Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne - Sina Scherzant - E-Book
SONDERANGEBOT

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne E-Book

Sina Scherzant

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das literarische Debut der Bestsellerautorin, Podcasterin und Drehbuchautorin Sina Scherzant: berührend, tiefgründig und empowernd! »Bittersüßer Coming-of-Age-Roman, der im Dortmund der frühen Nullerjahre die Kraft weiblicher Vorbilder zelebriert.« EMOTION »Das Wichtigste war schließlich, dass es allen gut ging. Allen anderen.« Katha ist eine Instanz in ihrem 1-Personen-Betrieb, der sich der Aufgabe verschrieben hat, es allen recht zu machen. Von klein auf hat Katha gelernt, sich anzupassen, sich zu kümmern und keinen Ärger zu machen. So macht sie es auch in Dortmund, wo sie seit der Scheidung der Eltern zusammen mit Mutter und Schwester lebt. Doch dann trifft sie auf Angelica. Angelica ist für die Mädchen rund um Katha etwas zwischen Freundin und Ersatzmutter. Eine Frau, die sieht und zuhört. Ein Jahr folgt, in dem nicht nur verstorbene Hamster wiederauftauchen und Kindmänner vertrieben werden, sondern in dem Katha ihre Rolle als Dienstleisterin für das Wohlergehen der anderen mehr und mehr hinterfragt. Als Angelica schwer krank wird, gerät ihre ganze Welt ins Wanken. Wer kann ich sein, wenn ich es nicht mehr allen recht machen muss? Dies ist die Geschichte einer jungen Frau, in der sich so viele wiedererkennen werden, die glauben, sich den Menschen um sich herum sowie dem Rest des Lebens anpassen zu müssen. "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" handelt von Freundschaft und Verbundenheit, von Schmerz und Verlust, davon, wie bedeutsam eine Begegnung, wie wichtig ein anderer Mensch für unser Leben, wie lebensverändernd er sein kann. Sina Scherzant erzählt davon zeitgemäß, reflektiert, intensiv und mit großer sprachlicher Kraft. »Sina Scherzants Roman erzählt sanft und einfühlsam über Freundschaft, Eigenliebe und Selbstfindung. « WDR »Reflektiert, einfühlsam und vor allem wahnsinnig amüsant. « Kultur West *** Coming-Of-Age für Erwachsene: Für alle People Pleaser, für Nostalgiker der Nullerjahre und für Fans von einfühlsamer Gegenwartsliteratur. Wer Mariana Leky und Alina Bronsky mag, wird Sina Scherzant lieben! ***

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne

Die Autorin

Sina Scherzant, 1991 geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, ist SPIEGEL-Bestsellerautorin, Podcasterin, Meme-Account-Host und Drehbuchautorin. »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« ist ihr literarisches Debüt. 

Das Buch

Katha ist eine Instanz in ihrem 1-Personen-Betrieb, der sich der Aufgabe verschrieben hat, es allen recht zu machen. Von klein auf hat Katha gelernt, sich anzupassen, sich zu kümmern und keinen Ärger zu machen. So macht sie es auch in Dortmund, wo sie seit der Scheidung der Eltern zusammen mit Mutter und Schwester lebt. Doch dann trifft sie auf Angelica. Angelica ist für die Mädchen rund um Katha etwas zwischen Freundin und Ersatzmutter. Eine Frau, die sieht und zuhört. Ein Jahr folgt, in dem nicht nur verstorbene Hamster wiederauftauchen und Kindmänner vertrieben werden, sondern in dem Katha ihre Rolle als Dienstleisterin für das Wohlergehen der anderen mehr und mehr hinterfragt. Als Angelica schwer krank wird, gerät ihre ganze Welt ins Wanken.

Dies ist die Geschichte einer jungen Frau, in der sich so viele wiedererkennen werden. Frauen, die sich wie sie den Menschen um sich herum sowie dem Rest des Lebens glauben anpassen zu müssen. Nicht locker und spontan, sondern bewegungslos und schicksalsergeben, so wie es alle erwarten, so wie es allen am liebsten ist. Dies ist die Geschichte einer jungen Frau, die durch eine Begegnung, die ihr Leben für immer verändern soll, lernt, wie viel mehr sie sein darf.

Sina Scherzant

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Zitatnachweise:

Taylor Swift, Anti-Hero

Roger Willemsen, Der Knacks

Zlatko Trpovski, Ich vermiss dich (wie die Hölle)

bell hooks, All About Love: New Visions

 

ISBN 978-3-8437-3088-4

2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Autorinnenfoto: © Jonas Höschl

Umschlaggestaltung: favoritbuero, München

E-Book-Konvertierung powered by pepyrus

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

0.

TEIL I

1

0.

TEIL II

2

TEIL III

3

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Motto

»I’ll stare directly at the sun,but never in the mirror.«

Taylor Swift

Prolog

0.

Ich höre ihre Stimme, und der Schreck zieht mich an meinem Nabel einmal quer durch den Raum. Ohne dass ich es will, falle ich zurück in eine andere Zeit, in ein anderes Leben. Mein Kopf reißt ruckartig herum. Sie sieht aus wie damals und gleichzeitig auch nicht. Es ist, als hätte jemand an einem Bild herumradiert, einige Konturen verwischt und an anderer Stelle verstärkt, ich merke, dass mein Verstand überfordert ist. Alte und neue Information, Erinnerung und Gegenwart passen nicht ganz aufeinander.

Blut ist dicker als Wasser, steht im Alten Testament. Aber nur, weil es im Alten Testament steht, muss es nicht zwangsläufig erfunden sein. Viskosität ist ein Begriff aus der Physik und beschreibt, wie dickflüssig ein Fluid ist. Die Viskosität von Blut beträgt durchschnittlich ca. 4,5 mPas – schwankend und abhängig von weiteren Faktoren.Wasser hat – je nach Temperatur – einen Wert um 1. Na gut, also ist Blut dicker als Wasser.

