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Heinrich war in Amerika und wird von den Dorfbewohnern doch nicht als Globetrotter bewundert. Dieser Prahlhans schneidet so sehr auf, dass der Großvater - sein bester Freund - ihn vor die Tür setzt. Die dreizehn Erzählungen sind vorwiegend in einem Milieu angesiedelt, von dem der Autor sagt „Ich stamme vom Lande, und so ist mein Thema vorläufig das Land“. Sasses Erzählweise vermeidet Überflüssiges, beeindruckt durch psychologische Durchdringung, ist vor allem volkstümlich und lässt der Fantasie des Lesers Raum. So vermittelt seine Prosa Begegnungen mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Alten und Jungen, mit Liebe und Zorn, ist heiter und ernst. INHALT: Mon dieu Spiegelbild Tausendgüldenkraut Hochzeitsreise Prilleken backen Heinrich, der Kutscher Betriebsausflug Amerikaheinrichs Rückkehr Das Begräbnis Wart auf mich Männer und Frauen Der kleine Zaunkönig Der Teich LESEPROBE: Als er wieder mit der Kutsche bestellt wurde, zog er sich die Livree an. Sie passte nicht mehr in den Schultern, und über dem Bauch spannte sie. Ein Knopf riss ab, Heinrich nähte ihn allein an. Die schöne Livree, am Arm war ein großes Loch, die Motten waren drin gewesen. Als die Alte Heinrich sah, lief sie laut schreiend in den Hühnerstall. Jesusmaria, jammerte sie. Und Heinrich sagte, so oder so, jetzt werden wir zum Schluss kommen. Natürlich sah jeder, was los war. Der Direktor war verhindert. Seine Frau stutzte einen Moment, dann drehte sie sich um und zischte, das wird Folgen haben. Heinrich rief hinter ihr her, da warte ich doch bloß drauf. Heinrich brachte die Pferde in den Stall zurück und ging nach Hause. Die Alte war nicht da. Heinrich suchte nach ihr. Im Schlafzimmer fand er sie. Sie saß auf dem Bettrand und heulte Rotz und Wasser. Ich tu mir noch was an, schrie sie, das kann ich nicht mehr aushalten. Schweigend zog Heinrich die Livree aus. Sie riss auch noch unter dem anderen Arm auf. Er hängte sie in den Schrank. Du brauchst dir nischt antun, sagte er, ich höre schon auf. War es denn wirklich so schlimm, fragte er und kniete sich vor das Bett und nahm die runzligen Hände der Alten in seine Hände und erschrak, die ganzen vierzig Jahre mit mir? Er wischte der Alten die Tränen mit den Händen aus den Augen, und sie war schon wieder ganz vergnügt, als sie sagte, i wo, das sage ich nicht.
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Seitenzahl: 192
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Erich-Günther Sasse
Amerikaheinrichs Rückkehr
ISBN 978-3-86394-791-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1977 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Sie sagen, es wird wohl wieder mal losgehen, sagt Heinrich Grimm und trinkt einen Schluck vom Braunbier. So gut wie bei Thoms ist das Bier nirgendwo, weiß jeder und Heinrich auch, dabei ist er weit herumgekommen, er war doch bei den Soldaten.
Aber zu Hause, sagt er, ist es doch am allerschönsten, prost Krischan. Und Krischan sitzt dabei und ruft seine Frau, die in der Küche ist: Kathrin, bring neues Bier!
Und Kathrin kommt, gut gebaut, in der Mitte noch ziemlich schmal, Mitte vierzig vielleicht, drei Holzhumpen in der Hand. Sie stellt das Bier auf den Tisch.
Es ist halbdunkel in der Gaststube, zwei Kerzen brennen, und wenn ihr einer an den Hintern fasst, sieht es keiner, deshalb sagt Kathrin auch nichts, es könnte ja ihr Krischan sein, der alte Bock. Das haben wir gesehen, sagt Kathrin, den ganzen Tag sind welche gekommen, Franzosen und unsere. Und Krischan sagt, Bier saufen woll’n alle, aber bezahlen will keiner, Scheißsoldaten und Hunde verfluchte.
