Amissa. Die Vermissten - Frank Kodiak - E-Book
SONDERANGEBOT

Amissa. Die Vermissten E-Book

Frank Kodiak

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer Geld hat, kann sich alles kaufen – auch dich! »Amissa. Die Vermissten« ist der 2. Teil der harten Thriller-Reihe um die Privatdetektive Rica und Jan Kantzius von Bestseller-Autor Frank Kodiak. Der Thriller ist unabhängig von seinem Vorgänger lesbar. Nur ein wildes Gerücht – oder grausame Realität? Wer genug Geld hat, kann sich alles kaufen und bestellen – angeblich auch Menschen, und zwar jede beliebige Person. Die hübsche Nachbarin, den Kellner, das Mädchen aus dem Bus: Wer an »Missing Order« die richtige Summe überweist, bekommt, wen er will, ohne je verdächtig zu erscheinen. Die Privatdetektive Rica und Jan Katzius kommen nicht so recht voran mit ihren Untersuchungen rund um dubiose Machenschaften bei »Amissa«, einer Organisation, die nach vermissten Personen sucht. Bis sich eine Frau meldet, die Beweise für die »Missing Order« liefern will. Doch das Treffen endet in einer Katastrophe: Die angebliche Zeugin ist tot, und als Jan heimkehrt, ist Rica verschwunden. Kurz darauf erhält Jan eine eindeutige Botschaft: Er wird seine Frau nie wiedersehen. Sollte er weiter gegen »Amissa« ermitteln, wird Rica in die Prostitution verkauft. Gibt er auf, wird sie »nur« getötet … »Frank Kodiak« ist das Pseudonym von Bestseller-Autor Andreas Winkelmann. Mit seiner Thriller-Reihe um die Organisation »Amissa«, die weltweit nach vermissten Personen sucht, liefert Frank Kodiak harte Spannung mit intelligenten Twists. Die Privatdetektive Rica und Jan Kantzius lösen ihren ersten Fall im Thriller »Amissa. Die Verlorenen«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 492

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frank Kodiak

Amissa

Die VermisstenThriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Nur ein wildes Gerücht – oder grausame Realität? Wer genug Geld hat, kann sich alles kaufen und bestellen – angeblich auch Menschen, und zwar jede beliebige Person. Die hübsche Nachbarin, den Kellner, das Mädchen aus dem Bus: Wer an »Missing Order« die richtige Summe überweist, bekommt, wen er will, ohne je verdächtig zu erscheinen. Die Privatdetektive Rica und Jan Kantzius kommen nicht so recht voran mit ihren Untersuchungen rund um dubiose Machenschaften bei Amissa, einer Organisation, die nach vermissten Personen sucht. Bis sich eine Frau meldet, die Beweise für die »Missing Order« liefern will. Doch das Treffen endet in einer Katastrophe: Die angebliche Zeugin ist tot, und als Jan heimkehrt, ist Rica verschwunden. Kurz darauf erhält Jan eine eindeutige Botschaft: Er wird seine Frau nie wiedersehen. Sollte er weiter gegen Amissa ermitteln, wird Rica in die Prostitution verkauft. Gibt er auf, wird sie »nur« getötet …

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Kapitel 2

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Kapitel 3

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Kapitel 4

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Kapitel 5

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Kapitel 6

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Kapitel 1

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

Ihre Bestellung ist gleich da. Sagen Sie, die Adresse stimmt so?«

David Stoll lauschte, wie der Typ am anderen Ende die Adresse bestätigte und versprach, ihn an der Tür zu empfangen. Der Mann hörte sich ausgelassen, vielleicht sogar ein wenig betrunken an – das passte zu seiner Bestellung. Vier XXL-Pizzen, gigantische Wagenräder, das Größte, was Rocket Pizza im Angebot hatte. Davon wurden locker zwanzig Personen satt. Da lief wohl eine größere Party, allerdings waren im Hintergrund keine Geräusche zu hören, die darauf hindeuteten.

David Stoll bedankte sich, beendete das Gespräch und startete auf seinem Handy die Navigation. Straße und Hausnummer, die der Kunde angegeben hatte, lagen außerhalb der Stadt in einem Gewerbegebiet, in dem sich um halb elf nachts eigentlich niemand mehr aufhielt. Schon tagsüber war dort wenig los, weil viele Betriebe an die neuen Flächen direkt an der Autobahn abgewandert waren, andere hatten im Zuge der Corona-Krise aufgegeben. Immer wieder gab es Fehler bei den Adressen; Straßennamen wurden verwechselt oder Hausnummern vertauscht, deshalb hatte David es sich bei zweifelhaften Lieferadressen zur Gewohnheit gemacht, sie sich von unterwegs noch einmal bestätigen zu lassen.

Dies war die letzte Tour für heute Nacht, und er freute sich auf sein Bett. Seit achtzehn Uhr lieferte er pausenlos Pizzen, Baguettes und Getränke aus, dabei war schon der Tag nicht gerade ruhig gewesen. Das Studium der Religionswissenschaften war anspruchsvoller, als er es sich vorgestellt hatte, und wenn er sich nicht richtig reinkniete, würde er es nicht schaffen. Lernen war ihm nie leichtgefallen, auch in der Schule nicht, jeden Erfolg hatte er sich hart erarbeiten müssen. Dass er zusätzlich gezwungen war, Geld zu verdienen, machte es nicht einfacher, doch David war ein hartes Leben gewohnt und kam damit zurecht. Eines Tages, so seine Hoffnung, würde er der Erste aus der Familie der Stolls mit einem akademischen Grad sein. In seiner Familie galt nur der etwas, der es geschafft, es gegen alle Widerstände zu etwas gebracht hatte – und zwar mit eigener Hände Arbeit. Jahrelang die Schulbank drücken und den Eltern auf der Tasche liegen, davon hielt bei den Stolls niemand etwas – oder treffender: Davon hielt sein Vater nichts.

David lenkte den weißen VW Lupo mit dem bescheuerten Aufdruck einer grinsenden Pizza an den Türen in das dunkle Gewerbegebiet. Nachts brannten hier nur an den Kreuzungen Straßenlaternen. Der herbsttypische Oktoberregen ließ die Sicht gegen null sinken, und das leise Quietschen der abgenutzten Scheibenwischer tötete David den letzten Nerv. Viermal ließ ihn das Navi abbiegen, bevor er die Straße erreichte, in der Nummer 20 liegen sollte. Schon von Weitem sah er Licht; es war das einzige beleuchtete Gebäude in der Straße. Wie es aussah, handelte es sich um einen mittelgroßen Betrieb, eine ehemalige Tischlerei vielleicht oder ein Metallbauer. Firmen dieser Größe waren dutzendweise pleitegegangen in den letzten zwei Jahren.

Das Tor an der Zufahrt war geöffnet, der Parkplatz aber leer. Wo waren die Wagen der Partygäste? Waren sie mit dem Taxi gekommen, um trinken zu können?

Die Rolltore der Halle hatten im oberen Drittel schmale Fensterleisten, durch die bunt flackerndes Licht fiel, und als David die Wagentür aufstieß, hörte er das verhaltene Wummern von Musik. David lächelte, wünschte sich, mitfeiern zu können, öffnete den Kofferraum und holte die beiden Styroporkartons mit den Pizzen heraus.

Ein Deckel rutschte zur Seite. Der aufsteigende Geruch malträtierte seinen hungrigen Magen. Wie gern hätte er sich ein Stück von der Pizza abgerissen. Zuletzt hatte er vor fünf Stunden etwas in den Magen bekommen, allerdings nur einen Salat, denn wer an der Quelle saß, musste besonders auf sein Gewicht achten. Wenn es seine Zeit zuließ, trainierte David im Fitnessstudio – seitdem er das Studium aufgenommen hatte, allerdings nicht mehr so häufig, deshalb wollte er seine Figur nicht mit fetter Pizza ruinieren.

David befand sich auf dem Weg zu einem der Rolltore, neben dem durchsichtige Kunststoffcontainer für den Transport von Flüssigkeiten aufgestapelt waren, als die Eingangstür im Büroanbau aufging.

»Hierher!«, rief ein Mann winkend.

Vor dem Sprühregen geschützt stand er im Halbdunkel des Überdachs, sodass David zunächst nicht mehr erkennen konnte als eine große Gestalt.

»Können Sie die drinnen auf den Tisch legen?«, fragte der Mann, trat beiseite und ließ David passieren. Er roch nach teurem Aftershave, sein Haarschnitt war gepflegt, der Dreitagebart ebenfalls. Ein attraktiver Mann mit gewinnendem Lächeln, perfekt gekleidet.

»Klar … wohin?«

»In die Teeküche bitte. Letzte Tür links.«

Seine Stimme klang angenehm und kultiviert.

