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Wo ist Hannah? Das wüssten sie zu gern. Ihre Familie, das ganze Dorf. Seit zwei Jahren hat niemand sie gesehen. Beinahe genau so lang führt ihre Schwester eine Gruppe von sieben Menschen durch den Wald, denn dort könnte Hannah vielleicht sein, aber eigentlich auch an jedem anderen Ort. Taumeln taucht sensibel, furchtlos und fein beobachtend in die Leben derjenigen ein, die das Suchen nicht aufgeben. Hunderte Suchende waren es mal, jetzt sind da nur noch Frank, von dessen gebrochenem Herzen niemand wissen darf, Inge, die im Wald alle antreibt, während im eigenen Zuhause das Unberechenbare lebt, Amaka, die versucht, einen diffusen Phantomschmerz abzuschütteln, da sind Emma, Enrico, Christina und Hartmut. Und da ist die Schwester, Luisa, die schwankt zwischen Verzweiflung und Wut und Traurigkeit, die als das Kind, das noch da ist, eine ganz eigene Form der Einsamkeit erlebt in einer eingestürzten Familie. Sie alle zweifeln und ergründen, sie hoffen und sie verbergen sich voreinander, bis es nicht mehr geht, bis sie sich fragen müssen, was sie in diesem Wald suchen, wenn die Möglichkeit des Findens so wenig realistisch ist. Taumeln stellt die wesentliche Frage danach, wem unser Mitgefühl gilt. »Wie ein Seismograf zeichnet Sina Scherzant in Taumeln Trauer, Verlorenheit und Hoff nungen nach. Das Ergebnis: zart, wehmütig, berührend.« Marija Latković »Beherzt und behutsam versammelt Sina Scherzant all diese einsamen Menschen. Was für eine geniale temporäre Gemeinschaft.« Daniela Dröscher
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Taumeln
SINA SCHERZANT, 1991 in Menden geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, hat Erziehungs- und Bildungswissenschaften in Marburg und Hamburg studiert. Im Alter von elf Jahren gewann sie mit einem Mausbild den Malwettbewerb des örtlichen Optikers, der Preis war ein Buch. Sie ist Spiegel-Bestsellerautorin, Podcasterin und Drehbuchautorin. Sie liebt Spaghettieis. Taumeln ist ihr zweiter Roman; 2023 erschien ihr literarisches Debüt Am Tag des Welt-untergangs verschlang der Wolf die Sonne.
»Luisa streicht sich über die Wangen, auf die sich die Feuchtigkeit gelegt hat, und sehnt sich nach Klarheit. Wenn es doch wenigstens kräftig und aufrichtig regnen würde, dann wüsste sie, woran sie ist. Von der Nacht, in der es tatsächlich geregnet hat, so laut, dass es auf das Dachfenster ihres Kinderzimmers schlug wie ein unsichtbarer Trommler, das Kinderzimmer, in dem sie immer noch schläft, nein, wieder, von diesem Regen in der Nacht sind Pfützen zurückgeblieben. Am liebsten würde sie ihr Gesicht hineintauchen.«Taumeln taucht sensibel, furchtlos und fein beobachtend in die Leben derjenigen ein, die das Suchen nach der verschwundenen Hannah nicht auf-geben. Und stellt die wesentliche Frage danach, wem unser Mitgefühl gilt.»Beherzt und behutsam versammelt Sina Scherzant all diese einsamen Menschen. Was für eine geniale temporäre Gemeinschaft.« Daniela Dröscher
Sina Scherzant
Roman
Ullstein
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
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Cover
Titelseite
Inhalt
Eins
»Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
dass der Wind
hindurchfährt«
Hilde Domin
Der Schmerz war groß wie ein Haus, aber auch ein Haus besteht nur aus Wänden und Krempel, aus geformtem Material, und kann brennen oder von einer Abrissbirne zum Einsturz gebracht werden.
Der Schmerz kribbelte unter den Vorderzähnen, aber Zähne kann man sich ziehen lassen.
Der Schmerz war ein Tyrann, aber Tyrannen kann man erschießen.
Manchmal nahm der Schmerz den ganzen Körper ein, aber ein Körper ist nichts als ein fleischiger Anzug, den man abstreifen kann.
Warum sich also so anstellen, wenn da doch bloß Schmerz war?
»Heute Salami auf Paderborner«, sagt die ältere Grauhaarige zu der Jüngeren neben sich und hält ihren Proviant in die Höhe.
Die nickt nur.
Was soll man dazu auch sagen?