Nun wird es wieder losgehen, sagt der Schulze, der immer was Bedeutendes sagen will, wo er doch der Schulze ist, zu erkennen an der goldenen Uhrkette. Jetzt, wo das Winterkorn schon so hoch ist, prost Krischan!
Prost, sagt Krischan und trinkt und wischt sich mit der Hand den Schaum vom Mund.
Sogar der Herr von Mönchmann trinkt Krischans Bier manchmal, wenn er im Dorf ist und sich erholen will von der Frau Baronin, die oben im Schloss betet für das Seelenheil des Gemahls, mit dem jungen katholischen Pfarrer. Und die jungen Herren kommen beide, wenn sie auf Abenteuer aus sind.
Der Schulze sagt was Bedeutendes, ich muss mal raus, und steht schwer auf und stolpert über sich selbst. Und Kathrin sagt, aber vorsichtig, Schulze.
Ja, ja, sagt der und torkelt raus und lässt die Tür offen. Nun kommt Thoms Hofhund reingesprungen, das Vieh, schwarz wie die Nacht. Er wedelt mit dem Schwanz und springt Thoms künftigen Schwiegersohn an, aber der hat damit nichts im Sinn. Er haut dem Köter den Holzhumpen auf die Schnauze. Wo ich doch Hunde nicht ausstehen kann, sagt er.
Und Kathrin verkneift sich, was sie zu sagen hätte.
Dass nämlich der Herr Grafe Soldat sein müsste, wie ihre Söhne, und wie das zu sein hat. Aber Grafes sind nun mal die größten Bauern im Dorf, und der junge Grafe hockt den ganzen Tag in der Gaststube, da sagt sie nichts. Oder doch was, ich will den Hund man an die Kette legen, solange Gäste hier sind.
Und der König, sagt Krischan. Ach der, sagt Andreas Grafe, der schon mehr sagen kann als die anderen, denn er hat vier Pferde im Stall, ach der!
Jochen, der beim Kaufmann Salomon in der Stadt dient, ist heute zu Fuß gekommen, den weiten Weg. Drin ist was los, Franzosen über Franzosen, sogar der Stiefsohn vom Napolium, der Vizekönig von Italien, soll dabei sein, sagt Jochen, er hat ihn nicht gesehen, aber viele andere große Herren. Nein, sagt Kathrin, die wieder reinkommt, solche Leute. Und Krischan sagt, hol du man lieber neues Bier! Das macht sie auch, schnell ist sie wieder da.
Und die schöne junge Königin, unsere meine ich, so jung und schon tot, das macht der Kummer. Ach Gott, ach Gott, sagt Krischan. Und Kathrin sagt, aber der König hat wohl schon was Neues. Eine Gräfin, mindestens.
Warum auch nicht, sagt Heinrich, prost! Und Kathrin sagt, ihr Kerle, ihr seid doch alle gleich.
Fünf Männer sitzen in Thoms verräucherter Gaststube um den Tisch. Heinrich Grimm, Andreas Grafe und Krischan selber und Otto Hinze, aber der ist bloß Schmied, er soll gefälligst das Maul halten.
Der fünfte war der Schulze, der ist nicht mehr da.
Der ist voll, sagt Kathrin und räumt die leeren Humpen vom Tisch. Nun fragt Andreas Grafe doch, was er schon den ganzen Abend fragen wollte, wo Hannchen ist. Und Kathrin sagt schnell, damit Krischan nichts verrät, die schläft oben in ihrem Bette. Das ist nicht wahr, aber es weiß keiner. Johanna ist im Busch. Da hat Krischan sie in einem Baum versteckt, damit sie nicht den Franzosen in die Hände fällt, man hört von solchen Krankheiten, die sollen ja schlimmer sein als die Pest.