Der Gang war schmal und lang, mehrere Türen gingen davon ab. Sie standen offen, die Büros dahinter waren verwaist, keine Möbel mehr darin. Es roch leicht muffig, so als sei lange Zeit nicht mehr durchgelüftet worden. Am Ende des Gangs befand sich eine weitere Tür, wahrscheinlich die Durchgangstür zur Halle, wo die Party stattfand. Wenige Schritte davor bog David in die Teeküche ab. Das wenige Licht darin kam von der Abzugshaube über dem Herd. In der Mitte des Raumes stand ein Klapptisch, wie er beim Camping benutzt wurde, Stühle gab es keine.

David legte die schweren Kartons mit den Megapizzen auf dem wackeligen Tisch ab, als plötzlich die Tür hinter ihm ins Schloss geworfen wurde.

Er fuhr herum.

Der Mann lehnte an der geschlossenen Tür, die Hände lässig im unteren Rücken verschränkt, und lächelte ihn an. Ein Lächeln, zu gleichen Teilen sympathisch und beängstigend; David lief ein Schauer über den Körper. Hier stimmte etwas nicht.

»Dann wären das fünfundsechzig Euro«, sagte David.

»Zieh dich aus!«, sagte der Mann.

Er musste sich verhört haben. »Wie bitte?«

»Und zwar alles«, unterbrach der Mann ihn. »Auch Unterhosen und Socken. Die Ware wird nackt ausgeliefert.«

»Spinnst du oder was? Lass mich durch. Sofort!«

David machte einen Schritt auf die Tür zu. Er war jung und trainiert und traute sich eine körperliche Auseinandersetzung durchaus zu. Die Reaktion des Mannes kam unglaublich schnell. Ein Stoß mit der flachen Hand gegen die Brust ließ David zurücktaumeln. Er stieß gegen den Klapptisch, wollte sich daran abstützen, doch der gab unter seinem Gewicht nach. Zusammen mit den Pizzen ging David zu Boden. Die Deckel der Kartons fielen herunter, würziger Duft nach Knoblauch und Salami machte sich breit. Unter der rechten Hand spürte David warme Tomatensoße und klebrigen Käse.

»Was soll das?«, stieß David aus.

Der Mann baute sich vor ihm auf und wirkte geradezu riesig aus Davids Position am Boden.

»Ausziehen, habe ich gesagt. Und zwar alles. Wenn ich dich noch ein drittes Mal auffordern muss, tut’s weh, verlass dich drauf, mein Freund.«

David versuchte, sich nach hinten wegzudrücken, um von dem Mann fort und auf die Beine zu kommen, doch er rutschte auf der Pizzasoße aus. Beim nächsten Versuch spürte er den umgefallenen Klapptisch im Rücken – weiter ging’s nicht. Er saß in der Falle. David spürte, wie sein Ärger und sein Mut unter dem bedrohlichen Auftreten des Mannes und seinem zunehmend diabolischen Lächeln zerbröselten. Trotzdem wollte er sich nicht vor dem Fremden ausziehen und schüttelte den Kopf.

Der Mann stürzte sich auf ihn und schlug ihn ins Gesicht. Davids Kopf wirbelte herum, im Nacken knackte es vernehmlich. Der Schlag war nicht wuchtig genug gewesen, um ihn bewusstlos werden zu lassen, aber der dicke Siegelring des Mannes reichte aus, seinen Widerstand zu brechen.

Einen Lidschlag später spürte David, wie er in den Schwitzkasten genommen und aus dem Raum geschleppt wurde. Ohne etwas dagegen unternehmen zu können, schleifte der Mann ihn in die Halle, in der die Party stattfand, und warf ihn dort zu Boden.

Benommen nahm David seine Umgebung als eine surreale Albtraumkulisse wahr. Überall zuckte buntes Licht, Bässe stampften, er konnte die Vibration im Betonboden spüren. Täuschte er sich, oder gab es hier gar keine Partygäste?

»Zieh dich jetzt aus!«

David schüttelte den Kopf.

»Dann eben auf die andere Tour.«

Der Mann verschwand aus Davids Sichtfeld, tauchte plötzlich hinter ihm auf, packte seinen Kopf, riss ihm das Kinn hoch und zwang ihn mit Gewalt dazu, aus einer Plastikflasche zu trinken. Dann presste er die Hand über Mund und Nase, sodass David nichts anderes übrig blieb, als die kalte Flüssigkeit hinunterzuschlucken.

Erst als die Hand von seinem Gesicht verschwand, gelang es David, sich zu wehren. Er konnte um sich schlagen, erwischte den Mann aber nicht, der sich mit einem schnellen Schritt nach hinten in Sicherheit brachte. Durch die Musik hindurch hörte David ein Lachen. Unsicher kam er auf die Beine, sah sich um. Die Halle war leer. Keine Gäste, nur einige Kunststoffcontainer und ein Gabelstapler. Es roch süßlich. Auf dem Boden stand eine tragbare Musikanlage mit den farbigen Scheinwerfern. Die Plastikflasche, aus der David hatte trinken müssen, lag auf dem Boden, ein Rest Flüssigkeit war herausgelaufen und bildete eine beinahe perfekt kreisrunde Lache.

»Was soll das!?«, schrie David den Mann an, der sich vor der Tür zum Büroanbau positioniert hatte.

David nahm seinen Mut und seine Kraft zusammen und stürmte auf den Mann zu. Er wollte nur noch raus hier, weg von diesem Verrückten. Irgendwie an Auto und Handy gelangen, um die Polizei zu rufen. David schlug unkontrolliert um sich, wollte sich den Weg durch die Tür freikämpfen, doch er traf den Mann nicht, weil der einfach beiseite sprang.

Die Tür war frei.

David lief in den Gang, auf die Eingangstür zu, packte die Klinke, drückte sie … abgeschlossen.

Panik, und im nächsten Moment ein Gefühl, als würden seine Muskeln schlagartig alle Spannung verlieren. Seine Beine trugen ihn keine Sekunde länger. Er fiel zu Boden, klammerte sich zuerst noch an die Türklinke, musste dann aber auch diesen letzten Rettungsanker aufgeben. Hilflos lag er da und konnte nichts dagegen tun, als der Mann ihn zurück in die Halle zerrte.

Dann zog er ihn aus.

Zuerst Jacke und Shirt, das bekam David noch mit, doch dann verließen ihn seine Sinne. Als er wieder zu sich kam, war er nackt und lag bäuchlings über einem dieser Kunststoffcontainer, dessen Aluminiumstreben schmerzhaft gegen seine Rippen drückten. Der Container stand auf den Metallgabeln des Elektrostaplers. David wollte sich bewegen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

Durch die große Öffnung in der Oberseite wurde er in den Container gestopft, der vielleicht ein Meter im Quadrat maß und innen mit schwarzem Schaumstoff ausgekleidet war. Mit dem Gesicht voran fiel er hinein, Hüfte und Beine hingen noch draußen, bis der Mann sie hinterherstopfte und schließlich den Deckel zuschlug. Metallscharniere rasteten ein.

Einen Moment später nahm David das elektrische Surren des Staplers wahr. Er wurde durch die Halle gefahren, schließlich rumpelte es, als der Belag wechselte, und David ahnte, dass es nun über den gepflasterten Hof ging. Nach einer kurzen Fahrt und einigen Rangiermanövern hob der Stapler die Kiste an und stellte sie schließlich ab. Die schwarze Innenverkleidung des Containers verhinderte, dass David etwas sah, und da er zu schwach war, sich zu bewegen, konnte er den Schaumstoff nicht beiseite schieben. Aber er hörte, wie sich der Stapler entfernte. Kurz darauf schlugen metallene Türen zu, und um ihn herum wurde es komplett dunkel.

Panik erfasste ihn.

Er wollte schreien, um Hilfe rufen, gegen die Wände treten und schlagen, und in seiner Vorstellung tat er all das auch – nicht aber in der Realität. Da war er nichts weiter als ein Sack voll Knochen.

Das Letzte, was er wahrnahm, war wieder dieser merkwürdig süßliche Geruch.

2.

Für Jan Kantzius war die Nacht etwas Kraftvolles, Verheißenes. Was ihn betraf, war sie das Korrektiv zum Tag, reinigte den Geist und lud seine Akkus auf. Dabei spielte es für Jan keine Rolle, ob er sie schlafend oder wach verbrachte. Mit dem Schlaf war das ohnehin so eine Sache bei ihm; sein Freund war er nicht. Eher ein zickiger Verwandter, der kam und ging, wie es ihm passte.

Hier an der Küste, wo er sich nur selten aufhielt, verbanden sich die Kräfte der Nacht mit denen des Meeres, aber Jan hatte weder Zeit noch Muße, sich diesen Gefühlen hinzugeben.

Es war Mitte Januar und bitterkalt. Er befand sich am äußeren Ende der Seebrücke von Grömitz, der nächste Schritt würde ins schwarze Wasser der Ostsee führen, das glucksend gegen die hölzernen Brückenpfähle schwappte. Sein Blick war zum Land hin gerichtet, wo die Lichter des Seebads einladend und heimelig funkelten. Sie verstärkten das Gefühl der Einsamkeit hier draußen, wo die Schwärze einen abweisenden Ring bildete, einer Burgmauer gleich.

