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Der New Yorker Autor Charly bricht mit einigen Freunden zu einem Segeltörn auf. Es ist ein Ausbruch aus den Zwängen einer unwirtlicher werdenden Welt. Doch diese Reise führt in den Abgrund. Die Welt, die die Reisenden zu kennen glaubten, war scheinbar nie das, was sie zu sein schien.
Die Finsternis kommt. Sie kann nur von den wenigen Auserwählten überwunden werden, die auf ihrer vor der Welt verborgenen Insel in kindlicher Naivität leben, bis sie sich der furchtbaren Bedrohung gegenübersehen, die alle Welten vernichten will.
Der Autor H.W.Bähr ist 64 Jahre alt und seit 30 Jahren selbstständiger Therapeut im Bereich der Psychophysiologie. Er ist seit 1984 Schriftsteller u.a. der Erzählsammlung: „Milch und Blut“, der Erzählsammlung: „Gefährten der Reise“, dem Essayband: „Gedanken über die Liebe und andere versunkene Kontinente“ und dem Kinderbuch: „Britta vom Peddershof.“
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UNIVERSUM
H.W. Bähr
Amaleks Stunde
oder
Die Vollendung der Wirklichkeit
© 2024 Europa Buch | Berlin
www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220148962
Erstausgabe: April 2024
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Ich kannte Richardson schon eine ganze Weile. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Ohio, der ein gewaltiges Vermögen besaß, das es ihm ermöglichte, sein Leben nach Belieben zu gestalten. Als er mich anrief, saß ich bereits eine ganze Weile wie lebendig begraben in meinem New Yorker Büro und versuchte meine Depression durch das Schreiben an einem neuen Roman zu bewältigen, der mir nur schwer von der Hand ging.
„Darf ich dich einladen, mit mir und ein paar unserer alten Bekannten eine längere Zeit in der Südsee zu segeln? Ich habe eine Yacht gechartert. Der Eigner ist ein Freund, er überlässt die mir für einige Wochen“, hatte Richardson am Telefon gesagt. „Wir verziehen uns einfach. Was denkst du?“ Was gab es zu überlegen, Einsamkeit und Verlassenheit drückten mich und das schmutzige, lärmende New York versank gerade im Wahnsinn, was das Leben dort nicht eben erträglicher machte. Ich sagte zu und flog eine Woche später nach Australien, wo wir uns am Hafen eines kleinen Küstenstädtchens trafen.
Tatsächlich hatte Richardson nicht zu viel versprochen. Eine elegante Segelyacht, die zweifellos ein Vermögen wert war, lag im Hafen. Ich mochte mir gar nicht ausdenken, wie kostspielig diese „Flucht“ für Richardson sein würde, aber es stimmte wohl, sein Vermögen war gewaltig, und er wäre sicher auch in der Lage gewesen, das Schiff zu kaufen. Aber er hatte bisher noch zu jeder unserer Ausbrüche aus dem Alltag ein anderes Schiff gechartert. Er sagte, Besitz sei eine Fessel. In seinem Falle war Besitz wohl auch ein Garant für Freiheit.
An Bord traf ich auf alte Bekannte. Moris begrüßte mich mit einer lässigen Umarmung. Der Franzose hatte als Richter gearbeitet und Frankreich aus politischen Gründen verlassen müssen. Frau und Tochter hatten den Kontakt zu ihm abgebrochen. Seine Pension erlaubte ihm ein ungebundenes Leben. Er war schon lange mit Richardson befreundet und war sicher freudig dem Ruf des Freundes gefolgt. Mad hingegen war bisher in Australien gebunden gewesen. Er hatte eine internistische Praxis. Er hatte diese tatsächlich seinem Kollegen überlassen. Ich konnte es nicht glauben. Er war dem Ruf Richardsons unmittelbar gefolgt und war bereits ein paar Tage an Bord, als ich die Sea-Gull erreichte. Am Tag nach meiner Ankunft stieß Karin zu uns. Das war eine angenehme Überraschung. Ich kannte die Polin seit vielen Jahren. Sie war eine ehrgeizige Biologin und es erstaunte mich doch sehr, dass auch sie ihr Labor spontan verlassen hatte, um mit Richardson und uns zu reisen. Aber wie Matt, hatte sie das Gefühl, es liege eine Bedrohung in der Luft und es fühle sich besser an, feste Standorte zu meiden. Das Angebot Richardsons ermöglichte ihr dabei das Ausbrechen in eine, zumindest vorübergehende, Freiheit. Außerdem stoße mit Heidi noch eine ihrer Freundinnen zu uns. Wann bekommt man schon einmal eine solche Gelegenheit. „Es wird noch jemand mitreisen“, hatte sie gesagt. „Und wer?“ „Kennst du noch diesen Deutschen? Den Mann, der uns im letzten Jahr begleitet hat?“ „Wie hieß er noch? Küppers?“ „Ja“. Küppers würde uns begleiten. Ein seltsamer Mann. Ich ahnte, dass er der Grund war, warum sie mitreisen wollte. Zweifellos hatte sie sich in den eigenartigen Deutschen verliebt. Mir war es egal. Ich wäre mit jeder Crew gesegelt. Es war gut, weg zu kommen.
Richardson stand am Heck der Sea-Gull und beobachtete das kleine Boot, das sich langsam vom Ufer her näherte. Er war hochgewachsen und schlank. Man sah ihm an, dass er Extremsport liebte. Marathonläufe oder Kletterpartien im Himalaya waren sein Ding. Ich beobachtete ihn, als er die Leiter herunter ließ, um Franz Küppers an Bord zu lassen, der dem Mann, der ihn hergebracht hatte, kurz zuwinkte und nun vor Richardson stand. Sie begrüßten sich wie alte Freunde und das waren sie wahrscheinlich auch. Ich hatte von diesem Deutschen einiges gehört, der auf Neuseeland einmal als Prediger gearbeitet hatte. Eigentlich ein unbedeutender Mann, der nun als Makler arbeitete. Was Richardson an ihm fand, wusste ich nicht. Mad nickte Küppers zu und gähnte. Er war Schotte und vor einigen Jahren aus Europa geflüchtet. Er war erst 40 Jahre alt, aber durch seine hagere Erscheinung und den ausgemergelten Schädel wirkte er wie jemand, der dem Tode bereits mehrmals gegenübergestanden hat. Moris saß an seiner Seite. Er schien zu dösen, aber ich wusste, er hatte die Ankunft von Franz Küppers durchaus bemerkt. Küppers war ihm aber gleichgültig, wie fast alle Anwesenden. Er hätte, wer weiß was, dafür gegeben, zu Hause in Frankreich zu sein, wo seine Frau jetzt ihren Liebhaber hofierte.
Franz Küppers lehnte mit dem Rücken gegen den Mast und redete mit Richardson. Die Sonne, die eben noch faustgroß am Himmel geglüht hatte, stürzte beängstigend schnell gegen den Horizont. Das Meer färbte sich blutrot und dann breitete sich am Horizont eine Dunkelheit aus, die rasch heran wuchs und uns wie ein dunkles Tuch umfing. Am Himmel erschienen jäh, als habe jemand einen Schalter umgelegt, unzählige Sterne. Die Sternbilder des Südens. „Auch ihr seid doch im Grunde nur Strandgut“, ertönte plötzlich die sonore Stimme von Franz Küppers. „Wisst ihr“, fuhr er fort, „dass die ersten Europäer, die sich in diese Breiten wagten, Entdecker waren, Helden, mit ungebrochenem Mut und der stillen Überzeugung zu einer Kultur zu gehören, die dazu berufen war, die Welt mit dem Licht der Vernunft zu erleuchten. Neben ihrer ungeheuren Gier nach Gold und Eroberungen, war es diese Überzeugung, die sie aus den Häfen Spaniens, Portugals, Hollands und Englands aufbrechen ließ, zu Horizonten, die noch des Lichtes bedürftig zu sein schienen. Im Auftrag ihrer Majestäten und ihrer stolzen Völker stellten sie sich den Urgewalten des Meeres und den uferlosen Ängsten, die die heutige Menschheit in die Arme der Psychiater treibt. Habt ihr euch jemals gefragt, warum es die Europäer so weit in die Ferne trieb, warum sie nicht aufhörten, die Welt zu formen, bis sie sich schließlich selbst im Wege standen. Das letzte Hindernis zu einem Licht, das nur sie allein vermuten konnten, ihrem letzten Paradies, das dann doch nur eine neue Hölle war.