Da draußen ist Johanna sicher. Der Busch ist nicht sehr weit, das Dorf liegt sowieso ziemlich abseits von der Straße, auf der die Soldaten marschieren. Und so oft kommen die Franzosen hierher nicht. Auf dem Schloss waren sie schon dreimal, da soll bald nichts mehr übrig sein. Obwohl die Frau Baronin Tag und Nacht betet mit ihrem frommen Pfarrer, aber das hält die Franzosen wohl nicht ab.
Johanna ist jedenfalls sicher im Busch, und die drei Kühe hat sie mit und ein paar Schweine. Das Vieh wenigstens soll gerettet werden.
Die Söhne sind, darüber redet man besser nicht, oder doch, der eine ist bei Napolium. Und der andere bei denen, über die man nun wirklich nicht redet, es beruhigt zu wissen, dass es sie gibt, und manchmal beunruhigt es auch sehr. Man weiß doch nicht, was alles noch kommt. Kathrin seufzt, sie hat Angst um alle beide.
Propheten sind genug durch das Land gezogen, die brauchen wir nicht, sagt sie.
Und Krischan sagt, das Weib, was die wieder redet.
Andreas Grafe steht auf und sagt, ich will man gehen, in diesen Zeiten ist man besser in der Nacht zu Hause. Es ist spät geworden, sagt Heinrich Grimm. Die Männer gehen. Es fällt ihnen schwer, das gute Bier, das gute Bier. Und Krischan will Kathrin noch an die Bluse, aber Kathrin will nicht. Wenn das Kind kommt und überhaupt. Aber das Kind ist doch im Busch, brummt Krischan. Darum habe ich doch extra nicht so viel gesoffen, sagt er.
Kathrin zieht ihre Bluse zurecht und sagt, ich geh noch raus zu Hannchen, Ruhe habe ich hier doch nicht. Sie legt sich ein schwarzes Tuch um die Schultern und geht und schreit und kommt wieder in die Gaststube gestürzt, da draußen liegt einer!
Quatsch, sagt Krischan. Doch, sagt Kathrin, sie guckt ziemlich aufgeschreckt.
Da liegt wirklich einer, das sieht nun auch Krischan, der kriecht und stöhnt, dunkel, auf dunkler Erde, das ist ein Mensch.
Und Krischan sagt, aber das ist doch ein Franzose, und so was in unser Haus!
Man hört Lärm und Geschrei, das ist sehr weit weg, es wird hoffentlich nicht näher kommen.
Das Mondlicht fällt auf den Mann, der da liegt.
Und Kathrin sagt, hier können wir den doch nicht liegen lassen. Das wäre Krischan das liebste.
Wir sind doch Christenmenschen, sagt Kathrin. Deshalb packen sie den Mann und tragen ihn ins Haus. Krischan fasst ihn unter die Arme, Kathrin nimmt die Beine. Krischan sagt, der Kerl ist ganz schön schwer.
In der Stadt ist der Vizekönig von Italien, und bei Marcus Salomon sind Franzosen einquartiert. Schadet nichts, sollen sie den ein bisschen ausnehmen, der hat noch genug.
Alle im Dorf schulden ihm was. Nur Thoms nicht. Mit Juden lassen wir uns gar nicht erst ein, sagt Krischan immer, man weiß doch, wie die das machen.
Hat Krischan auch nicht nötig, sich mit Juden einzulassen. Die Taler sind vergraben hinter der Scheune. Und die Wurst auch, in der großen, verschnörkelten Holztruhe, und Kathrins gute Wäsche liegt ganz obenauf.
Der Franzose stöhnt, als sie ihn schleppen, als sie ihn in der Gaststube auf den Boden legen, mon dieu.
Und Kathrin sagt, mein Gott, so ein schöner junger Mensch. Darüber ärgert sich nun Krischan gewaltig. Er war auch mal schön und jung, jetzt hat er einen Wanst.
Red doch nicht soviel, sagt er.
Er hat Angst. Ein Franzose im Haus, man weiß nicht, wie das ausgeht.
