Amissa. Die Überlebenden - Frank Kodiak - E-Book
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Amissa. Die Überlebenden E-Book

Frank Kodiak

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Beschreibung

Bestseller-Autor Andreas Winkelmann schreibt unter dem Pseudonym Frank Kodiak »Amissa. Die Überlebenden« -  den 3. und finalen Teil der harten Thriller-Reihe um die Privatermittler Rica und Jan Kantzius. Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen fordert Opfer, auch von Privatermittlerin Rica Kantzius. Sie muss die Urne ihres Mannes Jan zu Grabe tragen und zerbricht fast an ihrem Schmerz. Der Wunsch nach Rache und Gerechtigkeit hält sie jedoch aufrecht. Gerechtigkeit für die überlebenden Frauen und Mädchen, die von Menschenhändlern monatelang in einem unterirdischen System gefangen gehalten wurden. Rache für das, was man ihr angetan hat. Niemals dürfen die Verbrecher ungestraft davonkommen. Doch es fehlen Beweise, und die Hintermänner versuchen alles, um ihre Spuren zu verwischen, schrecken dabei auch vor Mord nicht zurück. Um sich und ihre Mitstreiter zu schätzen und die mafiösen Machenschaften hinter Amissa – eine nach vermissten Personen suchende Organisation – zu enttarnen, entwickelt Rica einen finalen und extrem riskanten Plan. Mit seiner Thriller-Reihe um die Organisation »Amissa« liefert Andreas Winkelmann alias Frank Kodiak nervenzerfetzende harte Spannung, die unter die Haut geht. Die Thriller-Trilogie mit den Privatermittlern Rica und Jan Kantzius ist in folgender Reihenfolge erschienen Band 1: »Amissa. Die Verlorenen« Band 2: »Amissa. Die Vermissten« Band 3: »Amissa. Die Überlebenden«

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Seitenzahl: 479

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Frank Kodiak

Amissa

Die ÜberlebendenThriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen fordert Opfer, auch von Privatermittlerin Rica Kantzius. Sie muss die Urne ihres Mannes Jan zu Grabe tragen und zerbricht fast an ihrem Schmerz. Der Wunsch nach Rache und Gerechtigkeit hält sie jedoch aufrecht. Gerechtigkeit für die überlebenden Frauen und Mädchen, die von Menschenhändlern monatelang in einem unterirdischen System gefangen gehalten wurden. Rache für das, was man ihr angetan hat. Niemals dürfen die Verbrecher ungestraft davonkommen. Doch es fehlen Beweise, und die Hintermänner versuchen alles, um ihre Spuren zu verwischen, schrecken dabei auch vor Mord nicht zurück. Um sich und ihre Mitstreiter zu schützen und die mafiösen Machenschaften hinter Amissa – eine nach vermissten Personen suchende Organisation – zu enttarnen, entwickelt Rica einen finalen und extrem riskanten Plan.

Mit seiner Thriller-Reihe um die Organisation »Amissa« liefert Andreas Winkelmann alias Frank Kodiak nervenzerfetzende harte Spannung, die unter die Haut geht.

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Kapitel 2

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Kapitel 3

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Kapitel 4

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Kapitel 5

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Drei Monate später

Leseprobe

Kapitel 1

 

 

 

 

 

 

 

1.

Am Nachmittag kam der Tod übers Wasser.

Zwei graue Gestalten, tief gebückt in einem grauen Schlauchboot, umgeben von einer weiß-grauen Landschaft.

Das kleine Schlauchboot war ein Spielball der Naturgewalten. Von Osten drängten schwere Sturmböen gegen die Gummiwülste, mit ihnen Wellen, die sich für einen See dieser übersichtlichen Größe beeindruckend aufschaukelten. Sie klatschten von rechts und links gegen das Boot, Spritzwasser ging wie Regen auf die Männer nieder. In Schüben stob der Schnee heran, es war ein Wirbeln und Wuseln, in dem es keinen Bezugspunkt für die Augen gab, keine Orientierung, keinen Sinn.

Die Temperatur lag bei einem Grad unter null, im Windchill fühlte es sich wie minus zehn Grad an. Vor dieser bissigen Kälte, dem schneidenden Wind und dem dichten Schneefall suchten die beiden Männer Schutz hinter den niedrigen Gummiwülsten des billigen, in aller Eile gekauften Bootes, das für einen Sommertag mit den Kindern am Strand geeignet war, aber nicht, um den Tod übers Wasser zu bringen.

Don’t pay the ferryman, schoss Jesper der Titel des bekannten Liedes durch den Kopf, und er begann, still die Melodie zu pfeifen. Laut wäre es auch dann nicht gegangen, wenn er es sich vor seinem neuen Partner getraut hätte, denn seine Lippen waren längst eingefroren. Für dieses Wetter war er weder ausgerüstet, noch ertrug er es besonders gut. Kälte betrachtete er als seinen Feind, und der setzte ihm hart zu. Das lag zum einen daran, dass er nur noch Haut und Knochen war, seitdem er vor drei Jahren den Krebs besiegt hatte, zum anderen lebte er die meiste Zeit des Jahres in der Sonne am Schwarzen Meer und war entsprechend verweichlicht.

Schon jetzt hasste er diesen Auftrag. Es gab Geld dafür, viel Geld, deshalb hatte er zugesagt, und er würde ihn durchziehen, egal, wie sich das Wetter entwickelte, aber er hasste ihn. Hass hielt ihn aufrecht und motiviert, das war schon immer so gewesen, auch vor dem Krebs. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass das eine das andere bedinge, der Hass den Krebs füttere, hielt es aber für Quatsch.

Jesper hasste auch seinen neuen Partner, der ihm für diesen Auftrag zugeteilt worden war. Er kannte den Mann nicht, wusste nur, dass der sich wie der Boss aufführte und ein arrogantes Verhalten an den Tag legte. So etwas konnte Jesper auf den Tod nicht leiden.

Der große, bärtige Mann, der ihm nicht einmal seinen Namen genannt hatte, hockte auf den Knien am Bug und arbeitete wie ein Berserker. Immer abwechselnd stieß er einmal rechts, einmal links das Plastikpaddel ins Wasser und ächzte bei jedem Zug. Die dicke Wollmütze tief in die Stirn gezogen, hielt er den Kopf gesenkt und verließ sich auf Jesper, der die Richtung vorgeben sollte. Sie hatten nur ein Paddel dabei, und es war Jesper unangenehm, dass er sich nicht an der Arbeit beteiligte. Noch unangenehmer war es ihm, den Kurs verloren zu haben. Seinem Partner gegenüber hatte er das noch nicht eingestanden, sich selbst aber schon. Seitdem vor einer Viertelstunde der Schneefall eingesetzt und die Sicht auf weniger als zwei Meter begrenzt hatte, wusste Jesper nicht mehr, in welche Richtung sie unterwegs waren oder wohin sie hätten steuern müssen.

Der See war nicht besonders groß, binnen kurzer Zeit würden sie schon irgendwo ankommen, aber ganz sicher nicht dort, wohin sie wollten – und wenn doch, käme es einem Wunder gleich.

Jesper hatte vorgeschlagen, mit dem Wagen bis zu der kleinen Hütte zu fahren, in der sich die Opfer angeblich aufhielten, aber der Bärtige war dagegen gewesen. Mit tiefer Stimme hatte er seine Gründe genannt und klargemacht, dass er darüber nicht diskutieren würde. Dem Akzent nach zu urteilen, kam der Mann aus irgendeinem skandinavischen Land und war wohl extra für diesen Auftrag ins beschauliche Niedersachsen geschickt worden.

Jesper hatte Angst vor ihm.

Man hatte ihm ein Raubtier geschickt, und es war auf der Jagd. Fokussiert, zielstrebig, konsequent. Er sprach kein Wort zu viel, riss keine Witze, um die Situation aufzulockern, gab nichts Persönliches preis. Der Mann war wie eine Maschine, und das war Jesper, der sich für kommunikativ und gesellig hielt, unheimlich. Wenn dieser Auftrag erledigt war, würde er dafür sorgen, dass er niemals wieder mit dem Bärtigen würde arbeiten müssen. Sicher war er gut in dem, was er tat, aber besonders klug schien er nicht, sonst hätten sie den Wagen genommen. Niemand hätte bei dem Wetter das Motorengeräusch gehört, und sie hätten bequem und trocken nahe an die Hütte heranfahren können, statt sich auf dem Wasser abzuquälen. Klar sollte man vorsichtig sein, wenn man drei Menschen töten wollte, aber übertreiben musste man es auch nicht.