Viskosität.F Viskosität.FU Viskosität.FUC Viskosität.FUCK Viskosität.

         Wirklich?

Die Jugend ist immer so drastisch.

Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich im Frühjahr 2003 eine Frau traf, die alles war und alles sein konnte, was sie wollte, und für mich war sie verdammt dickes Wasser.

TEIL I

   

Anfang der Nullerjahre zogen meine Mutter, meine kleine Schwester und ich um. Damals war ich vierzehn, meine Schwester Nadine erst acht. Die Existenz meiner Schwester – ich muss es leider so drastisch sagen – lässt sich maßgeblich als Versuch meiner Eltern deuten, ihre Ehe zu retten. Oder ihre Liebe. Oder auch nur einen Restfunken Zuneigung. Bis heute ist mir unbegreiflich, wie zwei erwachsene Leute allen Ernstes auf die Idee kommen können, dass das funktioniert.

Aber man hört ja doch immer wieder davon.

Meiner Schwester hat das nicht wirklich gutgetan. Sie erlebte unsere Eltern nie oder nur selten als zwei, die sich einen Blick zuwerfen, der eigentlich nicht für Kinderaugen gedacht ist. Ihr wisst, was ich meine, Blick, Blick zurück, geh du doch mal raus auf den Spielplatz, Plastikteller mit Spinat- und Fischstäbchenresten vom Kind in die Spüle gepfeffert, nackter Arsch auf Küchentisch, Stimmbänder rau gestöhnt. So ungefähr.

Ich hatte diese Blicke in meiner frühesten Kindheit noch zwischen meinen Eltern erlebt, auch wenn ich sie damals natürlich nicht umfassend deuten konnte. Aber sie hinterließen in mir ein Gefühl, das Kindheitspädagogen sicher begeistert beklatschen würden, es war das Gefühl von Hier ist alles in Ordnung, hier muss sich niemand Sorgen machen. Urvertrauen, Bindung, dies das. Sorgen machte ich mir erst dann, als diese Blicke weniger wurden. So versuchte ich schon in meiner frühesten Kindheit, Momente des Glücks für meine Eltern künstlich zu erzeugen. Ich tüftelte an ihrer Beziehung herum wie eine kleine therapeutische Handwerkerin. Ich kochte kleine Kindergerichte aus kleinen Kinderzeitschriften nach, die die kulinarische Ebene von überbackenem Toast mit einer Cocktailtomate als Garnierung in der Regel nicht überstiegen. Dabei fühlte ich mich allerdings so, als hätte ich ihnen eine höchst romantische Candlelight-Dinner-Situation verschafft, während sie ganz elternmäßig Begeisterung heuchelten für diese Gerichte, die den Namen Gericht nicht im Mindesten verdienten, und ich stand daneben wie die Chefköchin höchstpersönlich und erfreute mich an meinen sogenannten kleinen, feinen Plänen.

Ich schrieb Zettel mit Botschaften und versteckte sie überall in der Wohnung. Darauf stand dann so was wie »Wer das liest, muss Mama auf den Mund küssen«. Fand ein Elternteil einen dieser Zettel, beobachtete ich den Moment der Ausführung vom Türrahmen aus und freute mich wie eine Schneekönigin über die erfolgreiche Umsetzung meiner kleinen Pläne. Je seltener meine Eltern sich mit dem Glücklich-Blick ansahen, umso heftiger und verzweifelter wurden meine kleinen Pläne. Reagierten meine Eltern zu Beginn noch mit leicht beschämter Freude und tauschten sogar manchmal den von mir erhofften Blick, so wurden ihre Reaktionen mit der Zeit kühler. Als ich meine Mutter einmal einen Zettel mit der Botschaft »Wer das liest, muss Papa ganz fest in den Arm nehmen« öffnen sah, im Inneren schon bereit für einen wärmenden Moment voll elterlicher Liebe, bemerkte ich zum ersten Mal einen ganz anderen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Eher so, als öffnete man den Deckel des Biomülls und entdeckte, dass es angefangen hatte zu schimmeln. Mein Vater, der ebenfalls auf den Zettel schielte, lachte auf eine unangenehm nervöse Art, die ich noch nie an ihm festgestellt hatte, und dann, sehr unbeholfen, sodass möglichst wenig Körper anderen Körper berührte, drückten meine Eltern sich steif unter meinen großen Augen. Es war eine riesige Enttäuschung.

Einige Wochen später sah ich durch den Spalt des Wohnzimmers, wie mein Vater in der Fernsehzeitschrift einen weiteren meiner Ehe-Rettungs-Zettel fand. Ich schaute mit einem leisen Lächeln zu, wie er ihn eine Weile betrachtete und die Botschaft las. Schließlich – nach einigen stillen Sekunden – zerknüllte er ihn in seiner Hand.

Gefrorenes Lächeln auf meinem Gesicht. Während er vom Sofa aufstand, in die Küche ging und dort den Papiermüll öffnete, stand ich mit klopfendem Herzen und einem schmerzhaften Gefühl, das sich heiß und eklig von meinen Oberschenkeln bis zum Hals hochzog, im dunklen Flur und kämpfte gegen die Erkenntnis an, dass meine kleinen Pläne gescheitert waren.

Aber meine Bestrebungen, mich zu kümmern, wären ja wirklich recht einfallslos gewesen, wenn sie sich nicht variabel einsetzen ließen. Eine Festanstellung im Lebenshandwerk, dem selbstlosesten aller Berufszweige, endete nicht nach einem kleinen Misserfolg.

Einige Zeit später sah ich meine kleine Schwester erste tapsige Schritte in Richtung von Armen machen, die nicht ausgebreitet waren, die keine Kapazitäten und keine Kraft hatten für die erbetene Zuneigung. Und, na klar, öffnete stattdessen ich meine Arme für sie, und wie ich sie öffnete. Als mir dann auch noch einfiel, dass Nadine vermutlich niemals gesehen hatte, wie meine Eltern sich – ohne Zettelzwang – küssten, sah ich vermehrten Handlungsbedarf. Neue kleine Pläne wurden geschmiedet. Diesmal für meine Schwester.