Der Blick der Jüngeren schweift über das Grüppchen aus Leuten, das sich an diesem verregneten Nachmittag im Oktober hier eingefunden hat. Sie stehen recht unschlüssig beisammen, in Outdoor-Kleidung, atmungsaktiv, mit leichten Rucksäcken, plaudern oder schauen auf die Handys und warten auf einen Impuls, der das Zögerliche aufhebt, wie schon unzählige Male zuvor. Ausgedünnt ist die Gruppe mittlerweile, vor einigen Monaten waren es noch drei-, wohl eher viermal so viele. Manche haben sich abgemeldet, mit schuldbewussten Mienen, wenn auch nicht nötig, andere haben Ausreden erfunden, ebenfalls nicht nötig, und wieder andere sind einfach nicht mehr gekommen, was dann doch ein bisschen schmerzt, auch wenn es nicht sollte, nicht dürfte. Eigentlich ist es kein Wunder, und eigentlich hat sie auch keinen Grund, sich zu beklagen, denkt sie. Dass sie noch hier sind, die paar Leutchen, das ist schon zu viel des Guten, zu viel der Menschlichkeit, zu viel der Nächstenliebe, wenn man es so nennen will, wenn man Gott da mit reinziehen will.
»Wollen wa mal?«, fragt die Ältere mit dem Salamibrot plötzlich laut, und alle zucken zusammen. Sie schlägt sich mit den Händen auf die Oberschenkel und erhebt sich von der Bank. Da hat sie gesessen, auf der modrigen, alten Holzbank, die hier am Waldrand steht und die eigentlich zu feucht aussieht, um sich gerne darauf zu setzen. In der Regel ist sie es, die das Steuer übernimmt, obwohl es wahrscheinlich Aufgabe der Jüngeren wäre, die erneut nickt und jetzt froh aussieht, weil die Ältere die Gruppe antreibt. Ich hätte es heute nicht gekonnt, denkt sie, und das hat sie schon oft gedacht.
Trinkflaschen werden verstaut, Rucksäcke geschultert, Schnürsenkel festgezogen, und die Gruppe setzt sich in Bewegung.
Sie sind auf der Suche. Sie suchen eine junge Frau, die seit beinahe zwei Jahren niemand mehr gesehen hat und die vermutlich tot ist.
Meine große Schwester war wunderschön.
Vielleicht ist sie es noch immer.
Dass sie wunderschön war, das dachten zweifellos alle bei uns zu Hause, und möglicherweise dachten es auch die Falschen. Denken darf man natürlich viel, das ist erst mal nicht verboten, aber wenn die Schönheit so ist, dass sie auffällt, dann verführt sie zu mehr als Gedanken. Selbstverständlich fanden meine Eltern meine Schwester schön, das war in Ordnung. Ich fand sie schön. Der Postbote fand meine Schwester schön, meine Freundinnen fanden sie schön, ihre Freundinnen, mein Patenonkel und genauso ihre Patentante, der Englisch-Referendar fand sie schön, die Kellnerin im Urlaub, der Typ am Einlass des Campingplatzes in Südfrankreich, mein erster Freund Yanis, alle fanden meine Schwester schön. Sie war die Schöne, ich wahlweise mal die Freche, mal die Sportliche. Es machte mir was aus. Schönheit scheint von allen möglichen Eigenschaften die beste zu sein, zumindest denkt man das, wenn man jung ist. Das ganze Dorf wusste, wie schön meine Schwester war.
War
? Wenn ich mit meiner Mutter einkaufen ging, vor Jahren, als ich wirklich jung und meine Schwester auch jung, so sechzehn, siebzehn war, dann fragten die Leute nach ihr. Im Dorf trifft man immer irgendwen, und dann wird das Übliche besprochen, es wird gequasselt, über das neue riesige Schuh-Outlet im Industriegebiet, die Haushälterin des Pfarrers, geredet wird über das Neue und das Alte, das Leben der anderen und über meine Schwester und ihre Schönheit.
Aijer Grousie is’ ned debai? Mochd die des Joahr Abitur? Nägschd Joahr erschd? Des is’ äwwerah ä Hibschi. Is’ die noch mit dem Lukas Schneider zamme?
Heijo? Ach, die heiern bestimmd emol.
Erwachsene Leute besprachen den Beziehungsstatus meiner großen, aber doch minderjährigen Schwester. Es war grotesk.