Die Kerzen auf dem Tisch flackern. Und Krischan denkt, so oder so, es geht nicht. Das sagt er auch zu Kathrin. Aber so schnell gibt Kathrin nicht auf. Sie sagt, lassen wir ihn in Frieden sterben, er hat uns nichts getan. Da ist Krischan anderer Meinung. Wer hat uns die Pferde aus dem Stall geholt? Wer hat die Kuh aufgefressen, gerade die beste Milchkuh, gerade frischmelkend? Und die Hühner dazu. Wer hat das Bier weggesoffen, fassweise? Ja, sagt Kathrin, die Franzosen schon, aber doch nicht der da, der ist doch noch so jung.
Aber, sagt Krischan, er bleibt ein Franzose.
Er sieht auf den jungen Mann, der stöhnt, mon dieu, mon dieu, immer diese beiden Worte.
Kathrin geht und kommt wieder und hat einen Packen Kleider unter dem Arm, die legt sie auf die Steine. Sie wälzt den Franzosen darauf.
Der stöhnt: mon Dieu, mon dieu.
Gott sei Dank, denkt Krischan, dass Johanna nicht da ist, so ein halb toter Franzose ist doch immer noch ein Franzose. Kathrin will ihm einen Schnaps geben, aber er presst die Lippen fest zusammen. Kathrin deckt ihn mit den Kleidern zu, nun hat er es warm. Die Nacht ist noch kalt, Anfang April, da liegt man doch lieber zusammen im warmen Bett. Krischan sitzt am Tisch und starrt vor sich hin, immer auf den Franzosen. Das ist nichts Gutes, weiß Kathrin, und sie hat Angst.
Deshalb sagt sie, ich geh jetzt zu Hannchen in den Busch, er ist doch schon ruhiger.
Kathrin geht und bleibt sehr lange weg. Als sie wieder kommt, ist die Nacht bald vorbei. Krischan weiß, dass sie wirklich bei Johanna war, und sie hat ihr alles erzählt. Die Weiber!
Krischan hat schwer gearbeitet. Er hat ein Loch gegraben in der Gartenecke, wo der Graben ist, der im Sommer immer austrocknet, dort, wo unter Weidenbäumen die Johannisbeeren stehen, die so sauer sind, dass sie meistens am Strauch vertrocknen, in der Ecke, wo der Kürbis von Jahr zu Jahr schlechter wächst, kümmerlicher, da hat er das Loch gegraben.
Er wollte fertig sein, aber ganz hat er es doch nicht geschafft.
Er kommt in die Gaststube, ein gewaltiger Mensch, der schwitzt und mächtigen Durst hat, das Hemd ist offen, die Ärmel sind hochgekrempelt, dass die behaarten Arme zu sehen sind.
Er erschrickt, als er Kathrin vor dem Franzosen stehen sieht, sie starrt durch ihre Finger, erst auf den Franzosen, dann dreht sie den Kopf zu Krischan um. Mein Gott, sagt sie, der junge Mensch!
Nun könnte Krischan sagen, mit Gott für König und Vaterland, oder so was ähnliches, vielleicht auch, es lebe der König! Nur zugeben kann er nicht, dass er Angst hat, nicht vor Kathrin.
Also sagt er leichthin, der wär doch sowieso hinüber, er guckt Kathrin dabei nicht an.
Krischan hat Kathrins Aussteuerlaken geholt, weiß gebleicht und grob gewebt, von Kathrins Großmutter mit den gichtigen Fingern selbst gemacht. Er rollt den Franzosen ein. Gleich so, wie er ist, man ist doch kein Leichenfledderer, das hat Krischan nicht nötig.
Nimm du die Stiefel, sagt er zu Kathrin.
Nein, sagt sie, nicht. Sie sieht Krischan ins Gesicht und schüttelt den Kopf.
Nimm du die Stiefel!
Da fasst sie an, sie hat Angst.
Der Hund kläfft auf dem Hof, dann heult er den Mond an.