Schnitzeljagden bei uns zu Hause, Gutenachtgeschichten, Abenteuer zwischen heißer Lava und Steinen aus Karamell im Sandkasten einen Block weiter. Die Resonanz meiner Schwester auf meine Bemühungen war groß, war zart, sie gab mir die Bestätigung, dass ich das Richtige tat. Dass ich eine gute Handwerkerin war.

Aus irgendeinem Grund wusste ich bereits vor Nadines strahlenden Augen und ihrem begeisterten Quieken, dass die meisten Leute es mögen, wenn man sich um sie kümmert. Da ich viel vor dem Fernseher rumhing und so ziemlich jede Kinderserie kannte, die in den 90ern lief, hatte ich es wohl daher.

Gummibärensaft trinken, alle retten. Macht des Mondes nutzen, alle retten. Ein bisschen Powerpuff hier, ein bisschen Simsalabim da, alle retten. Ich war da, ich war stark, ich war bereit.

Sich zu kümmern, aufzuopfern, allzeit bereit zu sein im Kampf gegen das Unwohlsein der anderen, hieß nur blöderweise auch irgendwie unsichtbar zu werden. Anders als die Figuren in meinen Lieblingsserien wurde ich zur Nebenrolle in meinem eigenen Leben.

Aber das war schon in Ordnung so. Das Wichtigste war schließlich, dass es allen gut ging. Allen anderen.

Und so war auch der Umzug in die neue Stadt etwas, zu dem ich keine Gefühle hatte. Ich beklagte mich nicht, ich weinte nicht, ich trauerte nicht um verlorene Freundschaften. Das neue Leben nahm ich als etwas an, von dem ich schon immer ahnte, dass es eines Tages kommen würde. Eine neue Aufgabe für die kleine Lebenshandwerkerin war da. Mir wurde etwas hingelegt, und ich arbeitete es ab. Lohnarbeit! Kapitalismus! Amen!

Aus den Kinderbüchern, die ich ihr abends vorlas, wusste Nadine, dass Umziehen – insbesondere für Kinder – etwas Schreckliches war. Und so wie ich meine Rolle annahm, schlüpfte sie in die für sie vorgesehene Rolle. Sie tobte und schrie, wenn meine Mutter den Umzug erwähnte. Sie sagte, sie würde nicht mitkommen, und schnürte sich eines Tages sogar ein kleines Bündel, um von zu Hause wegzulaufen. Astrid Lindgren wäre stolz auf sie gewesen. Bis zur Bushaltestelle kam sie, dort weigerte sich der Fahrer, sie mitzunehmen, da ihn eine Achtjährige mit einem Stock, an den ein Beutel geschnürt war, wohl doch zu viele Schwierigkeiten erahnen ließ.

»Um Gottes willen, kannst du dich bitte kümmern?«, stöhnte meine Mutter, als Nadine zwei Tage vor Umzug drei ganze Kartons wieder aufriss und den Inhalt in unserem Zimmer verteilte.

Na klar.

Na klar kümmerte ich mich.

Auftrag angenommen.

Verurteilt mich bitte nicht, ich war ein Kind. Was hättet ihr getan? Oh ja, wahrscheinlich rebelliert. Nadine geholfen, auch noch die restlichen Kartons aufzureißen, und meine Mutter ins völlige Chaos gestürzt.

Aber das tat ich aus irgendeinem Grund nicht.

Mir tat meine Mutter leid, die sich damit abfand, dass ihr Leben von nun an ein trauriges sein sollte. Sie würde auch die kommenden Jahre keinen Versuch mehr unternehmen, etwas daran zu ändern. Mir tat Nadine leid, die sich nicht damit abfinden wollte, dass ihr Leben von nun an ein trauriges sein sollte, und die kommenden Jahre jeden möglichen Versuch unternahm, etwas daran zu ändern. Ich selbst tat mir nicht leid.

Papa hat immer gesagt, Leute, die sich selbst leidtun, sind erbärmlich, würde ich einige Wochen später zu Angelica sagen.

Quatsch, würde Angelica daraufhin antworten und verärgert an ihrer Zigarette ziehen. Aber dazu kommen wir noch.

Wie hat so ein erster Tag an einer neuen Schule auszusehen? Hat man genügend Highschoolfilme aus Hollywood gesehen, dann weiß man, dass eigentlich dazugehört, verschüchtert grinsend neben der Lehrerin zu stehen, während fies aussehende 32-Jährige, die Teenager spielen, kichern und sich Dinge ins Ohr flüstern. Gut kommt natürlich auch immer eine Szene, in der die neue Schülerin an einen Tisch beordert wird und die Person auf dem Platz daneben mit übertrieben angewidertem Gesichtsausdruck wegrückt. Dann mit Tablett in die riesige Mensa, sich von den 32-Jährigen mit einem Pudding bewerfen lassen, bevor man sich wahlweise allein am Ende eines Tisches niederlässt oder von zwei Teenagern, die dank ihres ausgefallenen Styles für die Zuschauerinnen sofort als Nerds erkenn- und einordbar sind, zu sich gewunken wird. Diese beiden Teenager sind von diesem Moment an die Day Ones, die absoluten Foreverfriends, oh mein Gott, dass wir uns gefunden haben! Es muss Schicksal gewesen sein! Die Freude währt meist jedoch nur so lange, bis die Protagonistin es doch schafft, die Aufmerksamkeit der coolen Kids auf sich zu lenken und sich ab sofort und ohne mit der Wimper zu zucken ihnen zuwendet. Ach, die Highschool.

