amor et mors - Ulla Fichtner - E-Book

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Ulla Fichtner

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Beschreibung

Im Mittelalter war die gesellschaftliche Stellung der Frau generell unterhalb der des Mannes angesiedelt, was mit massiven Benachteiligungen einherging. Sie wurden als Menschen minderer Art betrachtet. Dennoch ließen sich nicht alle Frauen von diesem Unrecht beeinflussen und unterdrücken. Geberga, die als Christin in einem Kloster erzogen wurde und Marie, die als Halbjüdin nach dem Tod ihrer Mutter versucht, zu überleben, führt das Schicksal zusammen. In einer Zeit von unvorstellbarem Elend und unbeschreiblichen Entbehrungen brechen die beiden jungen, hübschen und hochintelligenten Frauen aus den vorherrschenden Denkmustern aus und versuchen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Auf dem Weg in eine für sie unabhängige Zukunft geraten sie in mancherlei abenteuerliche Situationen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 1

Der Tag versprach schon in aller Frühe schrecklich zu werden, da er mit einem unheilvollen Omen begann. Denn Geberga, die nach einer von Alpträumen gequälten Nacht, schweißgebadet aufwachte, sah direkt in das Augenpaar einer Eule, die sich auf dem offenen Fenstersims ihrer Kemenate niedergelassen hatte.

Mit ihren auffallend großen, starr nach vorne gerichteten Augen und den Augenlidern, die sie von oben nach unten über die Augäpfel zog, erschien ihr Gesicht im ersten Moment menschlich. Geräuschlos hatte sie sich dort niedergelassen und drehte ihren Kopf um 180 Grad. Geberga bekreuzigte sich, denn das Erscheinen dieses Vogels verhieß nichts Gutes. Für viele Menschen des Mittelalters stand die Eule symbolhaft für das jüdische Volk, dem man spirituelle Verbindung zu den Mächten der Finsternis nachsagte.

Und dieser Einfluss war nach Ansicht Gebergas schon nahe.

Vor nicht einmal zwei Monaten verließ Geberga, die aus einer Landadelsfamilie mit riesigen Besitztümern stammte, das Nonnenkloster. In ihm hatte sie für einige Jahre gelebt, um auf die Ehe vorbereitet zu werden.

„Kirchliche Frömmigkeit“, so meinte ihr gelehrter, aber harter Vater Georg Albrecht von Bramburg damals, als er sie dorthin schickte, „hat noch niemandem geschadet, am wenigsten den Frauen. Ihnen kann der Glaube nicht früh genug moralischen Halt geben, und wo kann ein Mädchen besser auf die Führung eines Haushalts vorbereitet werden, als unter Frauen?

Hier kann sie lernen, wie man Brot backt, kocht, wäscht, die Betten macht, Leinen und Wollstoffe zuschneidet und Seide bestickt. Kein Mann, dem sie einmal ein Eheweib sein wird, soll sagen, dass sie aus den Wäldern kommt.“

Geberga erinnerte sich an sein höhnisches Gelächter, dass er damals, als er dies von sich gab, kaum zu verbergen vermochte.

Sie wuchs in einer Zeit auf, in der die Reaktion auf die Geburt eines Mädchens keine allzu große Freude auslöste. Ein Mädel zu gebären, wurde als eine Strafe Gottes angesehen. Und es war die Ansicht üblich, dass Frauen von Natur aus eitel, hochmütig, listig, lügnerisch, zanksüchtig und ungebildet seien. Sie galten, im Gegensatz zu den Männern, sowohl geistig wie moralisch als weitaus minderwertiger.

Schon Gebergas schwere Entbindung unterstrich diese vorherrschende Meinung.

Es war ein Karfreitag, an dem ihre Mutter Anna mit langanhaltenden Wehen im Kindsbett lag.

Die Schmerzen steigerten sich stündlich, aber nichts geschah.

Ihre beiden älteren Brüder hatte die Mutter ohne jegliche Komplikationen entbunden und es sah so aus, als ob dieses Kind der Mutter den Tod bringen würde und selbst nicht lebensfähig wäre.

Die Hebamme, deren Aufgabe es war, für eine reibungslose Geburt zu sorgen, und in deren Händen die gesamte Verantwortung lag, wusste um die Ausweglosigkeit der Situation. Sie war damit einverstanden, dass, auf Drängen Georg Albrechts, ein Arzt herbeigerufen wurde, obwohl dessen Ausbildung das Fach Geburtshilfe nicht mit einschloss.

Der eiligst hinzugezogene Arzt war ratlos, als er Anna untersuchte. Alle Anwesenden zeigten sich tief erschüttert und betrübt. Sogar Georg Albrecht vergoss, entgegen seiner sonst so strengen Natur, einige Tränen. Ein Geistlicher wurde hinzugerufen, um für alle Fälle schon einmal die Sterbesakramente zu erteilen und durch Gebete unbedingt das Leben des Kindes zu retten.

Denn nach der Theorie des Augustinus, die zu jener Zeit vertreten war, konnte ein ungetauftes Kind nicht die ewige Seligkeit erlangen, die getaufte Mutter aber jederzeit.

Als letzten Ausweg sah dieser nur, dass man sich zum Altar der Gottesmutter begeben müsse, um dort anstelle eines Geschenkes ein Gelübde abzulegen.

So geschah es.

Georg Albrecht schwor, dass, wenn ein Junge geboren würde, er Gott und der Jungfrau Maria dienen und der Kirche beitreten solle. Wenn es etwas Minderwertigeres würde, dann wäre das Mädchen in einem passenden Orden unterzubringen.

Und siehe da, etwas Wundersames geschah.

Es dauerte nicht lange und Anna entband ein schlaffes Etwas, annähernd eine Fehlgeburt, die aussah wie eine tote Frühgeburt, so klein und zart, dass man sich schwer tat zu erkennen, was es denn sei. Froh waren alle nur, dass Anna die Entbindung überlebt hatte.

Einen Tag vor Pfingsten fand Gebergas Taufe statt, um sie von der Sünde der Erbschuld reinzuwaschen.

Die Taufe galt als unerlässliche Voraussetzung zur Erlangung des Seelenheils und um ihre Überlebenschancen zu erhöhen.

Sie wurde in einen rechteckigen Badezuber, der die Form eines Sarkophags hatte, gänzlich untergetaucht und man hatte den Eindruck, sie ertrinkt. Dabei wurde das Gelübde feierlich erneuert.

Umso verwunderlicher war es, dass ihr Vater ihr dennoch eine Bildung zukommen ließ.

In ihren ersten Jahren zu Hause lernte sie, wie es jeder Adelstochter zustand, zu reiten, Falken zu züchten, um sie bei der Jagd einzusetzen, Schach spielen, tanzen, singen, Gedichte vortragen, Geschichten erzählen sowie Romane und Poesie lesen.

Ohne Reiten zu können, wäre sie nach einer Eheschließung nicht in der Lage gewesen, die Verantwortung für ein Gutsgebiet zu übernehmen. Reiten war ebenfalls wichtig, um an Wallfahrten oder Turnieren teilzunehmen, wobei Letzteres meist nur von der Tribüne aus geschah. In der Falknerei waren die Frauen den Männern überlegen, sie hatten ein besseres und einfühlsameres Händchen für die sensiblen Tiere.

Alle anderen Aktivitäten galten dem Zeitvertreib und der Unterhaltung.

Wahrscheinlich hatte Georg Albrecht, als er Geberga diese umfassende Ausbildung zuteil kommen ließ, tief in seinem Inneren verborgen, doch einen guten Kern und empfand etwas für Geberga.

Er hatte den Orden des Heiligen Benedikt, in den sie geschickt wurde, aus vielerlei Gründen und mit Bedacht ausgewählt.

