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Die investigative Journalistin Sandra Eyb dachte, ihr berufsbedingter Burn-Out sei das Schlimmste, was ihr im Leben passieren konnte. Doch als man sie entführt, wird sie eines Besseren belehrt und mit Ereignissen aus ihrer Vergangenheit konfrontiert, an die sie nie wieder erinnert werden wollte.
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Seitenzahl: 275
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Dort, wo sich Sandra befand, war es dunkel, feucht und kalt. Die Luft war stickig und ein ekeliger Geruch stieg ihr in die Nase.
Wie sie an diesen Ort kam, konnte sie nicht erklären. Auch, wenn sie krampfhaft versuchte, sich die Ereignisse der letzten Stunden ins Gedächtnis zu rufen, wollte es ihr einfach nicht gelingen. Sie kauerte, die Hände hinter dem Rücken zusammen gebunden, auf einem wackligen Holzschemel, der umzufallen drohte, sobald sie sich erhob. Da sie nicht abschätzen konnte, was sie erwartete, wenn sie aufstehen würde, blieb sie sitzen.
Sie wollte schreien und so auf sich aufmerksam machen. Aber auch das konnte sie nicht, denn in ihrem Mund befand sich ein Knebel, der mit einem Klebeband fixiert war. Sie musste immer wieder würgen, weil sie Angst hatte, zu ersticken. Da das Klebeband gefährlich nahe an ihrer Nase entlang führte, konnte sie nicht richtig atmen und rang verzweifelt nach Luft. In ihrem Kopf hämmerte es vor Schmerzen.
Obwohl sie fror, weil sie nur ein leichtes, geblümtes Sommerkleidchen trug und barfuß war, stand ihr der Schweiß auf der Stirn, so dass die Ponyfransen ihres langen, durchgestuften und blondierten Bobs an ihr klebten.
Wo waren ihre knallroten Sandaletten und ihre Handtasche? Warum war sie hier, in diesem Zustand? Sie konnte es nicht erklären. So sehr sie sich auch bemühte, die vergangenen Ereignisse traten nicht in ihr Bewusstsein. Sie erinnerte sich lediglich daran, dass sie vor längerer Zeit ihr Haus verließ und in einen trüben Himmel mit tief hängenden Wolken sah, die sich gerade in dem Moment entleerten, als sie in Richtung Garage unterwegs war und jemand sie von hinten anfiel. Dann wurde alles um sie herum dunkel.
Genauso dunkel wie in diesem Loch, in dem sie plötzlich ein Geräusch vernahm und bevor sie ihren Kopf in Richtung des Geräusches wenden konnte, ging die Tür zu ihrem Kerker auf. Ein Lichtstrahl fiel auf eine riesenhafte Kreatur, die breitbeinig vor ihr stand. Eingehüllt in einen blauen Arbeitsoverall, an den Füßen Sneakers. Vor dem Körper hielt die Gestalt ein Tablett, auf dem sich mehrere Gegenstände befanden. Sandra erschrak, als sie das Gesicht der unbekannten Gestalt oder das, was sie dafür hielt sah, weil es so grausam war. Sie ließ sich ihre Angst jedoch nicht anmerken.
Da etwas Licht in den Raum fiel, konnte sie erkennen, dass außer ihrer Sitzgelegenheit nichts vorhanden war. Aus der Mauer tropfte Wasser und es bildete sich bereits Schimmel. Erst, als sie die Gestalt ein zweites Mal ansah, begriff sie, dass sie nicht direkt in ein Gesicht sah, sondern in eine Maske, die sich die Gestalt übergezogen hatte. Die Maske stellte einen Clown dar, dessen gesamter Kopf entstellt war. Die Nase war nur noch ein blutiger Stumpf, die Oberlippe und Wangenknochen waren lediglich halb vorhanden. Eine runzlige Stirn, ungepflegte, faulige Zähne und blutige Augen ergänzten dieses grässliche Schauspiel.
„Ah, endlich ausgeschlafen? Das wurde auch langsam Zeit. Ausruhen kannst du dich später noch. Jetzt möchte ich endlich einige Informationen von dir“, sagte die Gestalt, die eine dunkle, männliche Stimme hatte, mit einem ironischen Unterton zu ihr. Die Stimme klang merkwürdig fremd, irgendwie verzerrt, so als gehörte sie nicht zu ihr.
Sandra konnte sich nicht daran erinnern, geschlafen zu haben, das war absolut unmöglich auf diesem instabilen Untergrund.
Der Clown kam näher, stellte das Tablett neben ihr auf dem Boden ab und richtete sich dann vor ihr soweit auf, dass sie unmittelbar seine abscheuliche Visage ansehen musste, was ihr schwer fiel, aber sie hielt diesem Anblick stand ohne sich abzuwenden.
„Du fragst dich bestimmt, warum du hier in diesem finsteren, elenden Loch bist, oder?“
Als sie nicht sofort antwortete, schlug der Clown ihr mit seiner linken Hand ins Gesicht und wurde lauter.
„Antworte gefälligst wenn ich mit Dir spreche. Also, fragst du dich nun, warum du hier bist oder nicht?“
Außer einem Kopfnicken und einigen unverständlichen Lauten konnte sie nicht das Geringste von sich geben.