Der einzige Grund für die Bootsfahrt, den Jesper nachvollziehen konnte, war, dass sie die Frauen mit dem Boot auf den See hinausfahren und versenken konnten. So sah es der Plan vor. Die Körper sollten eine Weile unentdeckt bleiben, damit es so wirkte, als seien sie spurlos verschwunden. Zum einen erzeugte so etwas mehr Angst als eine Leiche, zum anderen weckte es die Hoffnung, die Verschwundenen könnten noch leben. Das war perfide, aber Jesper mochte es perfide. Nun war es gut möglich, dass es bei der Angelhütte ein Boot gab, doch darauf hatte der Bärtige sich nicht verlassen wollen.

Die Schneeflocken stachen Jesper ins Gesicht und in die Augen. Es war unmöglich, den Blick nach vorn zu richten, und selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte er das Ufer ja doch nicht sehen können. Jesper hob den Kopf immer nur kurz, tat so, als würde er sich orientieren, hatte diese Hoffnung aber längst aufgegeben.

Scheiß drauf, sagte er sich. Irgendein Ufer würden sie schon erreichen.

Don’t pay the ferryman, geisterte wieder durch seinen Kopf.

Die beißende Kälte setzte ihm zu. Wenn sie nicht in wenigen Minuten das Ufer erreichten, würde er seinen Partner am Paddel ablösen müssen, um sich warm zu arbeiten.

Etwas schabte an der Unterseite des Schlauchboots entlang.

Der Bärtige hob den Kopf und stellte das Rudern ein.

Sein Blick erfasste Jesper. Diese dunklen Augen in dem von Bart und Kopfhaar zugewucherten Gesicht ließen ihn zusätzlich frösteln. Sie zeigten nicht, was in ihm vorging, blieben opak, wahrscheinlich würde er mit diesem trüben, verschwommenen Blick emotionslos ein Messer in einem Körper versenken.

»Sind wir da?«, fragte der Bärtige leise.

Im gleichen Moment sah Jesper hinter dessen breiter Schulter die dunkle Mauer des Fichtenwalds aufragen. Um den ganzen See herum reichte der Wald bis direkt ans Ufer, Strandabschnitte gab es nicht.

»Sind wir«, antwortete Jesper, und der Bärtige schwang sich aus dem Boot. Er war gut vorbereitet, trug kniehohe Gummistiefel, in die das Wasser nicht hineinlaufen konnte. Ganz anders als Jesper mit seinen Sneakern, die gerade bis zum Knöchel reichten. Es war ihm peinlich, als der Bärtige das Boot mit ihm darin aufs Ufer zog. Viel wog Jesper nicht, aber zusammen mit dem Boot waren es sicher über hundert Kilo, doch das schien dem Mann nichts auszumachen.

Jesper sprang trockenen Fußes an Land, und zusammen zogen sie das Boot bis unter die Bäume, wo die Wellen es nicht erreichen konnten.

Der Bärtige richtete sich auf und sah sich um.

Jesper wusste, was er sah. Wald, Wald und noch mal Wald.

»Wo ist die Hütte?«, fragte er.

»Wahrscheinlich links von uns.«

»Wahrscheinlich links von uns?«, wiederholte sein Partner und ließ es wie eine Frage klingen.

»Ich konnte absolut nichts sehen da draußen«, verteidigte sich Jesper. »Allzu weit entfernt kann sie nicht sein.«

»Und du bist sicher, dass sie nicht rechts liegt?«

Hundertprozentig, wollte Jesper erwidern, schluckte es aber hinunter, denn er war sich nicht sicher.

Also schüttelte er den Kopf.

Der Bärtige behielt ihn noch einen Moment im Blick, und Jesper hatte das Gefühl, darin zu schmelzen wie Wachs im Feuer.

»Also gut«, sagte sein Partner schließlich und zog sein Jagdmesser hervor. »Ich gehe links, du rechts. Zehn Minuten. Sollten wir die Hütte innerhalb von zehn Minuten nicht finden, kehren wir um.«

»Ich finde, wir sollten zusammen …«

Der Bärtige machte einen schnellen Schritt auf Jesper zu und schnitt ihm damit das Wort ab.

»Zehn Minuten«, sagte er leise. »Und es wird nicht geschossen. Benutz dein Messer, wenn es sein muss.«

2.

In der Hütte am See prasselte ein Holzfeuer im Kaminofen.

Behagliche Wärme füllte den kleinen Raum und hielt die schneidende Kälte draußen.

Gegen die Gedanken half aber keine Wärme, nichts hielt sie zurück, sie waren allgegenwärtig, vermischten sich mit Angst und Sorge zu einem unheilvollen Konglomerat, das keinen Platz ließ für Maja Krebsfängers eigentlich positive Grundstimmung. Seit vier Wochen befand die Kommissarin aus Oldenburg sich in diesem angespannten Zustand.

Vor vier Wochen hatte sich ihr Leben grundlegend geändert.

Sie hatte jemanden kennengelernt, einen sympathischen, charismatischen Mann, mit dem sie sich hervorragend verstand, und der hatte ihr das Tor zur Hölle geöffnet. Bei ihrem ersten Gespräch hatte ihr Bremer Kollege, der Polizeikommissar Olav Thorn, ihr von Leichen in Containern mit kristallisiertem Honig berichtet. Natural Balkan Honey hatte in einer kleinen Fabrik bei Bakum an der A1 Honig verarbeitet und in den Handel gebracht, zumindest bis sich die Inhaber anderen Tätigkeiten zugewendet hatten. Maja hatte es nicht glauben wollen und war nach dem Gespräch mit Olav sofort zu der ehemaligen Honigfabrik der Familie Ardelean gefahren. Doch Olav hatte recht behalten. Niemals würde Maja den Anblick der fest in den Honig eingebackenen Körper vergessen.

Jetzt hockte sie in dieser kleinen Angelhütte am Bullensee, die Olav Thorn gehörte, war für zwei Menschenleben verantwortlich und handelte dabei gegen die Anweisungen ihres Chefs, war quasi illegal unterwegs, was nur möglich war, weil sie krankgeschrieben war. Maja spürte, wie Gefahr und Wintersturm gegen Hütte und Seele drängten. Noch waren ihre Gegner unsichtbar, nicht mehr als eine Ahnung, aber niemand zweifelte daran, dass es sie gab und sie sich bald zeigen würden.

Grund dafür waren die beiden Frauen, mit denen Maja sich für dieses Wochenende in die Hütte zurückgezogen hatte. Mit wem auch immer sie sich angelegt hatten, diese Leute würden alles tun, die Frauen nicht überleben zu lassen. Zu viel stand auf dem Spiel, und eher früher als später würden sie das Spielbrett säubern, das stand außer Frage.

Majas Blick ging zum Fenster hinaus auf den See. Nicht, dass sie das Wasser sehen konnte, dafür war der Schneefall zu dicht. Eine einzige grau-weiße Suppe, in der sich alles Mögliche verbergen konnte. Und das bereitete ihr Bauchschmerzen. Wenn sie es wäre, die sich an die Hütte heranschleichen müsste, würde sie einen Tag wie diesen dafür auswählen. Besseren Schutz konnte man sich nicht wünschen. Allerdings musste man in Kauf nehmen, selbst auch nichts sehen zu können.

»Ich gehe noch mal kurz vor die Tür«, sagte Maja, ohne zu der Couchecke hinüberzublicken, in der Anika Müller und Nelia Paumacher saßen. Beide waren Opfer eines Missbrauchsnetzwerks geworden, das bis in die höchsten Kreise reichte, doch ihnen war die Flucht gelungen.

Sie waren Überlebende, und das sollte auch so bleiben.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Anika. Ihre Stimme war fest, nicht so brüchig und zittrig wie die von Nelia Paumacher, die ohnehin kaum etwas sagte.

Maja drehte sich nun doch zu den Frauen um.

Die Couchecke neben der kleinen Küchenzeile bot genug Platz, aber Nelia drängte sich dicht an Anika. Dieser Anblick fuhr Maja tief in den Bauch, und sie mochte sich gar nicht vorstellen, was die beiden Frauen durchgemacht hatten. Zusammengeschweißt durch Feuer, Schmerz und Angst, schoss es Maja durch den Kopf.

Anika war aus ihrem Job als Friseurin heraus entführt, ihrer Familie entrissen und in ein unterirdisches Bunkersystem aus Metallcontainern verbracht worden, um dort von einem Mann misshandelt zu werden, dessen Avancen sie abgewiesen hatte. Dieses Bunkersystem war als Steeltown bekannt gewesen und gehörte zu einer Reihe von Verstecken, die eine Organisation von Menschenhändlern nutzte, Missing Order genannt. Wer über genug Geld verfügte, konnte sich bei Missing Order jeden Menschen kaufen.

In Steeltown war auch Nelia gefangen gehalten worden.