Und ich weiß, das mit der Schönheit nervt. Wer das liest, schaut automatisch in den Spiegel, denkt, wie schön soll sie schon gewesen sein, und das liegt doch alles im Auge des Betrachters, und sind wir nicht darüber hinaus, und das sagt man doch nicht, dass jemand so schön ist, weil wie sollen sich dann die anderen fühlen, und eigentlich kommt es doch darauf nicht an, und Geschmäcker sind verschieden, und das sollte doch keine Rolle spielen, und trotzdem sind alle Körper und Gesichter schön, und eigentlich ist es egal, und manch einer wird sogar behaupten, es falle ihm gar nicht auf, wie Menschen aussehen. Wer soll so was glauben? Schon Säuglinge schauen lieber in symmetrische Gesichter, sag denen mal, sie sollen das lassen, geht ja nicht, ich würde es mir auch anders wünschen, würde es wirklich toll finden, toll und auch erleichternd, wenn man das Äußere ausblenden könnte, wenn in unserer Gesellschaft nicht manches als schön, anderes als weniger schön betrachtet würde. Gerade erst ahnungslos dem Uterus entkommen, wird man mit Bewertungen des eigenen Körpers konfrontiert, wieder und wieder, was Erschütterungen verursacht, ein Beben des Selbst, und es wäre gut, wenn das anders wäre, aber am Ende ist es Realität, eine beschissene, das ja, aber eben eine, die sich nicht leugnen lässt.
Realität ist auch, dass meine Schwester seit beinahe zwei Jahren jeden Tag verschwunden ist. Für mich ist das eine Gewissheit, die mich unablässig umgibt und die andere nur dann streifen, wenn sie mich sehen oder meinen Vater oder die Vermisstenplakate. Gerade fällt mir auf, wie selten ich
ihren
Namen gebrauche. Meistens sagen ihn andere, andere sagen den Namen, die eine mit der Dauerwelle von der Bäckerei vorne im Edeka, die war wohl mit meinem Vater auf der Schule, die sagt den Namen, oder auch Leute aus der Gruppe oder Bekannte, die nach ihr fragen. Die von der Bäckerei sagt dann so was wie:
Immer noch nix Neues von der Hannah, hm?
Sie, die von der Bäckerei mit der Dauerwelle, legt die Tüte mit Sesambrötchen und die Papierplatte mit Puddingbrezeln für den Papa sehr langsam auf die Theke und starrt.
Und ich sage nur: Nee. Dann bezahle ich und gehe, und die von der Bäckerei guckt mir ganz komisch hinterher, halb mitleidig, halb sensationsgeil. Heute weiß auch sie es wieder, weiß wieder, dass da ja was war, fast hätte man vergessen, dass ein kleiner Schatten über dem Dorf liegt, irgendwie düster, aber eigentlich auch ganz interessant, und wär doch toll, wirklich toll gewesen, wenn sie, die von der Bäckerei, die mit meinem Vater auf der Schule war, wenn die als Erste vom Leichenfund meiner Schwester erfahren hätte.
Alle interessieren sich für meine schöne Schwester, damals wie heute. In ihrer Schönheit liegt die Ursache ihres Verschwindens, und sie ist gleichzeitig auch der Grund, warum noch immer fremde Menschen nach ihr suchen. Da bin ich sicher.
Auf dem Dorffest riefen die Männer ihr nach. Männer, die doppelt, oft dreimal so alt waren wie sie. Auf dem Schulhof dachten sich die Jungs gemeine Namen für sie aus. Ihre Schönheit erinnerte sie daran, was sie an sich selbst hassten.
Natürlich sind in dieser Welt nicht nur die Schönen in Gefahr. Am Ende geht es immer um Macht und Kontrolle und verletzte Männeregos.
Aber doch nicht alle Männer, schreit irgendwer.
Natürlich nicht. Ich meine, natürlich nicht! Wie würden wir leben, wenn es alle Männer wären?
Gar nicht, vermutlich.
Das Maskuline muss revolutioniert werden, finde ich. Und wenn ich die Uni nicht geschmissen hätte, würde ich den Satz vielleicht auf kleine Quadrate drucken lassen und die Mensa, die Toiletten und die Bibliothek damit bekleben.
Wie auch immer.
Meine Schwester ist jedenfalls weg.
Entweder lebt sie, oder ein Mann hat sie getötet. Es kann nur eines davon sein, abseits dessen existiert die Wahrheit nicht, das sage ich so, mit voller Überzeugung. Und da meine Schwester nicht zu befragen ist, kann mir niemand das Gegenteil beweisen.
Sie sind im Wald. Inge hat gerade gesagt: Wollen wa mal?