„Was hast du gesagt? Ich kann dich nicht verstehen. Ach so, du kannst gar nicht richtig sprechen. Verzeihung. Soll ich dich von dem Knebel befreien?“
Wieder ein Kopfnicken ihrerseits und ehe sie noch weiter nachdenken konnte, hatte er ihr das Klebeband mit einem raschen Griff vom Mund gezogen, was ihr Schmerzen bereitete, die sie aber zu unterdrücken versuchte. „Du hast nicht gejammert“, bemerkte er anerkennend während er ihr das in ihrem Mund befindliche Tuch langsam herauszog.
„So, jetzt kannst Du meine Frage wohl beantworten. Weißt du, warum du hier bist?“
Leise kam ihre Antwort.
„Ich weiß es nicht. Sie können mich so oft fragen, wie sie wollen, ich weiß es nicht.“
„Dann werde ich dir mehr Zeit geben, um darüber nachzudenken.“
Mit einem hämischen Unterton ergänzte er seinen Satz.
„Du wirst sehr viel Zeit haben, wenn dir nicht schnell eine passende Antwort einfällt. Solange du überlegst, muss ich dich leider wieder knebeln.“
Bei dem Gedanken, diesen unerträglichen Lappen abermals in ihrem Mund zu spüren, stieg dann doch Panik in ihr auf und sie erschrak. Um nichts in der Welt wollte sie dieses schreckliche Ding nochmals würgen müssen.
Mit weit aufgerissenen Augen bettelte sie:
„Vielleicht helfen sie mir. Geben sie mir doch bitte einen Tipp, der mir den richtigen Weg weist und meinem Gedächtnis hilft, mich daran zu erinnern, weshalb ich hier in diesem Verlies bin.“
Auf ihre Bitte reagierte er nicht, sondern sprach monoton weiter.
„Du drückst dich ungewöhnlich gewählt aus. Man merkt, dass du aus einem sehr guten Stall kommst und du hast Angst vor der Dunkelheit und der Feuchte hier unten, nicht wahr? Ist kein schnuckeliges Plätzchen, bringt aber die Leute zum Reden. Am meisten fürchtest du dich jedoch vor dem Knebel.“
Seine Hände, die in weißen Handschuhen steckten, tätschelten liebevoll den Knebel, bevor er dann ganz nah vor ihrem Gesicht mit ihm herumfuchtelte.
Sie drehte ihr Gesicht zur Seite, blickte auf den Boden, auf das Tablett und merkte, wie Übelkeit in ihr hochkroch. Sie erkannte eine Metallbox mit Deckel, deren Inneres nichts Gutes vermuten ließ, sowie diverse handliche Folterinstrumente, die sie aus unzähligen Fernsehkrimis kannte.
Der Clown registrierte zufrieden, dass ihr die Gegenstände, die sich auf dem Tablett befanden, Panik einflößten und mit einem ironischen Unterton fragte er:
„Gefallen dir die Sachen nicht? Ich habe sie extra für dich ausgesucht, besonders die in dieser hübschen kleinen Kiste.“
Er berührte fast zärtlich den Metallkasten, bevor er ganz langsam den Deckel der Metallbox hochhob. Trotz des geringen Lichts konnte sie erkennen, dass sich in der Box Instrumente befanden, die ein Zahnarzt benutzt. Neben Skalpellen, Zangen und Scheren sah sie Sonden, Kieferspreizer und Pinzetten.
Mit herrischer Stimme befahl er ihr:
„Schau genau hin, es liegt in deiner Hand, wie du die nächsten Stunden, Tage, Wochen vielleicht auch Monate hier verbringen wirst. Wenn du mir sagst, was ich wissen möchte, wird alles gut, mehr oder weniger. Wir werden es uns richtig gemütlich machen und eine sehr schöne Zeit miteinander verbringen. Ich werde schon jetzt ganz traurig, wenn ich daran denke, dass sich unsere Wege irgendwann wieder trennen.“
Er lachte höhnisch, kostete jeden Atemzug seines schauderhaften Schauspiels aus und die behandschuhten Finger seiner rechten Hand tänzelten über die Instrumente hin und her, was von einer gewissen Unentschlossenheit zeugte. Nach einigen Sekunden, die ihr wie Minuten vorkamen, griff er nach einer Zange.
„Siehst du, wie schön sie in meiner Hand liegt?“, fragte er mit diesem irren Unterton in seiner Stimme.
„Sie ist wundervoll, nicht wahr? Du weißt, wozu eine Zange benutzt wird?“
Er betrachtete die Zange hingebungsvoll von allen Seiten. Sandra sagte kein Wort. Sie blieb wie erstarrt auf ihrem Schemel sitzen.
„Ich erkläre es dir. Diese hier ist in ihrer Art sehr speziell. Ich kann sie in einem 90° Grad Winkel senkrecht oder waagerecht anlegen. Das erlaubt mir eine geradezu unendliche Anwendungsbreite in deinem Mund. Also, wenn du mich fragst, dann würde ich an deiner Stelle lieber wieder den Knebel nehmen. Die anderen Sachen kommen noch früh genug zum Einsatz. Wir wollen uns doch nicht die Spannung schon am Anfang nehmen. Wir lassen es langsam angehen.“
Er legte die Zange wieder in die Box und verschloss diese. Dann sah er auf seine Armbanduhr und wurde im nächsten Moment hektisch.
