukommt, vereinigen sich zwei todbringende Schwestern. Aus dem Land wird ein See, und die Toten werden treiben auf dem Wasser!« Ihre Stimme war lauter geworden, schriller.
Beke zuckte zusammen, und Elze packte schnell ihre Hand, zog sie mit sich raus. »Tante Stine ist ein wenig … verwirrt«, versuchte Elze zu erklären.
»Sie ist eine Wiedertäuferin, sagt mein Vater. Und er sagt es in einem seltsamen Ton.«
»Nein.« Elze schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Sie ist nur während der Zeit der Täufer in Münster gewesen und hat schreckliche Dinge erlebt.«
»Was denn?«, fragte Beke neugierig, während sie Elze zum Torhaus folgte.
»Ach, das erzähl ich dir später.«
Der Regen hatte nachgelassen, der Himmel klarte auf. In der Ferne konnte man noch das Donnergrollen des abziehenden Unwetters hören. Die Luft war deutlich abgekühlt und der Wind immer noch frisch. Elze ging durch das Torhaus auf die Brücke, die man im Notfall hochziehen konnte, und sah in die Gräfte. Das Wasser gurgelte und schäumte bis zum Rand des Grabens, schwappte hier und dort schon drüber und bildete Pfützen im Hof. Der Druck des nachfließenden Gewässers schien noch zuzunehmen. Die Gräfte hatte zur Hofseite hin einen Erdwall, der möglichen Eindringlingen das Überqueren noch schwerer machen sollte. Die Hofanlage selbst – das Deelenhaus, die Speicher und Ställe, lagen innerhalb des Grabens, wie auf einer Insel und ein wenig erhöht. Anders war es bei der Burg Kakesbeck, wo die Gemäuer direkt im großen Wassergraben standen und die Burgmauern das Wasser abhielten.
Es wäre sicher besser, auf so einer befestigten Anlage zu wohnen, dachte Elze und spürte den Knoten der Angst in ihrem Bauch. Doch es war keine Zeit für Gedanken dieser Art, und so wischte sie sie beiseite.
Elze sah am Graben entlang. An manchen Stellen leckte das Wasser wie eine große, gierige Zunge an dem ausgetrockneten Erdwall, der bisher nur oberflächlich vom Regen aufgeweicht war, drang in die Risse und Furchen ein, bildete kleine Rinnsale, die sich ausdehnten, auf den Hof liefen, sich sammelten. Aus Pfützen waren schmale Bäche geworden, die sich nun zu kleinen Seen zusammenfanden.
»Nach was suchst du?«, fragte Beke.
»Nach … Löchern. Siehst du? Hier steht das Wasser bis oben am Grabenrand, dort dringt es schon hindurch. Wir müssen die Brüche stopfen.« Elze schaute sich hektisch um. »Aber womit?«
»Die Strohsäcke«, rief Beke und lief auch schon zurück zum Haus.
Elze überlegte, ob sie ihr folgen sollte, doch dann entschied sie sich, einmal um den Hof herumzulaufen, um zu sehen, wo sich die größten Lücken auftaten.
Als sie zum Torhaus zurückkam, stopften dort schon Beke und Nele Strohsäcke in die Risse des Grabens. Das Stroh konnte nicht viel Wasser abhalten, aber die Säcke waren besser als nichts.
»Gut!«, rief Elze. »Auf der anderen Seite fließt der meiste Druck nun durch das Mühlentor ab und in die Wiesen.«
»Es hat aufgehört zu regnen«, sagte Nele verzweifelt und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Aber das Wasser steigt immer noch.«
»Es war so trocken, das Land kann die Feuchtigkeit nicht aufnehmen«, erklärte Beke.
»Sollte es das nicht umso mehr?«
»Nein, Nele. Das Land ist so trocken, es ist wie Stein. Da kann in so kurzer Zeit nichts einsickern«, erklärte Elze.
Inzwischen waren aus den Pfützen und Rinnsalen kleine Ströme geworden, gegen die auch die Strohsäcke nichts mehr ausrichten konnten. Die Gräfte lief über, das Wasser sprudelte unaufhaltsam in den Hof.
»Nehmt die Säcke, sie nützen hier nichts mehr. Wir müssen das Haus schützen«, befahl Elze.
Sie ging ins Torhaus und griff nach ihrem wollenen Umschlagtuch, das sie am Mittag dort hatte fallen lassen. Es war nur ein paar Stunden her, aber die Zeit erschien ihr viel länger.
Eilig liefen sie mit den nun von der Nässe schweren Strohsäcken zurück zum Haus. Das große Deelentor war geschlossen, davor lagen quer die Planken, die Gesa und Annike mit Pflöcken versucht hatten zu sichern. Im Stall quiekten die Schweine aufgeregt, in der Deele stampften die Kühe unruhig mit den Hufen, die Pferde schnaubten. Über dem ganzen Hof lag gequälte Angespanntheit, wie eine Plane, die jemand festgezurrt hatte.