Luisa, Hannahs jüngere Schwester, läuft neben Frank, mit dem es keine Pflicht zum Small Talk gibt, nur einvernehmliche Stille. Inge ist vorne an der Spitze, man hört sie, ihre Stimme presst sich zwischen die Bäume wie Mohnkörner zwischen Zähne. Neben ihr ist Christina, dahinter Enrico, tippt was auf dem Handy, schreibt vermutlich seinem Freund, der wohnt in Stuttgart, später wird er ihn noch erwähnen. Das tut er immer. Sie sind erst seit Kurzem zusammen. Der Drang, den Geliebten in möglichst vielen Sätzen zu erwähnen, ist dementsprechend groß.
Dann schon Frank und Luisa. Sie, Luisa, schaut über die Schulter, da sind noch ein paar andere, Emma und auch Amaka, dahinter vielleicht noch irgendwer, das periphere Sichtfeld ist begrenzt, lässt keine Gewissheit zu, aber irgendwer wird da schon noch sein, Hartmut wahrscheinlich, bewusst gesehen hat sie ihn heute noch nicht. Sie mag sich gerade nicht ganz umdrehen, will keinen Augenkontakt herstellen, nicht lächeln, kein Gespräch führen.
Nie läuft Luisa am Ende der Gruppe, das kommt nicht von ihr, sondern von den anderen. Sie lassen es nicht zu. Mitte, das ist das höchste der Gefühle. Sie richten es so ein, weil es ihnen aus irgendeinem Grund pietätlos erscheint, die Luisa am Ende, das geht nicht. Ob die anderen das mal miteinander abgesprochen haben, weiß sie nicht, oder ob es sich wie ein ungeschriebenes Gesetz in der Gruppe etabliert hat, ohne dass es jemals verbalisiert wurde. Vor einiger Zeit fiel es ihr auf, sie kam zu spät, der Vater hatte noch ihre Hilfe gebraucht. Die braucht er oft, seit Hannah verschwunden ist, und die Mutter – ach, noch so ein Schatten. Noch so ein Schatten über dem Dorf, über den man nur reden konnte, wenn man die Köpfe dicht aneinanderschob und die Stimme senkte.
Die Fraa fum Auerbach … die is jo … hoscht du des ned g’wissd? Ajo, doch, doch. Die mid dere Dochter, wou verschwunne is. Schlimmi Sach is des, ganz schlimmi Sach.
Jedenfalls war Luisa spät da, Monate zuvor, sodass sie nur noch die Rücken der anderen sah, die wohl dachten, sie würde nicht mehr kommen, und sie musste sich sputen, sie rief nicht, aber ging schneller, trabte zwischendurch, und dann war sie hinter den anderen. Ging schweigend ein paar Schritte, um wieder zu Atem zu kommen, sagte dann:
Hey.
Und alle wandten sich um, zu Tode erschrocken, irgendetwas stimmte nicht, nein, die Luisa, die konnte doch nicht, nicht hinter ihnen, sie war doch – ihre Augen waren alle so unterschiedlich, doch der Blick war der gleiche, und wäre dann noch ein Reh zwischen den Bäumen hervorgesprungen und hätte in ihre Richtung gestarrt, hätte neben der Gruppe gestanden und gestarrt, dann hätten noch immer alle vor ihr auf dem Waldweg denselben Ausdruck in den Augen gehabt.
Lasst mal die Luisa zwischen euch, sagte die Inge da, resolut wie immer, kein Widerspruch möglich. Und sie reichten sie nach vorne durch wie ein Kind beim Karnevalsumzug, das nicht an die Kamelle kam.
Ein anderes Mal, Amaka war in die Hocke gegangen, um ihre Schnürsenkel zu binden, die Bänder der Hightops zu lang, zogen schmale Bahnen in den Schlamm und lösten sich schließlich aus der Schleife, da entstand Unruhe in der Gruppe. Emma wartete auf Amaka, und Luisa wartete auch, und als das auffiel, hatten plötzlich noch einige was in den Rucksäcken zu suchen oder auf dem Handy zu schauen, dann legte sich Inges Arm an Luisas Rücken, der sie energisch nach vorne schob, bevor sie sich auch überlegen konnte, noch was im Rucksack zu suchen oder auf dem Handy zu schauen oder die Schnürsenkel zu binden. Wie durch Zauberei war sie auf einmal ganz vorne mit Inge, und nur Sekunden später, wie aufgereiht, kleine Entchen hinter Entenmama, alle anderen hinter ihnen, als hätte es diesen Augenblick der Anarchie nie gegeben.
Jetzt läuft sie in der Mitte neben Frank, ist Teil der nie ausgesprochenen Ordnung, und schaut auf die Rücken der Leute vor sich. Sie fragt sich hin und wieder, ob den anderen klar ist, dass sie nur eine Leiche finden können. Oder Kleidungsstücke von Hannah, was so ziemlich das Gleiche wäre. Tatsächlich weiß Luisa nicht, ob sie überhaupt noch nach ihrer Schwester suchen, nach zwei Jahren. Aber irgendwas scheinen sie doch zu suchen, hier im Wald, bei elf Grad, leichtem Nieselregen, irgendwas muss ja hier sein.