Langsam erhob er sich und näherte sich uns. Sein Gesicht lag in tiefem Schatten, während das Licht aus der Kajüte die Umrisse seines Körpers sichtbar machte. „Erinnert ihr euch noch“, fuhr er fort, „an das böse Ringen, in dem sich die Europäer vor Kurzem ineinander verkeilten, während ihnen fremde Völker, die durch jahrhundertealten Schlendrian oder das Beharren auf langen untergegangenen Kulten rückständig waren, den Kontinent fluteten, angelockt von der Asche unseres seelischen Feuers, dem Geld, das unfähige Politiker wie Lockmittel streuten. Ganze Generationen von Heldenhat unser Geschlecht hervorgebracht, die jetzt den Himmel, die Erde und die Tiefsee beherrschen, und denen selbst der Tod selten Sorge bereitet. Die Vorfahren solch tollkühner Männer sind einst aufgebrochen, ohne nach Sicherheit zu verlangen, um als erste den Himmel zu erobern oder die Tiefsee zu erforschen. Heute sieht man deren Kinder zu Tausenden auf den höchsten Berggipfeln ihren heidnischen Kulten der Selbstvergottung frönen. Sie hasten durch Wüsten und Einöden, oder bewegen sich durch unwirtliche Gegenden, durch die sich viele gemächliche Kulturen seit Jahrtausenden nur unter dem Schutz ihrer Götter und Dämonen wagten, denen sie zuvor OPFER brachten.“
Seine Stimme wurde leiser. Der Wind hatte sich gelegt und ich erinnere mich an eine bleierne Hitze, die auf dem Boot lag. Mad schnaufte und fächelte sich mit einem Tuch etwas Luft ins Gesicht, aber auch er lauschte wohl der monotonen Stimme von Franz Küppers, die aus der mond- und sternenlosen Dunkelheit ertönte.
„Ich weiß, dass keiner von euch besonders begeistert davon ist, einen Deutschen an Bord zu haben. Während eure angelsächsischen Väter die Welt eroberten, saßen meine Vorfahren in ihren engen Provinzen gefangen und mussten ihren Herrn schon um Erlaubnis fragen, wenn es galt, einen Verwandten in 20 Kilometer Entfernung zu besuchen. Und doch hat kein Volk geträumt wie das meine. Ich komme aus dem Rheinland, in dem, wie ihr wisst, bis heute Romantik vermutet wird, die am Ende doch nur eine Art Droge für das naive Gemüt darstellt. Dabei ist mein Volk immer fleißig gewesen, redlich bemüht, alles besser zu machen, das Haus, den Garten, jenes enge Gefängnis, das man die eigene Grafschaft oder Herrschaft nannte. Anstatt zu Gott sah man auf zum Landesfürsten.“ Er lachte leise, „ihr wisst, was ich meine. Selbst als man sich einen Kaiser gab und sich anschickte Englands Erfolge nach außen zu imitieren, träumte man aus Rechthaberei, vom Sieg eigener, in Gefangenschaft gewachsener, Ideen, die man nun der ganzen Welt als Heilmittel verordnen wollte.“ „Gibt es wieder eine Lektion in deutscher Selbstgeißelung?“, sagte Karin. Weil sie recht gut deutsch sprach, hatte sie eine Bindung zu Küppers aufgebaut, ohne indessen alles an ihm zu verstehen. Er blieb ihr ein Rätsel. Jetzt schien sie neugierig geworden zu sein, wie sein Monolog enden würde. Die Konturen ihres makellosen Körpers weckten Begehrlichkeit. Nur Küppers schien sich nicht für sie zu interessieren. Soweit ich wusste, war er nie verheiratet gewesen. Er war offenbar zu sehr mit sich beschäftigt. „Wisst ihr eigentlich, dass die deutschen Soldaten, die Hitler folgten, der festen Überzeugung waren, die Welt durch ein OPFER zu RETTEN? Bis zum Schluss WOLLTEN sie gläubig sein und dieses Opfer bringen, für sich selbst und die Menschheit, um das BÖSE auszurotten. Ist das nicht erstaunlich? Sie überfielen die Welt, um sie zu retten, und weil ihnen stets der Mut fehlte zu widersprechen, wenn jemand den Wahnsinn besaß, ihnen zu befehlen. Ihr erinnert euch noch daran, wie fulminant ihre Besessenheit war, wie stark ihr Furor wütete und Millionen von Leben kostete, während dieses Volk unter normalen Umständen eher durch Biertrinken und das Tragen von Schlafmützen aufgefallen ist.
Nun war er ins Licht der Lampe gekommen. Wir sahen sein Gesicht glühen in einer Leidenschaft, die man nur bei enttäuschten Träumern vermuten darf. Hinter ihm spannte sich der im Sternenlicht gleißenden Himmel. Ein fast schon unwirkliches Bild. Ich erinnerte mich daran, dass er einmal als Prediger gearbeitet haben sollte. Ein Beruf, der ihm zweifellos gelegen hatte. Viele der umherziehenden Europäer versuchten sich in den unmöglichsten Tätigkeiten. „Nun lästert nicht“, fuhr er fort, „es gibt ja einen von der Industrie und der Finanzwelt initiierten Trend in Europa, die Welt zum Guten zu verändern, indem man seine sicheren Positionen aufgibt. Die Angelsachsen, wie immer pragmatisch, haben den Ernst nicht verstanden, der meine Landsleute ergriffen hat. Die Deutschen wollen gut sein und Gut-Sein heißt bei Deutschen immer, besser zu sein als der Rest der Welt. Er schaute triumphierend in die Runde, als habe er uns nun eine unerhörte Erkenntnis ermöglicht. Karin unterdrückte ein spöttisches Lächeln, das ich umgehend bemerkte. Sie schaute belustigt zu mir herüber und wir lauschten wieder dem deutschen Schwanensang. Nun ja, wir hatten Zeit, es war Abend, und es war nett, wenn einer von uns sich exponierte. „Wir Deutschen hatten immer ein Problem mit der Realität.“, fuhr Küppers fort. „Während unsere Vorfahren in engen Grenzen gefangen waren, erträumten sie sich im Innern Macht und Herrlichkeit und das war die Stunde deutscher Philosophie, deutscher Literatur, deutscher Malerei und deutscher Musik. In jenseitigen Reichen lebten sie ihre Sehnsucht nach Größe und Vollkommenheit, einen Traum, der in der Zeit entstanden sein mag, als unsere Vorfahren in den Büschen und Hecken des Rheinufers hockten, bar der Kleidung, bar jeder Kultur, angetan nur mit größenwahnsinnigem Mut, den sie in den Wäldern geschöpft hatten. Sie werden zweifellos mit großen, sehnsuchtsvollen Augen zu den Römerlagern geblickt haben, in der höhere Menschen, einer ihnen im Grunde unverständliche Kultur ihre Paläste schufen, von deren Inbesitznahme, sie, wie von Fetischen, insgeheim träumten. Und je mehr sie in die Dienste dieser Römer traten, desto klarer wurde ihnen, dass sie ein römischesReich wollten und nicht jenes schäbige, germanische Klein-Klein, in dem sie schließlich, gepeinigt von der römischen Kurie, tatsächlich landeten.“
Karin hatte sich zu mir herüber gesetzt und schien ihn mit jenem Blick zu betrachten, mit dem wir einem plötzlichen Ausbruch von Geisteskrankheit begegnen.
„Ich weiß”, fuhr er fort, "ihr glaubt mir nicht. Aber ich sage euch: Das Gute ist oft eine Gefahr und basiert meistens auf einer Lüge.
Aber, sagte er nun, leiser werdend.Ich habe euch niemals erzählt, dass ich das Tagebuch eines Verwandten besitze, der die deutschen Träume und ihre Folgen am eigenen Leibe erlebt hat. Er nennt sich Josef Küppers. Ein Familienmitglied“, er lachte leise, „ein Gefangener auf einer dieser Inseln, am Ende der Welt, sozusagen hinter dem Mond“, wieder lachte er, und dieses Mal wirkte dieses Lachen verzweifelter.