In ihm verbanden sich römische Disziplin und mönchische Traditionen wie Armut und Keuschheit. Das schätzte Georg Albrecht als Ritter. Die Betonung der Handarbeit sowie Ablehnung einer übertriebenen Askese waren weitere wichtige Aspekte. Sie hielten Geberga offen für eine Zweierbeziehung. Außerdem, so Georg Albrecht, seien die Benediktinerinnen für ihre Gastfreundlichkeit bekannt, kümmerten sich rührend um die Armen und Kranken im Land und hatten Zeit, sich in Klosterschulen mit den Kindern aus adligen Familien zu beschäftigen. Denn Klöster waren zu dieser Zeit nicht nur Festungen des Glaubens, sondern ebenso der Wissenschaft sowie Bewahrer der Überlieferung des Wissens aus der Antike.

So geschah es, dass Geberga neben einer Erziehung der höfisch-ritterlichen Weltanschauungen, auf die sie in ihren ersten Lebensjahren zu Hause vorbereitet wurde, eine Einführung in geistliche Dinge in dem Kloster erfuhr, in das sie mit sieben Jahren kam.

Sie erlernte die lateinische Sprache und wurde in Geschichte unterrichtet. Die historische Lektüre verhalf ihr zu einer grammatisch-rhetorischen Festigkeit sowie zu einer moralisch-religiösen Besinnung.

Für ein Mädchen bekam sie somit eine ausgesprochen gute weltliche und geistliche Bildung mit auf ihren weiteren Lebensweg.

Geberga hieß, nach dem Willen ihres Vaters, wie die Tochter König Heinrichs I..

Ihr Erzeuger verehrte ihn, obwohl dessen Regentschaft schon über zweihundert Jahre zurücklag. Mit Heinrich I. nahm die sächsische Herrschaft in Deutschland ihren Anfang und damit das Zusammenwachsen der deutschen Stämme zu einer Einheit.

Er sorgte für einen verstärkten Burgenbau, besonders zur Ostgrenze hin zur Verteidigung gegen Ungarn, und für eine Neuorganisation des Heerwesens durch eine Verstärkung und Ausbildung eines gepanzerten Reiterheers.

Die von Bramburgs stammten ebenfalls aus sächsischem Geschlecht. Und so wie Heinrich I. wäre Georg Albrecht gerne gewesen.

Nach zwei Söhnen, Ludwig und Otto, war Geberga das dritte Kind. Ihr Vater, der sicher war, sie würde ein Junge werden, war enttäuscht, als er hörte, es ist ein Mädchen. Aber sie bekam, wie ihre Brüder, einen Vornamen, der eng in Verbindung mit Heinrich I. stand. Selbst die Geburt eines dritten Sohnes, nach Geberga, versöhnte Georg Albrecht nie mit seiner Tochter.

So war er hocherfreut, dass sich ihm die Möglichkeit bot, sie in einem Kloster unterzubringen, um so sein Gelübde zu erfüllen.

Was ihre Mutter zu all dem meinte, daran erinnerte sich Geberga nicht mehr. Hatte diese ihren Vater damals aus Liebe geheiratet oder wurde sie ohne ihre Zustimmung an den meist Bietenden verschachert? Was hatte sie überhaupt dazu gesagt, dass ihre einzige Tochter von Nonnen erzogen wurde, ihre drei Söhne in der Familie groß wurden?

Erst spät in ihrem Leben erfuhr Geberga selbst von dem Gelübde, dass ihr Vater bei ihrer Geburt abgelegt hatte und dass ihr und ihrer Mutter das Leben gerettet hatte. Und unter diesen Umständen verstand sie, warum sich Anna nie gegen ihren Mann auflehnte, wenn es sich um die Belange von Geberga handelte.

„Meine Brüder hatten eine unbeschwerte Kindheit“, dachte Geberga nur.

„Sie wuchsen hier in der Burg auf, unter der mildtätigen Aufsicht einer älteren Amme und der Dienstboten, denen sie so manchen Streich spielten.“

Doch für die Brüder brach mit sieben Jahren der Ernst des Ritterlebens an, nicht mit Lesen und Schreiben, das war eher etwas für die Mädchen und wurde ihnen erst später beigebracht. Ein bisschen Französisch, die internationale Sprache des Rittertums, etwas christlicher Katechismus, das reichte zuweilen für das ganze Leben. In diesem Alter wurden sie aus dem warmen elterlichen Nest geschmissen und verdingten sich als Pagen an fremden Höfen.

Im Mittelpunkt der Knabenerziehung stand in den ersten Jahren das Fechten und Reiten sowie die Jagd.

Ihnen wurde beigebracht, wie man mit Falken und Pferden umzugehen hatte und wie die Hetz-, Pirsch- und Vogeljagd ablief, um dann das erlegte Wild fachgerecht auszuweiden und zu zerlegen. Des Weiteren lernten sie, mit dem Schwert, der Axt und der Lanze zu kämpfen. Dort wurden sie geschickt zum Dienen erzogen, als Jagdhelfer, Schildknappe und Bote.

Einer ihrer Aufgaben bestand darin, den Herrn und die Gäste höflich zu bedienen. Neben höfischer Etikette lernten sie den Ehrgeiz des Wettkampfes und die Kameradschaft im Dienst. Ergänzt wurde der Unterricht durch Schwimmen, Ringen, Steinewerfen, Klettern, Laufen und Bogenschießen.

Der Fokus ihrer ‚ritterlichen Erziehung‘ lag aber eindeutig bei den sportlichen und militärischen Übungen sowie dem Erlernen der höfischen Umgangsformen, die musikalische und geistige Ausbildung hinkte hinterher.

Darin war Geberga ihren Brüdern eindeutig überlegen. Sie beherrschte das Lauten- und Harfenspiel perfekt.

Waren die Pagen fit genug, wurden sie mit vierzehn Jahren zum Knappen ernannt.

Bei Nichteignung blieb ihnen nur, die geistliche Laufbahn einzuschlagen.

Als Knappe hatten sie weitere sieben harte Jahre vor sich, um dem Ziel, Ritter zu werden, näher zu kommen. Oft hatten sie sich dann mit zwanzig Jahren die Sporen verdient und wurden in einer feierlichen Zeremonie zu Rittern geschlagen.

Ludwig und Otto hatten das Ritual hinter sich.

Die Gemeinschaft der Ritter erwartete von ihnen das immerwährende Bemühen um kavaliersmäßige Haltung. Sie erhielten dafür einen ehrenvollen Platz in einem Bund von Männern, die einander über alle Grenzen hinweg kannten und achteten.

Hadwig, der jüngste Bruder war mit seinen fast vierzehn Jahren erst auf dem Weg zum Ritter und hatte eine harte Zeit vor sich.

Ihre Mutter Anna, eine Geborene von Saarlberg, vermochte es nicht, ihren Kindern die Zeit zu widmen, die sie gern aufgewandt hätte. Sie war nicht in der Lage, ohne weiteres Beschäftigungen nachzugehen, die ihr selbst Freude bereiteten, da sie von ihren Pflichten als Hausfrau in Anspruch genommen wurde.

Immer dann, wenn ihr Mann nicht daheim war, sondern mit seinem Gefolge auf den eigenen Ländereien nach dem Rechten sah oder in einen Krieg zog, war Anna allein verantwortlich für die Burg und allem, was dazugehörte. Obwohl ihr eine große Schar von Dienstboten und Knechten zur Verfügung stand, zog ihr Mann letztendlich sie zur Rechenschaft, falls etwas nicht zu seiner Zufriedenheit erledigt wurde. Auch, wenn er nicht daheim war, die Notwendigkeit bestand, die Äcker zu pflegen und umzugraben, Bäume zu pflanzen und Wiesen zu bewässern. Arbeiten wie Eggen, Düngen, Säen, Mähen und Dreschen fielen entsprechend der Jahreszeiten immer an.