Ich bin auf dem Präsentierteller, schoss es Jan durch den Kopf. Und genauso hatte es die Schreiberin der Nachrichten bei Telegram wohl auch geplant. Sie hatte keinen Namen genannt, hielt sich bedeckt, was ihre Identität anging, denn angeblich ging sie ein hohes Risiko ein und fürchtete um ihr Leben. Sicher versteckte sie sich irgendwo dort zwischen den Häusern und beobachtete ihn, um sicherzugehen, dass er allein gekommen war, so, wie sie es verlangt und er es ihr versprochen hatte. Zudem konnte er nirgendwohin, sofern er nicht ins eiskalte Wasser springen wollte. Wenn diese Unbekannte sich nicht zeigte, könnte sie aus dem Verborgenen heraus jeden seiner Schritte verfolgen, sobald er die Seebrücke verließ. Die Situation war nicht ungefährlich, dennoch hatte Jan sich hineinbegeben. Er konnte nicht anders.

Denn es gab etwas, das diese Unbekannte ihm nicht per Telegram mitteilen wollte. Ein ungeheuerliches Geheimnis, und die, die es bewahrten, setzten alles daran, dass es ein Geheimnis blieb. Außerdem verlangte sie Geld für diese Information. Fünftausend Euro, die Jan bar bei sich hatte – sein eigenes Geld, mühsam zusammengespart, und er würde sich nur davon trennen, wenn es die Information wert war. Er würde der Frau in die Augen blicken und herausfinden, ob sie vertrauenswürdig war und die Wahrheit sagte. Unter den meisten anderen Umständen hätte Jan sich nicht auf einen solchen Deal eingelassen, schon gar nicht, wenn jemand für eine Information Geld verlangte, doch hier lagen die Dinge anders. Es hatte nur eines Wortes bedurft, um Jan und Rica zu überzeugen.

Amissa.

Der Name der privaten Organisation, die weltweit nach vermissten Personen suchte und für die Jans Frau Rica arbeitete. Jan unterstützte sie dabei. Zusammen waren sie als Ermittlerpaar sehr erfolgreich. Rica war ein Ass, was die digitale Welt betraf, er selbst kannte sich als ehemaliger Polizist in der realen ziemlich gut aus.

Die Unbekannte behauptete, Amissa oder, besser, Menschen, die für die Organisation arbeiteten, seien in Angelegenheiten verstrickt, die niemals bekannt werden durften. Sie könne auch Namen nennen. Natürlich hatten sie sie gefragt, ob Amissas Gründer, der Schweizer Milliardär und Unternehmer Hans Zügli, darin verwickelt sei, doch die Unbekannte hatte weder diese noch andere Fragen beantworten wollen. Denn sobald sie Namen nannte, würde sie untertauchen und ein neues Leben beginnen müssen. Dafür benötigte sie Geld. Sie hatte zunächst sogar zehntausend Euro verlangt.

Rica und Jan hatten lange darüber gesprochen, ob sie ihr eigenes Geld einsetzen sollten. Viel besaßen sie nicht und legten zudem Wert auf eine Notfallreserve, da sie nie wussten, wie sich ihre Einkommenssituation entwickelte. Aber nach dem, was im letzten Herbst passiert war, hatten sie gar nicht anders entscheiden können. Denn vielleicht bot sich ihnen jetzt die Chance, die Strukturen bei Amissa zu enttarnen, die sich ihnen bisher entzogen hatten. Im vergangenen Herbst, im Fall des nach einem Umzug entführten Mädchens, hatten sie ein Netzwerk von Menschenhändlern auffliegen lassen und erschüttert feststellen müssen, dass ein Mitarbeiter von Amissa daran beteiligt gewesen war. Seitdem fragten sie sich, ob es sich um einen Einzelfall gehandelt hatte oder die Organisation unterwandert war. Leider ließen die vagen Informationen der geheimnisvollen Fremden darauf schließen.

Aber konnten sie ihr trauen?

Dass sie auch mit der Hälfte der ursprünglich geforderten Summe einverstanden war, werteten sie als Beweis dafür, dass es ihr nicht nur ums Geld ging. Sie hatte in ihren Nachrichten von einer Welt gesprochen, die aus dem Lot geraten war, und dass jeder Mensch, auch sie selbst, einen Beitrag zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit leisten müsse. Große Worte, wie Jan fand.

Das Blinken nahm Jan sofort wahr, denn es war ihr abgesprochenes Zeichen.

Die Fremde hatte angekündigt, ihm mit einer Taschenlampe zu signalisieren, wenn nach ihrer Meinung die Luft rein war. Dreimal schnell hintereinander flammte das bläuliche LED-Licht am Küstenstreifen von Grömitz auf. Jan antwortete mit dem gleichen Signal.

In diesem Moment blies der Wind die Wolkendecke auseinander, und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, fiel bleiches Mondlicht auf die Seebrücke und das Wasser. Schnell trat Jan in den Schatten der monströsen Tauchglocke, die rechts von ihm wie die Spitze einer versunkenen Kathedrale aus dem Meer aufragte. Aus dem Dunkeln heraus beobachtete er, wie von ganz vorn, wo die Brücke auf Land traf, eine schmale Gestalt langsam auf ihn zukam.

Aus dem Dunkel heraus checkte Jan die silbrig schimmernde Umgebung ab. Direkt am Strand hatte sich ein schmaler Streifen Eis gebildet, auf dem eine dünne Schicht Schnee lag. Auch die Haube der Tauchglocke glänzte weiß. Weitere Personen konnte Jan nicht entdecken.

Er hatte alles dafür getan, dass ihm niemand hierher folgen konnte. Umwege, Ablenkungsmanöver, sogar ein Wagenwechsel unterwegs, da sein Defender viel zu auffällig war. Der gemietete Golf hingegen ging in der Masse aller gleichförmigen Fahrzeuge unter. Die Unbekannte traute dem Internet nicht, schon Telegram war ihr zu unsicher, da hatte Rica noch so oft behaupten können, dass ihr Account auf keinen Fall ausgespäht werden konnte. Dabei wusste Rica, wovon sie sprach. Sie hatte Informatik studiert und verkehrte online mit Hackern, die ihr gesamtes Können und ihre Lebenszeit für den Schutz von Daten einsetzten – oder deren Diebstahl.

Eine Wolke schob sich vor den Mond. Für einen Moment verschwand die schmale Gestalt, und die Lichter am Küstenstreifen traten wieder deutlicher hervor, hauptsächlich Weihnachtsbeleuchtung, die immer noch brannte. Heiligabend lag erst drei Wochen zurück. Rica und Jan hatten den Bremer Kommissar Olav Thorn zu Besuch gehabt. Schöne Tage waren das gewesen, voller Leichtigkeit und Humor und Nähe. Es hatte sich angefühlt wie ein normales Leben, und jetzt hier zu stehen, angespannt bis in die Haarspitzen, ließ das Fest und die damit verbundenen Gefühle in weite Ferne entschwinden. In der Welt, in der Rica und Jan lebten, gab es keine Normalität auf Dauer.

Jetzt war die Gestalt nah genug heran. Jan konnte sie auch ohne Hilfe des Mondlichts erkennen. Zudem spürte er die Vibration ihrer Schritte auf den Holzplanken der Seebrücke.

Sie zögerte. Vermutlich konnte sie ihn nicht sehen.

Jan trat aus dem Schatten der Tauchglocke heraus und winkte kurz.

Die Frau warf einen Blick zurück zum Land, bevor sie weiter auf ihn zukam.

Sie war vielleicht eins siebzig groß und dünn, selbst in der dicken Winterkleidung, die sie trug. Der gefütterte dunkle Mantel reichte ihr bis über die Knie, an den Händen trug sie Fäustlinge, an den Füßen Lederstiefel. Ihr Haar war unter einer Wollmütze verborgen, um ihren Hals ein Schal geschlungen, sodass von ihrem Gesicht nicht viel zu erkennen war. Verloren und verletzlich wirkte sie auf Jan, wie sie ein paar Meter vor ihm stehen blieb, die Füße dicht beieinander, die Schultern hochgezogen. Jan schätzte ihr Alter auf Mitte zwanzig.

»Hi«, sagte sie.

»Alles klar bei dir?«

Sie nickte, trat von einem Fuß auf den anderen und zog die Schultern noch höher. In das unangenehme Schweigen hinein drang von irgendwoher das Nebelhorn eines Schiffes. Jan hatte sich im Vorfeld zwar Dutzende Fragen zurechtgelegt, aber nicht über den Gesprächseinstieg nachgedacht. Gerade lag ihm der Satz auf der Zunge »Ich habe ein Hotelzimmer, da ist es warm«, aber noch unpassender hätte er wohl kaum beginnen können. Trotz der dicken Kleidung fror sie, das war nicht zu übersehen. Wenn es Rica wäre, die vor ihm stünde, hätte er sie längst in die Arme genommen, um sie zu wärmen. Rica stammte aus der Karibik, sie fror schon, wenn die Temperatur unter zehn Grad sank.

»Ich bin froh, dass Sie mir helfen wollen«, sagte die junge Frau.