„Hört zu“, fuhr er fort, „ich habe es Richardson eben zu erklären versucht. Ich möchte euch um Unterstützung bitten. Diese Reise soll dazu dienen, den Ort zu finden, den ich seit vielen Jahren suche und der in den zu durchsegelnden Seegebieten vermutet wird. Ich besitze das Tagebuch dieses Verwandten, der dort lange gelebt hat. Er war Element eines gesellschaftlichen Experiments, das ein deutscher Philosoph, unterstützt von unbekannten Mäzenen, vollzogen hat. Er verbrachte die Hälfte seines Lebens auf dieser Insel.“
„Die sich wo befindet?“, fragte Mad, „Hier gibt es viele Inseln, auf denen man theoretisch wohnen könnte, aber glaubst du nicht, man hätte von einer solchen Ungeheuerlichkeit nicht lange schon erfahren. Vielleicht war dein Verwandter nur Fantasie begabt.“
„Ein Autor, wie unser Amerikaner hier“, sagte Moris und zeigte auf mich, doch er merkte augenblicklich, dass Franz Küppers keinen Spott ertragen konnte.
„Nein. Es handelt sich nicht um eine Fantasie. Auch wenn das etwas rätselhaft erscheinen mag. Der Mann ist ein Familienmitglied, ein Gefangener auf einer dieser Südseeinseln, hier am Ende der Welt, sozusagen hinter dem Mond“, Küppers lachte leise, „Sie ist weiter entfernt von den Inseln, zwischen denen wir schippern, als man meinen sollte und doch ist sie sehr nah von hier.“
„Du sprichst in Rätseln“, sagte ich.
„Er will uns partout dazu bringen, auf diesem Törn nach dem Eiland zu suchen“, sagte Richardson. „Ich bin ein wenig neugierig. Was haltet ihr davon? Eine Spukinsel voller Deutscher, die bisher der Wissenschaft verborgen ist. Nicht wahr, Franz. Es könnte sein, dass wir auf die Spuren gottähnlicher Menschen stoßen.“ Er lachte. „So zumindest hast du es mir eben erzählt.“
„Stellt euch einfach Männer vor, die wie Götter das Leben anderer Menschen bestimmen wollen, die allein zu wissen vorgeben, was gut und was böse SEIN SOLL. Es wären Teufel nicht wahr. Von solchen Teufeln berichtet mein Verwandter. Ein Kampf zwischen solchen Teufeln, der immer noch anhält“. Er sah in die Runde und wirkte aufgeregt und ein wenig verwirrt.
„Was meinst du?“ Karin hatte sich erhoben. „Sollen wir nach etwas Überirdischem suchen? Glaub mir, in Polen glaubt jeder Zweite an Magie. Wir sprechen Schutzzauber und essen an Silvester Opladen, um uns dann untereinander Glück zu wünschen. Schau dir mein Volk an, abergläubisch bis in die Tiefe der Seele hinein und doch auch einem kleinen Diebstahl niemals abgeneigt. Das nennt man polnischen Pragmatismus.“ Sie lächelte Küppers an und schaltete die Beleuchtung ein. Nun sah Küppers wieder aus, wie jener sportliche Mittvierziger, den wir zu kennen glaubten: 1,80 m groß, von kräftiger Statur, mit dunklem, vollem Haar und tiefblauen Augen.
„Ich kann es euch noch nicht erklären. Eventuell dir Charly.“ Er blickt mich fast schon verzweifelt an. „Warum mir?“, fragte ich verwundert.
„Nun, du bist Autor, und wahrlich nicht der Schlechteste, möchte ich meinen. Du hast Fantasie und Verstand undbist mit dem Sonderbaren vertraut.“
„Lieber Franz“, sagte ich. „Ich habe Science-Fiction-Romane geschrieben und mit einigen Stücken über Okkultismus Erfolge gefeiert, aber ich bin lange raus aus der Literatur. Schau mich an. Sehe ich aus wie ein Intellektueller?“
Es war so. Ich hatte seit langem nichts Erfolgreiches mehr geschrieben. Ich war ausgebrannt, müde und seelisch am Ende. Wenn es ihm ebenso ging, dann tat mir das leid. Aber kann ein Ertrinkender den anderen retten. Karin begann den Tisch aufzuräumen, auf dem sich noch die halbvollen Weingläser und das Geschirr vom Abendessen befanden. Mad erhob sich wortlos und begann ihr zu helfen.
„Und was willst du von uns?“, fragte Richardson. Karin warf Franz Küppers einen prüfenden Blick zu:
„Ja. Was willst du? Geht es dir nicht gut? Du bist heute so…anders. Ich habe das schon gemerkt. Gar nicht mehr der in sich ruhende Deutsche, den ich kenne.“
Franz drehte sich zur Reling und sah in die Dunkelheit hinaus. Ein leichter Wind war aufgekommen, der das Boot schaukeln ließ.
„Morgen werden wir aufbrechen“, sagte er, und auf diesen eigenartigen Ozean hinaus segeln. Ich war schon einmal hier“, flüsterte er leise, wie im Selbstgespräch versunken. „Es ist schon viele Jahre her. Ich fürchte das, was uns erwarten könnte, aber ich bin auch froh, es bis hierher geschafft zu haben.“
„Was ist los mit dir“, sagte ich. „Du bist mir etwas zu melancholisch.“
„Jeder von uns hat seine schwachen Minuten“, sagte Richardson, schenkte einen Cognac ein und reichte das Glas zu Franz herüber, der abwehrend die Hand hob.
„Nein, danke. Entschuldigt, ich bin heute wirklich etwas düster gestimmt. Ich hau mich hin. Morgen wird es ein schwieriger Tag. Ich wünsch euch noch einen schönen Abend.“ Er nickte uns kurz zu und verschwand unter Deck. Wir sahen uns an und konnten uns ein Grinsen nicht verkneifen.
„Muss man sich Sorgen machen?“, sagte Richardson. „Ach was, er ist einfach zu lange allein gewesen“, antwortete Mad.
„Ich glaube, ich sehe mal nach ihm“, sagte Karin und folgte ihm unter Deck.
Wir anderen saßen noch lange zusammen. Der Wind frischte auf. Es kam eine Schlechtwetterfront. Aber die Sea-Gull war ein sehr gutes Boot und Richardson einer der erfahrensten Skipper, den ich kannte. Wir würden am Morgen aufbrechen und weiter segeln. Ich war schon oft in diesen Breiten unterwegs gewesen. Es gab tückische Winde und ab und an schwierige Bedingungen, aber nichts, was nicht zu bewältigen gewesen wäre. Wir waren auf einem Urlaubstrip. Bald würde Heidi zu uns stoßen. Eine zweite Frau an Bord würde es eventuell leichter machen. Diese melancholische Schwere des Deutschen sollte uns unsere Reise nicht versauen.
Ich bemerkte jetzt erst, dass Franz Küppers mir etwas zugesteckt hatte. Einen Zettel. Seine Schrift war recht unleserlich, aber er schrieb:
Ich habe dir das Buch, das mir am Herzen liegt, in die Koje gelegt. Es handelt von dem, was ich dir sagen wollte. Es handelt von Menschen, die hier, ganz in der Nähe, unter unsäglichen Bedingungen aufgewachsen sind. Ich möchte, dass du das Buch liest. Ich würde gerne nach dieser Insel suchen. Vielleicht kannst du bei den anderen ein Wort für mich einlegen.
Wir hatten Zeit, das Schiff schaukelte gemütlich in der Dünung, und ich hatte durchaus Lust, zu erfahren, was er uns da präsentieren würde.
Es handelte sich um einen Stapel vergilbten Papiers. Es mochten etwa 300 Blätter sein, die mit einer ruhigen, sauberen Handschrift beschrieben waren. Die Seiten waren nummeriert. Diese Nummerierungen waren eingefasst in Symbole, die zweifellos als Verzierungen gedacht waren. Sie waren sehr sorgfältig und mit Liebe gemalt worden, aber die Symbole waren fremdartig und wirkten wie kleine Öffnungen zu einem Ort, der durch die Seiten zu sprechen schien.