Als es Morgen wird, sind sie fertig. Krischan hat das Loch zugeschaufelt. Und Kathrin sitzt dabei auf dem Apfelbaumstumpf und kann sich nicht von der Stelle rühren, das Schultertuch ist verrutscht und die weiße, volle Brust zu sehen, und sie stöhnt, mein Gott, mein Gott.
Es ist nichts mehr zu sehen. Krischan streut den Rest Erde auf der Wiese breit.
Der Tag zieht am Himmel hoch, erst ein roter Streifen dort, wo die Sonne aufsteigt, hinter dem Wald, in dem Johanna hockt, hoffentlich schläft sie.
Der Himmel wird rot. Und Kathrin denkt, Gott erbarme dich unser, lass es noch dunkel bleiben.
Der liebe Gott hört nicht, er schläft. Der Tag wird hell. Und die Vögel fangen verschlafen an zu singen, an diesem Tag singen die Vögel! Endlich ist Krischan fertig.
Er lehnt sich auf den Spaten, wischt sich die Stirn ab und sagt, na also, komm!
Er legt seinen Arm um Kathrins Schulter, der Arm ist heiß. Und Kathrin lässt sich an die Bluse kommen, mein Gott, was ist denn schon dabei. Mon dieu!
Die Franzosen mussten flüchten. Das Haus des Händlers Marcus Salomon haben sie in Brand gesteckt, weil er sein Geld nicht herausrücken wollte. Ich hab nicht, bin arm, aber jemand hatte gesagt, dass dort viel Geld sei.
Und Krischan hat zu Kathrin gesagt, du siehst, wie recht ich hatte, Kathrin hat nichts gesagt und den Kopf gesenkt. Johanna kam nach ein paar Tagen unbeschädigt aus dem Busch zurück. Bald darauf heiratete sie den jungen Grafe, den größten Bauern im Dorf.
Kathrin pflanzt wie eh und je in der Gartenecke, bei den sauren Johannisbeeren, ihren Kürbis. Der wächst von Jahr zu Jahr besser. Und bald erntet im ganzen Dorf keiner solche Kürbisse wie Kathrin. Darauf ist sie stolz. Zu Erntedankfest spendet sie der Kirche den allerbesten. Manchmal steht sie dort in der Ecke und besieht sich die Kürbisse und guckt über den Gartenzaun weg auf das weite Land, über das viele Propheten gezogen sind, und flüstert, mein Gott. Aber immer öfter ist ihr so, als habe sie, was in jener Nacht passiert ist, nur geträumt. Wenn sie zu lange in der Ecke steht, ruft Krischan, bring neues Bier, die Gäste warten!
Ich gehe heute auf Hochzeit bei mein Enkel, sagt der Alte zum Spiegel und fährt sich mit den Fingerspitzen über das raue, rote Gesicht, die weißstoppeligen Backen und den Hals.
Ja, ja, sagt der Spiegel, der im Schlafzimmer steht und eingefasst ist mit braunem Holz.
Ja, ja, er redet mit dem Mund der Alten, das weiß ich doch. Aber vorher gehste noch bein Barbier und lässt dich rasieren. Na, hör mal, sagt der Alte, bist du vielleicht meine Alte, dass du mir Vorschriften machen kannst? Na, hör mal, die Zeiten sind lange vorbei.
Nein, nein, sagt der Spiegel und schämt sich ein bisschen, vielleicht, er guckt den Alten nicht an, ich meine man bloß.
Der Alte kämmt sich die wenigen Haare, zieht die Schiebermütze aus Manchester drüber, geht zum Fenster, schließt es und guckt auf die Straße. Da steht ein großer blauer Trecker, das ist der Heinemann von gegenüber, der macht zu Hause Frühstück.
Er wird schon wissen, warum, kichert der Alte und schnalzt mit der Zunge und reibt sich die Hände, die hat was dran, so müssen sie sein. Da weiß man, was man hat, da macht’s auch Spaß.
Der Alte zieht die Gardine zurecht, geht aus der Stubentür und schließt sie hinter sich ab, den Schlüssel lässt er stecken.