Georg Albrecht gehörte gewiss zu den tapferen und frommen Rittern seines Standes, der Tod und Teufel trotzte. Er hatte nichts gemein mit der wilden Horde von Draufgängern, die zwischen unwegsamen Wäldern und verwüsteten Dörfern die verängstigten Bauern ausraubte und ihr Leben bedrohte.

Zu seinen ritterlichen Tugenden zählten ‚hoher muot‘, das war die seelische Hochgestimmtheit, ‚zuht‘, darunter verstand man Anstand und Wohlerzogenheit, ‚mâze‘, damit war eine Mäßigung der Leidenschaften gemeint, ‚êre‘, bedeutete so viel wie Ansehen, Geltung und Würde, ‚triuwe‘ besagte, dass man Treue und Aufrichtigkeit besaß, ‚staete‘ bescheinigte Verlässlichkeit und Beständigkeit, ‚milte‘, schließlich stand für Freigiebigkeit.

Auf den Kreuzzügen lernte er, ein Streiter Gottes zu sein. Als Starker, der der Kirche und den Schwachen dient, den Armen, Kranken und Bedürftigen hilft.

Auf den Kreuzzügen überwand sein selbstloser Dienst die Unordnung der Welt und schaffte Gerechtigkeit.

In seiner Burg verloren sich die Wesenszüge der noblen Menschlichkeit und die ritterlichen Tugenden verblassten, so dass er sich in einen sittenstrengen, zuweilen despotischen Gatten und Vater wandelte, der keinen Widerspruch duldete. Jedes Familienmitglied und alle auf der Burg Lebenden hatten sich zu fügen.

Er nahm für sich in Anspruch schon immer das Richtige für seine Familie und die ihm anvertrauten Leute zu meistern. Und die ritterlichen Eigenschaften, die ihn bei seinen Streifzügen auszeichneten und zu denen Großzügigkeit, Fairness und Offenherzigkeit gehörten, schwanden augenblicklich dahin. Er verkümmerte zu dem landläufigen Bild vom mittelalterlichen Raubritter, der die Mitmenschen beraubte und erschlug.

Ererbt hatte er den Reichtum von seinem Vater, der wiederum von seinem und so weiter. Der erste Ritter der Familie verteidigte, mit anderen Männern desselben Schlages, zwischen unwegsamen Wäldern und verwüsteten Dörfern ein kleines Stück Land gegen Räuber. Dafür errichteten die verängstigten Bauern ihren neuen ‚Beschützern‘ einen hölzernen Turm auf einem künstlichen Hügel, umgeben mit einem breiten Wassergraben und Holzpalisaden.

Erst später wurde der Platz gefunden, auf dem die jetzige Burg errichtet wurde und das geschah nicht auf sächsischem Boden.

Die frühen Ritter derer von Bramburg waren eher abergläubisch als fromm und fragten wenig nach ethischen Normen.

Die Frau wurde nicht geachtet, die Ehefrau des Öfteren geschlagen, woran sich bis zu Gebergas Tagen hin nichts geändert hatte. Pferden gegenüber verhielten sie sich wesentlich behutsamer als zu den leibeigenen Mägden. Was keinem von ihnen eigen war, betraf jene noble Menschlichkeit, die als ritterlich bezeichnet wurde.

Doch allmählich vollzog sich ein Wandel, der die von Bramburgs erfasste. Ein neues Abenteuer lockte.

Man kämpfte nicht mehr gegen räuberische Fremde, sondern, ausgehend von ‚kirchlichen Reformen‘, im Kreuzzug gegen die orientalischen Heiden und vor allem gegenüber den Juden, diesen Gottesmördern.

Denn „Gott will es so“ ertönte der schreckliche Ruf der Kreuzzügler in der christlichen Welt und vollzog auf grausame Weise die Aufhebung des von höchster moralischer und weltlicher Stelle gebilligten Tötungstabus.

So empfand Georg Albrecht seine wahre Bestimmung und der Bibelspruch:

„Sehet, wir ziehen hinab, unseren Heiland zu suchen und Rache zu üben für ihn“, begleitete ihn stets.

Inzwischen hatte er für Geberga die, nach seiner Meinung, einzig wahre Bestimmung gefunden.

Ihre Eheschließung stand bevor, ein öffentliches Ereignis mit ausgedehnten Schmausereien und Ritterspielen, möglichst unter freiem Himmel, wenn das Wetter es zuließ. Alles war bis aufs Kleinste vorbereitet, jeder freute sich und war schon aufgeregt.

Sogar Seiltänzer, Tierbändiger und Feuerfresser wurden zum großen Spektakel gerufen. Obwohl es bloß die Tochter war, die verheiratet wurde, so war es ihm ein Bedürfnis, allen geladenen Gästen zu zeigen, wie er lebte.

Sie sollten sehen, dass er nicht nur Ritter, sondern reicher Großgrundbesitzer war, dessen Vermögen so immens war, dass er sogar der Tochter ein für alle unvergessliches Fest ausrichten ließ.

Gebergas Familie hatte gezielt auf dieses große Fest hingearbeitet. Einzig bei Geberga stellte sich keine rechte Freude ein. Sie saß auf dem Bett in ihrer Kemenate im Turm und dachte über ihre bevorstehende Hochzeit nach.

„Ist es richtig, die Ehe mit einem Mann einzugehen, den ich zwar schon seit meiner Kindheit kenne, für den ich aber keine noch so geringe Zuneigung, geschweige denn Liebe empfinde? Er ist fast so alt wie mein Vater und so wird er mich behandeln“, sagte sie still und voller Zweifel vor sich hin.

„Liebe und Zuneigung habe ich bis zum jetzigen Tag wenig genug bekommen. Spärlich waren die elterlichen Streicheleinheiten allemal und im Kloster erst recht.

Soll das mein ganzes Leben lang so weitergehen?

Diese Eheschließung, die zur Versippung unserer beider Familien führen wird, um so - weitaus stärker und zahlreicher als andere Familien auftreten zu können, gegen Eindringlinge gewappnet zu sein, das materielle Erbe zu vermehren - ist nicht mein Wunsch, sondern der meiner Eltern. Sie drängen mich, Konrad zu heiraten. Und bin ich erst einmal seine Frau, dann wird er mich von der äußeren, öffentlichen Welt fernhalten, mich auf meine Pflichten als Eheweib und Mutter reduzieren.“

Sie stand vom Bett auf und lief aufgeregt in ihrer Kemenate umher. Hedwig, die Leibeigene, hatte sie aus dem Zimmer geschickt.

„Ich möchte allein sein. Anziehen kann ich mich selber“, hatte sie zu ihr gesagt.

Das Hochzeitskleid lag ausgebreitet auf dem Stuhl.

Es überstreifen, ihre Haare richten, in ihre Schuhe schlüpfen und sie wäre bereit für die festliche Zeremonie.

Unten im Burghof herrschte schon den ganzen Tag ein emsiges Treiben. Geberga hörte das Rattern der Fuhrwerke und Holzkarren, das Bellen der Hunde und das Schwatzen der Dienstboten. Die letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Hochzeit wurden getroffen. Im großen Saal stand eine lange Tafel, die darauf wartete, mit kostbaren Schüsseln, Tellern und Kelchen aus Silber und köstlichen Speisen und Getränken gedeckt zu werden.

Sie wusste seit längerer Zeit, dass ihre Eltern sie vor einigen Jahren dem ältesten Sohn des Herzogs versprochen hatten, der doppelt so alt war als sie.