Als sie von dort weggebracht werden sollten, hatte Anika einen Unfall provoziert. Sie waren aus einem brennenden Autowrack entkommen, hatten sich durch eine fremde Gegend geschlagen, und Anika war umsichtig genug gewesen, nicht zur nächstbesten Polizeistation zu gehen. Weil es eben ein Polizist gewesen war, der sie mit dem Wagen hatte wegbringen wollen. Glücklicherweise hatte Anika Müller sich den Namen Jan Kantzius gemerkt, der in einem Telefonat zwischen dem Polizisten und einem seiner Schergen gefallen war. Jan Kantzius ist uns auf den Fersen, hatte er gesagt, und Anika hatte daraus geschlossen, dass sie Jan Kantzius vertrauen konnte. Nur ihrer Umsicht und Klugheit hatten sie es zu verdanken, dass sie noch lebten. Und Maja würde alles dafür tun, dass das so blieb.

»Ich denke schon, aber ich schaue besser noch einmal nach.«

»Der Eisengott?«, fragte Nelia Paumacher.

Sie wussten bis heute nicht, wen genau sie damit meinte. Wahrscheinlich ihren Vater, Hubert Paumacher, der seine eigene Tochter in sein unterirdisches Reich Steeltown eingesperrt und dort missbraucht hatte – oder von anderen Männern hatte missbrauchen lassen. Auch das wussten sie nicht genau, denn Nelia sprach nicht darüber. Ob sie nicht konnte oder nicht wollte, dazu hatte der befreundete Psychiater, den Olav Thorn gebeten hatte, sich Nelia anzuschauen, noch keine Einschätzung abgeben wollen. Die Zeit hatte nicht gereicht. Diagnose und Therapie mussten warten, bis die beiden außer Lebensgefahr waren.

»Nein, du musst keine Angst haben, der findet uns niemals«, sprach Anika beruhigend auf Nelia ein und strich ihr über den Rücken.

Maja empfand tiefen Respekt für die junge Mutter. Seit vier Wochen lebte sie bis auf kurze Besuche getrennt von ihrer Familie, hatte ihren kleinen Sohn Theo nur dreimal für jeweils eine halbe Stunde gesehen. Darüber hinaus war sie entführt worden und hatte Entsetzliches erleben müssen, aber sie hielt sich tapfer und kümmerte sich dabei auch noch um die instabile Nelia.

Maja warf sich Olavs olivfarbenen Bundeswehrparka über, der an einem Metallhaken an der Innenseite der Tür hing, ging zur Couch hinüber und hockte sich zu den beiden.

»Zehn Minuten, dann bin ich wieder hier. Ihr rührt euch nicht von der Stelle, okay?«

Anika griff nach ihrer Hand. Sie war warm von der Teetasse, die sie eben noch gehalten hatte.

»Lass uns nicht allein«, sagte sie mit flehendem Blick.

»Werde ich nicht, versprochen. Ich will nur nachschauen, ob alles in Ordnung ist.«

»Sind wir hier wirklich sicher?«

»Ich denke, es gibt keinen sichereren Ort … vor allem bei dem Wetter. Da traut sich niemand vor die Tür.«

Maja lächelte aufmunternd. Sie hatte stets viel und gern gelächelt, und immer war es von Herzen gekommen, aber jetzt stellte sie fest, dass ihre Gedanken und Gefühle das Lächeln nicht mittrugen. Damit die beiden Frauen das nicht bemerkten, wandte sie sich rasch ab und verließ die Hütte.

Die Tür lag im Windschatten, deshalb schlug ihr der feine Schnee nicht direkt ins Gesicht, als sie auf die Holzveranda hinaustrat. Maja schloss die Tür hinter sich, ergriff im Inneren der Parkatasche ihre Dienstwaffe und trat von der Veranda herunter.

Jetzt erfasste der Wind sie.

Grimmig, unnachgiebig, gleichgültig.

Maja schlug die Kapuze hoch, kniff die Lider zusammen und schaute zu Boden. Suchte nach Spuren in der Schneedecke. Fünf Zentimeter waren in den vergangenen zwei Stunden zusammengekommen. Doch außer den Spuren, die sie selbst beim letzten Kontrollgang hinterlassen hatte, waren keine weiteren zu sehen.

Maja war am Abend zuvor zusammen mit den Frauen hier eingetroffen, und es war das vierte Mal, dass sie zu einem Kontrollgang aufbrach, also kannte sie sich mittlerweile einigermaßen aus. Die Angelhütte am Bullensee war für mehrere Personen und längere Aufenthalte nicht ausgelegt, aber sie hatten sich nicht anders zu helfen gewusst. Es gab wahrscheinlich ein Leck, einen Maulwurf, Genaueres wussten sie nicht, in jedem Fall aber war es zu gefährlich gewesen, die beiden Frauen in der vermeintlich sicheren Wohnung im Bremer Umfeld zu belassen, die der Polizei gehörte. Unbekannte Personen hatten rund um die Wohnung Fragen nach den beiden Frauen gestellt, was Olav Thorn zu Ohren gekommen war. Von jetzt an würden sie ständig in Bewegung bleiben und die Standorte wechseln müssen.

Wie lange konnten sie das durchhalten?

Solange wir müssen, lautete die Antwort. Denn es gab noch keinen sicheren Platz für Anika und Nelia, außer vielleicht in Haft, aber selbst dafür wollte Maja die Hand nicht ins Feuer legen. Zu oft war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass Auftragsmorde auch in Justizvollzugsanstalten vollstreckt wurden. Und da sie davon ausgehen mussten, dass Personen, womöglich ganze Teile der Polizei verstrickt waren, konnten sie nicht vorsichtig genug sein.

So blind Maja in diesem Schneegestöber war, so blind war sie auch für ihre Feinde, denn sie kannte sie nicht. Dienstlich hatte sie sich nie mit organisiertem Verbrechen beschäftigen müssen, das alles war fremd für sie, und es jagte ihr Angst ein. Jeden Tag aufs Neue erwachte sie mit dieser Angst, und wenn es schon ihr so ging, wie mussten sich dann erst Anika und Nelia fühlen …

Maja lief los. Hinein in den Fichtenwald, der Hütte und See umgab. Hinauf zum Weg, über den sie wahrscheinlich kommen würden, wenn sie denn kamen. Es gab nur diesen einen unbefestigten Waldweg, der von der Landstraße abzweigte und kurvenreich durch den Wald bis hierher führte. Alle Zufahrten zu den wenigen Hütten stießen an diesen Weg. Natürlich würden sie den Wagen weiter vorn stehen lassen, damit das Motorengeräusch sie nicht verriet, dumm waren diese Verbrecher schließlich nicht. Also führte Majas Weg sie durch den Wald bis an den Wendeplatz, der beim letzten Holzeinschlag entstanden war.

Aus dem armseligen Schutz des blattlosen Waldes heraus beobachtete sie den Platz. Die Schneedecke war unberührt, nur die Spur eines Hasen führte einmal diagonal von rechts nach links.

Alles war so, wie es sein sollte. Woher also rührte ihre Unruhe? Hatte sie einen siebten Sinn für Gefahr, von dem sie bisher nichts gewusst hatte, oder war sie ganz einfach schon viel zu lange viel zu angespannt?

Ein lautes Krachen ließ Maja herumfahren.

Sie zog die Waffe hervor und zielte ins Schneegestöber.

Vor ihr wallte weiße Gischt auf. Ein Ast war aus der Krone einer Fichte gebrochen und zu Boden gestürzt. Keine Gefahr. Dennoch pochte ihr das Herz bis zum Hals, als Maja die Waffe wieder einsteckte. Sie war nie eine gute Schützin gewesen, das Schießtraining in der Ausbildung hatte sie eher widerwillig absolviert, und in einer Situation wie dieser, inmitten eines veritablen Schneesturms, würde sie kaum etwas treffen.

Maja ließ den Waldparkplatz hinter sich und ging in einem großen Bogen zurück zur Hütte. Dabei bewegte sie sich so geräuschlos wie möglich, versuchte sogar, das Knarzen des Schnees zu vermeiden. Wachsam behielt sie die Umgebung im Auge. Sie wusste, sie hatten sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen, illegal war es zudem. Nur wenige Eingeweihte wussten Bescheid, Hilfe konnte sie hier draußen nicht erwarten, auch von Olav nicht, der heute bei Jan Kantzius’ Beerdigung war, ein weiterer Grund dafür, warum sie entschieden hatten, die beiden Frauen fürs Wochenende in die Hütte zu bringen, denn in Bremen hätte er kein Auge auf sie haben können.

Beim Gedanken an Olav musste Maja lächeln. In den letzten Wochen war sie zweimal mit ihm zu konspirativen Treffen in der Hütte gewesen, einmal hatten sie sich geküsst. Sie mochte ihn. Er hatte eine positive Ausstrahlung. Vielleicht entwickelte sich eine Beziehung zwischen ihnen, was unter diesen Umständen aber alles andere als einfach war.