„Ich kann mich heute nicht so lange mit dir beschäftigen. Die Arbeit wartet. Ich habe mich schon viel zu lange hier aufgehalten. Du kannst nun in aller Ruhe darüber nachdenken, warum du hier bist. Wenn ich das nächste Mal durch diese Türe trete, will ich eine Antwort. Also, überlege gut, was du mir sagen möchtest. Keine oder eine falsche Antwort hat Konsequenzen für dich. Welche das sein werden, kannst du dir nun selber ausmalen. Doch bevor ich gehe, darfst du deine Notdurft verrichten und etwas trinken. Ich bin kein Unmensch. Trinken ist wichtig, essen wird überschätzt.“
Er holte einen rostigen Eimer, den er vor dem Verlies abgestellt hatte, in den Raum und stellte ihn etwas abseits des Schemels auf.
Sie sah ihn verwirrt an. Die Fesseln machten es ihr unmöglich, sich die Unterhose auszuziehen und auf den Eimer zu setzen.
„Warte, ich helfe dir. Das mache ich gerne.“
Sie ekelte sich so sehr vor ihm und wollte schreien, aber da hatte er ihr schon mit seinen weißen Handschuhhänden den Slip runtergezogen.
„So müsste es gehen. Setz dich auf den Eimer und beeil dich“, ordnete er an.
Zitternd befolgte sie seine Anweisung und während sie sich entleerte, hielt er ihr eine Flasche Wasser an den Mund.
„Trink und genieße. Das wird für lange Zeit reichen müssen.“
Gierig zog sie an der Flasche. Erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie war.
Nachdem sie die Flasche geleert und er ihren Slip an die richtige Stelle gebracht hatte, führte er sie zurück zum Schemel.
„Mach es dir wieder bequem auf deinem Thron. Den Knebel erspar ich dir. Vielleicht denkst du ohne ihn besser nach“, bemerkte er ironisch, dann nahm er seine gesamte Folterausrüstung an sich, drehte sich um und als er schon fast aus dem Kerker heraus war, wandte er sich nochmals in ihre Richtung.
„Ach ja, Sandra, du wolltest einen Tipp von mir. Eigentlich habe ich dich für schlauer gehalten und gedacht, du findest alleine die Lösung. Du bist doch sonst so cool und abgebrüht. Musst du vielleicht auch sein, wenn du so einen Beruf ausübst.“
Er machte eine kurze Pause.
„Mal sehen, was du mit meinem Hinweis anfangen kannst. Ich sage nur `BLAU`“.
Mit diesem Wort verließ er den Raum. Er schloss die schwere Stahltür hinter sich mehrmals ab und wusste, dass sie nun sehr angestrengt nachdenken würde.
Er hielt sie gefangen in seiner `camera silens`, seinem schweigenden Raum, tief unter der Erde, mit seiner vollständigen Dunkelheit, von dem kein Laut nach draußen dringen würde. Dieses Verlies war so gut wie jeder schallisolierte Raum. Ein längerer Aufenthalt dort könnte bei ihr Halluzinationen und andere Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsfähigkeit hervorrufen. Wenn man sie dann später einmal finden würde, irgendwo weit weg von diesem Ort, wären keine sichtbaren Spuren einer Folter vorhanden, vorausgesetzt, er würde keine anderen Folterformen anwenden. Er war sich so sicher, dass es reichen würde, sie über einen längeren Zeitraum dort festzuhalten, ohne ihr anderweitig Schaden zufügen zu müssen. Beim Anblick seiner Folterinstrumente zitterte sie am ganzen Körper, das hatte er genau beobachtet. Wenn er sie das nächste Mal besuchen würde, wäre sie schon nicht mehr dieselbe. Er wusste genau, welche gesundheitlichen Folgen solch eine Gefangenschaft nach sich zieht.
Physisch träte eine allmähliche Zerstörung ihrer vegetativen Funktionen ein, was sich unter anderem durch eine Veränderung hinsichtlich des Schlaf-, Nahrungsaufnahme- und Urinierbedürfnisses auswirkte. Da sie nichts zu essen bekäme, würde sie unter Kopfschmerzen klagen. Hinzu käme eine psychische und emotionale Hinfälligkeit, die sich in Desorientierung, Konzentrationsschwierigkeiten, Gedankenflucht und schlechtem Erinnerungsvermögen sowie Sprach- und Verständnisdefiziten bemerkbar macht.
Zu lange dürfte er sie allerdings nicht dort lassen. Schließlich wollte er noch einige wichtige Informationen von ihr, die sie ihm als Wahnsinnige nicht geben könnte.
Er beschleunigte seine Schritte, rannte die vielen Treppenstufen hoch, indem er mehrere Stufen auf einmal nahm, um möglichst schnell diese ungastliche Umgebung zu verlassen, in der sich lediglich Fledermäuse, Ratten und Kakerlaken wohlfühlten.