Aber in ihrer damaligen kindlichen Naivität existierte keine Vorstellung, was es heißt, einem Mann zu gehören. Jetzt, mit ihren fünfzehn Jahren und längst im heiratsfähigen Alter, wo sie aus der Munt, dem Schutz und der Herrschaft ihrer Eltern in die Munt ihres zukünftigen Ehemannes übergehen sollte, kamen ihr Zweifel, ob dies das Richtige war. Das passende Heiratsalter hatte sie gewiss, denn es gab kaum ein Mädchen, das in ihrem Alter nicht verheiratet und schwanger war.

Mit keinem Wort hatte man sie gefragt, ob sie damit einverstanden wäre, Konrad zu heiraten. Alle sahen es als Selbstverständlichkeit an, da er der Erbe eines großen Gutes war, und wer einmal seine Frau werden würde, hätte ein angenehmes Leben ohne finanzielle Sorgen. Für Georg Albrecht war diese Vermählung, wenn sie zustande kommen würde, ein geschickter Schachzug, sein eigenes Vermögen nochmals zu erweitern und somit für ihn die einzige legitime Daseinsberechtigung, die er seiner Tochter zugestand.

Er hatte einen Plan. Würde sein zukünftiger Schwiegersohn, egal aus welchen Gründen, vor Geberga das Zeitliche segnen, kehrte diese mit dem gesamten neuen Reichtum wieder in die Muntgewalt ihres Vaters zurück. Er würde sie dann erneut in irgendein Kloster verbannen und über ihr mitgebrachtes Vermögen verfügen. Und wie schnell ein Unfall in diesen Zeiten geschah, hatte er schon allzu oft auf seinen Kreuzzügen miterlebt. Was kümmerte es ihn, angesichts der Aussicht auf ein beträchtliches Vermögen, wenn er während der mehrtägigen Hochzeitsfeier, außer der zu zahlenden Mitgift, für die Verpflegung, die Vergnügungen und Spiele der Gäste aufkam.

Diese Investition würde sich schon bald für ihn auszahlen.

Geberga aber sah weiter. Sie liebte diesen Mann nicht und würde das niemals. Gäbe sie heute ihre Zustimmung zu dieser Verbindung, dann hieße das, dass sie für den Rest ihres Lebens unter der Vormundschaft dieses Ehemannes und somit seines Schutzes und gleichzeitig unter dessen Gewalt stehen würde. Sie wäre angehalten, das auszuführen, was er von ihr verlangte, da er als Herr im Haus galt. Sie war nur ein Objekt, das zwischen zwei Parteien hin- und hergeschoben wurde. Er würde den gesamten Besitz, mitsamt dem Vermögen, das sie in die Verbindung mit einbrachte, und das war nicht wenig, verwalten. Wenngleich er bei der Veräußerung ihrer Güter, Kleider und des Schmucks ihre Zustimmung benötigte, diese Einschränkung würde ihn nicht daran hindern, die hausherrliche Gewalt auszuüben. Denn Kraft seiner Munt und der damit einhergehenden Gehorsamspflicht der Ehefrau würde Konrad ein Züchtigungsrecht ihr gegenüber besitzen. Das Recht nahm er in Anspruch, das wusste Geberga. In dieser Hinsicht würde er seinem Vater und Gutsherrn Dietrich von Thiersstein in keiner Weise nachstehen.

Der, schon mit Glatze gesegnet und an die sechzig Jahre alt, hatte sich vor nicht allzu langer Zeit sein drittes Eheweib ins Haus geholt, das nicht einmal die Hälfte seiner Jahre zählte.

Nachdem zuvor die beiden anderen verstorben waren, unter mysteriösen und nicht geklärten Umständen zwar, aber die Obrigkeit unfähig war, ihm etwas nachweisen, weil er selber mit zu den Oberen gehörte und sich mit Geld manches erkaufen lässt.

Es war an der Zeit, dass Geberga jetzt an sich dachte und überlegte, wie sie sich entschied.

Obwohl, die Entscheidung hatten doch die anderen getroffen, ihr blieb nur, sich in das Kommende einzufügen und das für sie Beste aus der ausweglosen Situation herauszuholen.

Und wenn Geberga weggehen, fliehen, alles hinter sich lassen würde, um woanders ein neues Leben anzufangen? Dieser Gedanke setzte sich immer tiefer in ihr fest und ließ sie nicht mehr los.

Denn eher würde sie sich unwissentlich von einem Inkubus des Nachts begatten lassen, und dessen Brut großziehen, als sich mit Konrad zu vermählen und ihm auf ewig ausgeliefert zu sein.

Wohin aber fliehen? Jemandem in ihren Fluchtplan einweihen? Wem vertraute sie?

Es würde nicht leicht sein, in einer fremden Stadt oder gar einem fernen Land zu leben, ohne jegliches Hab und Gut. Auf ihrer Flucht musste sie mit wenig auskommen, wenn sie wollte, dass ihre Absicht nicht sofort entdeckt wird.

Reisen in dieser Zeit war unbequem. Die Wege, sofern vorhanden, waren oftmals nur für Pferde benutzbar, die Wälder äußerst finster, jeder Ortswechsel glich einer Weltreise.

Sicheres Unterkommen wäre nur bei Standesgenossen oder Menschen des eigenen Lebenskreises möglich und damit fürs Erste nur bei Leuten, die in unmittelbarer Nähe wohnten. Dann würde man sie aber finden und zurückbringen, gewonnen hätte sie dadurch gar nichts.

Wäre es überhaupt möglich, ungesehen aus der Festung zu entkommen?

Die Burg stand prächtig auf einem Felsvorsprung, der steil und tief abfiel. Ihre einstige Erbauung war in dem überwiegend unwegsamen Gelände schwierig.

Ursprünglich war sie nicht zum angenehmen Aufenthalt der adligen Herren und ihrer Gemahlinnen, sondern als Festung erbaut worden, umgeben von dicken Mauern, in denen schmale rechteckige Schießscharten eingelassen waren. Hinter ihnen ließen sich im Angriffsfall die Schützen mit Pfeil und Bogen nieder. Außerdem zierten einige Erker und Pechnasen die Burgmauer, von denen man notfalls schwere Steine, siedendes Öl oder Wasser sowie geschmolzenes Fett, Pech Schwefel oder gelöschten Kalk auf die feindlichen Truppen hinuntergoss. Den Festungscharakter legte sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht ab.

Dicht unterhalb des Burgfelsens floss ein reißender Bach, so dass sie nach Süden und Südwesten gesichert war.

Nach Südosten schirmte der Wehrturm die Burg ab.

Der alte Turm war direkt in den Kalkfelsen gehauen und zeigte in etwa zehn Meter Höhe einen kleinen Erker und vier übereinanderliegende Granitkragsteine.

Nach Osten hin war die Anlage durch einen Zwinger geschützt, so dass man bei Angriffen zwischen diesem Vorhof und dem Burgkern ein weiteres Fallgitter, das die eigentliche Zugbrücke ergänzte, hinunterließ. Hier war ein kleiner Burggarten angesiedelt, in dem Obstbäume, Rosen und Kräuter für medizinische Zwecke aufzufinden waren. Er gehörte zu einem von Gebergas Lieblingsplätzen.

Zum Norden verlief das Gelände zwar eben und bot somit eine Angriffsfläche und Fluchtmöglichkeit.

Aber die Burg war durch einen etwa achtzehn Meter breiten Graben geschützt. Burggraben und Wall waren kaum zu überwinden.

Im Burghof lagen die Stallungen für Vieh und Pferde. Daneben in dunklen, vollgepfropften Kammern die Geschütze, Schwefel, Pech und allerlei Zubehör für Waffen und Kriegsgerät sowie die Unterkünfte für Knechte und Gesinde. Hier befand sich der Brunnen, der nicht nur für die Trinkwasserversorgung wichtig war, sondern auch zum Löschen etwaiger Brände.