Meistens sind sie zu acht. Vor zwei Jahren, damals, Stunden, Tage nach dem Verschwinden der Schwester waren es Hunderte. Die Anteilnahme war überwältigend. Eine junge, weiße Frau, schön dazu, war weg, das hielt kaum jemand aus. Das machte betroffen, bewegte die Menschen in dem kleinen Ort, den darum liegenden, und für eine Zeit das ganze Land in einer nie da gewesenen Weise. Sie war das ideale Opfer – nein, das idealisierte, die Leute projizierten alles Mögliche auf die Schwester, sahen in ihr die eigene Tochter, die Freundin, die sie gern gehabt hätten, sich selbst; das Zarte und das Unschuldige, weil es ihnen so beigebracht worden war, weil Hannah im Märchenbuch erst im Turm saß und dann noch hundert Jahre schlief, weil sie im Film nicht nur das Mädchen von nebenan war, sondern auch ihren besten Freund Thomas küsste, weil sie die erste Staffel ›Germany’s Next Topmodel‹ gewann, weil sie in der Fotolovestory der ›Mädchen‹ war und das Gesicht auf der Kinderschokolade, weil sie sinnbildlich für alles Helle und Hoffnungsvolle stand, für alles, das vermeintlich gut und rein war, so hatten sie es gelernt, und so jemanden mussten sie unbedingt wiederfinden.
Es gab einen emotionalen Aufruf der Familie, damals nach dem Verschwinden. In den sozialen Netzwerken erschien ein Video der Angehörigen, schon nach kurzer Zeit über hunderttausend Mal aufgerufen. Die drei Verbliebenen am Küchentisch, in der Mitte der Vater, aufgelöst und fahrig, daneben die Luisa mit entschlossenem Gesichtsausdruck, rechts die Mutter, den Schmerz ins Gesicht tätowiert, in Form von Augenringen und hohlen Wangen.
Die Wochen darauf war das Bild der Schwester überall. Es war ein Bewerbungsfoto, das sie für ihre erste Jobsuche beim Fotografen hatte machen lassen. Ihr Ausbildungsunternehmen wollte sie zwar übernehmen – aber sich mal umschauen, das konnte nicht schaden. Dafür das Foto, Hannah darauf, ganz brav, blass, die Haare offen, sonst immer Dutt, auf dem Bild in Bluse, auch das sonst nie, schüchterner Blick in die Kamera. Gott, wie die Leute das liebten. Wie die Leute auf dieses Foto abgingen. Hannah hätte es gehasst. Luisa weiß, dass es ihrer Schwester peinlich gewesen wäre, dass alle ausgerechnet dieses Foto sahen. Ihre Eltern hatten es ausgesucht, noch mit Hoffnung.
Später fragte die Polizei nach weiteren Fotos, weil sie wohl selbst ahnten, dass niemand im Alltag so aussah, nicht einmal Hannah. Luisa gab ihnen einige Fotos, hatte quasi Zigtausende von ihr auf dem Handy. Ganz schnell suchte sie die Aufnahmen aus, sah nicht richtig hin, nur oberflächlich, nicht riskieren, in den Schmerz hineinzufallen, diese Aufgabe hinter sich bringen als eine von vielen.
Die Polizei veröffentlichte die neuen Fotos, doch kaum jemand interessierte sich dafür. Immer und immer wieder das Bewerbungsfoto, mit dem die verschwundene Schwester sich um Suchende bewarb, mit guten Chancen, denn die Optik stimmte genau wie der Name, der klang glatt und vertraut, Hannah Auerbach, das Foto war in der Zeitung, in der Fernsehsendung und an der Ampel, in Schwarz-Weiß ausgedruckt, um Kosten zu sparen, von wem auch immer, und das Klebeband löste sich schon, und das Gesicht ihrer Schwester war schmutzig vom Regen, nicht in Folie, nur das nackte Papier, das sich irgendwann wellte, und niemand hatte einen Hinweis zum Verbleib, jedenfalls keinen, der was brachte, und dann riss irgendjemand, aber wer, riss irgendjemand das brave, blasse Gesicht ihrer Schwester von diesem Ampelmast. Irgendjemand riss das Papier ab, wie irgendjemand die Schwester aus dem Leben riss, da muss man sich nichts vormachen, das sagen die Leute leise zueinander, die Aussprache dabei mit Absicht verwaschen, raunend, als würde das irgendwas besser machen, weniger schlimm, aber sie sagen dann: Ejo, wennde misch frogschd, gidds die nemmei. Jetz sachemol, wou bidde soll die donn soi nooch zwo Joahr?