Als er endlich das Tageslicht erblickte, blieb er kurz stehen. Er sah sich kurz um und steuerte dann zielstrebig auf ein in der Nähe geparktes Auto zu. Immer noch die Clownsmaske auf dem Kopf und die weißen Handschuhe an den Händen stieg er in den Wagen ein, startete den Motor, der aufheulte und verschwand hinter einer Staubwolke ins Nichts.
Sandra versuchte, die Ereignisse der letzten Minuten zu verarbeiten. Stress war sie gewohnt. In ihrem Beruf durfte man nicht zart besaitet sein. Man musste einiges einstecken können, Motivation und Ausdauer besitzen, Schwierigkeiten überwinden und ein Ziel vor Augen haben.
Sie überlegte. Er kannte ihren Vornamen und wusste, was sie beruflich machte.
Natürlich kannte er diese Fakten. Wahrscheinlich wusste er noch viel mehr über sie, als nur diese beiden Punkte. Er hatte sie aus einem ganz bestimmten Grund entführt, den sie unbedingt herausbekommen musste. Er wollte sie erniedrigen, klein kriegen, fertig machen. Nicht umsonst hatte er sie in diese lautlose Dunkelheit gesteckt. Aber, er würde sie nicht brechen.
Trotzdem drängten sich ihr unweigerlich Gedanken bestimmter Foltermethoden auf, die er noch anwenden könnte. Zu oft hatte sie in den verschiedensten Krisengebieten, aus denen sie berichtete, mitbekommen, was Menschen angetan wurde, um Informationen aus ihnen heraus zu pressen.
Sie sah die Bilder gefolterter Frauen vor sich, die nach Schlafentzug, Zwangsernährung und der Verabreichung von Drogen nicht mehr dieselben waren. Und das waren nur die ‚harmlosen‘ Misshandlungen, die man ihnen angetan hatte.
„Ich bin mental stärker als er denkt und ich werde dieses grabähnliche Loch lebend verlassen. Ich habe alles unter Kontrolle, das hier ist eine Herausforderung, die ich bewältigen werde“, machte sie sich, laut vor sich her redend, Mut.
Dann fasste sie einen Plan. Erst einmal musste sie ihren Atem wieder unter Kontrolle bekommen, um ihre Hirnregionen zu synchronisieren. Sie atmete viel zu schnell und ihr war kalt. Irgendwo hatte sie gelesen, dass durch eine nasale Einatmung ein tiefer Schaltkreis im limbischen System aktiviert wird, der besonders schnell Angstgefühle verarbeiten und Erinnerungen aufbauen lässt. Und beides benötigte sie jetzt. Sie versuchte, soweit es der wacklige Schemel erlaubte, eine gerade Körperhaltung einzunehmen, indem sie die Beine noch breiter aufstellte, sich gerade hinsetzte und die Schulterblätter zurücknahm. So gut es ging versuchte sie, tief durch die Nase ein und durch die Zähne auszuatmen, wobei sie beim Ausatmen immer eine kurze Atempause machte, um Ruhe in den Rhythmus zu bringen und vollständig abzuschalten, damit sie sich auf die dringende Frage konzentrieren konnte.
Nach einigen Atemzügen begann sie nachzudenken und führte abermals ein Selbstgespräch.
„`Blau`. Was soll ich mit diesem Scheißtipp anfangen? Was fällt mir dazu ein? Eine ganze Menge. Blau ist eine Farbe, blau kann auch ein Zustand sein, eine Beschreibung, etwas Kostbares, denkt man an die Blaue Mauritius. Umgangssprachlich wird es ebenfalls oft benutzt. Es ist die Farbe der Tiefe, des Wassers, der Seen und Meere, in denen ursprünglich alles Lebendige entstanden ist, aber auch der Weite des Himmels, des Göttlichen und Geistigen. Blau gilt als Farbe des Gemüts, sie wirkt beruhigend, entspannend und positiv auf Menschen. Aber das alles ist bestimmt zu oberflächlich, um an die Lösung zu gelangen.
Und damit stellt sich eine weitere Frage. Warum zeigt sich mein Entführer mit einer Horrorclownsmaske und verzehrter Stimme. Wenn er vorhat, mich umzubringen, dann könnte er sich diese Maskerade sparen.
Im besten Fall gehe ich davon aus, dass er mich nicht beseitigt. Aber, warum diese ekelhafte Fratze und nicht eine einfache Wollmütze mit Augenschlitzen?
Er wollte mich erschrecken und von Anfang an klarstellen, wer das Sagen hat. Die Folterinstrumente und die menschenfeindliche Unterbringung in diesem Kerker, all das dient lediglich zu meiner Abschreckung, nicht zu meiner Tötung. Wenn ich ihm sage, was er wissen möchte, wird er mich bestimmt laufen lassen. Ich kenne ihn nicht und stelle keine Gefahr für ihn dar.
Jedoch muss ich erst einmal selber herausfinden, was für ihn das Richtige ist. Bis jetzt weiß ich nicht, was er mir mit dem Begriff ‚BLAU‘ mitteilen will. Ich muss mich zusammen reißen und noch angestrengter nachdenken“, motivierte sie sich.