Ich hatte so etwas noch niemals zuvor gesehen. Dieses Buch, wenn man es so nennen will, war bemerkenswert und ich konnte mir damals kaum denken, wer der Urheber sein konnte, denn es gab keine mir bekannte Kultur, die solche Symbole verwendet hatte. Es waren Spiralen und Kreise, bunte, wellenförmige Linien, stilisierte Sterne, Rechtecke, Fenster, die sich zu öffnen schienen, zauberhafte Darstellungen von Blumen und Bäumen, Abbilder eines Menschen, der sich beim Durchblättern dieses Buches veränderte, als würde er altern. Die Blätter waren dicht beschrieben, aber man konnte sehr gut lesen, was dort auf Deutsch geschrieben stand. Ich hatte deutsche Vorfahren und war von meiner Mutter von Anfang an zweisprachig aufgezogen worden. Es fiel mir also leicht, in diesem Buch zu lesen.
Ich schreibe alle Ereignisse auf, die das Leben auf unserer Insel bestimmten, das einen so ungeheuerlichen Verlauf genommen hat. Ich möchte den Leser warnen. Es kann ein gefährliches Unterfangen sein, diesen Text zu lesen. Das mag merkwürdig klingen, aber das, was ich hier erzählen will, wird auch in seiner Welt Wirkung haben.
Ich heiße Josef Küppers. Mein bewusstes Leben als Mensch begann auf dieser Insel und ich war der Zeuge der Ereignisse, die alle Welten veränderten.
Die Insel war zu Beginn nicht groß und wahrscheinlich vulkanischen Ursprungs. Ein dicht bewachsenes Kleinod inmitten einer scheinbar grenzenlosen See, die nur von einem Schiff besucht wurde, von der Astonia, dem Versorgungsschiff. Es gab weder sichtbare Nachbarinseln noch fremde Schiffe, deren Silhouetten in der Ferne vorübergezogen wären. Es gab nur uns und Kapitän Heinrich, der mit seinem Schiff, der Astonia, Versorgungsgüter und manchmal auch neue Betreuer zur Insel brachte oder Personal mit zurücknahm in eine Welt, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. Unsere Welt war die Insel. Auf dieser Insel bewohnten wir das Schloss. Das Schloss war offenbar etwas Ungewöhnliches. Da wir es nicht anders kannten, war es uns aber selbstverständlich. Es war ein gewaltiger, schneeweißer Bau, der im Untergeschoss Platz für 40 Bewohner bot. Zusätzlich gab es eine Kirche, die als Versammlungsraum diente und in der wir den von Milton angeregten künstlerischen Tätigkeiten nachgingen. In der Kirche gab es einen Zugang zu den oberen Stockwerken des Schlosses, in denen Milton residierte. Uns war von klein auf beigebracht worden, diese oberen Stockwerke weder zu betreten, noch jemals nachzufragen, was Milton dort machte. Milton war so etwas wie ein Inselpräsident oder König. Er war ein Mann von starker Autorität, der immer schon da war und der nicht zu altern schien. Er war nie krank oder schwach. Er blieb immer gleich. Er bewohnte die oberen Stockwerke des Schlosses. Von dort aus stieg er herab wie ein Gott und gab seine Befehle. Er leitete auch die Lehrer an, die uns unterrichteten und wir wussten, dass alles Wissen über die Welt, über Sprachen, Weltgeschichte, über Kunst, Literatur und Philosophie immer von Milton überwacht wurde. Er allein bestimmte, was zu unterrichten war, was wir wissen durften und was nicht. Er war das innerste Zentrum unseres Lebens. Unsere ganze Welt drehte sich gemächlich, im immer gleichen Rhythmus, um ihn, den ewigen Milton, herum.
Ich habe unser damaliges Leben trotzdem geliebt. Es war sicher und wohlbehütet:
Der machtvolle Milton, das gewaltige Schloss, die von uns zu bestellenden Felder, die Bucht mit dem Felshafen, in dem Heinrich anzulegen pflegte, der erloschene Vulkan mit seinem mächtigen Krater, die Sandelholz Wälder. Befremdet schaut man zurück zu dem versunkenen Ich. Doch ich wurde wacher und kritischer. Miltons Bedeutung schwand, während meine Liebe zu anderem wuchs. Im Nachhinein bin ich erstaunt, dass ich so wenig hinterfragte. Es gab Wiesen, die wir pflegten, Felder, die wir bearbeiteten, Gehege, in denen wir Schweine, Ziegen, Hühner und einmal sogar eine Kuh hielten, es gab Hunde. Es gab ein kleines Nebengebäude, in dem die Lehrkräfte untergebracht wurden und einen Anbau, in dem wir unterrichtet wurden, und es gab zusätzlich Kunst- und Musikräume, in denen wir unsere erworbenen Fähigkeiten verfeinern sollten.
Wir hatten auf Miltons Befehl hin alle Künste unter uns aufgeteilt, je nach dem persönlichen Talent: Malerei, Bildhauerei, Gesang, Dichtung, Schauspiel. Auf diese Ausbildungen wurde sehr viel Wert gelegt, aber auch auf Kampf- und Kriegskunst. Wir waren im Grunde zusammengepfercht in einer Art geistigen Schule, die nach Miltons Worten kein geringeres Ziel hatte, als das, Genies aus uns zu machen. Und wir waren blasiert und dumm genug, uns in seinen Vorgaben zu gefallen. Milton ist in mir so etwas wie eine Gottheit gewesen, wenngleich ein inzwischen gestürzter Gott. Er besaß damals eine unglaubliche Machtfülle. Wenn sich ihm jemand widersetzte, war dieser kurz darauf mit der Astonia abgereist. Auch unsere Lehrer fürchteten Milton. Sie gehorchten ihm ergeben, auch wenn sie, in seiner Abwesenheit, manchmal gemütlich mit uns beisammen saßen. Milton war zwar in den oberen Stockwerken des Schlosses ganz allein, doch er behauptete, dort Besuch von so genannten Herren zu erhalten: mächtigen Wesen von einem Jenseits der Zeit. Diese Herren waren für uns reine Fantasieprodukte, die uns bestenfalls als kleine Kinder erschreckten, die uns später aber völlig gleichgültig waren. Was Milton dort oben wirklich alleine trieb, war uns egal. Wir hatten ja genug damit zu tun, die Felder zu bestellen, die Tiere zu pflegen und an unserer Kunst zu arbeiten. Im Grunde waren wir Menschen, die in einer skurrilen Welt gefangen waren, ohne das jemals zu bemerken. Ich dachte damals viel nach; über die Welt und über die Ideen, die mir vermittelt wurden, nur das Naheliegende schien mir NICHT fragwürdig zu sein. Es gab für niemanden irgendeine Leidenschaft, außer der für die Kunst. Emotional übten wir uns in geistiger Liebe, wie die Ritter eines uns nur in Erzählungen vermittelten europäischen Mittelalters. Es war damals eine andere Welt. Wir verwandelten unsere Lüste in Kunstwerke, Bilder und Skulpturen, die wir in der Kathedrale ausstellten, um uns gegenseitig zu bewundern. Tatsächlich liebte ich schon damals Dolores. Sie beherrschte meine Träume und Sehnsüchte. Sie saß aber auf diesem Sockel, den ich nach Miltons Anleitung gebaut hatte, und sie wäre sicher gern herabgestiegen. Wir besaßen eine Tugend, die völlig losgelöst war, die uns aber eben deshalb unerreichbar für Einflüsterungen oder Manipulationen machte, wie sie später versucht wurden. Wir waren wie in enge Käfige gesperrte Papageien, die unentwegt plapperten, ohne zu wissen, worüber.