Maja war einige Minuten Richtung Norden marschiert, als sie ein Geräusch hörte, das nicht hierherpasste. Sie konnte es nicht einordnen, hatte dergleichen zuvor noch nicht gehört, wusste aber, es konnte nicht natürlichen Ursprungs sein. Hier lebten Rotwild, Damwild, Fasanen, Reiher und Enten, aber keines dieser Tiere machte solche Geräusche.

Also zog sie die Waffe wieder hervor und bewegte sich auf das Geräusch zu.

Und entdeckte nach wenigen Metern den Verursacher.

Mit einer Hand an einen Baumstamm gelehnt, stand dort ein Mann in einer gefütterten schwarzen Jacke mit der Kapuze über dem Kopf. Das rechte Bein lag angewinkelt auf dem Oberschenkel des linken, und er klopfte einen Schuh gegen den Baumstamm, an dem er lehnte – wahrscheinlich hatte er Schnee in die ungeeigneten Sneaker bekommen.

Maja verhielt sich still.

Bisher war sie in diesem Wald niemandem begegnet, aber es war natürlich nicht verboten, hier spazieren zu gehen. Der Wald war für jedermann zugänglich. Es konnte sich folglich um jemanden handeln, der den plötzlichen Wintereinbruch genoss, ein Städter vielleicht, der selten draußen in der Natur war – die Art und Weise, wie er sich gerade verhielt, sprach dafür.

Jemand, der nach ihnen suchte, würde nicht so einen Lärm machen.

Nachdem der Mann seinen Schuh umständlich wieder angezogen hatte, richtete er sich auf, drehte Maja dabei aber den Rücken zu und schaute in die entgegengesetzte Richtung, in die er dann auch losmarschierte. Maja bemerkte, dass die Fußspur des Mannes von unten vom See kam.

Warum war er hier heraufgekommen?

Weil er im Schutz des Waldes besser vorankam?

Und warum bewegte er sich jetzt auf eine Art und Weise vorwärts, die darauf schließen ließ, dass er jedes Geräusch zu vermeiden suchte? Wo er doch gerade so viel Lärm gemacht hatte?

Maja steckte die Waffe in die Tasche, behielt sie aber in der Hand. Als der fremde Mann etwa zwanzig Meter Vorsprung hatte, folgte sie ihm. Er bewegte sich von der Hütte weg, deshalb konnte Maja das Risiko eingehen, sich erst einmal bedeckt zu halten.

Der Mann war klein und dünn, darüber täuschte auch die gefütterte Jacke nicht hinweg. Er bewegte sich wie jemand, der sich nicht oft im Wald aufhielt, strauchelte immer mal wieder, wenn er auf einen schneebedeckten Ast oder in ein Loch trat.

Plötzlich blieb er stehen und schien für einen Moment erstarrt zu sein, drehte sich dann aber mit einem Ruck um. Maja hatte keine Chance, sich zu verstecken. Ihre Blicke begegneten sich, und ihre Hand schloss sich fester um das Griffstück der Dienstwaffe.

Als legte man einen Schalter um, setzte der Mann ein gekünsteltes Lächeln auf. »Hallo!«, sagte er übertrieben freundlich mit einem Akzent, den Maja nicht recht einzuordnen wusste. Er hob die Hand zum Gruß. »Wie gut, hier jemanden zu treffen, ich glaube nämlich, ich habe mich verlaufen.«

Alles an dem Mann war falsch. Seine Anwesenheit hier, seine Freundlichkeit, sein Lächeln. Viel war wegen des hohen Kragens der Jacke und der Kapuze von seinem Gesicht nicht zu sehen, aber es wirkte merkwürdig. Irgendwie nackt, kahl und kantig, so als sei einfach nur Haut über Knochen gezogen worden.

»Woher kommen Sie?«, fragte Maja.

Der Mann zögerte, musste über seine Antwort nachdenken. Dabei standen seine übergroßen Augen plötzlich still und starr, und Maja fragte sich, ob es Farbe darin gab. Aus der Entfernung wirkten sie blass und leblos.

»Ich hab weiter oben an der Straße geparkt, um einen Spaziergang am See zu machen, und jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich zurück zu meinem Wagen komme. Wohnen Sie hier?«

Der Mann machte eine Handbewegung, um zu unterstreichen, dass er mit »hier« den Wald und den See meinte. Niemand wohnte hier, denn es gab keine Wohnhäuser, lediglich ein paar Jagd- oder Angelhütten.

»Wo haben Sie denn geparkt?«, fasste Maja nach.

»Na ja, irgendwo an der Straße. Ich weiß nicht genau.«

»An der L 150?«

»Keine Ahnung, wie die heißt.«

»Und woher kommen Sie?«

Das ohnehin falsche Lächeln im Gesicht des Mannes gefror. »Was für eine Rolle spielt das?«, wollte er wissen.

»Ich kann Ihnen vermutlich sagen, wo Ihr Wagen steht, wenn ich wüsste, aus welcher Richtung Sie angereist sind.«

»Aus … Westen. Ich bin nicht von hier, nur auf der Durchreise, deshalb weiß ich es nicht genau. Ist ja auch egal, ich folge einfach meinen Spuren im Schnee, die werden mich schon zu meinem Wagen zurückführen.«

Maja hatte auf ihrem Rundweg keine Spuren außer ihren eigenen gesehen, demzufolge log er. Hatten ihre Gegner die Hütte gefunden? Oder war der Mann vielleicht doch harmlos? Oder war er ein Einbrecher, der die Wochenendhütten am See ausräumen wollte?

Maja war streng genommen nicht dienstlich hier und hatte keine rechtliche Handhabe gegen den Mann. Sie konnte ihn nicht einfach festnehmen, oder, Gott bewahre, auf ihn schießen, aber alles in ihr schrie danach, etwas zu tun, ihn aufzuhalten, wie auch immer.

»Alles klar, dann noch einen schönen Tag!«, sagte Maja stattdessen, blieb aber mit der Hand an der Waffe in der Tasche dort stehen, wo sie war.

»Ihnen auch«, sagte der Mann, zögerte noch einen Moment, setzte sich dann aber Richtung Straße in Bewegung. Dabei steckte er die Hände in die Taschen seiner Jacke, woraufhin Maja ihre Waffe entsicherte, hervorholte und hinter ihrem Rücken verbarg.

Der Mann blickte noch einmal in ihre Richtung und ließ wieder das aufgesetzte Lächeln sehen, bevor er zwischen den dicht stehenden Baumstämmen im Schneegestöber verschwand wie ein Geist, der nie da gewesen war.

Angespannt bis in die Haarspitzen verharrte Maja. Da sie kaum etwas sehen konnte, lauschte sie angestrengt, bis sie die im Schnee knarzenden Schritte des Mannes nicht mehr hören konnte. Die Naturgeräusche übernahmen die Hoheit. Windböen, knackende Äste, rieselnder Schnee.

Maja stieß den angehaltenen Atem aus, der vor ihrem Gesicht als weiße Fahne aufstieg. Langsam ging sie den Hang Richtung See hinunter, drehte sich dabei immer wieder um, doch der Mann kehrte nicht zurück. Wenn sie ihn nicht sehen konnte, war es umgekehrt genauso, aber natürlich würde der Fremde ihren Spuren bis zur Hütte folgen können.

Sie waren hier nicht mehr sicher.

Maja lief, so schnell sie konnte. Stolperte, strauchelte, hielt sich aber auf den Beinen. Einen Plan hatte sie nicht, wusste nur, dass sie die beiden Frauen von hier wegbringen musste. Der Wagen stand neben der Hütte, sie konnten sofort aufbrechen.

Aus einiger Entfernung roch Maja den Qualm des Kaminfeuers, und ihr wurde zum ersten Mal bewusst, wie verräterisch das war. Aber ohne Feuer wäre es in der Hütte zu kalt gewesen.

Als Maja die Veranda vor der Hütte erreichte, bemerkte sie eine Fußspur, die aus der anderen Richtung darauf zuführte.

Sie stammte nicht von ihr.

3.

Leid und Freude.

Leben und Tod.

Liebe und Verlust.

Im Voodoo symbolisiert die Kalebasse Himmel und Erde, zwei gleichwertige Hälften das Universum, untrennbar miteinander verbunden. Für Rica Kantzius, die in der Karibik auf Jamaika geboren war und sich mit dem Voodoo-Kult auskannte, bekam sie am heutigen Tag eine weitere Bedeutung. In Kalebassen transportierte man traditionell Flüssigkeiten, die Asche eines Toten hineinzugeben, sie also als Urne zu benutzen, war dagegen ungewöhnlich. Aber Rica hatte sich gegen alle Einwände des Bestattungswesens in Deutschland durchgesetzt. Nur gegen eine nicht. Die letzte große Hürde, doch auch die würde sie noch heute überwinden. Sie hatte zu viel durchgemacht, um sich jetzt von irgendwelchen althergebrachten Regelungen aufhalten zu lassen.