Zur gleichen Zeit war man einige Kilometer entfernt in großer Sorge um Sandra. Sie hatte sich mit mehreren Freundinnen verabredet, die nun über eine Stunde vor einem Restaurant auf sie warteten. Sie kannten sich alle seit ihrer Schulzeit, machten zusammen Abitur und dann ging jede ihren eigenen Weg. Sie trafen sich nur ab und zu, wenn es gerade in ihre Lebensplanung passte, was der Freundschaft jedoch nicht schadete, so dachten sie zumindest.
„Sie ist sonst nie unpünktlich, im Gegenteil. Meistens ist sie die Erste. Das hat wohl mit ihrem Beruf zu tun. Sie muss immer schnell sein, um an Informationen zu gelangen.“
Mira wählte Sandras Nummer auf ihrem Handy, ohne Erfolg.
„Irgendetwas ist passiert. Ich kann sie auch nicht auf ihrem Handy erreichen“, sagte Mira äußerst besorgt.
„Das ist merkwürdig. Sie hat dieses Ding ständig an, weil sie Angst hat, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn sie nicht erreichbar ist."
„Langsam finde ich das auch seltsam. Gestern Vormittag habe ich sie an ihrem Arbeitsplatz angerufen und sie hat mir versprochen, zu unserem Treffen zu kommen“, erwiderte Penelope.
„Da stimmt was nicht, das spüre ich."
„Was sollen wir denn jetzt machen? “
„Wir könnten uns bei der Redaktion erkundigen und fragen, ob die wissen, wo sie ist“, mischte sich Ines ein. „Eine gute Idee. Pen, du hast doch die Nummer, ruf dort an", schlug Mira vor.
Penelope tippte die Nummer ein und wartete, bis eine Verbindung hergestellt wurde. Zuvor stellte sie noch den Lautsprecher ihres Handys an, damit die anderen mithören konnten. Wenige Sekunden später hatte sie Kontakt mit der Redaktion, bei der Sandra arbeitete. Ohne abzuwarten, wer sich meldet, begann Penelope sofort das Gespräch.
„Penelope Heldritt hier. Einen schönen guten Tag. Ich rufe an, weil ich Sandra Eyb nicht erreichen kann. Ich mache mir Sorgen um Sandra. Wissen sie vielleicht, wo sie ist? Wir sind verabredet und ich warte jetzt schon über eine Stunde auf sie. Unpünktlichkeit ist sonst nicht ihre Art."
Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, die sich mit Dana Lutec meldete, erwiderte freundlich den Gruß und bedauerte, nichts über den derzeitigen Aufenthaltsort von Sandra zu wissen.
„Kann es sein, dass sie im Auftrag der Zeitung unterwegs ist?" wollte Penelope wissen.
„Glauben sie mir, ich kann ihnen wirklich nicht weiterhelfen."
Die Stimme klang verschüchtert und wurde immer leiser, Penelope konnte sie kaum verstehen, lies aber nicht locker. Sie musste unbedingt erfahren, was los war und fragte weiter.
„Könnten sie bitte etwas lauter sprechen, ich verstehe sie kaum. Woran arbeitet sie denn zurzeit? Das müssen sie doch wissen."
„Sorry, am Telefon kann ich ihnen dazu nichts beantworten“, flüsterte sie weiterhin, hinterließ bei Penelope jedoch gleichzeitig einen hektischen, getriebenen Eindruck.
„Heißt das, wenn ich bei ihnen vorbei kommen würde, könnten sie etwas dazu sagen? “
Jetzt wurde es für Penelope höchst interessant. Nach einigen Sekunden des Schweigens antwortete Dana immer noch äußerst unsicher:
„Wir sollten uns nicht hier treffen. Ich schlage das `Café Adler` am Bismarckplatz vor, dort bin ich zu Fuß von hier aus schnell bei ihnen. Sagen wir in etwa einer halben Stunde? Ich muss vorher noch etwas erledigen."
„Gerne, ich werde da sein und bin schon gespannt, was sie zu sagen haben. Bis gleich.“
Das Gespräch war beendet und die Freundinnen sahen sich verwundert an. Ines konnte ihre Ungeduld kaum zügeln und platzte fast vor Neugier.
„Was soll das denn bedeuten? Was machen wir jetzt, sag schon“, bedrängte sie Penelope, die sorgenvoll in die Runde sah.
„Ich befürchte, dass sich unsere Vermutung bestätigen wird. Da stimmt etwas nicht. Warum macht diese Frau so ein großes Geheimnis darüber, womit sich Sandra momentan beschäftigt. Sie wird schon nicht in hochbrisanten Staatsgeheimnissen herumstochern, sie schreibt lediglich die Kolumne im Lokalteil, nichts Weltbewegendes."
Penelope schüttelt den Kopf. Sie ahnte, dass Irgendetwas nicht stimmte. Warum diese Geheimniskrämerei von Frau Lutec? Weshalb konnte sie ihr nicht am Telefon erklären, woran Sandra momentan arbeitete? Merkwürdig war auch, dass Penelope nicht in die Redaktion kommen sollte.
„Wer weiß, welchen Sumpf man hier in der Stadt trocken legen kann und vergesst nicht, bevor sie diesen Job, der meiner Meinung nach unter ihrem Niveau liegt, angenommen hat, war sie für ganz andere Themen zuständig", erwiderte Ines.