Der Zusammenbruch der Inselweltbegann, als wir zum ersten Mal Besuch auf der Insel bekamen. Wir durften nur den Westteil der Insel durchstreifen. Die Grenze für unsere Ausflüge war der Vulkankegel und auf der anderen Seite das Vorfeld des Vulkankegels, ein Felsmassiv, in das wir unsere Bergfestung gebaut hatten, die uns gegen Stürme und Überschwemmungen sichern sollte. Diese Bergfestung wurde bald sehr wichtig, aber das konnte damals noch keiner von uns wissen. Diese Festung musste stets bewacht werden. Die Wache bestand an jenem Tag aus Angelina, Paul und Linda, die seit 24 Stunden dort auf ihre Ablösung warteten, denn es geschah eigentlich niemals etwas Aufregendes. Peter, Dolores und ich waren gerade auf dem Weg zu ihnen. Unser Weg führte an dem Gebäude der Lehrkräfte vorbei zum Inselfriedhof und von dort, am Meer entlang, Richtung Ankerplatz. Von dort aus führte der Weg bergan, am Vulkankegel vorbei zur Bergfestung. In diesem Augenblick bemerkten wir, dass drei junge Männer vom Ankerplatz hinaufgestiegen waren, die forschend zu uns herüber blickten: Fremde! Es war ein Schock. Unser erster Impuls war es, zu flüchten, doch dann warteten wir, während die Männer langsam näher kamen. Sie wirkten wie ein Spähtrupp, eine Vorhut, die das Terrain auslotete. Was sollten wir tun? Wir waren in der Lage, uns zu wehren, falls wir angegriffen wurden, aber wo drei sind, sind zweifellos auch noch mehr Leute, denn irgendein Schiff musste den Weg zu uns gefunden haben. Da nur Heinrichs Schiff die Insel ansteuern konnte, war es eine außerordentliche Situation. Das Fremde war da. Das Fremde ist immer der Beginn einer neuen Welt. Deshalb fürchten Menschen das Fremde. Von der Begegnung mit dem Fremden erholt sich keine Wirklichkeit. Eine Welt stirbt, eine neue entsteht. Als hätte er geahnt, was passieren würde, sahen wir plötzlich Milton, der uns gefolgt war. Er schien wenig überrascht zu sein. Er nickte einem der jungen Männer zu und begrüßte die Ankömmlinge: „Besucher! Erstaunlich! Hallo Mahmoud. Ich habe schon gehört, dass du auf dem Weg zu uns bist.“
Dieser Mahmoud war, wie wir später erfuhren, Araber. Er war nicht besonders groß. Seine Haare waren pechschwarz und lockig. „Wie viele seid ihr und wo ist euer Schiff“, fragte Milton. „Wir sind mit zwei Schiffen vor Anker gegangen“, antwortete Mahmoud. „Der Endevaour unter Meister Gregorius und der Merci des Großmeisters Mercator. Sie ankern in der Bucht. 80 muslimische Brüder sind an Bord, die hier siedeln wollen.“
Milton erwiderte nichts, ich denke, weil er damals schon gewusst haben musste, worum es wirklich ging. Ich meine mich an schlechtes Wetter zu erinnern. Der Himmel hatte sich zugezogen und Blitze fuhren über den Himmel. Noch war das Unwetter über dem Ozean. Aber tatsächlich hatte es unser Idyll bereits erreicht.
Die Kirche, die unsere Kunstwerke beherbergte, schien bei den Neuankömmlingen Ehrfurcht oder Erstaunen auszulösen. Ich konnte mir denken, dass man überrascht war über die Ausmaße unserer Kathedrale, wie Milton sie nannte. Es war ein länglicher Saal mit Decken, die acht Meter hoch waren, gestützt von schneeweißen Säulen. Kerzen und Öllampen spendeten Licht. Die Fenster waren reich verziert. Der Boden bestand aus Marmor. An den Wänden hingen, die Gemälde unserer besten Künstler. Skulpturen, teilweise noch in Bearbeitung, standen überall und vom Treppenaufgang schaute das Bild jenes rätselhaften Menschen auf uns herab, den ein uns unbekannter Künstler gemalt hatte. Wie immer arbeiteten viele von uns an ihren Werken oder übten mit ihren Musikinstrumenten. Als wir den Raum betraten, verstummten die Geräusche. Alle Blicke wendeten sich den Neuankömmlingen zu. In diesem Moment erschien Gregorius. Er stand streng in der Tür und blickte zu Milton, der am Treppenaufgang stand. War dieser Mann einer der ominösen Herren? Es gibt, wie uns gesagt wurde, immer eine Diskussion unter Menschen, ob es das Fremdartige auf fernen Welten, unter der Erde, im Jenseits oder wo auch immer wirklich gibt. Die Wahrheit ist manchmal erschreckend. Aber das wird mein liebenswerter Leser in Kürze selbst erfahren.
Verwirrt legte ich das Buch zur Seite. Ich schaute mich um. Ich lag in meiner Koje. Alles war, wie es sein sollte. Ich nahm den Text zur Hand. Wie dick dieses Buch war. Wie viele Seiten mochte es haben? Es erstaunte mich, dass mir das vorher gar nicht aufgefallen war. Ich suchte die Textstelle, wo ich angesprochen worden war, aber ich fand sie nicht. Wahrscheinlich war ich kurz eingenickt. Manchmal vermischen sich Traum und Realität. Eine verrückte Geschichte, dachte ich. Hatte Küppers sich an einem Roman versucht. Aber sein Verhalten war nicht gespielt gewesen. Vielleicht war er verrückt geworden beim Verfassen seines Buches. Ich erinnerte mich an mein erstes Buch. Ich schrieb und schrieb und irgendwann war ich Teil der Geschichte und es fiel mir schwer, wieder in die Realität zurückzukehren. Viele Kollegen sind sicher in ihren eigenen Welten verschollen. Das Schreiben ist wie ein gesteuerter Traum. Man träumt ihn am Tage, aber die eigene Nacht webt mit und so entsteht ein Tuch, das auf der einen Seite im Lichte glänzt, auf der anderen Seite aber die Dunkelheit der Nacht einfängt.
Gregorius wandte uns seinen dicklichen Körper zu. Offenbar machte ihm die Hitze zu schaffen. Er öffnete seine Uniformjacke, und ich bemerkte, dass sein Hemd erkennbar durchgeschwitzt war. Er war ein hellhäutiger Mann, rothaarig und sicher nicht geeignet für diese Breiten. Sein Gesicht war rundlich und seine viel zu weiten Hosen schlabberten um seine zu kurzen Beine. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte in einem ziemlich gebrochenen Deutsch: „Ganz schön warm hier bei ihnen. Also gut, meine Damen und Herren. Wir sind hier. Sie werden es bemerkt haben. Wie lange haben wir auf diesen Moment gewartet. Ich bin absichtlich allein hier, um zu zeigen, dass wir in friedlicher Absicht kommen. Wie ich sehe, haben sie sich prächtig entwickelt in ihrem Biotop. Das war nicht unbedingt zu erwarten. Wir haben uns viel zu lange nicht um dieses Experiment gekümmert. Wir sind aber hier, um sie alle“, er wies auf uns, „wieder in die Welt zurückzubringen, von der sie so lange ausgeschlossen wurden.“ Unsere erwartungsvollen Blicke richteten sich auf Milton. Dessen Gesicht war zur Maske erstarrt.
„Sie sind einer der Kapitäne, nehme ich an“, erwiderte er. „Es ist sicherlich mutig, hier allein aufzukreuzen, aber ich weiß, dass sie einige ihrer Matrosen bewaffnet vor der Tür postiert haben. Hier bleibt ja wenig unbemerkt. Ich finde es ehrlich gesagt, etwas anmaßend von ihnen, meinen Schülern auf eine solch plumpe Art anzusprechen. Auch wenn sie es nicht glauben. Ihre Männer können jetzt nicht mehr hier hinein und sie können nicht heraus. Probieren sie es“, sagte er und nickte Gregorius aufmunternd zu. Der stand einen Moment ratlos, rief dann vergeblich nach seinen Männern und stand jetzt ziemlich belämmert vor Milton, der ihm ein eisiges Lächeln zuwarf.
„Ich denke, es ist bei zivilisierten Völkern üblich, dass man, wenn man ein fremdes Terrain betritt und Forderungen hat, diese an den richtet, der die Führung innehat und nicht an dessen Schüler. Darf ich sie bitten, mir zu folgen. In den oberen Stockwerken können wir uns in Ruhe unterhalten.“
Er wies zum Aufgang zur Geschlossenen. Gregorius folgte Milton hinauf zum Portal, während die Neuankömmlinge langsam durch die Vorhalle schlenderten, neugierig, abwartend, aber durchaus abweisend. Spannung lag in der Luft. Wir gingen zur Eingangstür, fanden diese aber, wie Milton gesagt hatte, verschlossen. Wie er das geschafft hatte, wussten wir nicht. Wir waren aber beeindruckt. Vor der Tür diskutierten die Matrosen, die ausgesperrt waren. Im oberen Stockwerk wurde lautstark gestritten. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Gregorius erschien. Er wirkte verunsichert. Als er die Tür geöffnet fand, schaute er kurz nach seinen Matrosen, die, wie auf fremdes Kommando, bereits zurück zu den Schiffen marschiert waren. Er war allein. Er befahl Mahmoud und dessen Begleitern, ihm zu folgen und war sichtlich erleichtert, dass die Männer ihm gehorchten. Er blickte noch einmal kurz zurück zu Milton, der am Treppenaufgang stand, drehte sich um und verschwand, offenbar gedemütigt und verärgert.