Der Innenhof war durch eine mehrere Meter dicke Schildmauer gesichert. Im Zentrum der Burg lag der Bergfried, ein mächtigerer und höherer runder Turm, als der Richtung Südosten, dessen schmale Fensteröffnungen und Schießscharten im Falle einer Belagerung zur Verteidigung benutzt wurden.

Bei der Errichtung dieser Burg wurde er, seiner Bedeutung gemäß, als erster errichtet und war somit ihr Herzstück.

Von seinem Zinnenkranz aus erspähte man von weitem Nahende schon früh. Sein Eingang war klein und hochgelegen, so dass er nur über eine Leiter zu erreichen war. In seinem Inneren lagerten, verteilt auf drei Geschosse, nochmals Waffen, Nahrungs- und Wasservorräte; im untersten vierten Stock war das Gefängnis untergebracht. Ebenfalls im Innenhof war das Palas, das Herrenhaus. Über zwei Stockwerke hinweg erstreckten sich die Wohnräume.

Der Festsaal lag im ersten Geschoss und hatte vier große Fenster nach Süden, die bei schlechtem Wetter mit hölzernen Fensterläden verschlossen wurden.

Sein Boden war mit Tonfliesen ausgelegt und die Wände mit kostbaren Teppichen behängt. Zu beiden Seiten des Saals schlossen sich zwei kleinere Räume an, von denen einer als Durchgang zur efeuumrankten Burgkapelle diente. Zum Hauptgeschoss führte eine Freitreppe. Herrenwohnräume und Frauengemächer lagen getrennt voneinander.

Zur Burg gehörte ein Burggut, ein landwirtschaftlicher Versorgungsbetrieb für die Burg, der für die Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Belangen sorgte.

Hätte Geberga schon damals gewusst, dass ein unterirdischer Gang existierte, der bis zum Ende der Lichtung und somit an den Schutz bietenden Wald führte, wäre ihre Flucht anders verlaufen. Aber nur ihr Vater hatte lange als Einziger Kenntnis davon und dachte nicht daran, irgendjemanden einzuweihen.

„Geberga.“

Sie schreckte hoch aus ihren Gedanken und hörte aus der Ferne die Stimme ihrer Mutter, die eilig die Stufen des Turms erklomm.

„Geberga, wann bist du denn endlich angezogen? Warum lässt du dir nicht von Hedwig helfen, sie ist doch dazu da.“

Die Mutter, eine äußerst elegante und anmutige Erscheinung, stand im Türbogen und sah Geberga vorwurfsvoll an.

„Zu spät“, dachte diese“, jetzt ist eine Flucht unmöglich.“

„Ob ich Mutter ins Vertrauen ziehe, ihr sage, dass ich es mir überlegt habe und Konrad nicht heirate Ach, sie wird es nicht verstehen.“

Während Geberga überlegte, ergoss sich ein gewaltiger Wortschwall über sie:

„Was ist los mit dir? Warum trödelst du so? Und was machst du für ein Gesicht? Lächle Kind, denn heute ist doch ein Freudentag. Du kannst stolz sein, dass Konrad dich zur Frau nimmt. Komm jetzt, zieh endlich dein Kleid an. Ich werde sehen, wo Hedwig hingegangen ist und sie hilft dir dann bei der Frisur. Hat sie dir gesagt, was sie erledigen wollte? Immer muss man hinter ihr her sein, sonst begreift sie rein gar nichts.“

„Wenn Mutter jetzt erst Hedwig sucht, habe ich doch eine Chance, die Hochzeit platzen zu lassen“, überlegte Geberga.

Kaum hatte Anna das Zimmer verlassen, zog sie Strümpfe an, die unterhalb des Knies mit Bändern gehalten wurden. Dann die Beinkleider ihres ein Jahr jüngeren Bruders Hadwigs, die sie schon so oft zur Jagd getragen hatte, da sie weitaus bequemer als ihre eigenen Kleider waren. Sie streifte sich Hemd und Jacke über, die ebenfalls von ihrem Bruder stammten und naturbelassen waren. Alles wurde mit einem Gürtel zusammengehalten, an dem eine Tasche hing.

Dann stieg sie in bequeme Schuhe und öffnete ein Schmuckkästchen. Zum Vorschein kamen einige Schmuckstücke, die sie von ihrer Großmutter väterlicherseits geerbt hatte und die unterwegs schnell in Geld umzuwandeln wären. Sie legte sie eiligst in ein mit Spitzen verziertes Taschentuch und verstaute alles in ihrer Gürteltasche.

Kurz darauf griff sie den auf einem Stuhl liegenden, Männerhut, unter dem sie ihre langen blonden Haare versteckte. Im Hinausgehen nahm sie rasch ein Buch mit, in dessen Inneren sich eine Landkarte verbarg und das in einen schweinsledernen Einband gebunden war. Diese Sachen verstaute sie in ihrer Gürteltasche. Dann rannte sie rasant die Stufen des Turmes hinunter. Unten angelangt hielt sie inne.

Wie kam sie ungesehen aus der Wehranlage heraus, wie an den Wachtposten vorbei?

In unmittelbarer Nähe der Burg standen eine Mühle und eine Schmiede. Etwas weiter weg gelegen gab es vereinzelte Bauernhöfe. Das dem eigenen Dorf nächstgelegenere Dorf war zu Fuß etwa eine Stunde entfernt. Wo würde man sie zuerst suchen? Wo wäre sie sicher? In ihrer Verzweiflung fing sie leise an zu beten, wobei sie das verstaute Buch nah an sich drückte.

„Herr, erhöre mein Flehen und meinen stillen Schrei!

Ich erbitte deine rettende Hilfe. Denn du bist nicht ein Gott, dem gottloses Wesen gefällt, du bist der Feind von allen Übeltätern. Du bringst die Lügner um; ebenso die Blutgierigen und Falschen. Ich aber darf in deinen heiligen Tempel gehen durch deine große Güte.

Herr, leite mich in deiner Gerechtigkeit um meiner Feinde willen; ebne vor mir deinen Weg! Denn in ihrem Munde ist nichts Verlässliches; ihr Inneres ist Bosheit. Ihr Rachen ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen heucheln sie. Sprich sie schuldig und sei mir in deiner unendlichen Güte gnädig gestimmt. Bitte hilf mir.“

Dann dachte sie angestrengt nach und plötzlich lag die Lösung nah und ihr Fluchtplan schien nicht mehr ausweglos.

Der Wachtposten drehte eine seiner vielen Runden. Wenn er wieder bei der Burgkapelle ankäme, würde sie versuchen, bis zum Eingang der Pferdeställe zu gelangen, die in der Nähe der Zugbrücke untergebracht waren. Von dort aus wäre es dann ein Leichtes für sie, in einem unbeobachteten Moment zur Brücke zu laufen und im Schutz der ein- und ausfahrenden Fuhrwerke ohne große Hektik und mit tiefheruntergezogenem Hut den Burghof zu verlassen. In dieser Aufmachung würde sie keiner erkennen.

Noch kamen genügend Händler mit ihren Waren in die Burg, um sie für die Festlichkeit bereit zu halten.

Ihr Vater hatte dafür gesorgt, dass nur die besten und speziell ausgewählten Zutaten für die Speisen angeliefert wurden. Diese Hochzeit sollte alle bis dahin stattgefundenen in jeder Hinsicht übertreffen, das hatte er sich vorgenommen und nichts und niemand hielten ihn davon ab, dieses Vorhaben zu realisieren.

„Lambert.“

Aus dem Wehrturm trat ein weiterer Wachmann und kam strammen Schrittes auf den ersten zu.