Mira hielt sich mit Bemerkungen zurück, was ungewöhnlich war, da sie immer irgendetwas anzumerken oder zu kritisieren hatte. Sie benahm sich, entgegen ihres sonstigen Verhaltens, äußerst zurückhaltend.
„Das ist doch jetzt auch alles egal. Wir sollten hier nicht weiter tatenlos herumstehen und spekulieren, wenn wir die Möglichkeit haben", Penelope schaute auf ihre Armbanduhr, „in genau 25 Minuten und 39 Sekunden die Wahrheit zu erfahren. Also kommt, lasst uns zum Café fahren und dort auf Frau Lutec warten. Sie wird uns sicherlich berichten, warum wir Sarah nicht erreichen."
„Das ist das Beste, was wir machen können“, unterstützte Ines den Vorschlag.
Die drei stiegen in Miras rabenschwarzes M 4er BMW-Cabrio G-Power ein, eigentlich ein Sportrennwagen, dessen Exklusivität durch eine hochwertige beige Ledergarnitur abgerundet wurde. Mira ließ das elektrische Hardtop-Verdeck herunter. Nach dem Regenschauer, der für Abkühlung gesorgt hatte, wollte sie offen fahren, was für sie immer ein Genuss war und das eigentliche Cabrio fahren auszeichnete.
Ines stieg als Erste ein.
„Du hast schon wieder ein neues Auto", bemerkte sie etwas neidisch.
„Ist nur ziemlich eng hier hinten“, stellte sie erstaunt fest, als sie sich auf einen der hinteren Sitze niederließ, was nicht so einfach war, denn sie trug einen ihrer knappen, eng anliegenden Röcke, passend zur schmal geschnittenen Jacke aus der neuesten Chanel Kollektion. Die mit Pfennigabsätzen bestückten High Heels erschwerten den Einstieg ebenfalls.
Ines hatte, im Gegensatz zu den anderen Frauen, die normalgewichtig sowie normalgroß waren, die dafür nötigen Modellmaße. Bei einer Körpergröße von ca. 180 cm stach sie mit ihrer Size-Zero-Figur auch ohne High-Heels aus der Menge heraus.
„Dein Job als Staatsanwältin scheint richtig viel Geld abzuwerfen, obwohl es immer heißt, im Staatsdienst verdient man nicht so gut. Wenn du dir so einen Wagen leisten kannst, dann verdienst du wesentlich mehr, als du uns immer erzählt hast. Wie viel hat er gekostet? Wenn ich die Extras sehe, war das nicht wenig."
Mira wiegelte sofort ab und spielte den neuen Wagen als Kleinigkeit herunter. Niemand musste wissen, wie es sich wirklich mit ihm verhielt, schon gar nicht Ines, dieses Modepüppchen, das dermaßen übertrieben modisch angezogen durch die Gegend lief und über jeden, der in eine Jeans gekleidet war die Nase rümpfte. Sie gab ihr ganzes Geld wahrscheinlich nur für Kleidung und Make-up aus.
„Nur keinen Neid auf den hinteren Plätzen. Der Wagen gehört leider nicht mir. Meiner ist schon länger in der Werkstatt, das ist ein Ersatzfahrzeug, das mir großzügigerweise überlassen wurde“, bemerkte sie schnell und fügte noch hinzu:
„In so einem engen Rock fiele es mir auch schwer, in den Wagen einzusteigen."
Ines überhörte die eindeutig negative Bemerkung über ihre neueste Errungenschaft. Sie war en vogue, was man von den anderen beiden nicht behaupten konnte. Sie schluckte ihren Unmut herunter.
„Unglaublich. Wie heißt dieser Betrieb? Ich wünschte, meine Autowerkstatt hätte auch solche Ersatzfahrzeuge. Dann wäre mein Wagen ständig zur Reparatur."
Sie konnte sich jedoch diese Bemerkung nicht verkneifen, zumal Mira bei jedem ihrer Treffen, abfällige Bemerkungen über ihren Kleidungsstil machte.
Pen hielt sich, wie immer, aus dieser Art der Diskussion heraus. Das war ihr zu oberflächlich. Langsam setzte sie sich auf den Beifahrersitz, schnallte sich an und gab ihr O.K., um endlich loszufahren, damit sie pünktlich am vereinbarten Treffpunkt mit Frau Lutec reden konnten.
Alle waren äußerst angespannt und zugleich voller Hoffnung, endlich mehr über Sandras Verbleib erfahren zu können.
Sie fuhren ungefähr zwanzig Minuten bis zum besagten Café und fanden in unmittelbarer Nähe einen Parkplatz.
Da das Wetter schön war, nahmen sie an einem der Tische Platz, die draußen standen und mit einem Sonnenschirm ausgestattet waren.
Mira schnappte sich sofort die Speisekarte und blätterte darin herum.
„Hast du etwa Hunger? Wohl nicht gefrühstückt?“, wollte Ines wissen.
„Ich sehe immer gerne nach, welches Angebot in den einzelnen Speiselokalen und Cafés vorhanden ist, dann kann ich sofort erkennen, ob es sich lohnt, etwas zu bestellen oder ob man lieber wieder aufstehen und woanders hingehen soll“, gab Mira lapidar zur Antwort.