Die Muslime bewohnten die verfallenen Häuser auf dem Plateau, das zum Krater führte. Die Matrosen blieben bei ihren Schiffen, kamen aber ab und zu in die Nähe des Schlosses, wo es zu ersten Kontakten zu uns kam, die meist freundlich und interessant verliefen. Gregorius hielt sich fern und dieser Mercator war nur einmal von Weitem bei der Merci gesehen worden.
Milton schien das alles bereits vorausgesehen zu haben. Er blieb gelassen. Was wirklich geschah, war uns ein Rätsel. Es gab vielleicht schon lange einen Konflikt zwischen denen, die die Schiffe geschickt hatten, und Milton. Es stimmte, was man sich zu flüsterte, vor einigen Monaten waren ja unsere Lehrer plötzlich verschwunden. Das Haus, in dem sie lebten, war leergeräumt. Warum waren sie fort? Sie waren Deutsche und Gregorius war, nach Miltons Worten, Engländer. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Es schien, als habe man schon gewusst, dass Veränderungen bevorstanden. Wer war Gregorius wirklich? Er hatte eine große, bewaffnete Mannschaft. Wenn er wollte, war es ihm ein Leichtes, diese Insel in Besitz zu nehmen. Wir waren ihm im Grunde ausgeliefert. Womit hatte Milton ihm wohl gedroht, dass er so kleinlaut davon geeilt war? Milton hatte uns beauftragt, diese Neuankömmlinge im Auge zu behalten. Meine Aufgabe war es, diesem Mahmoud zu folgen, der eben den Pfad entlang spazierte, auf dem ich ihm zuerst begegnet war. Der Lärm der anderen blieb zurück. Er ging fraglos Richtung Friedhof. Dort stand er dann vor einem Grab. „Komm ruhig näher“, sagte er. Ich war nicht unbemerkt geblieben. Ich hatte das aber auch nicht beabsichtigt. Er durfte ruhig wissen, dass wir auf der Hut waren. Ich trat neben ihn. „Mein Vater“, sagte er ruhig und hob leicht den Kopf. Ich blickte auf den verwitterten Grabstein. „Er war ein guter Vater.“ „Wie kommt er hierher?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ Er schaute mich an. „Ich war schon einmal hier. Du bist Josef, nicht wahr. Ich nickte. „Du brauchst mir nicht zu folgen. Was hat Milton euch gesagt? Dass wir eine Gefahr sind?“
„Milton wird jede Gefahr von uns fernhalten“, antwortete ich. Er schaute mich an und begann leise zu lachen.
„Das hier ist ein besonderer Platz“, fuhr er fort. „Ich habe lange davon geträumt, hierher zurückzukommen. Aber das war gar nicht so einfach. Es ist sogar viel schwieriger, als man meint. Aber es ist gelungen und nun nehmen die Dinge ihren Lauf.“
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte.
„Komm“, sagte er. „Ich begleite dich zurück. Es wird auffallen, wenn du zu lange fehlst. Nachher denkt noch jemand, ich hätte dir etwas getan." Er lachte.
„Wieso sprichst du unsere Sprache?“, fragte ich. Mahmoud sprach ein recht gutes Deutsch. „Ich war schon einmal hier. In den ersten Jahren, als ihr noch ganz klein wart“, sagte er. „Ihr erinnert euch nur nicht mehr an mich. Dabei habe ich mit euch gespielt. Aber das Vergessen ist eine der Folgen dieser Insel. Man vergisst manches und man glaubt manches. Denk mal drüber nach: ist nicht alles, was du hier erlebt hast, wie ein Traum? Auch jetzt hat man den Eindruck, es ist nicht real, dass wir reden, nicht wahr. Ich bin ein ganzes Stück älter als du. Ich habe Jahre anderswo verbracht und ich habe viel erfahren. Der Nebel in euren Köpfen wird sich lichten und ihr werdet alles erkennen.“
Voraus sah man das Schloss. Seine Wände leuchteten magisch weiß in der Mittagssonne.
„Ich verlasse dich jetzt und gehe zu meinen Leuten hinüber“, sagte Mahmoud und gab mir die Hand. „Ich weiß, ihr habt keine Ahnung, wo und warum ihr hier seid, und ich kann und darf dir noch nichts verraten. Nur so viel. EGAL, was geschieht, es wird euch unverständlich erscheinen, aber alles wurde vor Jahren vorbereitet und hat seinen Sinn.“
„Was meinst du damit?", fragte ich, bekam aber keine Antwort.
Er nickte mir zu, drehte sich um und ging. Er hatte einen weiten Weg vor sich. Es waren 80 Muslime in seiner Begleitung, die ihr Camp auf der großen Ebene in der Nähe des Vulkankegels bezogen hatten. Dort gab es alte, verfallene Hütten, die sie fertig machten. Wir hatten bisher nur einige dieser Menschen zu Gesicht bekommen, aber Angelina und Thomas hatten die Gegend erkundet und uns berichtet, dass es sich zum größten Teil um jüngere Männer handelte. Die Matrosen waren auch an Land gegangen und hatten begonnen, ein Gebäude zu errichten. Es sah nicht aus, als hätten sie vor, die Insel in Kürze wieder zu verlassen. Sie besaßen Waffen und sie waren kampfkräftig. Aber wir waren davon überzeugt, dass wir, auch wenn es so wirkte, keine leichten Gegner sein würden. Die Neuankömmlinge, so dachten wir, sollten uns besser nicht unterschätzen. Nur zu gerne hätten einige von uns die erlernten Fähigkeiten erprobt. Mein Gott, wir waren jung und voller Kraft und Leidenschaft.
„Mir gefällt das nicht“, sagte Peter. „Eine merkwürdige Situation.“ Pauls langes, rötliches Haar hing ihm wirr auf die Schulter. „Wenn du mich fragst, ist hier etwas ziemlich Beängstigendes im Gange. Wir sollten die Augen aufhalten.“ Ich erzählte, was Mahmoud mir anvertraut hatte.
„Das klingt ziemlich mysteriös“, sagte Peter. „Ich verstehe nur, dass sie hier bleiben wollen und sich sicher sind, dass sie keinen Widerstand erleben werden. Aber egal, ob diese Seeleute oder die Fremden: wir sind in der Lage, sie aufzuhalten.“
„Sie sind nicht verbündet, das könnte man ausnutzen“, sagte Linda. „Ich hatte den Eindruck, die Matrosen stehen nicht so deutlich hinter ihren Kapitänen, wie diese vielleicht glauben.“
„Und die anderen sind Moslems.“, sagte Angelina, „Nach allem, was Milton uns gelehrt hat, ist es wahrscheinlich, dass sie unter sich bleiben werden.“
„Wir brauchen Waffen“, sagte Dolores. „Ich meine, es wird zu Konflikten kommen. Es ist doch möglich, dass Gregorius mit seinen Matrosen hierher kommt und das Schloss einfach besetzt. Es ist im Grunde doch erstaunlich, dass er das noch nicht getan hat. Irgendetwas muss ihn davon abhalten.“
„Vielleicht hat Milton noch ein anderes Ass im Ärmel“, sagte ich und wies auf Milton, der in aller Ruhe in der Kathedrale herumschlenderte und den Künstlern bei der Arbeit zusah. Er wirkte dabei provozierend gelassen. „Wir können ihn nicht fragen, was es mit allem auf sich hat“, sagte Peter. „Er wird uns keine unserer Fragen beantworten. Wir sollen ihm vertrauen, wird er sagen. Das ist das Einzige, was ihm einfallen wird. Oder wir sollen den Herren vertrauen. Irgendwem sollen wir immer vertrauen.“ Er warf einen zornigen Blick zu Milton herüber.