Rica trat aus der kleinen Kapelle von Hammertal hinaus in die kalte Februarluft. Der Winter hatte sich in Deutschland festgesetzt, nachts fiel die Temperatur auf minus zwölf Grad, und nahezu das ganze Land lag unter einer mehr oder weniger dicken Schneedecke.

Es schien, als breitete die Natur bewusst eine Decke über all das, was vor vier Wochen geschehen war und sich unaufhaltsam weiter fortsetzte. Die Medien hielten es genauso, sie schwiegen, mehr als Randnotizen waren nirgends zu finden. Ein Unfall hier, ein Polizeieinsatz dort, ein paar neue Vermisstenanzeigen, aber wer interessierte sich schon dafür. Vielleicht waren die Menschen so gleichgültig, weil es zu grausam war, weil sie nicht wissen wollten, wie weitreichend ihre ach so friedliebende Gesellschaft vom Bösen unterwandert war. In Deutschland durfte es keinen geheimen Ort unter der Erde geben, wo Mädchen und Frauen missbraucht wurden, gegen Geld weitergereicht von einem Mann zum anderen, und doch hatte dieser Ort existiert. Steeltown hatten sie ihn genannt, weil er aus Stahlcontainern bestand, die in der Erde vergraben worden waren. Betrieben von Männern mit Geld, Macht und Einfluss, die wussten, wie man sich Schweigen erkaufte.

Wieder waren Menschen aus niederen Beweggründen getötet worden. Trieb und Gier, immer wieder Trieb und Gier, keine Macht der Welt schien diese seit Urzeiten in den Menschen angelegte Kraft stoppen zu können. Stets von Neuem brach sie sich Bahn, ein ums andere Mal hinterließ sie eine Schneise der Verwüstung.

Verbrannte Erde. Im wahrsten Sinne des Wortes.

In diesem Augenblick hatte Rica das Gefühl, die Hitze des Feuers an ihren Händen spüren zu können, als lodere sie noch in der Asche. Das war natürlich Unsinn. Vielmehr spürte sie die Hitze ihrer Wut, ihres Wunsches nach Rache. Auch dies waren niedere Beweggründe, Rica wusste das, konnte sich aber nicht davon frei machen.

Die Paumachers, Ardeleans, Königs und wohl auch Züglis dieser Welt würden nicht ungestraft davonkommen. Und wenn es das Letzte war, was Rica in ihrem Leben tat.

Hier stand sie nun, die braun-schwarze, ovale, mit dem Namen Jan Kantzius und einem Todesdatum verzierte Kalebasse in Händen, und wusste nicht, wie sie ihre Gefühle unter Kontrolle bringen sollte. Der innere Aufruhr hielt schon an, seitdem sie aus dem unterirdischen Reich unter der Villa der Familie Paumacher entkommen war. Vier Wochen lag das zurück.

Ihre Hände zitterten, ihr ganzer Körper zitterte. Weil sie Angst hatte, die Urne fallen zu lassen, verkrampfte sie sich. Sie hätte das Gefäß mit der Asche gern mit nach Hause genommen, auf ihren abgelegenen Hof im Hammertal, aber das ließ das deutsche Bestattungsgesetz nicht zu. Zudem war der Hof kein sicherer Ort mehr, da er zum Mittelpunkt umfangreicher Ermittlungen geworden war und jeder ihn kannte – Ricas Gegner eingeschlossen. Rica glaubte ohnehin nicht mehr, dass sie jemals dorthin würde zurückkehren können, selbst wenn ihre Gegner tot waren oder hinter Gitter saßen. Mit Jan hatte sie wunderschöne Jahre auf dem alten Hof erlebt, die jetzt von dem Leid überlagert wurden.

Und obwohl all diese Gründe für eine Bestattung auf dem Friedhof von Hammertal sprachen, hatte Rica einen anderen Plan. Dieser Plan verlangte, dass sie die Urne eigenhändig aus der Kapelle bis zu der oberirdischen Begräbnisstätte aus Granit trug, die vor drei Jahren neu eingerichtet worden war.

Außer Rica waren nur der Pfarrer und ihr Nachbar Norbert dabei. Ein paar andere Menschen, denen Jan etwas bedeutete, die ihm vielleicht sogar ihr Leben verdankten, wären ebenfalls gern gekommen, aber Rica wollte niemanden in Gefahr bringen. Sie ging davon aus, dass diejenigen, die für die Beerdigung verantwortlich waren, auch davon wussten. Die würden sich natürlich nicht öffentlich zeigen, aber sie waren hier, ganz sicher, schauten aus der Entfernung zu, lauerten auf ihre Chance, merkten sich Gesicht und Kennzeichen. Sie hatten noch eine Rechnung mit Rica offen, die Geschichte war nicht zu Ende. Deshalb bedurfte es einer ausgeklügelten Strategie, um ihren Gegnern immer einen Schritt voraus zu sein. Rica hatte an dieser Strategie gefeilt, und heute war der Tag, an dem sie zurückzuschlagen begann.

Polizeikräfte waren ebenfalls vor Ort, und die hielten sich nicht versteckt. Zwei Beamte standen am Haupttor, zwei weitere in der Nähe der Kapelle. Diese beiden waren aber pietätvoll genug, sich zurückzuziehen, als Rica mit der Urne herauskam.

Rica musste sich zusammenreißen, um nicht einen Blick nach links zu werfen. Dort, an der östlichen Seite des Waldfriedhofs, gleich neben dem Tor, durch das die Grünabfälle abtransportiert wurden, stand mit laufendem Motor der Fluchtwagen, startbereit, das Flugticket im Handschuhfach.

Rica starrte auf die Kalebasse, ging langsam, schielte hin und wieder zum Pfarrer hinüber, der mit gesenktem Kopf vor ihr ging. Norbert, ihr Nachbar, schlurfte hinter ihr her. Als sie die Wegkreuzung erreichten, war der Moment gekommen.

An der Kreuzung bog sie einfach ab, ohne ihr Tempo zu ändern, tat so, als sei es das Normalste der Welt, der richtige Weg – was er für sie auch war. Der Pfarrer merkte es nicht, da Norberts Schlurfen viel lauter war als Ricas Schritte, und was die Polizisten denken mochten, die vorn am Tor und bei der Kapelle Wache hielten, war ihr gleichgültig. Was sollten die schon tun? Herbeigestürmt kommen, weil Rica vielleicht noch einen Moment länger die Asche ihres Mannes halten wollte?

Rica hatte bereits die Hälfte der Strecke bis zum östlichen Tor hinter sich gebracht, als der Pfarrer sich umdrehte. Sie bekam das nur aus dem Augenwinkel mit und beschleunigte nun doch ihren Schritt, ohne sich um den Geistlichen zu kümmern.

Sie hörte, wie er sich räusperte.

Norbert sagte etwas, aber Rica konnte es nicht verstehen, dafür war sie schon zu weit entfernt. Da Norbert und der Pfarrer befreundet waren und zusammen Skat spielten, würde er ihn sicher noch einen Moment hinhalten können. Norbert war ehrenamtlicher Friedhofsgärtner. Er hatte dafür gesorgt, dass das östliche Tor heute nicht abgeschlossen war.

Durch die unbelaubten Büsche hindurch sah Rica neben dem Tor blaues Metall – der Fluchtwagen. Der Motor lief, alles wie abgesprochen. Die braun-schwarze Kalebasse fest an die Brust gepresst, steuerte Rica darauf zu, wurde noch schneller und zwang sich dazu, sich nicht zu dem Pfarrer oder den Beamten umzudrehen.

Mit dem Ellbogen drückte sie die Klinke herunter, zwei weitere Schritte, dann war sie an der Beifahrertür, die im gleichen Moment aufschwang. Rica ließ sich in den Sitz fallen, stellte die Kalebasse zwischen ihre Füße auf den Wagenboden und zog die Tür zu.

»Nichts wie weg!«, sagte sie und legte den Sicherheitsgurt an.

Olav Thorn gab Gas.

Schotter spritzte unter den Reifen hervor, der Wagen tat einen Satz nach vorn.

»Ups«, machte Olav Thorn.

Der Bremer Kommissar fuhr auf dem schmalen Weg hinter dem Friedhof entlang, der wieder auf die Landstraße führte, und obwohl er sich konzentrieren musste, warf er einen Blick auf die Urne, die zwischen Ricas Unterschenkeln eingeklemmt war, damit sie nicht umkippte. Rica ahnte, was ihm durch den Kopf ging, ihr eigener war mit ähnlichen Gedanken angefüllt, aber sie hatten jetzt keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Das musste warten, bis sie die Mission zu einem Ende gebracht hatten.