„Was hier steht, ist sowie so nicht nach meinem Geschmack, zu viel Fett und Kohlenhydrate, zu wenig Vitamine. Das können die alles selber essen.“
Sie verzog ihr Gesicht, so als ob sie sich ekelte und legte die Karte aus der Hand. Ines wurde etwas zickig.
„Seit wann achtest du dermaßen auf deine Figur, das ist eine ganz neue Seite an dir. Früher war dir egal, was du in dich reingestopft hast.“
Penelope, die genug hatte von der ewig verstockten Auseinandersetzung zwischen den beiden, stellte als Einzige die entscheidende Frage:
„Woran erkennen wir denn jetzt Frau Lutec? Hat jemand von euch eine Idee?“
„Gute Frage", pflichtete Ines bei.
„Wirklich gute Frage", musste Mira ebenfalls eingestehen und zu Penelope gewandt sagte sie:
„Warum hast du nicht nachgefragt? Wir wissen nur, dass sie eine noch relativ junge Stimme hat und einen slawischen Akzent.“
„Das ist ziemlich unfair von dir“, entgegnete Penelope beleidigt.
„Du hast das Gespräch über Lautsprecher mitbekommen und ebenfalls nicht nachgehakt, wie wir sie erkennen können. Also, werfe mir jetzt nicht vor, ich hätte einen Fehler gemacht.“
„So habe ich das nicht gemeint. Du bist immer so schnell aufgebracht“, sagte Mira zu ihrer Verteidigung.
„Statt zu streiten, sollten wir nach einer Lösung suchen und diese auch finden“, versuchte Ines die Situation zu entspannen.
Penelope sah sich um. Außer ihnen saß lediglich ein älteres Ehepaar zwei Tische weiter und vergnügte sich mit Kaffee und Sahnetorte.
Das Ehepaar fiel auch Mira auf. Abfällig bemerkte sie:
„Denen schadet das Fett nicht mehr, so dick wie die sind, können sie sich direkt noch eine ordentliche Portion nachbestellen.“
Ines kullerte mit ihren großen Puppenaugen. Mira konnte so gehässig sein. Musste man diesen Wesenszug besitzen, wenn man als Staatsanwältin Karriere machen wollte?
„Hier draußen sitzt sie jedenfalls nicht. Ruf doch noch mal an und sage ihr, dass wir schon hier sind und an, Moment “ sie sah auf das Tischschild, „an Tisch 12 sitzen", schlug Ines vor.
„Eigentlich müsste sie doch schon längst hier sein. Sie hatte gesagt, dass es lediglich fünf Minuten zu Fuß sind von der Redaktion bis hierher. Ich sehe mich erst mal im Café um. Vielleicht sitzt sie längst dort und wartet auf uns. Wenn nicht, kann ich immer noch anrufen", gab Penelope zurück.
Eilig ging sie in das Kaffeehaus und sah sich um. Von Frau Lutec keine Spur. Als sie wieder aus dem Café kam, schüttelte sie den Kopf.
„Drinnen ist sie leider nicht. Die Bedienung kann sich ebenfalls nicht an sie erinnern. Sie ist wohl erst auf dem Weg hierher."
„Wir können ihr auch entgegen gehen. Wie es aussieht, gibt es nur einen direkten Weg dorthin", warf Ines ein.
„So machen wir es. Auf dem Weg werde ich noch einmal in der Redaktion anrufen", bekräftigte Penelope.
Sie gingen los und Penelope wählte wieder die Redaktionsnummer. Dieses Mal war eine männliche Stimme am Apparat.
„Schönen guten Tag. Ich möchte gerne Frau Lutec sprechen."
„Frau Lutec hat schon Feierabend. Tut mir leid."
„Oh, könnten sie mir bitte ihre Handynummer geben, es ist wichtig."
„Wir geben leider keine Privatnummern an Fremde heraus."
„Das verstehe ich, aber ich bin keine Fremde", log sie und räusperte sich.
„Ich bin ihre Schwägerin und Dana wollte mir ihre Handynummer geben, die sich geändert hat, da sie ein neues erworben hat. "
„Einen Augenblick bitte", antwortete der Mann.
Sekundenlanges Schweigen am anderen Ende der Leitung und Penelope hatte den Eindruck, dass sich der Mann mit jemandem besprach. Das gab ihr die Gelegenheit den anderen mit Gesten zu verdeutlichen, dass sie gleich eine Nummer aufschreiben sollten.
Dann meldete sich die Stimme wieder.
„Hören sie!"
„Ja?"
„Ausnahmsweise verrate ich ihnen die Nummer, das darf ich eigentlich nicht. Aber sie müssen mir versprechen, sie niemandem weiterzugeben."
„Natürlich gebe ich die Nummer nicht weiter, warum sollte ich. Ich bin lediglich daran interessiert, Dana zu erreichen."
„O.K. Sie lautet 01577/39211210 und der Klingelton ist ziemlich gewöhnungsbedürftig, er ähnelt einer kreischenden Möwe. “
„Ich danke ihnen vielmals."
Schnell beendete sie das Gespräch, weil sie keine Lust hatte, eventuelle Fragen des Mannes zu beantworten. Zu Ines gewandt fragte sie:
„Hast du mitgeschrieben?"