Eigentlich war es ja eher andersherum, dachte Jan. Aber vielleicht meinte sie das Geld.

Es störte ihn, für Informationen bezahlen zu müssen, und es sagte auch etwas über den Charakter eines Menschen aus, wenn er Gewissen und Moral von Bezahlung abhängig machte. Jan würde erst auf das Geld in seiner Jacke zu sprechen kommen, wenn sie danach fragte. Verriet sie schon vorher, was sie wusste, konnte er davon ausgehen, dass sie nicht nur des Geldes wegen hier war. Außerdem bestand noch immer die Möglichkeit, verarscht zu werden.

Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, als er sich auf das verlassen hatte, was man gemeinhin Menschenkenntnis nannte. Mittlerweile war er sich nicht einmal mehr sicher, ob es dieses Konzept gab. Ein zur Lüge fähiges Wesen log eben, wenn es nützlich war. Wenn es dem Lebenserhalt, dem eigenen Vorteil, der Evolution diente. Klar gab es Merkmale, die einen Lügner entlarvten, aber wer darum wusste, konnte sie umgehen, und so manche Lüge war ja in den eigenen Augen die Wahrheit – eine perfektere Tarnung gab es nicht.

»Ich kann nur helfen, wenn du mir erzählst, was du weißt«, sagte Jan.

Sie sah ihn an. Schweigend zunächst. Ihre Unterlippe zitterte, sie wollte antworten, brachte aber kein Wort hervor, sah sich stattdessen noch einmal um, ob sie auch wirklich allein waren. Schließlich griff sie in die Innentasche ihres Mantels und zog einen Umschlag hervor.

»Okay … Missing Order … schon mal davon gehört?«, fragte sie und streckte ihm den Umschlag entgegen.

»Nein, nie gehört. Was soll das?« Er meinte damit den Umschlag, doch sie verstand die Frage anders.

»Es bedeutet, dass du dir alles bestellen kannst, was du willst … auch einen Menschen, du musst nur …«

Das waren ihre letzten Worte.

3.

David Stolls Verstand hatte es vorgezogen, sich in geschützte Räume zurückzuziehen. Bisher hatte David nichts gewusst von diesen Safe-Rooms in seinem Inneren, aber sie waren wohl schon immer da gewesen. Die Wände tapeziert mit Erinnerungen, die aus dem Papier heraus lebendig wurden und ihm seine kleine Schwester Issy zeigten. Eigentlich Isabell, aber niemand nannte den kleinen, süßen Wildfang bei seinem vollen Namen. David sah sich tanzen mit ihr, sah sich im See hinter dem Grundstück schwimmen mit ihr, spürte sie auf seinen Schultern sitzen, während sie den Wald durchstreiften. Seine Issy, die geboren wurde, als er sieben Jahre alt war, und für die er zuerst nur Neid empfunden hatte, weil sie ihm den Königsplatz des Einzelkinds wegnahm. Aber niemand, er schon gar nicht, konnte sich ihrem unbekümmerten Charme entziehen, und so war im Laufe der Zeit eine tiefe Zuneigung für sie entstanden, die noch immer anhielt.

Sie war so gern Moped gefahren mit ihm, und weil Mama es zu gefährlich fand, hatten sie es heimlich tun müssen. In diesem Moment durchflutete ihn das gleiche Gefühl wie damals, als sie hinter ihm auf dem Sozius gesessen hatte, ganz dicht an ihn gepresst, die Arme um seinen Bauch geschlungen, die Wange an seinem Rücken. Sie hatte sich vollkommen auf ihn verlassen, und es war ein berauschendes Erlebnis, gegen die Regeln zu verstoßen und dabei die Verantwortung für ein Leben zu tragen …

Ein harter Schlag riss ihn aus der Erinnerung. Gleich darauf ein zweiter, noch härter, und er spürte Schmerzen im Rücken. Diese Schläge im Fahrwerk des Wagens sorgten dafür, dass er sich seiner Situation bewusst wurde, und die hatte nichts mit einem sommerlichen Ausflug auf einem Moped zu tun.

Noch immer lag David zusammengekrümmt in einem mit schwarzem Schaumstoff ausgekleideten Container. Wie viel Zeit war vergangen, seit er vier XXL-Pizzen an die Adresse im Gewerbegebiet geliefert hatte und von dem Mann überwältigt, betäubt und verschleppt worden war? David wusste es nicht. Allerdings schien die Betäubung nachzulassen, denn er konnte seine Gliedmaßen wieder spüren und bewegen. Allzu gern hätte er Arme und Beine ausgestreckt, doch die enge Kiste ließ nicht mehr als ein paar Zentimeter Spielraum zu. Er musste sich zusammenreißen, um nicht in Panik zu geraten. Mühsam unterdrückte David den Impuls, zu schreien und zu klopfen. Noch fuhr der Wagen, aber irgendwann würde er halten und der Mann ihn herauslassen. Dann wäre es vielleicht von Vorteil, wenn er glaubte, David sei noch betäubt.

Warum passierte das alles?

Was wollte dieser Typ von ihm?

David zu entführen machte überhaupt keinen Sinn! Er war ärmer als eine Kirchenmaus, sonst würde er neben dem Studium keine Pizza ausliefern. Okay, sein Vater hatte Geld, aber auch keine Millionen. Hatte das überhaupt etwas mit ihm zu tun, oder wäre eine seiner Kolleginnen oder Kollegen ebenso entführt worden, wenn sie die Lieferung übernommen hätten? David konnte sich keinen Reim darauf machen, doch es war klar, dass der Mann ihn nicht einfach töten wollte, das hätte er sofort in der Halle erledigen können.

Hatte er etwas viel Schrecklicheres mit ihm vor?

Ein weiterer harter Schlag, und David begriff, dass der Wagen auf keiner normalen Straße unterwegs sein konnte. Das Holpern ließ auf einen unbefestigten Weg mit vielen Schlaglöchern schließen. Ein Feldweg oder Waldweg, der in eine einsame Gegend führte. Würde der Mann ihn dort töten? Oder vergewaltigen und quälen und dann erst umbringen?

Schweiß brach David aus, obwohl es nicht warm war in der Kiste und er zudem nackt. Er spürte, dass er Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren und in Panik zu verfallen. Mit einem Mal gab es nichts Wichtigeres mehr, als aus dieser engen Kiste herauszukommen. Die Luft wurde knapp, er konnte kaum noch atmen, er musste raus, raus, raus …

David begann zu beten, um ruhig zu bleiben. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass Laute seinen Mund verließen, aber in sich hörte er seine Stimme laut und deutlich. Er war ein gläubiger Mensch, schon immer, seine Mutter hatte ihn so erzogen in einer Familie, in der die Männer die Sache selbst in die Hand nahmen, statt sie einem überirdischen Wesen zu überlassen. Den Glauben seiner Mutter hatten sein Vater, seine Onkel und Cousins nie angezweifelt, aber über seinen Glauben hatten sie gelacht. Weil er Zeit in der Kirche verbrachte, Orgel spielte, an Jugendfreizeiten teilnahm. Dinge tat, die Männer nach deren Auffassung nicht taten. Wahrscheinlich ahnten sie, dass er schwul war, hin und wieder waren Bemerkungen in diese Richtung gefallen, von Spaß gedeckt natürlich, weil sie sich vor der möglichen Wahrheit schützen mussten. Bis heute hatte David sich vor seinem Vater nicht geoutet und würde es auch niemals tun. Dessen Horizont war zu eng, selbst wenn er es wollte, würde er es nicht verstehen können. Seine Mutter und Issy wussten Bescheid. Sie hatten versprochen zu schweigen.

Das Gebet half. David wurde ruhiger und konnte wieder atmen. Er wusste, auf Gott durfte er in dieser Situation nicht vertrauen, denn der würde ihn nicht retten. Aber wenn sein Glaube es schaffte, ihn zu beruhigen, war damit viel gewonnen. In ruhiger Verfassung war er eher in der Lage, einen Ausweg zu finden.

Bald wurde der Wagen langsamer und hielt schließlich an.

Kurz darauf erstarb der Motor.

David hielt die Luft an und lauschte.

Jemand stieß die Fahrertür auf. Schritte knirschten auf Schotter, dann wackelte der Wagen, als die Hecktüren aufschwangen. Schließlich zwei klackende Geräusche, mit denen Scharniere zurückschnappten. Der Deckel des Containers klappte auf. Taschenlampenlicht blendete David, er hob die Hände zum Schutz – und begriff zu spät, dass er sich damit verriet.

»Komm raus!«, befahl sein Entführer.

Eben noch hatte David nichts mehr gewollt, als aus der Kiste befreit zu werden, doch jetzt konnte er sich nicht bewegen. Seine Nacktheit und die Angst vor dem, was passieren würde, lähmten ihn.

»Jetzt komm schon, oder muss ich nachhelfen?«

Der Mann klang ungeduldig und mühsam beherrscht. Lange würde er sicher nicht warten. David kämpfte mit sich, suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit zur Flucht. Doch im Moment blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als den Befehlen des Mannes zu folgen.