Und doch reicht es nicht für eine Endgültigkeit, nicht für ein Abschließen.
Hannah schwebt irgendwo zwischen allem. Sind sie, der Vater und sie, sind sie noch bei der Hannah, sind sie am selben Ort, oder ist ihre Schwester mit der Mutter woanders?
Von oben müssen sie aussehen wie Farbtupfer zwischen den dunkelgrünen Tannen. Wie eine Kette aus bunten Perlen. So eine machte Luisa mal im Kindergarten. Zusammen mit der Erzieherin schob sie farbige Holzperlen auf ein Nylonband und überreichte sie am Nachmittag strahlend der Mutter. Die Mutter trug sie eine ganze Woche, dann nie wieder, und Luisa vergaß die Kette. Jetzt fragt sie sich, jetzt, da ihr auffällt, wie sie von oben aussehen müssen, da fragt sie sich, wo die Kette wohl ist. Vielleicht in einer der Kisten im Keller. Irgendwo dort unter staubigen Pappdeckeln müssen auch noch die alten Barbies sein, die wollte die Mutter nicht weggeben, und die Kassetten und Ü-Ei-Figuren, von denen der Vater sagte, die seien eines Tages mal viel wert. Ob das stimmt, weiß sie nicht. Weder Luisa noch der Vater haben heute die Kraft, nachzuforschen, und wäre ihr Leben ein anderes mit dreihundert Euro mehr auf dem Konto, mit einem Gewinn, erzielt durch den Verkauf von kleinen Figuren namens Freddy Fettfleck, Pauli Pünktlich und Susi Sonnenschein? Vermutlich nicht. Die Kette jedenfalls, die mit den Holzperlen, die kann schon noch irgendwo sein, ganz sicher weg ist sie nicht. Irgendwo kann sie noch sein.
Frank neben ihr ist eine rote Holzperle auf dem Nylonband, er trägt fast immer diese Regenjacke, ob Winter oder Sommer, den Reißverschluss mal offen, mal geschlossen, je nachdem. Wenn es sehr heiß ist, hat er sie im Rucksack dabei, für alle Fälle. Man weiß ja nie. Luisa beobachtet ihn aus den Augenwinkeln. Er schaut nach vorne, das Gesicht ausdruckslos, wobei, eigentlich kann sie das nicht wissen, sie sieht ihn ja nur schräg von der Seite, sein Mund ist gerade, macht nichts, zieht sich in keine Richtung, das sieht sie, aber ob da wirklich nichts in seinen Augen ist, das kann sie von ihrem Standpunkt aus gar nicht sehen. Sie weiß, dass Frank ziemlich aufmerksam ist, viel aufmerksamer, als man zunächst denken würde. Erst mit der Zeit fiel ihr das auf. Am Anfang ist er ihr nicht mal als Ganzes, nicht mal als Person aufgefallen, aber nach all der gemeinsamen Zeit hat sie den Hauch einer Idee von ihm. Er ist ein Mann, der fest im Leben steht, arbeitet als Notfallsanitäter, das hat er mal erwähnt, irgendwo zwischen den wenigen Worten, außerdem betont Inge das gern, wenn sich jemand unwohl fühlt, wir haben doch den Frank, sagt sie dann, lenkt den Fokus auf ihn, was ihm sichtlich unangenehm ist, um die vierzig wird er sein, damals vor zwei Jahren, da war er gleich am ersten Abend dabei. Vor Inge scheint er sich zu fürchten, aber das wundert Luisa eigentlich nicht, manchmal sind Flecken auf seinen Shirts, andere Kleidungsstücke wirken wie aus der Zeit gefallen, das braune Cordhemd, das er manchmal trägt, das hat schon einiges mitgemacht, schon einige Jahre hinter sich gebracht, könnte aber sein, dass er hier im Wald absichtlich alte Kleidung trägt, Kleidung, die schmutzig werden darf, sie kann es nicht einschätzen, nachlässig wirkt er eigentlich nicht, eher das Gegenteil. Er hat immer eine Banane, ein Brot mit gekochtem Schinken und eine sehr kleine Flasche Wasser dabei.
Der braucht nicht viel im Leben, denkt Luisa über Frank.