»Alles klar bei dir?«, fragte Olav.

Rica nickte. »Keine Probleme bis hierher. Und bei dir? Haben sie dich kontrolliert?«

»Klar, aber ich habe einen Dienstausweis und hatte gute Gründe, dort zu parken.«

»Hast du sonst noch jemanden gesehen?« Rica blickte sich durch die Heckscheibe um.

»Nein«, antwortete Olav, dem natürlich klar war, wen Rica mit »jemanden« meinte. Ihre Feinde, die hinter Missing Order steckten, darunter insbesondere einer, von dem sie nicht wussten, wo er sich aufhielt. »Ich bin allerdings sicher, dass die Beerdigung beobachtet wird. Was sie sehen sollten, haben sie gesehen, und der Rest wird schon klappen. Unsere wahren Feinde haben kein Interesse an der Asche, und der deutsche Ordnungsstaat wird natürlich auf eurem Hof suchen. Du hast ja oft genug herumgeschrien, dass du ihn dort beisetzen willst.«

»War ich zu penetrant?«

Olav schüttelte den Kopf. »In diesem Land finden nur die Lauten Gehör.«

Sie schwiegen. Olav konzentrierte sich auf den Verkehr und behielt den Rückspiegel im Auge. Auch Rica sah sich nach etwaigen Verfolgern um und Olav dabei mehrmals von der Seite an.

Der Kommissar aus Bremen war zu ihrem besten Freund geworden. Ihm vertraute sie blind, konnte über alles mit ihm reden, sich an seiner Schulter ausheulen, als es an Jans nicht mehr möglich gewesen war. Dass Rica sich jenseits der Legalität bewegte, war eine Sache. Dass Olav es ebenfalls tat, eine ganz andere. Zusätzlich zu seinem Leben riskierte er seinen Job. Das tat er, weil er Gerechtigkeit wollte – und sicher auch, weil er Rica sein Leben verdankte. In einem anderen Fall hatte sie ihn vor dem Verbluten gerettet, nachdem er niedergestochen worden war. Sie hatte die Hände auf die Wunde gedrückt und das Blut in seinem Körper gehalten, und Olav hatte ihr versprochen, dass er alles für sie tun würde. Natürlich hätte Rica niemals von ihm verlangt, so weit zu gehen wie jetzt, war aber froh, dass er es tat.

Ihre Freundschaft war nicht mit Gold aufzuwiegen, und sie bewies, dass aus jeder Katastrophe auch immer etwas Gutes hervorging, selbst wenn man es nicht gleich bemerkte oder begriff. Als Rica von Menschenhändlern aus der Karibik nach Europa entführt worden war, hatte sie geglaubt, ihr Leben sei vorbei. Dabei begann es damit erst. Nachdem sie durch die Hölle gegangen und beinahe gestorben war, hatte sie Jan kennengelernt, sich verliebt, ihn geheiratet, durch ihn einen sicheren Platz im Leben gefunden – und jetzt stand die Urne zwischen ihren Beinen. Hätte Jan sie nicht aus den Händen der Menschenhändler befreit, hätten sie niemals für Amissa gearbeitet und nicht herausgefunden, dass etwas mit dem Unternehmen, das weltweit nach vermissten Personen suchte, nicht stimmte. Dann hätte es keine Ermittlungen gegeben, und sie hätten den Bremer Kommissar Olav Thorn nicht kennengelernt.

Und sie alle wären jetzt keine Gejagten.

Aber sie würden den Spieß umdrehen.

Auf eine Art und Weise, die ihre Gegner nicht kommen sahen.

Olav bog auf die Autobahn und folgte den Ausschilderungen nach Frankfurt.

»Ist das Ticket im Handschuhfach?«, fragte Rica.

Er nickte. »Und alles andere auch.«

»Hat Maja sich schon gemeldet?«

»Nein, bisher nicht. Aber es war ja so wenig Kontakt wie möglich abgesprochen. Daher denke ich, es ist alles in Ordnung.«

»Sie werden die Hütte nicht finden, oder?«

»Wir müssen darauf vertrauen, dass es so ist.«

Da war es wieder, Olavs Grundvertrauen, seine positive Einstellung allem und beinahe jedem gegenüber. Er war nicht naiv, wollte vom Leben aber auch keinen Pessimisten aus sich machen lassen. Nachdem sie die Machenschaften von Missing Order aufgedeckt und Steeltown entdeckt hatten, fiel es ihm allerdings zunehmend schwer, optimistisch zu bleiben.

Wieder fuhren sie ein paar Minuten schweigend.

»Wie geht es dir?«, fragte Olav schließlich.

Rica ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie wollte nicht mit einer Floskel reagieren, wie man es gemeinhin bei dieser Frage tat. Dafür kannten sie einander zu gut, und dafür war die Sache zu ernst.

»Ich glaube, in mir drinnen wird es von Tag zu Tag kälter … genau wie da draußen …« Rica deutete mit dem Kinn auf die vorbeifliegende weiße Winterlandschaft.

»Und das jagt dir Angst ein, oder?«

Rica nickte. »Richtig große Angst. Diese Kälte … ich glaube, am Ende werde ich zu allem fähig sein. Und wenn ich das sage, meine ich: zu allem.«

»Vielleicht musst du das gar nicht. Ich glaube daran, dass der Plan funktioniert.«

»Ja, aber wir wissen nicht, was unsere Gegner tun. Alles kann aus dem Ruder laufen.«

»Wird es nicht. Und wir werden gewinnen, wirst sehen.« Olav lächelte ihr aufmunternd zu, reichte ihr die Hand, und sie drückte sie kurz.

Jahrelang hatte sie ihre Seele ihrem Schicksal zum Trotz frei gehalten von Bitterkeit, Hass und Rachegedanken, doch das ging jetzt nicht mehr. Das Maß war voll, und es fiel ihr schwer, sich mit einer Urne zwischen den Beinen der Hoffnung hinzugeben.

An der letzten Autobahnraststätte vor Frankfurt fuhr Olav ab. Es war nicht viel los, ein paar Lkws, doch die Fahrer waren mit sich selbst beschäftigt. Hier bestand nicht die Gefahr, beobachtet zu werden.

Olav parkte in der Nähe der Müllcontainer, ließ den Motor aber laufen. Gemeinsam beobachteten sie die Abfahrt, konnten jedoch kein verdächtiges Fahrzeug entdecken.

»Ich denke, es ist uns niemand gefolgt«, sagte Olav.

»Okay. Bin gleich wieder da«, antwortete Rica, stieß die Wagentür auf, stieg aus und nahm die Kalebasse mit.

Hinter dem Toilettenhäuschen standen zwei Glascontainer. Die Löcher darin waren groß genug, das hatten sie ausprobiert, als sie die Strecke Probe gefahren waren. Rica sah sich um. Nicht weit entfernt zog sich ein älterer Mann ins Gebüsch zurück, um sich zu erleichtern, ein anderer führte einen kleinen Hund spazieren. Niemand kümmerte sich um sie, niemand beobachtete sie.

Also streckte sie die Arme aus und hielt die Urne über das Einwurfloch des Glascontainers. Kalebassen bestanden aus getrockneten Flaschenkürbissen, insofern passte dieser Ort irgendwie, aber natürlich fiel es Rica schwer, sich davon zu trennen. Sie wusste jedoch, es ging nicht anders, wenn sie am Flughafen nicht auffallen wollte.

Sie ließ los. Die Kalebasse zerbrach nicht, schlug lediglich mit einem dumpfen Geräusch auf die leeren Flaschen auf, die deshalb klirrten. Für Rica fühlte es sich an, als würde ihr eigenes Universum hinabstürzen in die Hölle.

4.

Maja Krebsfänger stand still, hielt den Atem an und lauschte.

Die Waffe hielt sie nicht mehr versteckt, sondern auf die Eingangstür der Hütte gerichtet, die Sicherung gelöst. Die Spur im Schnee führte darauf zu, aber nicht zurück. Große Abdrücke, mindestens Schuhgröße fünfundvierzig. Wer immer gekommen war, musste sich in der Hütte befinden, bei Nelia und Anika.

Majas Gedanken rasten. Sie befand sich in einem toten Winkel, der vom Fenster aus nicht eingesehen werden konnte, folglich wusste der Angreifer noch nicht, dass sie hier war. Ihn in der Hütte zu überraschen wäre gefährlich, ohne Frage würde er die Frauen als Schild nutzen. Nichts zu tun und abzuwarten war es aber auch, weil es dem Angreifer Zeit geben würden, seinen Auftrag zu erfüllen – und der konnte nur darin bestehen, die Frauen zu töten. Außerdem hatte Maja es mit zwei Gegnern zu tun; einer davon lief noch durch den Wald und würde gewiss bald hier auftauchen. Maja hätte sich denken können, dass sie nicht einen einzelnen Mann schickten, wenn sie damit rechneten, dass eine bewaffnete Beamtin vor Ort war. Aber wer hatte die Information weitergegeben? Es wusste nur eine Handvoll Mitstreiter Bescheid, und denen vertraute Maja.