„Vielleicht hat sich etwas in der Welt draußen geändert“, sagte ich. „Es ist doch noch nie jemand von dort auf die Idee gekommen, diese Insel zu besuchen, geschweige denn, sie zu besetzen oder zu besiedeln. Es ist unsere Insel.“
„Genau", sagte Peter. „Es ist unsere Insel und deshalb brauchen wir Waffen, um sie zur Not zu verteidigen. Ich kann Milton nicht verstehen, dass er so gleichgültig bleibt. Wir sollten zumindest verteidigungsbereit wirken.“
Sabine zuckte die Achseln: „Mir ist es im Grund egal, was passiert. Hauptsache, es passiert endlich mal was. Ich habe schon oft daran gedacht, von hier zu flüchten. Es gab nur kein Schiff, das einen mitgenommen hätte. Jetzt gibt es zwei davon. Sie werden sicher nicht ewig bleiben. Man wird einige Leute hier lassen, eventuell einen Gouverneur, wie auf anderen englischen Besitzungen. Vielleicht ist Milton deshalb so ruhig. Wenn jemand für Ordnung sorgt, ist es sicher möglich, dass hier mehrere Menschen unabhängig voneinander siedeln. Vielleicht sollte man schon mal Kontakt zu diesem Kapitän Gregorius aufnehmen. Wenn er halbwegs in Ordnung ist, wird er sicher einige von uns mitnehmen, wenn er weiter segelt."
„Und wohin willst du segeln?“, fragte Peter.
„Nun, in die Welt“, antwortete Sabine. „Es gibt ja wohl mehr als diesen Vogelkäfig. Der Matrose, mit dem ich gesprochen habe, machte einen netten Eindruck. Hier hätte sich doch niemals etwas geändert. Egal, was geschieht, JETZT ist eine Veränderung da. Das heißt, wir haben eine neue Hoffnung.“
„Ich weiß nicht“, sagte Dolores. „Ich finde, das hier ist unsere Insel. Es ist unglaublich, dass sie einfach hier anlegen und sich festsetzen. Außerdem haben sie gleich neue Siedler mitgebracht. Das ist doch ein Unding. Solche Menschen können nichts Gutes im Schilde führen.“
„Sei es, wie es sei“, sagte Peter. „Ich finde auch, dass es ungeheuerlich ist, dass sie diese Insel okkupieren. Wir leben von klein auf hier und haben alles hier aufgebaut. Unsere Hände haben den Boden bearbeitet, das Vieh großgezogen. Das Land kultiviert. Ich sehe gar nicht ein, nun andere die Früchte unserer Arbeit genießen zu lassen. Mit welchem Recht kommen sie hier an und wollen sie in Besitz nehmen?“ Ich hatte diese Kontroverse schon mehrfach verfolgt. Wir waren verunsichert. Uns wurde drastisch vor Augen geführt, dass wir im Grunde gar nichts waren. Bisher hatten wir als Künstler gegolten, als Träger einer neuen, höheren Kultur. Aber wer scherte sich darum? Diese Matrosen sicher nicht und auch die Muslime waren offenbar nicht unsere Freunde. Milton entschied über unser Schicksal, oder ab jetzt dieser Gregorius oder der zweite Kapitän Mercator, der einen unheimlichen Eindruck machte. Wir waren offenbar nur dumme, unwissende, junge Bewohner. Dass wir all das geschaffen hatten, was hier nutzbar war, interessierte niemanden. Milton hatte uns alles gelehrt, aber unsere Hände hatten alles erbaut. Auch die Kunstwerke gehörten uns. Unsere Fähigkeiten hatten wir selbstständig entwickelt. Konnte man einfach über uns verfügen? Sabine hatte allerdings auch in gewisser Hinsicht Recht. Auch ich hatte seit geraumer Zeit Fluchtgedanken. Mit Dolores irgendwo anders ein eigenes Leben aufzubauen, Kinder zu bekommen, als Autor zu arbeiten und selbstständig zu leben, das war ein Traum, der nun tatsächlich zu verwirklichen war. Schiffe lagen in der Bucht vor Anker, die hochseetüchtig waren und mit denen man fort segeln konnte. Man konnte also fliehen, wenn man sich diesem Gregorius oder dem anderen Kapitän, Mercator, anbiederte. Aber andererseits hatte Peter auch recht. Die Insel war von uns bearbeitet worden. Wir hatten alles kultiviert und wir hatten unter Milton eine kleine, aber stabile Lebensgemeinschaft aufgebaut. Wer von uns wollte das alles aufgeben, zumal die Welt außerhalb, nach Miltons Worten, eine Welt des Hasses und der Furcht war. Dieser Gregorius machte auch keinen freundlichen Eindruck. Ein aufgeblasener, fetter Kerl, der redete, als ob ihm hier bereits alles gehörte. Ein arroganter Halsabschneider. Wie kam er dazu, unsere Insel für England in Besitz zu nehmen? Wie kam er dazu, uns neue Mitbewohner vor die Nase zu setzen. Konnte man sich mit so jemandem verbünden?
Am nächsten Morgen erhielten wir erneut Besuch von Kapitän Gregorius, der dieses Mal mit mehreren Männern seines Schiffes zum Schloss herüber marschierte. Wir erschraken, als wir diesen bewaffneten Trupp herankommen sahen. Sie wirkten bedrohlich. Aber irgendwie schienen sie auch verunsichert oder ängstlich zu sein. Ihre Blicke wanderten immer wieder die Schlossfassade empor, als erwarteten sie dort das Erscheinen mächtiger Kontrahenten. Auch Gregorius wirkte nicht so selbstsicher wie beim ersten Besuch. Er klopfte sogar und wartete, bis Milton ihnen Einlass gewährte. Die Matrosen hatten einen Gefangenen dabei. Es war ein etwa 30-jähriger Schwarzer, den sie gefesselt hatten. Milton wartete am Treppenaufgang und nickte den Ankömmlingen zu. Gregorius war gezwungen zu ihm hinaufzuschauen, was ihn offenbar ärgerte.
„Diesen Burschen hier haben wir von dem Versorgungsschiff eurer Insel gerettet. Es ist vor der Küste gesunken. Der Kapitän und die übrige Mannschaft sind tot. Ich denke, ihr solltet ihn bei euch aufnehmen.“ Ein Raunen ging durch unsere Reihen: Heinrich war tot? Ich hatte sicher nicht als einziger das Gefühl, dass dieser Gregorius etwas damit zu tun hatte. Milton blieb einen Augenblick verdächtig stumm, dann wendete er sich an uns:
„Ich habe es noch nicht gesagt, weil ich nicht wollte, dass ihr unruhig werdet. Es ist wahr, die Astonia ist gesunken. Heinrich ist tot, aber ein anderes Schiff wird unsere Versorgung übernehmen“. Er wendete sich Gregorius und seinen Männern zu und man spürte, dass er sich nur mühsam beherrschte: „Ich habe bis jetzt nichts gegen sie und ihre Unverschämtheit, hier einfach ungefragt an Land zu gehen, unternommen. Sie sind sich ein wenig zu sicher, dass ich nicht die nötigen Mittel habe. Ich denke aber, sie wissen, dass diese Insel noch von anderen Kräften geschützt ist. Täuschen sie sich nicht, diese Kräfte sind in der Lage, diese Insel zu verteidigen. Ich würde ihnen raten, ihre Männer auf die Schiffe zu rufen und wieder davon zu segeln. Bis zum Abend müssen sie davon gesegelt sein, wenn ihnen ihr Überleben am Herzen liegt.“ Als würde der Himmel Miltons Worte unterstreichen, brach draußen ein Sturm los und ein gewaltiger Donner rollte über den Himmel. Es begann zu regnen. Wir schauten uns beeindruckt an. Milton hatte eine uns verborgene Machtseite gezeigt. Seine Autorität beeindruckte uns. Gregorius schien die Warnung äußerst ernst zu nehmen. Er und seine Männer verließen hastig das Schloss, mitten in den heftig losprasselnden Regen hinein. Wir sahen ihnen nach, wie sie fast fluchtartig zum Pfad hinunter hasteten, der zu ihren Schiffen führte. Was genau ihnen Angst gemacht hatte, konnte ich nicht sagen. Milton stand dort oben wie eine Statue. Es stimmte schon. Er konnte von Zeit zu Zeit leicht dämonisch aussehen, insbesondere, wenn er wütend war. Und jetzt war er wütend gewesen. Er hatte sich aber schnell wieder gefangen, wendete sich zu uns und sagte:
„Wir müssen Vorkehrungen treffen. Ich habe das eben nicht zum Spaß gesagt. Es wird eine schlimme Flut kommen und hier alles unter Wasser setzen. Packt schon einmal das Wichtigste zusammen. Wir werden noch in dieser Nacht in die Bergfestung aufsteigen.“
In die Bergfestung? Das war unsere Zuflucht für den Notfall. Wir hatten die ausgedehnten Höhlen liebevoll eingerichtet, so dass man dort längere Zeit wohnen konnte. Der Zugang war durch Palisaden gesichert. Man musste über eine Leiter steigen, die bei Gefahr nach innen geholt wurde. Warum wir eine solche gesicherte Festung brauchten, hatte Milton uns mit dem drohenden Hochwasser bei Zyklonen erklärt, aber in all den Jahren hatten wir nie so etwas erlebt. Trotzdem waren Wasser und Verpflegung der Bergfestung immer frisch, und sie wurde bewacht. Von der Bergfestung aus konnte man die Türme des Schlosses sehen. Sie lag 300 m hoch. Es gab in diesem Gebirge, wie wir es nannten, ausgedehnte Höhlensysteme, die gefährlich waren. Der Teil, den wir bewohnten, war begrenzt und gesichert. Es gab dort Zimmer für jeden von uns. Ein Aufenthaltsraum, eine Art Küche mit Kochstelle, mehrere Aborte, die in den Felsen geschlagen waren, und von denen der Kot tief in ein Gewässer fiel, das unterirdisch floss. Licht spendeten Fackeln und Öllampen. Es gab Möbel, Tische, Schränke, Betten und es gab einen Brunnen mit sauberem Wasser. Im Grunde besaßen wir eine komfortable, gesicherte Alternative zum Schloss. Jetzt beruhigte uns diese Tatsache. Dort oben waren wir in Sicherheit. Wir waren aufgeregt, und freuten uns darauf, dort hinaufzusteigen, um ein paar Tage Urlaub zu haben.