Manchmal beschwert Frank sich darüber, dass er gelegentlich am Samstag, am Wochenende, dass er dann arbeiten muss, wenn andere ihr Leben genießen. Die Beschwerde ist aber nur vorgeschoben, er schiebt sie vor sich wie einen Schutzschild, damit niemand die Wahrheit erkennt. Wenn die Leute die Wahrheit über ihn wüssten, das wäre doch peinlich, furchtbar peinlich. Er ist immerhin ein erwachsener Mann, und zwar so richtig erwachsen – das lässt sich schon lange nicht verleugnen. Eine Glatze hat er, nur ganz außen am Kopf wächst noch ein bisschen was, aber nicht mehr viel, und wenn er beim Arbeiten wegen der Sonne ein Käppi trägt, dann wissen die Leute trotzdem, dass er eine Glatze hat. Er ist jemand, dem man ansieht, dass er eine Glatze hat, selbst wenn da eine Kopfbedeckung ist. Warum er ein solcher Jemand ist, das weiß er nicht. Und wenn diese Sache über ihn herauskäme, dann würden sie sich im Dorf das Maul zerreißen. Früher dachte er immer, dass das irgendwann aufhören würde, das mit dem Gemeinsein. Er dachte immer, das wäre so ein Ding für Jugendliche, aber dann wurde er älter und älter und die anderen auch, aber das mit dem Gemeinsein, das hörte nicht auf. Bei den dummen Sprüchen nach vier Bier auf dem Dorffest über Frauen, über ihn, seine Glatze, über die ›alt gewordene‹ Fernsehmoderatorin und den ›Tatort‹-Schauspieler, über die eine am Ausschank und über die von der Bäckerei mit der Dauerwelle, fühlt er sich unwohl, sagt aber nichts, lacht mit, leiser als die anderen, und wenn er das Ziel des Spotts ist, dann lacht er auch und wird rot und fühlt sich wirklich sehr unwohl. Wenn die das über ihn wüssten, diese Sache, dann würden sie sich darauf stürzen wie Geier auf totes, stinkendes Fleisch. Einmal sagte tatsächlich einer was in die Richtung, erwähnte sie, fragte blöd frotzelnd, wo die eigentlich abgeblieben war.
Bin froh, dass ich die los bin, brummte Frank da nur, machte seine Stimme besonders tief und das Gesicht besonders ausdruckslos und nahm einen Schluck von seinem Bier. Aber in ihm drin war alles in Aufruhr, das durfte er sich nicht anmerken lassen, wenn die erst mal darauf ansprangen, dann wäre alles vorbei.
Das mit ihr und ihm ist jetzt fünf Jahre her. Er kann kaum glauben, dass es schon so lang ist. Damals konnte er es auch kaum glauben, dass sie sich für ihn interessierte, das war vor sieben Jahren. Er ließ sie am Waffelstand vor, beim Feuerwehrfest, dann ging eines von zwei Waffeleisen kaputt, das größere, das mit der doppelten Platte, ab da ging es nur sehr langsam voran, und sie standen ewig dort in der Schlange, kamen ins Gespräch. Ein paar Monate Kennenlernphase gab es, dann waren sie ein Paar. Silke und er. Etwas mehr als anderthalb Jahre hielt es, dann veränderte sich was in ihren Augen. Er weiß nicht, wann genau es passierte, aber er weiß noch, wann es ihm auffiel.
Es war im Sommer, mittags hatten sie gegrillt, er warf Steaks und Würstchen auf den Rost, sie machte einen italienischen Nudelsalat, das Rezept aus dem Internet, und eine Tomatenbutter, Ursprung auch Internet, dann saßen sie auf den verstellbaren Gartenstühlen auf seiner kleinen Terrasse. Die gehörte zu seiner Erdgeschosswohnung, in der es ziemlich dunkel war, deswegen war die Terrasse wichtig. Sie saßen so da, er in Shorts und T-Shirt, sie im Blumenkleid, das über dem Knie aufhörte, er mochte das, sie beide zwischen marinierten Nackensteaks, karierter Sitzauflage und Tomatenbutter, mehr konnte man eigentlich nicht vom Leben wollen, das dachte er aber nicht, jedenfalls nicht in eindeutigen Worten, es war eher unterbewusst in ihm, eine Zufriedenheit, die man nicht wahrnimmt, weil man sich ihrer zu sicher ist.
Aber dann, später am Nachmittag, vielleicht war es auch schon früher Abend, das wusste man im Sommer ja nie so genau wegen der vielen Helligkeit, da sagte sie zu ihm:
Du hast Tomatenbutter auf deinem Shirt.
Und sie sagte es ganz komisch, ganz vorwurfsvoll, als hätte er es mit Absicht gemacht, um sie zu ärgern.