Aber ich war an keiner kalifornischen Highschool, sondern an irgendeinem Nullachtfuffzehn-Gymnasium in Dortmund-Hombruch. Fast das Gleiche. In meinem Fall die bessere Alternative, denn so stand ich zwar einigermaßen verschüchtert neben der Lehrerin, aber blickte nicht in die perfekt geschminkten Gesichter 32-jähriger Teenager, sondern sah eine recht desinteressierte Klasse, die in einem Raum mit schmutzig grauem PVC-Boden hockte, zwischen Wänden, an denen bunte Plakate hingen. Offenbar war es im Unterricht kürzlich um Ökosysteme und Naturschutz gegangen, ich sah auf den Plakaten mit Edding aufgemalte Zeichnungen von Stoffkreisläufen, die mir vage bekannt vorkamen. Irgendjemand war besonders eifrig gewesen und hatte mit blau gefärbter Watte einen Teich auf weißem Tonpapier dargestellt. Im Teich ›schwamm‹ echter Müll, Strohhalme, Bonbonpapier, so was eben. Ohne sie wirklich zu kennen, war ich mir sicher, dass Lehrerin Meinke bei so einer kreativen Ausarbeitung vor Verzückung ganz aus dem Häuschen geriet und es dafür – ungeachtet der inhaltlichen Korrektheit – mindestens eine 2+ gegeben hatte.

Während Frau Meinke neben mir Eckdaten aus meiner Biografie runterratterte und etwas von guter Klassengemeinschaft schwafelte, ließ ich den Blick vorsichtig über die Klasse schweifen und sah, wie Jannik Polzke seinen Kaugummi langsam aus dem Mund zog und ihn seitlich ans Tischbein schmierte, und ich sah, wie sich Sofie Rybka mit gelangweiltem Gesichtsausdruck halb unter den Tisch lehnte und zwei große Sprühstöße Deo aus einer pinken Flasche unter ihre Achseln schoss. Im Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Fenster zu ihrer Rechten hindurchdrang, sah man, wie sich der Deonebel in einer riesigen Wolke um sie herum ausbreitete. Alexander Kehlbach, der eine Reihe hinter Sofie saß, begann, übertrieben zu husten und Würgegeräusche vorzutäuschen.

Die Namen meiner Mitschüler wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, aber ich will es für die Erzählung ein bisschen einfacher machen. Gern geschehen.

» … und die Katharina ist gerade hergezogen, sie wird ab heute Teil der Klasse sein, und ich möchte bitte, dass ihr – VERDAMMTE AXT, SOFIE! WAS STEHT IN DEN KLASSENREGELN? DA HABT IHR ALLE DRAUF UNTERSCHRIEBEN, KEIN DEO IM KLASSENRAUM, WIE OFT NOCH?«

Ich ließ mich in der dritten Reihe neben einem Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren nieder. Ihre Haare waren so voll und lockig, dass ich sie im folgenden Sommer immer wieder leicht kitzelnd auf meinem nackten Arm spüren sollte. Ihre kleine Nase machte einen Schwung nach oben, sodass man sie für die perfekte Skisprungschanze hätte halten können. Sie schob ihr Arbeitsheft in die Mitte des Tisches, und beim Aufschlagen konnte ich für eine Sekunde den Namen »Ekaterini Dimitriou« lesen, bevor sie zur Seite mit den Hausaufgaben von gestern umblätterte und mich ihre Ergebnisse mitlesen ließ. Sie grinste mich von der Seite an. Ich grinste zurück. Das war sie also, meine neue beste Freundin. Das Schicksal hatte uns an diesem vollgekritzelten Tisch zusammengebracht, und da ich passive Fügungen mochte, die Unkompliziertheit und Einfachheit dieser Situation genoss, ließ ich mich hineinfallen, so wie in den Rest meines Lebens. Nicht locker und spontan, sondern bewegungslos und schicksalsergeben, so wie es alle erwarteten, so wie es allen am liebsten war. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass ein zufriedenes Lächeln auf Frau Meinkes Gesicht getreten war, als Ekaterini Dimitriou und Katharina Lange sich einander zugewandt hatten. Glückliche Ekaterini, glückliche Frau Meinke, perfekt! Ich war erst eine halbe Stunde an der neuen Schule, aber ich war schon jetzt in meinem Element, ich war ein Chamäleon, und ich hatte blitzschnell erkannt, welche Farbe hier gerade nötig war. Und die Farbe »unsichtbar« war besonders beliebt in meinem Repertoire.

»Gut, dass dein Spitzname Katha ist und nicht Kati, so heiße ich nämlich schon«, war der erste Satz, den Ekaterini-Kati zu mir sagte. In der kurzen Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden hatte ich mich ihr zuvor als Katha vorgestellt. Sie grinste, aber ich wusste, dass es ihr ernst war. Zwei Katis, das wäre ein Problem gewesen, aber ich machte keine Probleme, nie. Das wusste sie nur noch nicht.

Als es dann gut sechzig Minuten später zur großen Pause klingelte, geriet mein Anspruch von Reibungslosigkeit kurz ins Wanken. Irgendetwas musste zwischen die Zahnräder geraten sein, vielleicht nur ein winziges Sandkorn, es konnte einfach kein ganzer Kieselstein sein, da war ich mir sicher. Trotzdem knarrten die Zahnräder leicht, quietschten unangenehm und hielten schließlich an. Ein schiefes Gefühl durchzog meinen Körper, als alle anderen nach dem Klingeln zur Tür herausschossen. Frau Meinkes »Der Lehrer beendet die Stunde« ging im allgemeinen Stühlerücken unter, und ich blieb ein wenig verloren im Klassenraum zurück.

Frau Meinkes Blick streifte mich kurz, und sie schien zu überlegen, ob ich ein paar aufmunternde Worte gebrauchen konnte, doch entschied sich dagegen. Sie klimperte nur mit dem Schlüssel, um mir zu bedeuten, dass sie hinter mir abschließen wollte. Also griff ich nach meiner Jeansjacke und trottete an ihr vorbei. Im Flur nickte sie mir kurz zu, offenbar die Light-Version der ermutigenden Worte, und rauschte dann Richtung Lehrerzimmer davon. Gut, also raus mit mir auf den Schulhof.