Aber was waren das für Kräfte, die die Insel schützten? Hatte er von den Herren gesprochen? Gab es sie wirklich?
Vorerst waren wir noch im Schloss und lauschten dem Grollen des Gewitters. Der Schwarze machte uns neugierig. Er war ja ein Matrose Heinrichs. Wir näherten uns dem Gefangenen.
„Sprichst du unserer Sprache“, fragte ich. „Was glaubst du“, erhielt ich zur Antwort. „Bin ich mit Heinrich gesegelt oder nicht?“ Die Stimme klang nicht unsympathisch. Unsere Blicke trafen sich. Ich meinte, einen Anflug von Spott zu bemerken. „Wer bist du, und warum haben sie dich gefesselt? Ich wies auf das Seil. „Eine komplizierte Sache. Ich bin wohl zwischen die Fronten geraten.“ Er lachte. „Du hast wohl noch nie einen Schwarzen gesehen und dann noch in Fesseln.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich wirklich nicht. Ich frage mich nur, was du hier sollst.“
Er schaute mich mitleidig an:
„Völlig naiv, was. Ihr wisst gar nicht, wo ihr seid und wie wichtig ihr seid. Man sucht nach euch, soviel ist klar.“ Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Nach uns?“ „Ja, durchaus. Ihr habt eine gewisse Berühmtheit. Ich bin mit Heinrich gesegelt, glaub mir. Ich heiße übrigens Ted.“ „Ich bin Josef“, erwiderte ich. Peter löste Teds Fesseln, Linda, Dolores und die anderen waren neugierig näher gekommen. „Du bist mit Heinrich gesegelt?“, fragte Peter. Ted nickte. „Also warst du schon einmal hier auf unserer Insel?“ „Nein, leider nicht. Ich bin immer auf dem Schiff geblieben. Ich war nie auf dieser Teufelsinsel. Weiß Gott nicht. Es gibt Orte, wo ich lieber wäre.“ „Wieso Teufelsinsel“, fragte Dolores. „Hier ist ein ruhiger, schöner Ort, das wirst du bald sehen.“ „Oh ja“, sagte Ted. „Es ist wohl das Paradies, schwebend über den Wolken. Nichts für ungut, aber wir hielten diesen Ort immer für etwas unheimlich.“
„Aber jetzt bist du hier“, ertönte die tiefe Stimme Miltons, „Und du siehst, hier ist es alles andere als unheimlich. Wir haben es nur für nötig gehalten, diesen Ort zu schützen. Ich denke, du weißt inzwischen, dass das nötig ist.“
„Sicher, mein Herr“, sagte Ted. „Ich wollte sie nicht beleidigen. Ich bin froh, hier sein zu dürfen.“
„Erzähl den anderen ruhig, was mit Heinrich geschehen ist. Sie dürfen es erfahren“, sagte Milton. „Nun ja“, sagte der Schwarze, „sie haben ihn wohl in den Selbstmord getrieben. Durch Folter nehme ich zumindest an. Sie haben uns abgefangen und alle Matrosen getötet. Die Leichen wurden über Bord geworfen. Nur ich habe überlebt. Man glaubte, ich wüsste über eure Insel Bescheid. Ich war doch neben dem Kapitän der einzige Deutsche an Bord. Nun schaut nicht. Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Na ja. Ich konnte ihnen nichts erzählen. Im Grunde weiß ich nichts. Irgendwie bin ich dann bis hierher mitgenommen worden und jetzt bin ich hier.“
„Warum haben sie dein Leben verschont?“
Ted zuckte die Achseln.
„Sie haben dir einen Auftrag gegeben, nicht wahr?“
„Ja. Haben sie. Sie sind fest davon überzeugt, euch schnell zur Kapitulation bewegen zu können und dann soll ich ihnen mitteilen, mit wem ihr euch hier trefft und wo sich die Männer aufhalten, die man die Herren nennt.“
Milton lächelte und tätschelte Teds Wange: „Du bist klug, deshalb lebst du. Du weißt, die richtigen Antworten zu geben. Ich wusste, dass du hier spionieren sollst. Aber du hast Recht. Sie unterschätzen uns und sie werden uns nicht besiegen.“ Man sah ihm an, dass er noch andere Gedanken hegte. „Ich verlasse euch jetzt für eine Stunde. Ihr braucht keine Angst zu haben. Niemand wird einen Angriff wagen. Josef nimmt Ted mit auf dein Zimmer. Du hast Platz genug. Sorge dafür, dass er zu essen bekommt, gib ihm neue Kleidung. In einer Stunde treffen wir uns alle in der Kathedrale. Ich werde rechtzeitig zurück sein und euch holen.“
Er drehte sich um und schritt die Treppe hinauf zur Geschlossenen.
Mein Zimmer lag im Westflügel. Dort hatten die Räume eine Deckenhöhe von 5 Metern. Ein mannshohes Fenster erlaubte einen freien Blick in den Park. Es war ein Privileg, ein solches Zimmer zu haben. Im Männertrakt gab es wenige vergleichbare Räume. Warum ich dieses Zimmer erhalten habe, weiß ich nicht. Eventuell hatte Milton besondere Sympathien für mich. Vielleicht war es auch nur Zufall.
„Ein ganzes Schloss für euch“, fragte Ted, der interessiert die gepflegten, weitläufigen Gänge betrachtete, an deren Seiten die einzelnen Zimmertüren lagen, auf denen die Namen der Bewohner standen. „Ich hab ja schon davon gehört, aber so etwas gesehen habe ich noch nie. Was macht ihr hier eigentlich?“
„Was meinst du?“, fragte ich. „Wir leben hier.“
„Und das kommt euch gar nicht seltsam vor, dass ihr hier außerhalb der Welt in einem Schloss wohnt, das auch in England stehen könnte?“
„Wieso, ist das ungewöhnlich“, fragte ich und war jetzt wirklich überrascht über das Erstaunen Teds.
„Ob das ungewöhnlich ist“, Ted blickte mich spöttisch an: „Das ist völlig verrückt.“
Ich wusste nicht, was er meinte. Ich sah mich um und bemerkte nichts Besonderes. Die langen Gänge, die hohen Fenster, die Zimmertüren. Alles war so vertraut. Wieso fand er das so überraschend?
„Du bist noch nie woanders gewesen?“, fragte er ungläubig: „Ihr alle nicht? Das ist unglaublich.“
„Wir sind ja mit einem Auftrag hier“, sagte ich.