»Hier!«, rief Gesa. »Hierher mit den Säcken. Rund um den Schweinestall. Wenn die Tiere ertrinken, wäre das grauenvoll.«
»Was ist mit den anderen Tieren?«, fragte Elze. »Mit den Ziegen und Hühnern, den Gänsen?«
»Sie sind in der Deele.«
»Und das Getreide im Speicher?«
»Wir hoffen auf Gott, dass er es schützt.« Gesa bekreuzigte sich. »Etwas anderes können wir nicht mehr tun.« Und tatsächlich, nachdem sie auch die Fletttür mit querliegenden Brettern verkeilt hatten, gab es nichts mehr, was sie machen konnten, außer abzuwarten und zu beten. Für einen Moment schauten sich alle ratlos an. Dann kam wieder Leben in Gesa. »Los, los, los. Alle raus aus den nassen Kleidern. Wir haben genügend trocknes Feuerholz im Haus, heiz das Feuer an, Stine. Hängt alles auf.« Sie öffnete die Truhen, holte Wäsche und Unterkleider heraus, verteilte die Kittel und Kleider.
Stine hatte das Trockengestänge hervorgeholt, breitete nun die vom Regen durchweichte Kleidung darauf aus. Bald schon dampfte es im Flett. Dann setzten sich alle, und Stine reichte Brot und Speck herum, stellte die Schalen auf den Tisch, servierte Suppe und dazu Getreidemus.
Sie sah Gesa entschuldigend an. »Zwei der alten Hennen … sie wollten nicht auf die Hille … sie …«
»Sie sind dann im Topf gelandet«, vervollständigte Gesa den Satz und lächelte milde. »Das kann ich gut verstehen. Nichts tut so gut wie eine ordentliche Hühnersuppe.«
»Werden wir … wird uns … also … die Flut …?«, stammelte Nele, die immer wieder ängstlich zur Tür sah. »Ist das die Sintflut?« Sie traute sich gar nicht, Stine anzuschauen.
»Nein«, sagte Stine nun zu aller Überraschung. »Das ist nicht die Sintflut. Das Unwetter war schlimm, aber es ist nicht das Ende der Welt.« Sie zuckte fast schon entschuldigend mit den Schultern. »Es wird jedoch kommen. Ganz sicher wird es kommen.« Für einen Moment hielt sie inne, lauschte. »Irgendwann.«
»Also wird das Wasser den Hof nicht überfluten?« Nele seufzte erleichtert auf.
»Das wissen wir nicht, mein Kind«, sagte Gesa sanft und legte beruhigend eine Hand auf die Schulter ihrer jüngeren Tochter. »Bisher steigt das Wasser. Und es kann sein, dass es ein gutes Stück weitersteigt.«
»Aber es regnet doch nicht mehr«, meinte Beke. »Wie kann es da noch ansteigen?«
»Das Wasser fließt den Lauf des Flusses hinunter. Auch alles, was nördlich von uns als Regen gefallen ist und die Erde nicht aufnehmen kann, wird hierherkommen«, sagte Annike.
»Und die Erde ist zu trocken, sie kann nicht viel aufnehmen«, murmelte Beke. »Das heißt, das Wasser wird mehr und mehr … selbst wenn es jetzt nicht weiterregnet.« Erschrocken sah sie ihre Mutter an. Annike nickte.
»Wir müssen einfach abwarten«, sagte Gesa. »Und hoffen.« Sie stand auf und holte Honig aus der Küchentruhe, die niemand außer ihr und Stine öffnen durfte. Dann rührte sie drei große Löffel in den Haferbrei, den Stine gekocht hatte. »Ein wenig Süße bringt Kraft, und die werden wir brauchen.«
»Wieso habt ihr eigentlich eine Mühle?«, fragte Beke nun.
»Die ist alt und gar nicht mehr in Gebrauch«, erklärte Gesa. »Früher, das war noch zuzeiten von Heins Eltern, da wurde hier Korn gemahlen. Aber dann wurde die große Mühle am Kleuterhof gebaut, und der Kalmulehof hat seine Mahlrechte verloren.« Sie schüttelte den Kopf. »Damals gab es auch einen Teich hinten auf der Wiese, mit Karpfen und Aalen. Das Amt hat es später verboten.«
»Unser Korn müssen wir zur Burg bringen«, sagte Annike. »Sie behalten ihren Teil immer gleich ein und … hm … ich glaube, der Vogt wiegt nicht zu unseren Gunsten.«
»Ja«, brauste Beke auf. »Da wird ein Sack Korn in die Mühle geschüttet, und heraus kommt ein Viertel Sack Mehl. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen.«