Mit steifen Muskeln und Gelenken krabbelte er aus dem Container, der brusthoch war. Der Container stand auf der Ladefläche eines Lkw. Er war also verladen worden wie irgendein Gegenstand. Davids Herz raste. Angst leistete Panik Vorschub, da halfen auch keine Gebete. Schließlich überwand er sich, hob den Blick und sah den Mann, der ihn entführt hatte.

Er trug eine dunkle, gefütterte Jacke und eine schwarze Wollmütze sowie grobe Lederstiefel zu einer Jagdhose – das war nicht die Kleidung, die er beim Empfang der Pizzen getragen hatte. Den Siegelring hatte er noch am Finger.

In der linken Hand hielt er die Taschenlampe, den Lichtschein nun zu Boden gerichtet. Zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand steckte eine glühende Zigarette, die er in diesem Moment zum Mund führte und daran zog. Beim Ausatmen stieg Qualm vor seinem Gesicht auf, und er kniff ein Auge zu. »Na los, zier dich nicht so«, sagte er und wedelte mit der Waffe. »Hier sieht dich niemand.«

David kletterte von dem Lkw, lehnte sich gegen die Stoßstange und schützte mit den Händen sein Geschlecht. Ein zutiefst beschämendes und verletzliches Gefühl war es, so dazustehen – er kam sich wie Ware vor.

Der Mann nahm einen weiteren Zug von der Zigarette. Dann starrte er David an, schüttelte den Kopf und seufzte, als missbillige er es selbst, was hier geschah.

»Da rüber«, stieß er aus und zeigte mit der Waffe nach rechts. »Das Haus des Herrn wartet auf dich.«

Er lachte trocken und freudlos.

Als David hinübersah, wusste er, warum.

Vor dunklem Wald ragte ein wuchtiges Gebäude auf, ein backsteinerner Turm ragte in den helleren Streifen Nachthimmel, der über den Bäumen lag.

Da stand eine Kirche!

Vielleicht täuschte David sich, oder es lag an der Betäubung, aber der Turm schien schief zu stehen. Die Kirche war nicht besonders groß. Ein rechteckiges Gebäude, dessen rote Backsteinwände auf einem Sockel aus Natursteinen ruhten. Die schmalen, hohen Fenster waren mit dunklen Brettern vernagelt. Zwischen den Ritzen drang ein wenig Licht hervor.

»Was …«, begann David, doch der Mann unterbrach ihn sofort.

»Halt die Klappe und beweg deinen Arsch da rüber. In die Kirche, na los.«

David, immer noch darum bemüht, seine Nacktheit zu bedecken, schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte er bestimmt und spürte Trotz in sich aufsteigen.

Wenn er diese Kirche betrat, das war ihm klar, wäre es sein Ende. Auf gar keinen Fall durfte er einen Fuß hineinsetzen, musste im Gegenteil sofort und hier eine Möglichkeit finden zu fliehen. Er war nackt und würde jetzt Ende Oktober im Freien vielleicht nicht lange durchhalten, aber das wollte er riskieren. Alles, nur nicht diese gruselige Kirche betreten.

Der Mann seufzte, starrte ihn aus schmalen Augen an. »Mach keine Scherereien.«

»Ich mache auf jeden Fall welche, es sei denn, Sie lassen mich gehen. Wenn Sie mich gehen lassen, verspreche ich, ich sage zu niemandem ein Wort darüber, was passiert ist.«

Sein Entführer nahm einen letzten Zug von der Zigarette, warf sie zu Boden, trat sie aus, schüttelte den Kopf und sagte: »Du kapierst das nicht, mein Freund. Für dich ist hier Endstation. Nicht sofort, und was bis dahin passiert, weiß ich nicht, aber reden wirst du ganz gewiss mit niemandem darüber, da mache ich mir keine Sorgen. Es liegt an dir, wie schmerzhaft es …«

David rannte los.

Er hoffte, den Mann damit zu überraschen, um einen ordentlichen Vorsprung herauszuholen. Die Idee, gegen ihn zu kämpfen, hatte er zuvor verworfen. Der Typ war ihm körperlich überlegen, die Chancen also ungleich verteilt. Im Laufen hingegen war David schon immer gut gewesen.

Doch er kam nicht weit.

Sein Entführer war überhaupt nicht überrascht und reagierte sofort – und er war schnell. Er rempelte David in vollem Lauf einfach um. David stürzte, überschlug sich auf dem Boden und prallte mit dem Rücken gegen den Stamm einer gewaltigen Eiche.

Noch bevor er sich davon erholen konnte, legte der Mann ihm einen Arm um den Hals und riss ihn hoch.

David schrie auf.

»Kennst du das Vaterunser?«, fragte der Mann dicht an seinem Ohr, und David roch Pizza und Knoblauch in seinem Atem. »Wenn ja, würde ich dir raten, jetzt zu beten.«

Dann bugsierte er ihn im Klammergriff auf die Kirche zu, die wie ein Mahnmal des Bösen vor dem Nachthimmel aufragte.

4.

In einem Moment sprach die Unbekannte noch, im nächsten Moment wurde sie von den Füßen gerissen und gegen die Holzbalustrade geschleudert, wo sie reglos liegen blieb.

Jan brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was passiert war.

Er selbst befand sich noch im Schatten der Tauchglocke, doch dort, wo die Frau lag, fiel erneut Mondlicht auf die Planken der Seebrücke. In ihrem Rücken, eine Handbreit links der Wirbelsäule, war ein Loch in den Mantel gerissen, wie es ein Projektil hinterließ. Einen Schuss hatte Jan nicht gehört. Das Projektil hatte ihren Körper auf der Vorderseite verlassen und ihr den Umschlag aus der Hand gerissen.

Jan ließ sich zu Boden fallen, robbte auf dem Bauch zu ihr hinüber, packte sie am Fußgelenk und zerrte sie mit sich in den Schatten, wo er sie herumdrehte und ihren Oberkörper auf seine Beine zog. Der Mantel war am Brustkorb triefend nass von ihrem Blut, und Jan ahnte, dass die Wunde an der Vorderseite verheerend war.

Er wusste, er konnte nichts mehr für sie tun, tastete aber trotzdem unter dem Schal nach ihrem Puls. Seine Hände zitterten, er spürte Panik in sich aufsteigen und musste sich mit seinen eigenen Worten beruhigen.

»Komm schon …«, flüsterte er. »Ich bring dich hier raus, wir schaffen das.«

Sie stöhnte leise auf. Da war doch noch Leben in ihr.

»Hey, halt durch, ich hole Hilfe«, sagte Jan, wohl wissend, dass er sie anlog. »Wie ist dein Name? Wie heißt du?«

Ihre Lippen bewegten sich, doch Jan hörte nichts. Er beugte sich hinunter, brachte das Ohr ganz dicht an ihren Mund.

»Nelia …«

Dann erstarrten ihre Augen, und ihr Körper erschlaffte.

»Nein, nein, nein, komm schon, du musst wach bleiben!«

Doch es war zwecklos. Da war kein Puls mehr. Sie war tot, und Jan hatte keine Zeit zu verlieren, sonst wäre er bald genauso tot wie sie. Dessen ungeachtet hielt er die Frau, die sich Nelia genannt hatte, noch einen Augenblick fest, bevor er den toten Körper vorsichtig auf die überfrorenen Planken legte – irgendwie hatte er das Gefühl, ihr diese Sekunden schuldig zu sein. Dabei bemerkte er den Umschlag, den sie ihm hatte reichen wollen, griff danach und steckte ihn ein.

Schließlich schob er sich flach auf dem Bauch von ihr weg in eine Position, aus der er Sicht auf die Küste hatte.

Von dort kamen drei Personen.

Sie waren noch ganz vorn auf der Seebrücke, gingen weit auseinander, versetzt, und wechselten immer wieder die Positionen, um kein leichtes Ziel abzugeben. Sie kamen, um ihre Arbeit zu Ende zu bringen. Sobald Jan sich aus dem Schutz der Tauchglocke herausbewegte, würde ihn eine Kugel aus dem Präzisionsgewehr töten wie zuvor Nelia. Wahrscheinlich gab es noch eine vierte Person, irgendwo verborgen, mit Blick auf die Seebrücke. Blieb Jan liegen, wo er war, würden die drei Typen ihn hier mühelos erledigen können. Jan hatte nur ein Messer dabei, keine Schusswaffe. Er würde sich nicht verteidigen können.

Sein Blick wechselte zwischen Nelias Leiche und dem weihnachtlich beleuchteten Küstenstreifen hin und her auf der Suche nach einer Lösung. Hilfe konnte er nicht erwarten, niemand trieb sich nach Mitternacht bei diesen Temperaturen hier herum. Nelia hatte den Ort ausgesucht, weil sie ihn für sicher und überschaubar hielt, und genau das kam ihren Mördern jetzt zugute. Jan fragte sich, warum Nelia, die ihn ja lange Zeit vom Land aus auf der Seebrücke beobachtet hatte, ihre Verfolger nicht bemerkt hatte. Hatte sie sie im Schlepptau gehabt? Oder Jan selbst? Wussten sie, wer er war, oder war es ihnen in erster Linie darum gegangen, Nelia zum Schweigen zu bringen?