Diese Frage war wichtig, doch sie würde die Antwort später herausfinden müssen – wenn es ein Später gab.

Ein kurzer, hoher Schrei im Inneren der Hütte stoppte Majas Gedankenkarussell und zwang sie, zu handeln.

Sie schlich über die Holzveranda, drückte sich flach gegen die Hüttenwand, schob sich seitlich ans Fenster heran und spähte durch das schmutzige Glas. Obwohl es ihr nur einen verschwommenen Blick gestattete, so als seien ihre Augen tränenfeucht, sah Maja mehr als genug.

Die beiden Frauen lagen bäuchlings auf dem Fußboden, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Über sie beugte sich ein großer, schwerer Mann in dunkler Kleidung mit einer Wollmütze auf dem Kopf und Lederhandschuhen an den Händen. Er war damit beschäftigt, Nelia einen Knebel anzulegen. Die Frauen waren ihm ausgeliefert, und Maja fragte sich, warum er den Aufwand betrieb, sie zu fesseln. Er hätte sie längst töten können.

Als er Nelia geknebelt hatte, erhob er sich und warf einen Blick Richtung Tür, sodass Maja sein Gesicht sehen konnte. Vielleicht lag es an der schmutzigen Scheibe, und sie erlag einer Täuschung, aber das Gesicht des Mannes war das eines Werwolfs, geradewegs einem Horrorfilm entsprungen. Haare und Bart waren zu einer Maske verfilzt, aus der nur die große Nase herausstach. Der Mann hatte ein breites Gesicht, jedoch kleine Ohren, die unter der Mütze kaum zu sehen waren. Auch seine Statur war die eines Werwolfs. Groß, muskulös und voller animalischer Kraft schien er sich auf einen Sprung vorzubereiten. Doch dann beugte er sich zu Anika hinunter, um auch ihr einen Knebel anzulegen.

Jetzt, rief Maja sich zu. Noch so eine Chance wird nicht kommen.

Sie schlich zur Tür, riss sie auf und hob die Waffe.

Der Werwolf bewegte sich so langsam, als erwarte er Besuch zum Nachmittagskaffee. Keine Hektik, keine Panik, er war die Ruhe selbst. Ohne den Filter der Scheibe war das Gesicht nicht mehr ganz so grauenvoll, aber immer noch erschreckend genug. Irgendwo in dem Wirrwarr aus Haaren und Bart versteckten sich die Augen, finstere kleine Knöpfe, tief liegend und eng beieinander. Ein kurzes Funkeln darin, mehr Regung bekam Maja nicht zu sehen. Dieser Mann blickte nicht zum ersten Mal in den Lauf einer Waffe, und es schien ihm keine Angst zu machen.

Maja verabscheute Gewalt. Sie hatte noch nie auf einen Menschen schießen müssen.

Jetzt tat sie es.

Keine Ansprache, kein Zögern.

Ihr Zeigefinger krümmte sich, Rückstoß und Knall überraschten sie genauso wie den Werwolf, dann platzte auch schon dessen gefütterte schwarze Jacke unterhalb der rechten Schulter auf, und er taumelte zurück.

Anika schrie auf. Nelia, die bereits einen Knebel aus einem von Olavs alten blauen Geschirrtüchern verpasst bekommen hatte, zappelte und trat mit den Beinen um sich.

Der Werwolf blieb aufrecht stehen und griff mit der linken Hand nach der Lederscheide an seinem Gürtel. In erstaunlicher Geschwindigkeit zog er ein Jagdmesser hervor, also schoss Maja noch einmal. Dabei zielte sie nicht wirklich, hielt die Waffe nur hoch genug, um auf keinen Fall die beiden Frauen am Boden zu verletzen. Das Projektil riss dem Mann den Hals auf der linken Seite auf. Blut spritzte gegen die weiße Küchenzeile. Der Werwolf ließ das Messer fallen, presste sich die linke Hand gegen die Wunde am Hals, sein rechter Arm hing kraftlos herunter. Ohne einen Laut von sich zu geben, kam er auf Maja zu, und Maja hatte den Eindruck, dass dieser Riese ihr selbst in verletztem Zustand noch überlegen war.

Er bleckte die Zähne. Große Zähne, die in dem dunklen Gesicht übertrieben weiß aufleuchteten.

Maja schoss ein drittes Mal, traf aber nicht. Statt in den Körper schlug die Kugel in die Küchenzeile. Der Werwolf war schon zu nahe, um noch einmal auf ihn zu schießen, also schob Maja sich rückwärts auf die Veranda hinaus und hoffte, dass der zweite Mann nicht bereits hinter ihr stand. Der Werwolf folgte ihr. Seine Schritte waren hölzern, Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, viel Blut, aber noch hielt er sich auf den Beinen.

Wie konnte das sein?

Warum starb er nicht?

Maja ging weiter rückwärts, um ihn aus der Hütte zu locken, weg von den Frauen. Draußen auf der Veranda konnte sie niedriger zielen und ihm in den Oberschenkel schießen, damit er endlich zu Boden ging. Doch das musste Maja gar nicht. Der Werwolf machte noch zwei Schritte, dann verließ ihn endlich die Kraft. Zuerst sackte er auf die Knie, hielt den Oberkörper aber aufrecht. Mit wütendem Blick starrte er Maja an, während er versuchte, sein Blut im Körper zu halten, doch unerbittlich quoll es aus der Wunde an seinem Hals. Wahrscheinlich hatte die Kugel die Schlagader erwischt.

Dann flackerten seine Lider, und in diesen kleinen, dunklen Knopfaugen leuchtete die Erkenntnis auf, dass er jetzt sterben würde.

Schließlich schlug er lang hin, und der hölzerne Boden der Veranda erzitterte unter dem Aufprall.

Maja wusste, sie durfte keine Sekunde verlieren, es gab schließlich noch den zweiten Mann, der die Schüsse gehört haben musste, aber dieses Wissen hatte keine Chance gegen die Starre, die von ihr Besitz ergriff. Sie schien eingefroren zu sein, kein Muskel an ihrem Körper ließ sich bewegen, und in ihrem Kopf war nur noch ein Gedanke:

Ich habe ihn getötet.

Jetzt war sie überschritten, diese Grenze, von der sie so oft gehört hatte. Eine solche Tat veränderte Menschen und würde auch sie verändern. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie aus Notwehr gehandelt hatte oder nicht. In all den Dienstjahren hatte Maja nie die Waffe auf jemanden richten, geschweige denn schießen müssen, und es war ihr Anspruch an sich selbst gewesen, gefährliche Situationen ohne Gewalt zu lösen. Sie hatte daran geglaubt, dass Menschen auf vernünftige Worte vernünftig reagierten, aber diesen Mann hatte sie nicht einmal angesprochen, bevor sie ihm zwei Kugeln verpasst hatte.

Weil nichts Menschliches in ihm war, sagte sich Maja und merkte selbst, wie schwach diese Ausrede war.

Neben dem Toten bildete sich rasch eine Blutlache, die den Schnee schmolz und zwischen den Dielenbrettern versickerte. Es war diese Lache, von der Maja den Blick nicht abwenden konnte, denn das Blut symbolisierte das Menschliche, das sie dem Werwolf absprechen wollte. Solange er gelebt hatte, hatte die Entmenschlichung funktioniert, jetzt nicht mehr. Und vielleicht wäre größerer Schaden in Majas Inneren entstanden, wäre nicht Anika in diesem Moment in der offen stehenden Tür aufgetaucht.

»Maja …«, rief sie. »Ist er tot?«

Die Starre wich, in ihrem Kopf rasteten die Zahnräder ein, sie konnte wieder denken.

Maja stieg über die Leiche hinweg, drängte Anika in die Hütte zurück und nahm das Jagdmesser vom Boden auf, das der Mann fallen gelassen hatte. Damit durchtrennte sie die Kabelbinder an Anikas und Nelias Handgelenken.

»Wir müssen sofort los, es gibt noch einen weiteren …«, erklärte sie, während sie Nelia von dem Knebel erlöste und ihr auf die Beine half. »Nehmt eure Sachen und kommt mit zum Auto.«

Und weil sie sich nicht rührten, die Anspannung aber irgendwo hinmusste, schrie Maja die beiden an: »Na los, wir haben keine Zeit!«

Es tat ihr im selben Moment leid, zeigte aber Wirkung. Vor allem bei Nelia. Erschrocken wich sie vor ihr zurück und starrte sie an, als sei sie der Böse.