Erste große Pause in Dortmund-Hombruch, 10:45 Uhr, Ende Mai, 22 Grad mit Tendenz nach oben, sonnig. Ein Schulhof, wie er im Buche steht. Viel Beton, ein einzelnes Klettergerüst, für das sich alle ab der 6. Klasse zu cool waren, kaum Sitzmöglichkeiten, wild durcheinander krakeelende Kinder und Jugendliche, ein Lehrer in Karohemd und beiger Weste, der sich die Rente herbeisehnte. Eine offene Tür zur Cafeteria, durch die Schüler ausgestattet mit weißen Brottüten, in denen sich trockene Laugenstangen und Schokokussbrötchen befanden, herausströmten. Eine Linde, die dünn und traurig inmitten eines Stückchens Erde stand und die sich in ihrer betonierten Umgebung zwangsläufig einsam fühlen musste. Ein etwa 13-jähriger Junge, mit Sicherheit noch Jungfrau, der seinen Freunden zuwinkte und sich dann hinter ein Mädchen mit blonden Haaren stellte, um so zu tun, als würde er sie von hinten nehmen. Die ersten zarten Knospen heterosexueller Annäherung, süß.

»Katha, hier!«, rief Ekaterini-Kati, als ich den überdachten Hinterausgang, meinen Beobachtungsposten, verließ und hinaus auf den Schulhof trat. Sie stand mit Deo-Sofie und zwei anderen Mädchen aus meiner Klasse an der Wand der angrenzenden Sporthalle und winkte mir fröhlich zu. Die Zahnräder setzten sich ächzend wieder in Bewegung.

Ich lief auf die Gruppe zu.

Ganz ruhig bleiben.

»Hey!«

»Kommste mit rauchen? Wir gehen hinter die Halle, heute hat nur der Winkelmann Aufsicht, der rafft das eh nicht.«

»Klar.«

An meiner alten Schule rauchte ich auch hin und wieder, aber es war kompliziert gewesen. Schließlich wären meine Eltern an die Decke gegangen, wenn sie was davon mitbekommen hätten. Manchmal kollidierten meine Anstrengungen, in verschiedenen Bereichen bestmögliche Angepasstheit zu erreichen, in der Realität miteinander, wie etwa bei der Rauch-Thematik.

Sich ins Konstrukt gleichaltriger Strukturen einzufügen hieß: mitzurauchen. Sich im familiären Konstrukt als unproblematische Tochter zu präsentieren hätte bedeutet: nicht zu rauchen. Wrigleys-Doublemint-Kaugummis, Vanilla-Kisses-Deo und exzessives Händewaschen hatten mir jedoch stets dabei geholfen, beides in Einklang zu bringen.

Ich folgte Ekaterini-Kati, Deo-Sofie und den anderen hinter die Büsche neben der Sporthalle. In einer seltsamen Gänsemarsch-Formation staksten wir über Gestrüpp hinweg, in dem zerdrückte Dosen, silbernes Kaugummipapier und anderer Müll lagen, bis zum hinteren Ende der Halle. Auf der Rückseite der Sporthalle gab es weniger Gestrüpp, hier war ein langer Grünstreifen mit hohem Gras, das wohl in unregelmäßigen Abständen vom Hausmeister davon abgehalten würde, sich ebenfalls in kaum zu durchdringendes Gestrüpp zu verwandeln. Zur einen Seite des Streifens lag die Sporthalle, auf seiner anderen Seite befand sich ein Zaun aus Draht, hinter dem hohe Büsche und einige Bäume mit schmalem Stamm standen. Durch die Blätter konnte ich in der Ferne ganz vage die Bushaltestelle erkennen, an der ich heute Morgen ausgestiegen war. Es war der ideale Ort.

Sofie ließ sich auf ein paar übereinandergestapelten Holzbrettern nieder, und Kati hockte sich breitbeinig auf einen umgedrehten schmutzigen Eimer, während das Mädchen mit den kürzeren braunen Haaren sich im Schneidersitz ins Gras sinken ließ und die Dunkelblonde ihren Rücken gegen den Drahtzaun drückte. Ich knickte ein Bein ein und lehnte die Schulter gegen die kühle Wand der Sporthalle. Das Standbild war fertig.

»Hast du selber Kippen, oder brauchst du … und äh, wie heißt du noch mal?«, sagte die Dunkelblonde und sah mich fragend über ihre geöffnete Kippenschachtel hinweg an.

»Heut hab ich keine dabei, ich bin Katha … und ihr?«, antwortete ich und streckte die Hand nach der Schachtel aus.

»Habt ihr euch etwa gar nicht vorgestellt? Oh mein Gott, wie unhöflich ihr einfach seid«, kreischte Sofie, klang dabei allerdings gar nicht so, als fände sie es unhöflich. Vielmehr schien es sie ungemein zu erheitern, dass mir bislang wertvolle Informationen vorenthalten worden waren.

»Hab ich halt irgendwie voll vergessen, ich bin Anna«, sagte das Mädchen mit dem braunen Bob, das in der Klasse direkt hinter Alex Kehlbach und Dennis Krawczyk saß, dritte Reihe von vorne, gleichauf mit mir, nur getrennt durch eine Lücke zwischen den Tischen und Katis wunderbare Locken.

Die Dunkelblonde meinte:

»Jessi!«

Ich lächelte.

So weit, so gut, so langweilig.