Missing Order, schon mal davon gehört?

Ihre letzten Worte schossen ihm durch den Kopf, doch er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Um diese Dinge würde er sich später kümmern.

Wenn es denn ein Später gab für ihn!

Jan wusste, er hatte nur eine Chance, und selbst die bedeutete den beinahe sicheren Tod.

An den drei Männern kam er nicht vorbei, also musste er vor ihnen flüchten. Durchs Wasser. Die dunklen Fluten würden ihn vor Blicken schützen, zugleich aber die Temperatur des Wassers von der ersten Sekunde an gegen ihn arbeiten. Es war ein Spiel gegen die Zeit mit ungewissem Ausgang. Jan schätzte ab, wie lange er benötigte, um an Land zu schwimmen, berechnete dabei einen großen Bogen ein, um nicht zu nahe an der Seebrücke entlangschwimmen zu müssen. Im besten Fall fünf Minuten, schätzte er.

Fünf Minuten in fünf Grad kaltem Wasser.

Wie lange konnte ein Mensch bei solchen Temperaturen im Wasser überleben? Jan wusste es nicht, aber bevor er sich von diesen Männern töten ließ, startete er lieber einen Versuch. Ein paar Regeln, wie man sich in kaltem Wasser zu verhalten hatte, kannte er und wusste daher, er brauchte eine Minute, um sich auf das Schwimmen vorzubereiten.

Eine Minute war lang, wenn drei Männer unterwegs waren, ihn zu töten.

Jan warf einen letzten Blick auf die Brücke. Die Männer bewegten sich jetzt nur noch langsam vorwärts, stoppten zwischendurch immer mal wieder und gaben sich Zeichen. Keiner wollte als Erster auf den Feind treffen.

Jan schob sich bäuchlings unter dem hölzernen Geländer durch und ließ sich dann an der Kante hinab, bis seine Füße ins Wasser eintauchten. Schon dieser erste Kontakt an Knöcheln und Schienbeinen fühlte sich entsetzlich an. Die Jeans, die er trug, konnte die Kälte nicht abhalten, etwas anders sah es hoffentlich bei der beinahe wasserdichten Daunenjacke aus. Jan klammerte sich an die Holzplanken und ließ sich langsam Stück für Stück hinab, das war allemal besser als der plötzliche Schock bei einem Sprung, zudem blieb die isolierende Schicht unter der Jacke länger erhalten, wenn er sich weniger bewegte. Seine Atemfrequenz erhöhte sich drastisch, als er bis zum Brustkorb eintauchte, und das, obwohl er die volle Kälte noch gar nicht zu spüren bekam. Jan wusste, er musste mit dem Schwimmen warten, bis seine Atemfrequenz sich normalisiert hatte, sonst würde er keine zwei Meter weit kommen. Aus seiner Position im Wasser konnte er die Männer oben auf der Brücke nicht mehr sehen, glaubte aber, die Vibrationen ihrer Schritte im Holz zu spüren.

Die Zeit drängte, doch Jan kämpfte gegen die Panik an, hielt still, brachte seine Atmung unter Kontrolle und spürte, wie die Muskeln in den Beinen taub zu werden begannen.

Die Männer sprachen nun leise miteinander. An ihrem Ende war die Seebrücke durch die Taucherglocke und die Aufbauten etwas unübersichtlich, die Männer würden nicht einfach drauflosstürmen, da sie ihn irgendwo dort vermuteten und nicht wissen konnten, dass er unbewaffnet war.

Jetzt, sagte Jan still zu sich selbst, löste die klammen Finger von der Planke und tauchte bis zum Hals ins Wasser. Sofort lief es im Nacken unter die Jacke, ein Gefühl, als würde ihm ein Messer in den Rücken gestoßen. Jan wollte vermeiden, ganz unterzutauchen, stattdessen drehte er das Gesicht von der Seebrücke weg, weil es das Mondlicht spiegelte, sein dunkles, langes Haar ihn von hinten aber praktisch unsichtbar werden ließ. Er stieß sich von einem Holzpfahl ab und packte einen der Pfeiler, mit denen die Tauchglocke im Meeresboden verankert war, riss die Hand aber sofort zurück, weil das Metall so eiskalt war, dass seine Haut daran festgefroren wäre.

Er musste schwimmen.

Bleib ruhig und schwimm langsam, nur keine Panik.

Das war leichter gesagt als getan. Kälte und Wasser machten ihm nun mehr Angst als die Männer. Es war, als zerre eine übermenschliche Macht an ihm, der er nichts entgegenzusetzen hatte.

Vielleicht hätte er auf der Brücke bleiben und kämpfen sollen.

Jan entfernte sich parallel zum Ufer einige Meter von der Brücke, dann wechselte er den Kurs, hielt direkt auf Grömitz zu, wandte das Gesicht aber nach wie vor von der Brücke ab. Dadurch konnte er nicht sehen, was da oben vor sich ging, und die Stimmen der Männer hörte er auch nicht mehr. Hin und wieder schwappte ihm eine kleine Welle gegen das Gesicht, Wasser lief ihm in Ohren, Mund und Nase, und Jan stellte fest, dass man sogar im Gehörgang kälteempfindlich sein konnte.

Plötzlich flammte eine Taschenlampe auf.

Eine runde Scheibe aus Licht wanderte über die vom Wind leicht bewegte Wasseroberfläche. Eine zweite gesellte sich dazu, aber sie suchten dicht bei der Brücke, nicht in der Entfernung, die Jan bereits zurückgelegt hatte. Er wollte jedoch kein Risiko eingehen und tauchte nun unter. Es war ein zutiefst beängstigendes Gefühl, so als schlösse sich über ihm ein Sargdeckel, und die Kälte biss ihm gnadenlos ins Gesicht. Nach nur fünf Schwimmzügen musste er wieder auftauchen und schaffte es kaum, nicht laut nach Luft zu schnappen. Irgendwo links von ihm suchten sie weiterhin, weit genug entfernt, das Licht erreichte ihn nicht. Jan hielt nun nicht mehr direkt auf die Küste zu, sondern schwamm in einer schrägen Linie von der Seebrücke fort. Wenn die Männer nicht blöd waren, würden sie sich aufteilen. Einer blieb auf der Brücke, während die anderen rechts und links davon den Strand absuchten.

Jan wollte schneller schwimmen, um einen größeren Vorsprung herauszuholen, doch seine Muskeln weigerten sich. Sie wurden steifer und verkrampften sich, zudem bekam er kaum noch Luft in die Lunge gepumpt. Statt schneller wurde er immer langsamer, und nachdem er vielleicht fünf Minuten im Wasser war, ging plötzlich gar nichts mehr. Jan verlor die Kontrolle über seinen Körper, die Muskeln versagten den Dienst. Er ging unter, ohne etwas dagegen tun zu können.

Das war’s, schoss es ihm durch den Kopf.

Er, der mit beinahe jeder Situation fertigwurde und sich schon so oft aus lebensbedrohlichen Lagen befreit hatte, kam gegen das kalte Wasser der Ostsee nicht an. Sein Körper gab auf, sein Verstand jedoch nicht. Er musste an Rica denken, die allein mit Ragna, ihrem Wolfshundrüden, im Hammertal auf ihrem einsam gelegenen Hof auf seine Rückkehr wartete. Für sie wollte er leben, unbedingt, er ertrug den Gedanken nicht, dass sie vergebens auf ihn wartete und irgendwann die Nachricht von seinem Tod von einem Polizisten entgegennehmen musste.

Plötzlich spürte Jan Grund unter den Füßen. Er war vielleicht noch zwanzig Meter vom rettenden Ufer entfernt, das Wasser wurde flacher. Von irgendwoher holte er ein letztes bisschen Kraft, mobilisierte seinen Willen, zwang sich, die Beine zu bewegen. Als Zehnjähriger hatte Jan sich ein Bein gebrochen und vier Wochen einen Gips tragen müssen, und so, wie sich damals die erste Bewegung angefühlt hatte, nachdem ihm der Arzt den Gips abgenommen hatte, fühlte es sich jetzt wieder an.

Steif, schmerzhaft, beinahe nicht zu schaffen.

Aber es gelang ihm. Mühsam stieß er sich ab, durchbrach die Wasseroberfläche, rang nach Atem, den seine Lunge aber nicht aufnehmen wollte, stolperte vorwärts, geriet abermals unter Wasser, kämpfte sich heraus und krabbelte auf allen vieren weiter, bis er durch die dünne Eisschicht am Strand pflügte wie ein Eisbrecher, um schließlich im feuchten Sand zusammenzubrechen.

Keine Zeit, sagte er sich. Keine Zeit, um auszuruhen. Sie kommen, du musst hier weg, sonst war alles umsonst.