Ein bisschen mühsam geht der Alte die Treppe runter. Die Schwester steckt ihr spitznasiges Gesicht aus der Küchentür und fragt, dumme Falten auf der Stirn, wohin gehste?
Bein Balbier gehe ich, sagt der Alte mürrisch und schließt die Tür hinter sich.
Diese Weiber, dass sie immer alles wissen müssen. Dabei weiß die nichts, überhaupt nichts weiß sie. Sonst hätte sie ja einen abgekriegt, hat sie aber nicht, sie ist sitzen geblieben. Und jetzt hält sie dem Alten dauernd vor, du bist schuld daran, schuld bist du, nur du! Zehne hätte ich haben können, prahlt sie immer.
Das ist nicht wahr, aber einen, das stimmt. Der war dem Alten aber nicht gut genug. Er war ja man bloß Schmied gewesen, und die Schwester stammt ja schließlich aus der Wirtschaft.
Das will ich meinen, murmelt der Alte stolz.
Der passte nicht zu ihr, und außerdem hat er schon vor der Hochzeit mit anderen Weibern rumgemacht.
Das war ein Kerl, kichert der Alte vor sich hin, aber nicht für meine Schwester.
Der Alte lebt mit der Schwester zusammen in einem Haus. Sie bewohnt die Zimmer unten, er die oben.
Er kocht sich allein was, sie hat’s mit dem Magen, soll sie doch ihren Pamps alleine fressen.
Er macht sein Zimmer allein sauber. Ich habe es so im Rücken, jammert sie immer.
Soll sie’s doch im Rücken haben. Weiber verdammte, sind alle gleich. Der Alte geht über den großen Hof. Der Kutscher versorgt im Pferdestall die LPG-Pferde, an der Wand hängen die Geschirre.
Die LPG-Weiber sammeln sich am Tor. Sie stehen da einfach rum und warten auf den Bus und glotzen.
Na, Opa, du könntest doch noch schlafen, ruft die Marga von Beses, die immer den größten Rand hat.
Ich bin doch nicht wie ihr, dass ich meinen Arsch im Bette fett werden lasse, murmelt der Alte. Laut sagt er, mir fehlt was Junges, Marga, damit ich müde werde, ich kann jetzt so schlecht schlafen, wir können’s ja mal versuchen alle beide!
Die Weiber kichern. Der Alte geht weiter. Er lacht nicht. Er lächelt nicht mal. Nur seine Zunge fährt über die trockene Oberlippe, die Lippe zittert.
Er läuft schwer, wie ein alter Ackergaul, der den ganzen Tag den Pflug gezogen hat und sagt, das nennen die nun Fortschritt, Revolution. Ein Bus bringt die Weiber ins Nachbardorf, nach Haubitz. Da hatte der Alte seine Frau her. Der Weg dorthin ist nicht weit. Nur den Hügel hoch und dann wieder runter. Den Weg geht der Alte nicht mehr, obwohl in Haubitz die ganze Verwandtschaft seiner Frau lebt.
Die Weiber stehen rum und langweilen sich und warten und warten. Die Kinder haben sie abgegeben in der Krippe. Eine halbe Stunde warten sie, bis der Bus kommt, eine halbe dauert es bald, bis sie dann am Feld sind und anfangen können zu arbeiten.
Länger habe ich mit meinen beiden Pferden auch nicht gebraucht, denkt der Alte. Und das nennen die nun Fortschritt, und sogar die Zeitungen schreiben drüber, als hätten sie wunder was erfunden. Revolution, Revolution, weit ist es gekommen, sehr weit.
Der Bus kommt angefahren, die Weiber steigen ein. Als sie am Alten vorbeifahren, kichern sie und winken.
Der Alte dreht sich um, weil er das nicht sehen will.
Ein Stückchen geht er durchs Dorf, dann rechts um die Ecke. Da ist Eduard Mandels Laden. Eduard ist Friseur im Dorf.