»Boah, okay, das hätten wir«, meinte Sofie genervt, als wäre diese kurze Vorstellung die anstrengendste Unterhaltung gewesen, der sie jemals beigewohnt hatte. Sie wandte sich mir zu, nun hatte sie eine große Schippe Gleichgültigkeit über ihrer Stimme ausgeleert: »Und, wo warst du vorher?«

Dass Frau Meinke meinen bisherigen Werdegang vor zehn Minuten lang und breit erörtert hatte und dies aber vermutlich durch die Deowolke nicht zu ihr habe durchdringen können, behielt ich für mich. Stattdessen sagte ich:

»Bad Driburg, das ist zwischen Paderborn und Kassel, mein Vater kommt daher, aber jetzt haben meine Eltern sich scheiden lassen, und meine Mutter wollte zurück nach Dortmund, weil sie von hier is’ … joa.«

Recht mechanisch spulte ich das Ganze ab, als wäre diese bis dato einschneidendste Lebensveränderung nichts weiter als ein einzelner umgeknickter Grashalm auf einer ansonsten imposant aufragenden Almwiese.

Auch Sofie gab sich große Mühe, den Riss in meiner Biografie und meine Position als die Neue so klein und unbedeutend wie nur eben möglich zu halten.

Ihr »Ah ja, Bad Driburg, noch nie gehört« signalisierte sowohl mir als auch den anderen, dass nichts an mir besonders spannend war, Nachfragen folglich nicht nötig, ich aber vorerst geduldet wurde.

Ich nahm ihr diese Reaktion nicht übel, schließlich durfte man im Alter zwischen zwölf und achtzehn wirkliche Hingabe nur für neue Deosorten, blamable Entgleisungen von Mitschülern, Kaugummis und ausgewählte Jungs offenbaren, alles andere wurde mit Gleichgültigkeit aufgenommen, insbesondere, wenn man in einer Gruppe unterwegs war. Im Zweierkontakt gab es manchmal Ausbrüche aus der Gleichgültigkeit, für die man sich allerdings hinterher schämte und nie wieder darüber sprach.

Im folgenden Herbst würden Ekaterini-Kati und ich in einem schwachen Moment unsere gemeinsame Begeisterung für Formel 1 entdecken, einen wunderbaren, sorglosen Abend lang nur darüber sinnieren, ob nun Michael Schumacher oder Mika Häkkinen der bessere Fahrer war, uns leidenschaftlich darüber auslassen, wie schrecklich wir Frentzen und Coulthard fanden, heimlich bis zwei Uhr nachts die von Katis Vater auf Videokassette aufgezeichneten Rennen anschauen, dabei am Ende der Aufnahme über eine kurze, nicht komplett überspielte Szene stolpern, in der Katis Vater in Unterhose aus einem zerwühlten Bett aufstand, und am folgenden Montag in der Schule so tun, als hätte das alles nie stattgefunden. Nicht auszudenken, wenn Sofie davon erfahren hätte. Wir wären erledigt gewesen.

Mir war bereits in dieser ersten gemeinsamen Raucherpause hinter der Sporthalle klar geworden, dass ich Sofie nicht besonders mochte und dies auch so bleiben würde. Das war in Ordnung. Manchmal kam es jedoch vor, und das war recht seltsam, dass ich unbedingt wollte, dass mich Leute mochten, die mir selbst unsympathisch waren. Und so schenkte ich Sofie das aufrichtigste Lächeln, zu dem ich imstande war.

Sie war ein Mädchen, das es nicht gewohnt war, dass andere ihr widersprachen. Das sah man sofort. Trotz dieser Klarheit und eines leichten Kribbelns, das mir durch den Kopf und weiter bis in die Fingerspitzen schlich und das flüsterte, wie einfach dieses Gefüge hier aus dem Konzept zu bringen war, ließ ich es bleiben und setzte mich selbst wie das fehlende Puzzleteil, das bis kurz vor Schluss unbemerkt in der Packung gelegen hatte, in die Gruppe ein.

Nadine schlug ihre Zimmertür so heftig in den Rahmen, dass die Tür vor lauter Wucht umgehend wieder aufflog.

»Ich hasse diese beschissene große hässliche Kackstadt«, schrie sie, stampfte quer durch unser gemeinsames Zimmer, trat gegen noch verpackte Kartons, hob wahllos Gegenstände vom Boden auf und warf sie gegen die Wand.

Mit einer Mischung aus Faszination und Sorge sah ich einem kleinen Unwetter bei der Arbeit zu. Verwüstung war das vorrangige Ziel, Verzweiflung der Motor. Ich sah, wie einige meiner persönlichen Dinge mit einem bedrohlichen Krachen gegen die Wand schleuderten. Für mich war das aushaltbar.

An Nadines erstem Schultag hatte offenbar etwas Größeres zwischen den Zahnrädern geklemmt. Darunter litten nun Bücher, Stifte, Radiergummis, Stofftiere, Hörspielkassetten, Nagellackfläschchen, T-Shirts, Socken und Taschen. Sie alle fanden, von Nadine mit aller Härte geschleudert, einen neuen, temporären Platz in unserem Zimmer. Mittendrin meine Schwester, riesengroß und winzig klein, die strohblonden Haare, die so viel heller waren als meine oder die unserer Mutter, elektrisch aufgeladen, das etwas zu große weiße Shirt mit dem Paillettenherz, das ich ihr vermacht hatte, hing halb über ihrer Schulter.

Nach einer Weile waren alle leichteren Gegenstände bewegt worden. Ein Hauch von Wahnsinn trat in Nadines Blick, und als dieser schließlich auf die schweren Kartons fiel, entschied ich mich, zwischen die Zahnräder zu pusten.

»Dini, was ist denn passiert?«, fragte ich mit lauter Stimme, um sie zurückzuholen. Sie hielt inne, offenbar hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu erzählen und dem Drang nach weiterer Zerstörung. Sie stand da, die Zerrissenheit hielt sie fest. Während sie regungslos mitten im Zimmer verharrte, existierte eben dieses um sie herum weiter, still und starr – wie der See im Weihnachtslied – und wartete darauf, weiter auseinandergenommen zu werden. Ein schmaler Schrank, der durch das Auseinander- und Wiederaufbauen recht schief dastand, eine Kommode, zwei Betten, jeweils neunzig Zentimeter breit, angeschmiegt an die vom Vormieter recht lieblos weiß angepinselten Wände – sie alle hielten den Atem an, genau wie der Schreibtisch, zwei kleine Nachttische, ein schiefes Poster der Big-Brother-Kandidaten über Nadines Bett, ein beinahe gerade aufgehängtes Poster von Bro’sis auf meiner Seite und eben viel Unausgepacktes in großen Kartons. Die bereits benannten Gegenstände lagen kreuz und quer verstreut, erschienen durch die offensichtliche Deplatzierung greller und dynamischer als der Rest des Zimmers.