„Oh nein, wenn sie jetzt zu zweit weitergehen, wird es umso schwieriger von hier wegzukommen und ich kann nicht mehr allzu lange mit meiner Flucht warten. Hoffentlich reden sie jetzt nicht endlos miteinander“, überlegte Geberga.

„Ich löse dich ab, drinnen in der Küche gibt es aus gegebenem Anlass was Feines zu essen und zu trinken. Es schmeckt köstlich und ich habe mir den Bauch so vollgeschlagen, dass ich mich nur schwerlich von hier wegbewegen kann.“

„Dank dir, Rupert. Ja, ja, die Herrschaft lässt sich heute nicht lumpen, an so einem Tag wird selbst unser strenger Herr spendabel.“

Lambert und Rupert standen dicht beisammen und redeten miteinander. Geberga bekam nur einzelne Gesprächsfetzen mit, aber es drehte sich um sie, das war sicher.

„Mir tut nur das junge Fräulein leid“, sagte Rupert.

„Hast du gesehen, wie unglücklich, zerbrechlich und blass sie aussieht, seitdem sie wieder bei uns ist?

Sie sieht fast aus wie ein Engel mit ihrem langen, lockigen und blondem Haar. Und ob dieser Konrad von und zu, dieser eingebildete Schnösel, der Richtige für sie ist, wage ich zu bezweifeln. Der ist doch nur ein Weiberheld und kann mit einer Dame gar nicht umgehen. Sie braucht einen Mann, der ihr geistig überlegen ist und so einer ist recht schwer zu finden. Hast du gesehen, wie sie ihre Brüder letzte Woche blamiert hat, als es darum ging auszurechnen, wie viel die Fasane für das Festmahl kosten. Oder vorgestern, als der Dorfpfarrer mit ihr über Gott diskutieren wollte, sie hat ihm alles widerlegen können. Und im Sattel hält sie sich ebenfalls tapfer.“

Die Bewunderung Ruperts für Geberga war nicht zu überhören.

„Hast du dich am Ende selbst in sie verguckt, was?“, fragte Lambert und neckte seinen Kameraden.

„Bei der hast du keine Chance. Ihresgleichen heiratet nur ihresgleichen und für uns bleibt die Magd. Aber das ist auch in Ordnung. Kopf hoch mein Freund und sei nicht so bedrückt.“

Aufmunternd klopfte er Rupert auf die Schulter.

„Ja“, gab dieser resigniert zurück, „so ist das wohl.“

Dann sah er Lambert streng in die Augen und befahl ihm:

„So, mach dich auf, sonst bleibt am Ende für dich nichts übrig und trink nicht übermäßig von dem selbstgebrauten Bier, das hat es wahrhaft in sich.

Ich halte jetzt hier die Stellung. Wenn du fertig gegessen hast, laufen wir die Runden zu zweit weiter, Befehl unseres Herrn. Er hat Angst, dass sich ungebetene Gäste hier niederlassen und er dann noch mehr zahlen muss.“

Lachend und kopfschüttelnd verließ Lambert den Platz und verschwand nach einigen Schritten in Richtung Küche.

„Gott sei Dank, es ist eine Wachablösung“, seufzte Geberga erleichtert und bekreuzigte sich.

„Hoffentlich absolviert dieser Rupert die Runden genauso wie Lambert, sonst muss ich mir etwas Neues ausdenken“, murmelte sie vor sich hin.

Rupert setzte sich in Bewegung und schlug dieselbe Strecke wie sein Vorgänger ein. Geberga nahm es erleichtert zur Kenntnis und wartete geduldig, bis er bei der Kapelle angelangt war.

Dann rannte sie los bis zu den Ställen, zog den Hut tiefer in ihr Gesicht und mischte sich von dort aus zwischen zwei hintereinanderfahrenden Fuhrwerken Richtung Burgausgang. Sie würde eine Weile in der Obhut der Wagen mitlaufen und sich erst hinter der Schmiede von ihnen entfernen, um ihren eigentlichen Weg einzuschlagen. Nachdem sie schon eine kleine Wegstrecke zurückgelegt und an der Schmiede vorbei in den Wald gelaufen war, dachte sie bei sich:

„Ob man meine Flucht schon bemerkt hat? Das ist mir egal. Das Wichtigste ist, dass ich endlich weiß, wohin ich aufbrechen werde.“

Als sie den Namen ‚Lambert‘ vorhin hörte, wusste sie, wo sie, ohne viele Fragen zu beantworten, unterkommen und solange bleiben konnte, wie nötig.

Lambert von Bramburg gehörte dem höheren Klerus an und er war Gebergas Stiefonkel. Da ihr Vater der ältere der beiden Brüder war und somit der Haupterbe des Bramburgischen Vermögens, gab es für Lambert, dem Nachgeborenen aus einer weiteren Ehe seines Vaters, zwei Möglichkeiten zur Gründung einer Existenz. Entweder sah er sich nach einer reichen Erbin um, schwängerte und heiratete sie, oder aber er wendete sich der Theologie zu und bekleidete aufgrund seiner adligen Geburt ein einflussreiches Amt innerhalb der Kirche.

Lambert, von Natur aus ein fried- und naturliebender, vergeistigter Mensch, dem der Spaten näher als das Schwert stand und der jegliche Art von Gewalt verabscheute, war es nur recht, dass er nicht die erste Stelle der Erbfolge einnahm. So war es ihm möglich, sein Leben in ruhigere Bahnen zu lenken, als dies bei Georg Albrecht der Fall war. Zwar bekam er eine Grundausbildung zum Ritter, gleichzeitig erlernte er aber früh den Katechismus und wurde in Psalter und Gesang unterwiesen.

Lambert, ein hochintelligentes Kind, das schon vor dem eigentlichen Einschulungsalter von sechs Jahren lesen und rechnen konnte, wuchs mit seinem Wissensdurst dem eigens für ihn engagierten Lehrer, einem niederen Geistlichen, schnell über den Kopf. Ein zweiter Lehrer wurde eingestellt. Auch dieser gelangte äußerst rasch an die Grenzen seines eigenen Wissens und empfahl Lamberts Eltern, ihren Sohn an eine Universität zu schicken, was diese schweren Herzens ausführten.

Denn das hieß, dass er für viele Jahre weit weg von zu Hause lebte, in einem fremden Land, da es damals nur vereinzelt Universitäten gab.

Um sich und seinen geliebten Eltern den Abschied zu vereinfachen, vermied er es, ihnen beim Packen der Sachen in die Augen zu sehen. Er packte eiligst in seinem Ranzen zusammen, was wichtig war.

Die hervorbrechenden Tränen hielt er nur mühsam zurück. Die Eltern durften nicht merken, wie schwer ihm der Abschied fiel. Sie versprachen, ihn möglichst oft zu besuchen. Aber keiner ahnte, dass es eine Trennung für lange Zeit sein sollte, denn Lambert studierte in Paris Theologie und Kirchenrecht.

Während des ersten Ausbildungsabschnittes der Studienzeit, dem Trivium, vertiefte er sein Wissen in Logik, Grammatik und Rhetorik.

Es folgte das Quadrivium mit den Fächern Astronomie, Geometrie, Arithmetik und Musik.

Hinzu kamen die Kenntnis der Heiligen Schrift und das kanonische Recht.

Unmittelbar nach dem Studium, das er mit Auszeichnung abschloss, wurde ihm dieses hohe Kirchenamt anvertraut.

Mit den Wassern der Wissenschaft benetzt und mit dem Licht des Glaubens erleuchtet, bewies er, was in ihm steckte.

Wie in so vielen Städten bildete die Kirche die Lebensbasis der Gemeinde, in die Lambert vom Papst persönlich geschickt wurde.