Der Alte geht dreimal in der Woche zu ihm. Zum Rasieren und zum Erzählen. Bei Eduard ist alles noch, wie es vor dreißig Jahren war.
Schon Eduards Vater war Barbier. Eduard hat das Geschäft von ihm übernommen. Haarschneiden, Fasson und Rundschnitt und Rasieren, anderes macht er nicht. Und die Mandelsche macht den Weibern Locken in die Haare, wenn Geburtstag ist oder Feuerwehrball oder Hochzeit, oder diese neumodischen Festlichkeiten, oder auch nur so. Damen- und Herrensalon steht am Schaufensterglas, und dahinter steht ein Kopf mit einer braunen Perücke. Verschiedene Bilder hängen an den Wänden, die hat Eduard aus der Friseurzeitung geschnitten. In einer Ecke steht ein leeres Paket, na, so was, aber das kauft kaum einer, und schon gar nicht, wenn der Laden voll ist.
Der Alte öffnet die Tür, sie klingelt. Eduard steht am Ofen, hält die Kohlenschippe in der Hand und legt Kohlen auf. Er richtet sich hoch und sagt, ist kalt heute, und der Alte sagt, es geht so, Morgen.
Morgen, sagt Eduard und stellt den Kohleeimer hinter den Ofen, rückt den Friseurstuhl zurecht und sagt, bitte. Der Alte setzt sich hin und denkt, einen Stich hat jeder. Was darf’s denn sein, fragt Eduard. Rasieren und schneiden, brummt der Alte.
Eduard legt ihm einen weißen Umhang um die Schultern. Die Mandelsche wäscht alles selber. Ich lasse mir doch nichts nachsagen, sagt sie immer.
Eduard hantiert an dem Alten herum, der Alte guckt in den hohen Spiegel, dessen Ecken schwarz sind. Er sieht sich in die Augen und kann nichts erkennen. Nicht, was er denkt, nicht, was er fühlt, die Augen sind leer.
Der Alte stöhnt leise.
Ist was, fragt Eduard. Nischt is, sagt der Alte.
Eduard bindet dem Alten eine Papiermanschette um den Hals. Dreimal jede Woche kommt der Alte hierher. Immer morgens, wenn der Laden noch leer ist. Damit wir uns was erzählen können, hat Eduard gesagt. Er weiß genau, warum der Alte kommt. Und der Alte weiß das auch ganz genau, deshalb kann ihn davon nichts abhalten.
Der Alte guckt auf Eduards Finger, die Kamm und Schere halten. Nun bauen sie den neuen Kuhstall wohl doch, sagt er, die Schwester hat’s mitgebracht.
Auf Holthusens Acker, auf dem Galgenberg, weißte, sie schachten schon aus.
Der schöne Acker, sagt Eduard und pinselt dem Alten das Gesicht ein, was Holthusen da für Rüben runtergeholt hat.
Ja, ja, sagt der Alte und denkt, davon hast du keine Ahnung, du rasier mich man.
Das macht Eduard auch. Das Rasiermesser kratzt die Backen des Alten, sie glänzen hinterher, richtig rot und straff sind sie. Überall, sagt Eduard, bauen sie. Bloß, wenn du mal einen Maurer haben willst, um das Haus anzuputzen, kriegst du keinen.
Ja, früher, sagt der Alte, hätteste Maurer haben können noch und noch, sie sind dir hinterhergelaufen.
Die Maurer, sagt der Alte, und die Weiber!
Was wir tanzen gegangen sind aufn Saal bei Krögers, sagt Eduard, und immer eine abgeschleppt, das waren Zeiten. Du doch nicht, denkt der Alte. Dich haben die Weiber doch bloß ausgelacht. Weil du schon immer so groß warst und viel zu große Flossen hattest. Davor haben die Weiber Angst gekriegt.
Kilometerweit sind wir gelaufen, flüstert Eduard und ist rot im Gesicht und guckt immerzu ängstlich auf die Tür. Da steckt auch schon die Mandelsche den Kopf in den Herrensalon. Sie ist noch nicht ganz mit Kämmen fertig. Kaffee steht aufm Tisch, sagt sie mürrisch.