Jan stemmte sich hoch. Er zitterte am ganzen Körper, seine Zähne schlugen aufeinander, die nasse Kleidung klebte wie eine zweite Haut an ihm. Er musste sie loswerden, sonst wäre der Effekt der Auskühlung der gleiche wie im Wasser. Bis zum Hotel, in dem er ein Zimmer genommen hatte für diese eine Nacht, waren es vielleicht fünf Minuten. Zehn, so langsam, wie er war. Zwanzig, wenn er wegen der Männer Umwege in Kauf nehmen musste.

Als Jan sich umschaute, sah er eine Taschenlampe weiterhin auf der Seebrücke. Zwei Gestalten liefen aber in Richtung Strand, einer davon mit der zweiten Taschenlampe, deren Licht auf und ab hüpfte. Mühsam und unter Schmerzen kämpfte Jan sich auf die Beine und stakste los, geradewegs über den nicht sehr hohen Deich auf die Häuserfront zu, wo er schließlich in einer unbeleuchteten Gasse verschwand.

5.

Als Erstes fiel David Stoll die Temperatur auf.

Innerhalb der dicken Mauern der Kirche schien es noch kälter zu sein als draußen, ein fester, eisiger Block, der die Atemluft vor dem Gesicht kondensieren und ihn erschauern ließ.

Hier kann es keinen Gott geben, schoss es ihm durch den Kopf.

Er war mit seinem Chor in vielen Kirchen gewesen und konnte nicht behaupten, überall Gottes Anwesenheit gespürt zu haben, aber mindestens waren die Kirchen immer angefüllt gewesen mit Spiritualität, Glauben und Nächstenliebe, und letztendlich waren das wahrscheinlich Attribute, die Göttlichkeit ausmachten. In dieser Kirche war nichts davon zu spüren. Wie auch? Es brauchte Menschen dafür. Religiöse Menschen.

David bekam einen Stoß in den Rücken und stolperte ins Kirchengewölbe. Hinter ihm schlug die schwere Tür aus Eichenholz zu, und das Geräusch schwappte wellenartig durch das schmale Langhaus, das sich bis zum Altarraum mit der Orgelempore aus Holz und dem Taufstein erstreckte.

Der Altar war klein und schmucklos, das galt für die ganze Kirche. Nirgends war ein Kreuz zu sehen. Die zehn Bankreihen bestanden aus einfach gezimmerten, grau lackierten Bänken ohne Polsterung. David erkannte, dass die Fenster von außen nicht etwa mit Brettern vernagelt waren, weil das Glas fehlte oder defekt war, sondern, um es zu schützen. Sämtliche Fenster waren intakt, auch das schmale, hoch aufschießende Buntglasfenster im Giebel des Altarraums. Der Großteil des Kirchenschiffs lag im Halbdunkel, das wenige, flackernde Licht stammte von roten Kerzen auf dem Altar – außerdem drang elektrisches Licht durch den schmalen Spalt einer offen stehenden Tür, die wohl in die Sakristei führte.

Dort glaubte David, eine Bewegung wahrzunehmen. Er fuhr herum und packte den Türknauf der Eingangstür, nur um festzustellen, dass die Tür nun verriegelt war.

Jemand pfiff leise ein Lied. David kannte die Melodie – natürlich kannte er sie. Es war sein Lieblingslied, von dem er selbst eine Version eingesungen und damit bei YouTube ziemlich erfolgreich gewesen war.

Hallelujah.

Dann setzte leiser Gesang ein, er kam aus der Sakristei.

I’ve heard there was a secret chord, that David played, and it pleased the Lord … Hallelujah …

Langsam und vorsichtig drehte sich David in Richtung des beleuchteten Türspalts am anderen Ende des Kirchenschiffs.

Wer auch immer das Lied von Leonard Cohen sang, hatte seinen Namen in der Textzeile besonders betont, und es war auch nicht das erste Mal, dass ihn jemand mit diesem bekannten Lied in Verbindung brachte – aber zum ersten Mal machte es ihm höllische Angst.

David presste die Knie zusammen, hielt eine Hand vor sein Geschlecht, die andere über der Brust verschränkt an seinen Oberarm geklammert. Es war der verzweifelte Versuch, sich vor Kälte und Blicken zu schützen. Die Angst fraß sich tief in seine Gefühle und Gedanken, und er war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Die männliche Stimme wiederholte die Liedstrophe noch einmal, dann setzte wieder leises Pfeifen ein, schön und melodisch, viel besser als der Gesang vorher, und zwischen den massiven Steinwänden der Kirche hallte jeder Ton dutzendfach wider.

»Bitte … bitte nicht …«

Er konnte den Blick nicht von dem Türspalt wenden, aus dem Licht ins Kirchenschiff fiel. Ein Schatten huschte daran vorbei, dann noch einer.

»Komm doch näher, David.« Die Stimme klang rau und hart.

David zuckte zusammen, machte einen Schritt rückwärts und spürte die kalte Tür mit ihren spitzen Absätzen im nackten Rücken.

»Wir brauchen dich hier vorn, auf dem Altar.«

Wohin? Wohin konnte er? Es gab keinen Fluchtweg. Die Tür verschlossen, davor sein Entführer, die Fenster vernagelt. Vielleicht gab es eine weitere Tür, wenn, dann in der Sakristei.

Er saß in der Falle, wer auch immer sie waren, sie konnten mit ihm tun, was sie wollten. David brach in Tränen aus. Er hatte nie so ein Mann sein wollen, der heulte, statt zu kämpfen, der feige bettelte, statt vor Wut und Entrüstung zu schreien, doch er hatte sich auch noch nie in Lebensgefahr befunden, und nun brach er darunter zusammen.

»Bitte nicht …«, bettelte er.

Freiwillig würde er sich keinen Zentimeter auf den Altar zubewegen, sie müssten schon kommen und ihn holen.

Die Tür zur Sakristei schwang auf, gleichzeitig wurde darin das Licht gelöscht. Nur die in der kalten Zugluft flackernden Kerzen erhellten die Kirche notdürftig. Alles, was David jetzt noch erkennen konnte, waren zwei Gestalten, die aus der Sakristei vor den Altar traten. Sie trugen schwarze Mönchskutten mit Kapuzen und hielten die Köpfe gesenkt, sodass ihre Gesichter beschattet und nichts weiter als schwarze Flächen waren.

David wähnte sich in einem Hollywood-Horrorfilm – oder wahlweise in einem Albtraum, aber auf keinen Fall konnte das hier die Realität sein. So etwas gab es nicht, durfte es nicht geben!

Die beiden Gestalten stellten sich nebeneinander auf, als befolgten sie ein Ritual, dann hoben sie die Köpfe, aber da sich die Kerzen hinter ihnen befanden, blieben die Gesichter für David weiterhin schwarze Flächen. Ihr Anblick schlug ihn derart in den Bann, dass er zu zittern und heulen aufhörte.

»Komm her, oder wir holen dich«, sagte die tiefe männliche Stimme von eben.

David schüttelte den Kopf. Dann fuhr er herum, ergriff erneut den Türknauf der Kirchentür, zerrte und rüttelte daran, schlug mit der flachen Hand gegen das Holz und brüllte: »Hilfe … lasst mich raus … lasst mich um Gottes willen hier raus!«

So lange schlug er gegen die Tür, bis seine Handflächen schmerzten und er plötzlich die beiden Gestalten in Mönchskutten hinter sich spürte.

Sie drückten ihn gegen die Tür.

»Gottes Wille existiert hier nicht …«, sagte eine Stimme dicht an seinem Ohr. David roch teures Parfum und den Geruch von Marihuana im Atem des Sprechers. Sie packten seine Arme und zerrten ihn Richtung Altar. David wehrte sich, stemmte die bloßen Füße gegen den Steinboden, schrie um Hilfe, wand sich in ihren Griffen, bis einer von beiden ihm mit der Faust mitten ins Gesicht schlug. Blut schoss aus Davids Nase, Benommenheit brach seine Gegenwehr, ohne dass er vollkommen das Bewusstsein verlor.

Jetzt musste er es sich gefallen lassen, von den beiden Kuttenträgern zum Altar geschleift zu werden. Vor dem steinernen Quader von anderthalb Metern Höhe legten sie ihn auf den Boden. Dann packte einer seine Achseln, der andere nahm die Füße, und mit vereinten Kräften wuchteten sie ihn auf den Altar. Eine der Kerzen fiel um, polterte zu Boden, erlosch.

Rücklings lag David da, und noch ehe er wieder zur Besinnung kam, hatte man ihn an die Steinplatte gefesselt. Bewegen konnte er nur noch Hals und Becken. Er bäumte sich auf, zerrte an den Fesseln, doch es nützte nichts. Einer der Männer beugte sich über ihn, und jetzt endlich konnte er im Kerzenschein dessen Gesicht erkennen.

»Was …«, stieß David erschrocken aus.

»Na, dämmert’s?«, sagte der lächelnd. »Sieh, wohin dich deine Arroganz gebracht hat. Wo ist er denn jetzt, dein Gott? Wollen wir mal schauen, ob er nicht vielleicht doch noch einschreitet?«

Dann hob der Mann ein Messer und senkte es auf Davids Brust.