Nach einigen stillen Sekunden sprudelte es aus Nadine heraus. Sie war leicht außer Atem, und so verstand ich nur die Hälfte ihrer aufgeregten Erzählung, in der eine Bahn vorkam, die in die falsche Richtung fuhr, eine Nadine, die zu spät zu ihrem ersten Schultag kam, und ein Jerome, der »unbedingt auf die Fresse haben wollte«.

Gerade als ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, klingelte das Festnetztelefon im Flur. Einer seltsamen Vorahnung folgend, hob ich den Hörer ab und meldete mich nicht mit Vor- und Nachnamen, wie ich es sonst tat, sondern sagte nur knapp: »Lange.«

»Ja, guten Tag, Frau Lange, wie schön, dass ich Sie erreiche, Bornkemann hier, die Klassenlehrerin von Nadine.«

Ich schaltete augenblicklich.

»Ach, Frau Bornkemann, wie schön, dass Sie sich melden, ich habe es eben gehört«, meine Stimme war ein muttermäßiges Zwitschern.

In den nächsten zwei Minuten arbeitete ich mit vielen Hmmhs und Ach Gottchens. Oft genug hatte ich meiner Mutter bei Telefongesprächen zugehört, sie beobachtet, wie sie dastand, die Arme verschränkt, den Hörer zwischen Wange und Schulter geklemmt, ab und zu Wechsel des Hörers auf die andere Seite, ihre Stimme immer ein wenig atemloser, schneller, eifriger als in persönlichen Gesprächen. Nun zahlte sich die jahrelange theoretische Ausbildung aus. Ich imitierte alles perfekt, lief während des Gesprächs sogar in die Küche, um Lebensmittel fürs Kochen bereitzulegen, den Hörer zwischen Wange und Schulter, Gefrierfach auf, ein bekräftigendes Hmmh, Gefrierfach wieder zu. Am liebsten hätte ich mir eine Schürze umgebunden, um die Inszenierung perfekt zu machen. Nadine schlich derweil mit großen Augen um mich herum.

Ich zwinkerte ihr zu, denn nun war es Zeit für das große Finale.

»Ja, wissen Sie, Frau Bornkemann, das ist ja alles keine einfache Situation momentan, gerade für Nadine ist es sehr schwer.«

Mit wohligem, siegessicherem Gefühl hörte ich, wie Nadines Lehrerin den Köder schluckte. Noch zwei, drei weitere Hmmhs, und es war vorbei.

»Was wollte die?«, rief Nadine in der Sekunde, in der ich aufgelegt hatte.

»Na, was wohl?«, fragte ich zurück.

Nadine schnaubte.

»Ist alles geregelt.«

»Ich geh da trotzdem nicht mehr hin«, meine Schwester trat gegen den Türrahmen und polterte fersenlastig zurück in unser Zimmer.

Ich sah ihr nach. Wie unterschiedlich unser Tag verlaufen war, faszinierte mich. Nadine wollte kein fehlendes Puzzleteil sein, sie fügte sich nirgendwo sang- und klanglos ein. Sie gab sich nicht mit Bestehendem zufrieden, sondern wollte mitbestimmen, präsent und sichtbar sein, im Zentrum stehen, gegen jede Ungerechtigkeit kämpfen, die ihr zustieß. Manchmal dachte ich darüber nach, wie es sein konnte, dass wir beide aus demselben widerlichen Ei-Samen-Gemisch entstanden waren und neun Monate im gleichen Uterus verbracht hatten. Da war es doch seltsam, dass wir so unterschiedlich waren. Andererseits hatte ich sie in meiner Funktion als Lebenshandwerkerin, als dritter Elternteil, wie eine kleine schreckliche Einzelkind-Prinzessin verwöhnt, und das war nun wohl das Ergebnis – ein fantastisches Ergebnis, wie ich fand. Ich liebte Nadines Dramatik.

Während der Ofen vorheizte, gab ich Nadine Zeit zum Abkühlen. Fünf Minuten würden reichen. Ich lehnte mich gegen die Wand neben dem Mülleimer und schloss für einen Moment die Augen. Die neue Wohnung bestand aus einer schlauchigen Küche mit einer Küchenzeile aus billigem Holz und einem winzigen Tisch, eine von vier Seiten an der Wand, an den anderen dreien jeweils ein Stuhl, kein Platz für weitere Leute; einem quadratischen Flur, von dem alle anderen Zimmer abgingen; einem Wohnzimmer, aktuell noch voller Kisten und Gegenstände, die mitgeschleppt worden waren, obwohl niemand sie brauchte; dem kleinen Schlafzimmer meiner Mutter und unserem Zimmer.

Irgendwie war hier alles sehr nah beieinander, fand ich.

Das Reihenhaus, in dem wir in Bad Driburg gelebt hatten, war auch nicht sonderlich groß gewesen, dennoch hatte es durch den kleinen Garten und die Aufteilung in obere und untere Etage mehr Rückzugsräume gegeben. In der neuen Wohnung gab es keine Verstecke, das gefiel mir nicht. Wenn ich Mutter oder Schwester nicht gerade sah, hörte ich sie. Nadines Fersen auf dem PVC, meine Mutter am Telefon, die Klospülung, das Öffnen des Kühlschranks, immer war ihre Präsenz spürbar. Noch schlimmer war, dass auch ich mehr oder weniger sicht- und hörbar war. Ständig. Permanent ansprech- und bespielbar für Mutter und Schwester. Natürlich sagte ich nichts zu meiner Mutter, natürlich ließ ich meine Schwester nichts davon merken. Die Umstände waren, wie sie waren. Ich war eine Lebenshandwerkerin, aber ich konnte keine Mauern einreißen, keine Räume ausdehnen. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass sich jetzt, während ich so dastand, ein empfindliches Gefühl des Mit-dem-Rücken-zur-Wand-Stehens, das mich seit dem Umzug in die neue Wohnung ab und an beschlich, unangenehm in mir ausbreitete. Meine Schulter zuckte nach hinten, als hätte sich eine Fliege mit kitzelnden Beinchen auf ihr niedergelassen, ich rieb mir hastig mit beiden Händen über die Arme in der Hoffnung, ich könnte das Gefühl auf dem Fliesenboden der Küche zurücklassen.