Die zunehmenden Wallfahrten stellten die Haupteinnahmequelle dar, auf die alle bis zu einem gewissen Grade angewiesen waren. Dazu zählten die Herbergswirte, die Geldwechsler und der geistliche Teil der Bevölkerung, der den Kirchendienst versah.

Lambert zeigte in dieser Hinsicht ein erstaunliches kaufmännisches Geschick, das Kirch- und Stadtsäckel stetig füllte und beiden zu Ansehen und Reichtum verhalf.

Ein weiterer cleverer Schachzug zur Vermehrung des kirchlichen Vermögens gelang ihm, mit dem Bier.

In der eigenen Klosterbrauerei hergestellt und als ein nahrhaftes, wohlschmeckendes Getränk zu den Mahlzeiten ausgeschenkt, wurde es gerne von jedermann getrunken.

Vor allem während der Fastenzeit, da man die Einnahme von Flüssigem nicht als Bruch des Fastens betrachtete. Deshalb ließ Lambert es nicht nur für den eigenen Bedarf brauen. Er erwarb das Recht, das klostereigene Bier gewerblich zu vertreiben, so dass sich sein Kloster zu einem funktionierenden Wirtschaftsbetrieb entwickelte.

In der Klosterschenke wurde das Bier ausgeteilt und die Biersteuer sorgte für die schnelle Füllung der Stadtkasse.

Was niemand vermutete, tief in seinem Inneren war Lambert ein Rebell, der die Autorität der alten Texte, der biblischen wie der aristotelischen anzweifelte. Sein andächtiges Bibelstudium brachte eine Vorstellung von Kirche hervor, der die real existierende Institution nicht gerecht wurde.

Sein unersättlicher Wissensdurst ließ ihn immer mehr nach den Optionen und Grenzen sicherer Erfahrung fragen.

Philosophische Theorien und physikalische Experimente faszinierten ihn.

Er beschäftigte sich mit Studien zur Mathematik und Mechanik und war erstaunt über die Möglichkeiten, die sich ihm auftaten. Seine gedanklichen Abstraktionen überstiegen bei weitem das Denken der damaligen Zeit, doch all dies probierte er nur heimlich aus, um seine Stellung nicht zu gefährden oder gar für einen Ketzer gehalten zu werden.

Häresie zielte auf die Veränderung der Welt und definiert sich folglich durch Unzufriedenheit mit dieser Welt.

Und Lambert war frustriert von den gegenwärtigen Zuständen. Aber deshalb war er kein Ketzer.

In solchen Zeiten musste er äußerst vorsichtig sein, um nicht den geringsten Verdacht gegen sich aufkommen zu lassen.

Einen Freund und Vertrauten Lamberts, den Universitätsgelehrten Friedrich Gregor, hatte der Kardinal auf Geheiß des Papstes schon einsperren lassen.

Von den sieben Ursachen, die die Kirche als Merkmal für Häresien aufgestellt hatte, erfüllte er angeblich vier.

Da war erstens die ‚leere Ruhmsucht‘, wie immer man diese definieren und auslegen wollte, an zweiter Stelle den vor keiner Schwierigkeit zurückscheuenden Lern- und Lehreifer des Angeklagten.

Ginge es nur um diese, wäre Lambert hundertprozentig schuldig.

Drittens seine scheinbar mangelnde Ehrerbietung den heiligen Sakramenten gegenüber und viertens sein vorgeblicher Hass auf Kirche und Klerus.

Was aber hatte sich dieser, bis dahin rechtschaffene und hoch angesehene Mann, zu Schulden kommen lassen?

Er wollte eine neue Ausrichtung der Universität, deren Lehre reglementiert war und die, da es keine Lehr- und Lernfreiheit gab, gekennzeichnet war durch Dogmatisierung und Verhärtung. Die Kirche wollte ihren Einfluss beibehalten. Sie duldete es nicht, dass Gregor eine Reform herbeiführte, und sah keinen Ausweg, als ihn erst einmal wegzusperren.

Er war aber, wie schon gesagt, ein recht angesehener Gelehrter und hatte viele Fürsprecher, unter anderem Lambert, die all ihre Kraft darauf verwendeten, ihn wieder freizubekommen.

Wie aber gelang es der Kirche, ohne ihr Gesicht zu verlieren, einen, in ihren Augen, aufwieglerischen und durch moderne Theorien verblendeten Mann, gegen den sie nichts Beweisbares in Händen hatte, wieder aus dem Gefängnis zu entlassen?

Der Kirche blieb nur, seine Schuld oder Unschuld durch ein Gottesurteil, das als prozessuales Beweismittel anerkannt war, feststellen zu lassen.

Mit göttlicher Hilfe sollte er eine Probe bestehen, bei Nichtbestehen galt er als überführt. Geeignet erschien die Abendmahlsprobe. Hätte Gregor nach dem Abschlucken der geweihten Hostie abnorme Reaktionen gezeigt, wäre das als Schuldbeweis ausgelegt worden.

Er aber schluckte die Hostie ohne Anzeichen und bewies so seine Unschuld.

Die Oberen waren erstaunt und verwundert.

Deshalb nötigten sie Gregor, sich einem weiteren Reinigungsschwur zu unterwerfen, indem er auf eine geweihte Reliquie schwor. Gott selbst würde ihn schon vernichten, wenn er hier einen Meineid oder die Unwahrheit geschworen hätte. Nichts geschah, als er schwor.

Dennoch untersagte man ihm, an der Universität zu lehren. Er wurde aus der Stadt verwiesen, sein gesamtes Hab und Gut verleibte sich die Kirche ein.

Lambert versuchte, ihm mit Geld zu helfen, zum Aufbau einer neuen Existenz an einem anderen Ort.

Treffpunkt der Übergabe war die alte Eiche an der Weggabelung außerhalb der Stadt. Bei Lamberts Eintreffen dort, sah er mit Erschrecken, dass sich sein Freund an einem Ast des Baumes erhängt hatte.

Zu groß war die Schmach für ihn, dieses Urteil zu akzeptieren, wo er doch nur Gutes im Sinn hatte.

In seinem Abschiedsbrief, der unter der Eiche lag, schrieb er, dass er lieber tot sei, als ungerecht bestraft.

Das veranlasste Lambert, nicht mehr so offen über eigene Vorstellungen vom Leben zu sprechen. Es gab ohnehin nicht viele Menschen, die fähig waren, seinen Gedanken und Ideen zu folgen. Wenn er genau über alles nachdachte, nur einen, der, bei intensiver Unterrichtung durch ihn, seinem Wissenstand annähernd gleich kam – Geberga.

Bis zum heutigen Tage hatte er sie drei Mal gesehen.

Bei ihrer Geburt und Taufe, beim Klostereintritt und eben in jener Einrichtung kurz vor ihrer Entlassung.

Schon bei ihrem Eintritt in den Konvent, mit sieben Jahren, war sie ihm durch ihre Neugier und ihr Wissen aufgefallen. Als er sie auf einer der Reisen, die er in seiner Position für die Kirche unternahm, in dem Stift aus purem Zufall wiedersah, da traf ihn ein Stich mitten ins Herz.

Sie war erblüht wie keine andere Frau, die er je gesehen hatte und so klug wie es selten ein Mann war.

Die Äbtissin des Klosters erkannte ebenfalls die Intelligenz von Geberga und nur ihr und ihrem Onkel verdankte sie es, dass sie eine so sorgfältige Bildung und Ausbildung mit auf den Weg bekam.

Hätte man Geberga die Wahl gelassen, sich einen Ehemann auszusuchen, dann wäre diese auf jemanden gefallen, der viele Eigenschaften und Verhaltensweisen ihres Stiefonkels besaß. Denn in ihren Augen war kein Ritter und kein Adliger so edel, gebildet, zuverlässig und großmütig wie er.