Anika hingegen funktionierte. Sie schnappte sich die beiden Rucksäcke, in denen die wenige Kleidung und die Pflegeartikel der beiden Frauen steckte, und stopfte hinein, was sie schon ausgepackt hatten. Maja kümmerte sich um ihren Rucksack, und als sie sich zur Tür drehte, sah sie Nelia bereits hinausgehen.

»Nein … warte!«, rief Maja, doch es war zu spät.

Ein weiterer Schuss. Gar nicht mal laut, weil der Schnee die Geräusche dämpfte.

Nelia wurde nach rechts aus dem Türrahmen gestoßen und ging vor der Hütte zu Boden, sodass sie nur noch ihre Stiefel sehen konnten. Anika wollte ihr zu Hilfe eilen, trat hinaus, drehte sich Nelia zu, ein weiterer Schuss fiel, das Projektil schlug in den Rucksack ein, durchdrang ihn aber nicht. Anika schrie auf, und Maja riss sie zurück in die Hütte und zu Boden.

»Unten bleiben … bleib unten!«, flüsterte sie ihr ins Ohr und zog sie von der immer noch offen stehenden Tür fort. Dann legte sie sich einen Finger an die Lippen.

Maja konzentrierte sich auf die Geräusche draußen vor der Hütte. Kam der zweite Mann näher? Betrat er die Veranda? Wenn er das tat, würde er ein leichtes Ziel bieten, und dass er es mit einem ernst zu nehmenden Gegner zu tun hatte, bewies sein toter Partner draußen vor der Hütte.

Maja bedeutete Anika noch einmal, still zu sein, schlich zum Fenster und schob sich langsam an der Wand empor, bis sie einen Blick nach draußen werfen konnte. Sie sah den Werwolf auf der Veranda, Nelia aber nicht, da sie zu nah an der Wand lag. Und sie sah den kleinen dünnen Mann mit den unpassenden Schuhen zwischen den Bäumen hindurch auf den See zulaufen, bevor er im Schneegestöber verschwand.

Er ergriff die Flucht.

Maja sprang auf.

»Kümmere dich um Nelia!«, rief sie und lief aus der Hütte.

Eigentlich hätte sie sich um Nelia kümmern müssen, aber die Gefahr, dass der zweite Mann zurückkam, war zu groß, außerdem wollte Maja ihn nicht entkommen lassen. Wenn sie ihn festnahm, würde er Fragen beantworten können. Fragen wie: Woher wusstet ihr von der Hütte?

Also lief sie mit gezogener Waffe in den Wald hinein, tauchte in den Schneefall ein, der so dicht geworden war, dass er alle Geräusche absorbierte und die Sicht auf einen, höchstens zwei Meter begrenzte. Maja orientierte sich an der deutlich zu erkennenden Spur, verlangsamte aber ihr Tempo, um nicht in eine Falle zu laufen. Weil die Angst davor mit jedem Schritt größer wurde, wurde sie langsamer und blieb immer mal wieder stehen, um zu horchen.

Die Spur führte auf geradem Weg hinunter zum Ufer.

Also waren die Männer mit einem Boot gekommen.

Maja hatte im Vorfeld darüber nachgedacht, war aber zu dem Schluss gekommen, dass das nicht passieren würde, denn auf der anderen Seite des Sees gab es keine Ferienhäuser und damit auch keine Boote, die man nutzen konnte.

Hatten sie eines mitgebracht?

Maja war davon ausgegangen, dass sie diesen Aufwand nicht betreiben würden, weil auf dieser Seite eine Straße dicht am See vorbeiführte.

Als sie das Ufer erreichte, blieb Maja erneut stehen. Vor ihr lag eine schier endlose graue Fläche, eingehüllt in dichten Schneefall, und Maja bildete sich ein, das leise Knistern hören zu können, mit dem unzählige Flocken im Wasser vergingen.

Darunter mischte sich ein anderes Geräusch.

Das Schaben von Gummi über Steine.

Der dünne Mann ließ das Boot zu Wasser.

Maja bewegte sich langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Schließlich entdeckte sie draußen auf dem Wasser ein graues Schlauchboot, das in all dem Grau gerade noch zu sehen war. Der dünne Mann saß darin und paddelte wie von Sinnen. Er entfernte sich schnell vom Ufer, da er den Wind im Rücken hatte.

Maja stellte sich breitbeinig hin und zielte auf das Boot.

Schnee grieselte ihr in die Augen, und das Boot mit dem Mann darin löste sich immer mehr in dem grauen Einerlei auf. Ihn oder das Boot zu treffen wäre reine Glückssache.

Vor allem aber wäre es keine Notwehr, sondern der Schuss in den Rücken eines Flüchtenden.

Und diese Grenze konnte und wollte Maja nicht überschreiten.

Also ließ sie die Waffe sinken.

5.

DAMALS

Jetzt waren die Wälder weiß.

Schnee hatte sich auf die dunklen Tannen gelegt. Süßer Puderzucker, der darüber hinwegtäuschen sollte, was wirklich war. Und manch einer mochte sich davon auch täuschen lassen, aber nicht Necro. Dafür wusste er zu gut, wie grausam die Welt war. Darum hasste Necro den Schnee, und wenn er morgens aufstand und einen Blick aus seinem Zimmerfenster im Turm warf, das sich über den Baumwipfeln befand, und die Tannen in diesem falschen Gewand vorfand, bekam er schlechte Laune.

Nur mit einer Unterhose bekleidet stand er da, spürte die eisige Kälte durch das einfache Glas eindringen, auf dem sich selbst auf der Innenseite Frostblumen gebildet hatten, und fragte sich, warum er nicht Teil der Welt war. Weder der da draußen noch der hier drinnen. Solche Fragen überfielen ihn häufig, aber nie brachte er die Kraft auf, sie bis zum Ende zu denken. Da war eine Sperre in ihm, die das verhinderte, so als wäre die Erde eben doch eine Scheibe und alles, was ihn ausmachte, vor langer Zeit über die Kante gestürzt. Unwiederbringlich verloren. Darum war es einfacher, nicht zu viel darüber nachzudenken. Es brachte ihm nichts. Anpacken, zupacken, hinlangen, das brachte ihm was.

Necro wandte sich ab und zog sich an.

Die übliche Kleidung. Schwere, schwarze Stiefel, eine grüne Cargohose, deren Saum er weit genug hochkrempelte, damit man den Schaft der Militärstiefel sehen konnte, ein weißes Unterhemd und den dicken, grauen Wollpullover. Dazu die schwarze Wollmütze, um den kahlen Schädel vor der Kälte in diesem alten Gemäuer zu schützen. Alle vier Tage rasierte er sich den Schädel kahl, nicht, weil jemand ihn dazu zwang, sondern weil sie das Läuseproblem einfach nicht in den Griff bekamen.

Das lag an diesem Gesindel, das sie hier immer wieder aufnahmen. Aufnehmen mussten, um über die Runden zu kommen. Eben wegen dieses Gesindels schloss Necro die Tür zu seinem Zimmer im Turm sorgfältig ab, als er es verließ. Passte man einen Moment nicht auf, stahlen sie einem die Unterhose vom Arsch.

Nicht, dass es bei ihm etwas zu klauen gegeben hätte. Sein Zimmer enthielt nur, was das Heim ihm zur Verfügung stellte, den Rest trug er bei sich. Sein Handy, seine Geldbörse sowie seinen wertvollsten Schatz: das Jagdmesser.

Während Necro die Treppen hinunterlief, fokussierte sich seine schlechte Laune auf ein Ziel. Im Moment hatte er einen Favoriten. Schon als er den Jungen, der zwischen acht und zehn Jahre alt sein mochte, zum ersten Mal sah, hatte Necro tief in sich drinnen Hass gespürt. Einfach so. Es gab keinen offensichtlichen Grund dafür, und Necro konnte sich seine Gefühle nicht erklären, gleichwohl lechzte er danach, sie auszuleben. Der Junge war hübsch, viel zu hübsch für diesen Ort, und er wirkte, als habe er die ersten acht bis zehn Jahre seines Lebens wohlbehütet verbracht. In einem reichen Haus vielleicht, wo er täglich geduscht und einmal die Woche gebadet hatte. Ein verwöhnter Schnösel, den ein hinterhältiger Trick des Schicksals hierher verschlagen hatte. Solche Jungs konnte Necro nicht leiden, vor allem ihre Blicke nicht. Sie kamen von oben herab, troffen wie Pech und Schwefel am Körper hinab, und man fühlte sich einfach nur mies unter diesen Blicken.

So etwas stachelte seine Wut an, und jeder musste doch irgendwo hin mit seiner Wut. Die durfte nicht drinbleiben im Kopf, das war nicht gesund.