»Ey, Moment, was wird das?«, fragte der zweite Mann. »Ich dachte …«

»Halt die Fresse, du sollst hier filmen!«, wurde er barsch unterbrochen. Und dann schnitt der Mann David die Haut vom Hals bis zum Bauchnabel auf.

»Hallelujah«, hörte David ihn über seine eigenen Schreie hinweg inbrünstig brüllen.

6.

Aufgeben erschien ihm leicht. Viel leichter, als weiterzumachen.

Sich einfach in eine der Nischen zwischen die Häuser setzen, einen Moment ausruhen, einschlafen – um dann nie wieder aufzuwachen.

Doch Jan kämpfte dagegen an.

Für sich selbst, für Rica, für die Unbekannte, die sich Nelia genannt hatte und da draußen auf der Seebrücke gestorben war, weil sie sich mit ihm getroffen hatte. Was immer sie entdeckt, welches Geheimnis sie ihm hatte verraten wollen, es musste groß und wichtig genug sein, sie dafür zu töten. Jemand betrieb hier einen immensen Aufwand, schickte ein ganzes Team inklusive eines Scharfschützen, ging das Risiko ein, Aufsehen zu erregen, Polizei und Medien auf sich aufmerksam zu machen.

Ihr Tod durfte nicht umsonst gewesen sein.

Jan fühlte sich verpflichtet, Nelias Geheimnis aufzudecken.

Missing Order, schon mal davon gehört?

Das waren ihre letzten Worte gewesen, bevor das Projektil sie getötet hatte: Es bedeutet, dass du dir alles bestellen kannst, was du willst … auch einen Menschen …

Missing Order bedeutete übersetzt fehlende Bestellung, und das passte nicht zu der Erklärung. Jan konnte sich keinen Reim darauf machen, aber wie sollte er auch? Sein Hirn lief im Notfallmodus und versuchte verzweifelt, einen unterkühlten Körper am Leben zu halten. Die nasse Kleidung fühlte sich schon gar nicht mehr so kalt an, und Jan wusste, wie gefährlich das war. Denn der Grund dafür war nicht Gewöhnung, sondern das dramatische Absinken seiner Körpertemperatur. Zudem zitterte er unkontrolliert, und seine Zähne schlugen so laut aufeinander, dass er glaubte, sich mit diesem Geräusch zu verraten. Denn ansonsten war es still in der Stadt, nur der Seewind heulte hier und dort an Hausecken oder Fallrohren. Die Menschen schliefen in ihren warmen, schützenden Häusern, und Jan spürte das tiefe Verlangen, an eine der Türen zu klopfen oder auf eine Klingel zu drücken, um hineingelassen zu werden. In die lebensrettende Wärme. Aber er durfte diese Menschen nicht in Gefahr bringen, deshalb musste er zurück ins Hotel.

Nur, wie sollte er dahin kommen?

Er kannte sich nicht aus in Grömitz und hatte sich in den dunklen Straßen verlaufen, wusste nicht einmal mehr, in welcher Richtung das Hotel lag. Wie lange war er schon unterwegs, seitdem er aus dem Wasser heraus war? Höchstens zehn Minuten, aber selbst dieser kurze Zeitraum war viel zu lang.

Immer wieder blieb er an Straßenecken stehen, um sich zu orientieren und nach seinen Verfolgern Ausschau zu halten. Am Strand waren sie zu langsam gewesen, er hatte ungesehen zwischen den Häusern verschwinden können, doch war es ein Leichtes für sie, seine Spuren zu finden. Sicher hatten sie an der Stelle, wo er die dünne Eisschicht durchbrochen hatte, seine Fußabdrücke im Sand entdeckt, und so konsequent, wie die Männer vorgingen, konnte Jan nicht darauf hoffen, dass sie einfach aufgaben.

Weiter, er musste weiter.

Dieses verdammte Hotel finden.

Wie hieß es überhaupt? Hotel Sonnenschein? Haus Sonne? Irgendwie so. Selbst wenn Jan sich an den Namen erinnerte, könnte er sich nicht einmal von Google Maps dorthin leiten lassen, denn sein Handy hatte das Bad in der Ostsee nicht überlebt. Es war ein billiges Ersatzhandy mit einer Prepaidkarte, das keine Rückschlüsse auf seinen Besitzer zuließ. Sein eigenes Handy hatte Jan zu Hause gelassen.

Dort im Hammertal, auf ihrem Hof in der Einsamkeit, war ihm diese Vorsichtsmaßnahme noch übertrieben vorgekommen – jetzt war er froh darüber.

Die Straße endete an einem offenen Platz, an dem die Straßenlaternen die ganze Nacht über brannten. Jan erinnerte sich, er hatte diesen Platz auf seinem Weg vom Hotel zur Seebrücke überquert. Jetzt wusste er wieder, wie er zum Hotel kam, und musste den Impuls niederringen, einfach loszurennen. Das Verlangen nach Wärme war übermächtig, dennoch blieb er zunächst im Schutz der Häuser stehen, beobachtete und lauschte. Enorme Überwindung kostete es ihn, so still zu verharren und die Kälte zu ertragen, wo doch unweit von hier ein warmes Zimmer und eine heiße Dusche auf ihn warteten.

Und dann hörte er sie.

Schritte auf dem Pflaster. Leise Stimmen. Irgendwo hinter ihm.

Jan schob sich um die Hausecke und fand einen schmalen Spalt zwischen Haus und Garage, nicht mehr als einen halben Meter breit. Mülltonnen parkten darin, weiter hinten zwei Fahrräder, angekettet an das Fallrohr der Regenrinne. Es war eine Sackgasse, eine Falle, aber ein anderes Versteck fand Jan auf die Schnelle nicht. Als er sich hineindrückte, fasste er in die Dornen eines kahlen Rosenstocks, der an der Hauswand emporrankte. Seine Hände waren taub von der Kälte, doch diesen Schmerz spürte er.

Jan hockte sich hinter die Mülltonnen und holte sein Messer heraus. Kampflos würde er sich nicht ergeben, auch wenn er es mit seinen gefühllosen Händen kaum festhalten konnte.

Mit äußerster Willenskraft presste er die Kiefer zusammen, um seine Zähne am Klappern zu hindern. Für den Rest seines Körpers brachte er das nicht fertig, der zitterte weiter vor sich hin. Vorsichtshalber schob Jan sich ein Stück von den Mülltonnen weg, um nicht mit ihnen in Berührung zu kommen und sein Zittern auf die Resonanzräume zu übertragen.

Die Schritte kamen näher. Leise nur, aber da die Stadt ansonsten still war, hörte Jan sie. Dann blieben sie stehen, eine Taschenlampe flammte auf, und der Lichtstrahl schoss in den schmalen Spalt zwischen Haus und Garage.

Jan hielt den Atem an.

Sehen konnte er seine Verfolger nicht.

»Nichts«, sagte einer, die Taschenlampe erlosch. »Scheiße, wir sind im Arsch, wenn wir den nicht finden.«

Sie gingen weiter.

Mindestens zwei Minuten wollte Jan abwarten, ehe er sein Versteck verließ. Innerlich zählte er die Sekunden. Eine unerträglich lange Zeitspanne, in der Füße und Finger abzusterben schienen, er das Gefühl für seinen Körper verlor und seine Gedanken schwammig wurden. Er versuchte, sich den restlichen Weg zum Hotel vorzustellen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Gedanken an Rica und Ragna mischten sich mit den Bildern auf der Seebrücke, die junge Frau, wie sie von den Füßen gerissen wurde, das Loch in ihrem Mantel, ihr Blut an seiner Hand … der Umschlag.

Jan hätte gern einen Blick hineingeworfen, doch die Finger waren steif gefroren.

Wieder war eine Frau seinetwegen erschossen worden.

Vielleicht sollte er aufhören damit, den Retter zu spielen, und endlich kapieren, dass er nur Unheil über die Menschen brachte, die sich Hilfe suchend an ihn wendeten.

Vielleicht sollte er einfach hier einschlafen …

Jan spürte die Lider schwerer und schwerer werden und gab es auf, dagegen anzukämpfen. Er hätte ohnehin keine Kraft mehr, vom Boden aufzustehen.

Was soll’s, dachte er.

Schlaf einfach ein …

7.

Wie ein Stromstoß schoss die Vorahnung durch Rica Kantzius’ Körper.

Sie zuckte auf dem Schreibtischstuhl zusammen, und auch Ragna, der Wolfshund, der eingerollt neben ihr am Boden lag, bemerkte die Veränderung und schaute zu Rica auf.

Rica nahm den Blick vom Computerbildschirm, blinzelte, um die Verwirrung unter Kontrolle zu bekommen, beugte sich dann zu Ragna hinunter und streichelte ihm den Kopf. »Alles in Ordnung, kannst weiterschlafen.«

Ragna reichte das, ihr selbst aber nicht.

War wirklich alles in Ordnung? Wenn ja, was war das gerade gewesen?