Ist gut, sagt Eduard laut und seufzt leise, jetzt habe ich Kundschaft.
Der Alte und Eduard sind Freunde. Nicht bloß, weil sie zusammen zur Schule gegangen sind.
Später hatten die Frauen jede Woche ihr Kränzchen, und die Männer haben Skat gespielt. Aus der Gefangenschaft waren der Alte und Eduard erst neunundvierzig gekommen. Beide abgemagert und magenkrank. Und beide fragten, was haben wir denn getan? Es war doch Krieg, sagten beide. Und so ähnlich sagen sie es noch heute.
Der Alte guckt Eduard an und sagt, er hat Angst, es auszusprechen, ich glaube, ich kann gar nicht mehr!
Aber du hast wenigstens ’ne Alte!
Eduard schlägt gerade Schaum in einer weißen Porzellanschale und ist sehr beschäftigt.
Er guckt dauernd zur Tür, und als er sicher ist, dass die Mandelsche nicht mehr in der Nähe ist, sagt er, ich habe eine und habe doch keine, die hat’s da und hat’s da, er zeigt auf seinen Rücken und auf seinen Bauch.
Immer sagt sie, ach, Eduard, ich will das nicht mehr. In unserem Alter, nein, nein, such dir doch ’ne Freundin!
Das ist ein Leben, sagt Eduard.
Als wir in Polen einmarschiert sind, Mensch du, das habe ich noch nie erlebt und nie wieder. Mensch, da war was los. Polenweiber und welche von uns und Russenweiber, alles war da.
Mensch, du, sagt Eduard und rasiert dem Alten den Nacken aus. Der Alte hat den Kopf gesenkt, damit Eduard besser die Falten ausrasieren kann.
Und in Paris erst, sagt er, das waren Weiber, ich möchte nicht tauschen. Nicht gegen die Polenweiber und nicht gegen die Russenweiber, die in Paris waren scharf, sage ich dir. Dagegen war Polen die Heilsarmee. In meinem Nachtschrank habe ich noch Bilder liegen!
Musste mir mal zeigen, sagt Eduard, hab ich mir früher ganz gerne angeguckt.
Geiler Hund, sagt der Alte und lacht. Er sieht in den Spiegel. Seine Augen lachen nicht mit, sie tun weh.
Eduard schwitzt vor Aufregung. Er fummelt dem Alten mit seinen großen, roten Händen im Gesicht herum, dann wischt er ihm mit dem Handrücken Schaum vom Ohr.
Zuletzt spritzt er dem Alten noch was auf die Backen.
So ein Gestank, sagt der Alte und zieht die Nase kraus. Und Eduard sagt, das wollen die Weiber heutzutage haben, bisschen was Süßes.
Früher musste ein Mann riechen wie Mann, sagt der Alte und sieht auf seinen langen, faltigen Hals. Fünf Jahre ist meine Alte jetzt tot, denkt er.
Mindestens sieben Jahre, sagt er leise, hab ich schon nicht mehr. Da weißte nicht, ob du Männchen oder Weibchen bist, sagt er und guckt auf den Spiegelrand.
Er hat Angst, sich in die Augen zu sehen, und spürt, dass er rot wird. Ihm wird heiß, das steigt vom Hals hoch und fließt über das Kinn und die Backen bis zum Kopf.
Ja, sagt Eduard und stellt die Maschine an und schiebt sie dem Alten den Nacken hoch, sie ist kühl und fest.
Weiße Haarbüschel fallen aufs braune Linoleum, das an einigen Stellen eingerissen ist.
Versuch doch mal mit Frieda was, sagt er. Er guckt wieder zur Tür und spricht leise weiter, ich war schon mal da. Nein, empört sich der Alte, für Geld nicht, das ist ja eine Schlampe, das ist ja gar kein richtiger Mensch!
Ach, sagt Eduard und haut seine große Hand in die Friseursalonluft, in der Not ...