Frank glaubt, dass es nichts Schlimmeres auf der Welt gibt, als dabei zuzusehen, wie jemand, den man liebt, aufhört zurückzulieben. Er kennt nichts Schlimmeres. Nichts löst eine größere Ohnmacht aus. Je mehr er sich streckte, je mehr er versuchte, sie festzuhalten, desto öfter sah er diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht und desto weiter war sie plötzlich weg, obwohl sie direkt neben ihm auf dem Sofa saß. Er wollte es nicht wahrhaben, tat, als wäre nichts, merkte aber selbst, wie er fahrig wurde, ganz unruhig, wie er vergaß, wie sie üblicherweise miteinander waren, weil er das Gefühl hatte, dass er sie nervte, weil sie ihn oft anfuhr, und das wollte er vermeiden, und dann vergaß er, wie er eigentlich mit ihr sprach, wie er überhaupt sprach und wer er war. Und irgendwann ging sie.
Er kam nie über sie hinweg. Und was in Literatur und Film hätte romantisch sein können, war in der Realität nur peinlich und schmerzhaft. Nach der Trennung probierte er einige Male, mit den wenigen Menschen in seinem Leben über sie zu sprechen. Mit seiner Mutter zum Beispiel, da fuhr er ja immer sonntags hin, seit jeher schon. Auch heute fährt er noch jeden Sonntag hin, was er hasst. Ein paar Mal sagte er zu seiner Mutter, dass es ihm nicht gut ginge und dass er nicht wüsste, wohin mit sich.
Ich vermisse die echt, das sagte er einmal, während seine Mutter mit Kittelschürze am Herd stand und kochte. Brotwurscht mit Kadoffel und Gemies. Während er sprach, sah er auf seine Hände, die ineinandersteckten wie verkeilte Holzscheite im Ofen.
Hm, machte die Mutter nur, und am dritten Sonntag nach der Trennung sagte sie:
Jetz muss äwwerah mol gud soi, Frank.
Von da an erwähnte er sie nicht mehr vor seiner Mutter, aber gut war es nicht.
Ein anderes Mal saß er mit einem Bekannten in der Kneipe, nebeneinander an der langen Theke, beide sahen nach vorn auf das Regal mit Biergläsern und Schnapsflaschen, da brach es aus ihm heraus, und er sagte:
Mir geht’s echt scheiße, seit die Silke weg ist.
Und der Bekannte sagte:
Boah, die Weiber.
Das war alles.
Danach sahen sie sich wieder die Biergläser und Schnapsflaschen an. Später sprachen sie noch darüber, dass alles so verdammt teuer geworden war und über die schlechte Auswärtsbilanz der Eintracht.
Im ersten Jahr nach der Trennung unternahm er einige Versuche, sie in seinem Leben zu halten. Irgendwie musste es sein, es ging nicht anders, und er versuchte es auf unterschiedlichste Weise. Am Anfang noch nett, da schrieb er ihr, ob sie mit ihm auf eine Veranstaltung im Nachbarort kommen wolle, so ganz entspannt, als Freunde. Sie sagte Nein. Dann versuchte er es anders. Er besorgte sich passendes Werkzeug für ihren tropfenden Wasserhahn. Das hatte sie mal beiläufig erwähnt, als er sie an der Tankstelle traf, kurz nach der Trennung, dass sie das so nervte.
Dann schrieb er ihr:
Du, mir ist hier auf der Arbeit zufällig eine Wasserpumpenzange in die Hände gefallen. Gibt es immer noch Probleme mit deinem Hahn?
Sie schrieb:
Ja, macht noch Probleme, aber passt schon.
Er schrieb:
Ich kann dir das ganz schnell reparieren, kein Ding.
Sie schrieb:
Na gut.
An einem Mittwochabend zur ›Tagesschau‹, kurz vorm Spielfilm, hantierte er mit der brandneuen Wasserpumpenzange in ihrem Badezimmer herum. Er hatte das Teil vorher einmal bei seiner Mutter durch die Erde des Vorgartens gezogen, dann abgewaschen, damit Silke nicht merkte, dass es noch nie benutzt worden war. Gebraucht sollte es aussehen. Sie sollte nicht denken, dass er es extra gekauft hatte, was ja die Wahrheit war, aber genau die sollte sie eben nicht kennen.
Die Arme vor der Brust verschränkt, stand sie neben ihm, bot ihm schließlich ein Glas Leitungswasser an, was er nett fand. Aber dann, als er fertig war und kurz unschlüssig rumstand, sie ansah, zog sie sofort die Wohnungstür auf und sagte: Wirklich nett von dir.
Danach versuchte er sie zu provozieren.