Schnell raus hier. Doch in zwei, drei Schritten war ich bereits an der Tür unseres Kinderzimmers, das unerwünschte Gefühl dicht hinter mir, und mit der Erkenntnis, nach so wenigen Schritten bereits alle räumlich verändernden Möglichkeiten genutzt zu haben, kam es nun auch von vorne auf mich zu, als hätte es sich von selbst vervielfältigt.

Also nahm ich es.

Ich hatte keine andere Wahl. Aber ich drückte von beiden Seiten gegen das Gefühl, quetschte es zusammen wie eine leere Aludose und verpackte es irgendwo in den Tiefen meines Magens. Ein münzgroßes Stück Aluminium mit scharfen Kanten, das hart in meiner oberen Magengegend feststeckte, irgendwo unter den Rippen. Dass mir das irgendwann noch Probleme bereiten sollte, war mehr als offensichtlich, ich weiß. Doch da es nur beim Atmen wehtat, und das ging ja noch, war Verdrängung, wie für so vieles andere, die meiner Ansicht nach beste Option. Außerdem gab es da noch ein Unwetter, das beruhigt werden musste.

»Ich mach jetzt was zu essen. Vergiss die Idioten, Dini, nächste Woche haben die das vergessen«, rief ich ins Zimmer hinein, »und fütter mal Zlatko, sonst macht der’s nicht mehr lange!«

Nadine, auf dem Bett liegend, stöhnte theatralisch, rollte sich schwerfällig von der Bettkante und ging hinüber zu einem kleinen Käfig aus weißem Metall, der auf unserer Kommode stand. Darin rannte unser Hamster in seinem Rad gerade einem unbekannten Ziel entgegen, das er niemals erreichen würde.

»Das ist alles ihre Schuld«, nuschelte sie im Gehen.

Ihre Schuld.

Ich wusste natürlich, wen sie meinte. Nadine gab meiner Mutter die Schuld für alles, was in den letzten Wochen und Monaten schiefging oder grundsätzlich passierte. Glücklicherweise war sie auf unseren Vater gleichermaßen wütend, sodass es kein antifeministischer Zorn war. Mein Vater hatte den großen Vorteil, dass er durch seine räumliche Abwesenheit Nadines Wut seltener zu spüren bekam. Er sollte nicht der erste und nicht der letzte Vater gewesen sein, der durch sein Fehlen dem berechtigten Unmut seiner Kinder entging. Wer nicht da war, musste nicht argumentieren, sich keinen Konflikten stellen und ganz grundsätzlich gar nicht sehen, was er angerichtet hatte. Wer nicht da war, hatte durch ebendieses Nicht-da-Sein immer eine hervorragende Ausrede. Wer nicht da war, war nicht verantwortlich und konnte keine weiteren Fehler machen, außer eben diesen einen großen der Abwesenheit. Ich glaube schon, dass mein Vater immerhin ein leichtes, stetiges Gefühl von schlechtem Gewissen verspürte, zumindest eine Zeit lang. Als wir aber dann während seiner Besuche nicht gewillt waren, dieses nagende Gefühl in ihm mit Fröhlichkeit und unendlicher Dankbarkeit für die seinerseits geopferten drei bis vier Stunden zu mindern, schien sein Bestreben nach zeitlich begrenzter familiärer Harmonie nachzulassen. Ich denke gerne an einen Nachmittag im Spätsommer zurück, als mein Vater uns, begleitet von seiner neuen Lebensgefährtin, zu einem Ausflug abholte und Nadine sich so herrlich danebenbenahm, dass mir zwar einerseits ganz warm ums Herz wurde bei diesem Schauspiel, und ich andererseits wie eine Ertrinkende strampelte, um den Nachmittag zu retten. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass es dieser Nachmittag war, an dem meinem Vater aufging, dass die Existenz seiner zwei Töchter für sein neues Leben eher hinderlich als bereichernd war. Aber auch dazu kommen wir noch.

Zunächst muss man fairerweise anfügen, dass Nadine im Recht war, was unsere Mutter anging, denn diese hatte sich in den vergangenen Monaten tatsächlich nicht mit elterlichem Ruhm bekleckert, so empfand ich es zumindest. Vergangene Woche – wenige Tage nach dem großen, physischen Umzug – waren wir die Schulwege zu dritt abgefahren. Während ich mit dem Bus zur Schule fuhr, konnte man Nadines Grundschule schneller und unkomplizierter mit der Stadtbahn erreichen, es waren nur zwei Stationen. Im Prinzip hätte sie auch laufen können, die Entfernungen innerhalb Hombruchs hielten sich in Grenzen, aber ich glaube, es war so ein Erziehungsding meiner Mutter und hatte das Ziel, Nadine mit dem öffentlichen Nahverkehr vertraut zu machen. Zu dritt also die Treppen hoch, hier lief noch alles oberirdisch ab, meine Mutter richtete den Zeigefinger auf die Anzeigetafel, morgens jene Richtung, nachmittags jene andere Richtung, daneben Nadine, die Arme verschränkt, mal wieder viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Ärger über all ihr Leid mit jeder Pore auszustrahlen. Hast du das verstanden? Ja! Wirklich? Ja doch!