Dass er unermesslich reich war, spielte eine geringe Rolle. Im Kloster hatte sie gelernt, mit wenig auszukommen und genügsam zu sein.

Kapitel 2

Dass etwas nicht stimmte, bemerkte Anna als Erste.

Sie betrat, schon selbst in ein Festtagsgewand gehüllt, erneut die Kemenate ihrer Tochter, fand diese nicht vor.

Die Hochzeitskleidung lag unberührt auf dem Bett.

Dafür war die bequeme Alltagskleidung ihres Sohnes, in der ihre Tochter meistens herumlief, verschwunden.

Ihrer Zofe, die hinter ihr stand und ebenfalls verdutzt in den Raum sah, gab sie den Befehl:

„Hol sofort meinen Mann hierher. Egal, was er macht.

Sag ihm es ist äußerst dringend. Beeil dich.“

Sie schob die Zofe aus der Türe hinaus, um die Dringlichkeit zu unterstreichen.

Es vergingen keine fünf Minuten, da stand Georg Albrecht, außer Atem, neben seiner Frau.

Ungehalten fragte er:

„Was ist los Weib? Ich kümmere mich um die letzten Vorbereitungen für das große Fest und du lässt mich von Hedwig hierher beordern. Gleich kommt ihr Bräutigam, den wir zusammen begrüßen sollten. Ich hoffe, es ist wichtig, dass du mich von meinen Aufgaben wegholen lässt.“

Anna holte tief Luft, bevor sie ihm ihre Vermutung schilderte. Sie wusste aus Erfahrung, dass ihr Mann einen Tobsuchtsanfall bekam, wenn er ihre Mitteilung hören würde. Zaghaft begann sie.

„Ich habe keine erfreulichen Nachrichten.“

Georg Albrecht wurde ungehaltener.

„Was heißt das? Sprich es endlich aus. Was für Nachrichten?“

„Sieh dich um“, gab sie ihm als Stichwort und sprach dann, so ruhig es ihr möglich war weiter, während sie auf das Bett zeigte.

„Geberga ist nicht hier. Die Hochzeitskleidung liegt dort unberührt. Ihre Alltagskleidung ist weg.“

Anna ging auf eine Truhe zu und hob deren Deckel.

„Hier hatte sie ein paar Habseligkeiten versteckt und der geerbte Schmuck ist ebenfalls nicht mehr da. Ich denke, sie hat Panik bekommen und ist davon gelaufen.“

Jetzt erst wurde Georg Albrecht klar, dass Geberga, eine der Hauptpersonen des anstehenden Festes, nicht anwesend war.

„Das glaube ich nicht. Sie kennt die Konsequenzen, die so eine Flucht nach sich zieht. Das kann sie uns nicht antun.“

Er setzte an, weiter zu reden, da ertönte ein Signal.

Der Trompeter kündigte die Ankunft des Bräutigams an, der stolz und erhobenen Hauptes in Hochzeitskluft mit seinem Rappen den Burgplatz betrat.

Hinter ihm zogen zwei prächtige Kutschen, in denen die Verwandtschaft Platz genommen hatte, ebenfalls in das Burggelände ein. Begleitet wurden sie von mehreren Söldnern, die im Dienste derer von Thiersstein standen.

Anna und Georg Albrecht sahen gleichzeitig aus dem offenen Fenster der Kemenate.

„Was sag ich denen da unten denn jetzt?“

In Georg Albrechts Gesicht zeichnete sich statt Zorn Verzweiflung ab, was selten vorkam.

„Das gibt ein Donnerwetter. Sie werden sich hintergangen fühlen und uns das Leben zur Hölle gestalten.“

Anna legte ihm zur Beruhigung ihre Hand auf seinen Rücken.

„Du musst trotzdem heruntergehen und ihnen die Situation erklären.“

„Das sagst du so leicht dahin, Weib. Mit ihnen reden ist härter, als in eine Schlacht zu ziehen. Sie werden mir den Fehdehandschuh ins Gesicht schlagen und mich wegen Vertragsbruch zur Rechenschaft ziehen.“

„So weit wird es nicht kommen. Ich gehe mit dir und stehe dir bei.“

Anna beabsichtigte, die Hand ihres Mannes zu ergreifen, um so zu demonstrieren, dass er auf ihre Unterstützung zählen könne. Doch er ignorierte ihre Geste und erwiderte höhnisch:

„Du wirst ihnen Furcht einflößen.“

Er lachte verbittert. Dann beschleunigte er seine Schritte und trat tapfer den Gästen entgegen.

Konrad stieg vom Pferd, als er seine zukünftigen Schwiegereltern erblickte. Er sah sich um und erwartete, dass Geberga erschien.

Die Kutscheninsassen verließen ihr Gefährt und stellten sich neben Konrad auf, allen voran dessen Vater Dietrich.

Georg Albrecht zwang sich eine Verbeugung ab, da sie alle im Rang über ihm standen. Er wartete ab, bis Anna knickste. Dann ergriff er schweren Herzens das Wort.

„Seid gegrüßt, edle Leute.“

An Stelle von Konrad erwiderte sein Vater den Gruß.

Ihm war die Nichtanwesenheit von Geberga ebenfalls aufgefallen.

„Wo ist meine wunderschöne zukünftige Schwiegertochter?“, fragte er sofort.

„Lasst uns das bitte in aller Ruhe drinnen besprechen.“

Georg Albrecht deutete eine Geste an, die alle dazu aufforderte, sich in die geschmückten Räumlichkeiten zurückzuziehen.

Darauf ließ sich Dietrich nicht ein.

„Zuerst teilt Ihr mir mit, wo sich Geberga befindet!“, befahl er.

Kaum hörbar flüsterte Georg Albrecht den Anwesenden zu, dass er und seine Frau nicht wüssten, wo sich ihre Tochter aufhielt.

Dietrich war außer sich vor Wut und Konrad hielt seine Empörung nicht zurück.

„Sieht so Euer Geschäftsgebaren aus? Ihr versprecht Ware zu liefern und dann ist die Ware nicht vorhanden?“, schrie Dietrich laut, so das alle es mitbekamen.

„Es tut uns leid“, versuchte Anna die Situation zu entschärfen.

„Vom Mitleid haben wir nichts. Wir bestehen auf die Herausgabe der Braut, andernfalls werden wir entsprechende Maßnahmen einleiten, die so eine Täuschung ächten werden“, meldete sich Konrad zu Wort.

Nochmals versuchte Georg Albrecht, die Gäste in die Räumlichkeiten zu locken.

„Ich bitte Euch, kommt herein. Wir finden eine Lösung, die für alle zufriedenstellend ist.“

Dietrich blieb hartnäckig. Das wäre für ihn Verschwendung von Zeit. Wenn es heute keine Hochzeit gäbe, wäre jede weitere Minute des Aufenthaltes indiskutabel.

„Ich weiß, was mich davon abhält, Euch zu verklagen“, entgegnete Dietrich sofort.

„Wie lautet Euer Vorschlag?“, wollte Anna wissen, ohne abzuwarten, was ihr Mann meinte.

„Wir bringen das hier schnell hinter uns, wenn Ihr für uns den Kaufpreis aufbringt, den wir für Geberga bezahlt hätten. Er ist nicht unerheblich, aber sie ist das Geld wert. Solltet Ihr dazu nicht bereit sein, verklagen wir Euch. Außerdem leben wir in äußerst gefährlichen Zeiten, da passiert eine Menge Schlimmes auf den unüberschaubaren Wegen. Man kann schnell unter die Räder kommen. Ihr wisst, was ich damit meine.“

Anna nickte. Zu ihrem Mann gewandt tuschelte sie:

„Es ist für uns zum Vorteil, wenn wir auf diesen Vorschlag eingehen.“