„Klar."
„Dann zeig mal her."
Während sie auf den Zettel schaute und alle weitergingen in Richtung Redaktion, tippte sie die Nummer ein. Es dauerte etwas, bis die Verbindung zustande kam. Gerade, als sie an einer Toreinfahrt vorbei gingen, ertönte das Freizeichen und sie hörten das Kreischen einer Möwe. Erstaunt sahen sie sich an.
„Das kann nicht sein. Die Stadt liegt nicht am Meer, nicht mal an einem Fluss. Hier gibt es keine Möwen", bemerkte Ines als Erste.
Sie sahen in die Toreinfahrt.
„Das Kreischen kommt eindeutig aus dieser Richtung. Lasst uns nachsehen", sagte Penelope.
Sie hielt immer noch die Telefonverbindung aufrecht.
Sie durchquerten die Toreinfahrt und fanden sich auf einem Gelände wieder, das einen sehr heruntergekommenen Eindruck machte. Tristesse pur. Von der Straße aus, war davon nichts zu erkennen. Früher musste hier einmal eine riesige Maschinenfabrik gewesen sein. Das Schild „Maschinenbau Schröder" war ein Indiz dafür. Sie verteilten sich und jede von ihnen suchte in einer anderen Richtung.
„Die Fabrik hat auch schon bessere Zeiten erlebt, überall dieser Schutt. Das ist schon fast eine Ruine", schrie Ines aus ihrer Ecke rüber zu den anderen und schüttelte den Kopf.
„Pst", zischte Penelope.
„Der Ton wird lauter. Irgendwo hier muss dieses Ding oder was auch immer sein."
Kaum hatte sie die Bemerkung ausgesprochen, blieb sie wie angewurzelt stehen und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken.
Vor ihr lag, umgeben von zerschlagenen Steinen, inmitten von Glasscherben und Müll eine Frau, die ein Handy in der Hand hielt. So, wie sie dalag, mit erkennbaren Schussverletzungen, war klar, dass sie umgebracht wurde.
Die beiden anderen kamen sofort auf sie zugestürmt.
„Merde", flüsterte Penelope, nachdem sich ihr erster Schock gelegt hatte.
„Das muss Frau Lutec sein."
„Meinst du wirklich?" fragte Ines verstört.
Sie hatte noch nie eine Leiche so unmittelbar gesehen, immer nur in Krimis. Für Mira als Staatsanwältin war das nichts Besonderes, auch Penelope kannte sich mit Tierkadavern aus.
„Sicher. Wer sollte es sonst sein", gab Mira schnippisch zurück.
Penelope handelte.
„Ich unterbreche die Verbindung und wähle nochmals neu. Wenn das Handy nicht mehr klingelt und dann doch wieder, ist sie es."
Leider hatte sie Recht. Der Klingelton verstummte, als sie die Verbindung unterbrach und die Möwe kreischte wieder, als sie die Nummer erneut eingab.
Entsetzt wandte sich Ines an die anderen beiden.
„Was machen wir denn jetzt? Vielleicht lebt sie noch. Sollen wir ihren Puls fühlen?“
„Die ist doch mausetot. Das siehst du doch. Wir müssen die Polizei benachrichtigen, daran kommen wir nicht vorbei" erwiderte Mira sofort etwas lauter als normal.
„Wie erklären wir der Polizei, dass wir die Leiche ausgerechnet hier, in einem sehr heruntergekommenen Hinterhof gefunden haben. Mira, du bist Staatsanwältin, du musst doch wissen, dass wir uns in einer mehr als üblen Situation befinden" gab Penelope zu Bedenken.
„Penelope hat schon wieder Recht, Mira. Das geht so nicht. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Also überlegt, was wir machen können.“
Es wurde still und alle dachten nach, bis Mira das Denken unterbrach.
„Wisst ihr was ich mich die ganze Zeit frage?"
„Was denn?" wollte Ines wissen.
„Ist es möglich, dass das Verbrechen an Frau Lutec mit dem Verschwinden von Sandra zusammenhängt? Wenn ja, ist sie ebenfalls in Gefahr oder bereits tot?"
„Ein weiterer Grund, schnellstmöglich von hier zu verschwinden", erklärte Penelope und steckte das Mobile von Frau Lutec ein, während sie den anderen anzeigte, sich vom Ort zu entfernen.
„Warum nimmst du das Handy mit?" fragte Ines.
„Damit verständigen wir anonym die Polizei und werden nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht."
„Die Idee ist gut und wie geht es dann weiter? Wohin fahren wir?" hakte Ines nach.
„Erst mal raus aus der Stadt und weit weg von hier. Irgendwo hin, wo wir in Ruhe die Polizei informieren und dann das Handy entsorgen können", gab Mira zur Antwort.
Schnellen Schrittes immer noch geschockt und wortlos gingen alle in Richtung des geparkten Wagens, stiegen ein und fuhren los.
Keine der drei Freundinnen ahnte, dass sie bereits seit längerer Zeit aus einiger Entfernung beobachtet wurden und ein silberfarbener Wagen ebenfalls in ihre Richtung fuhr.
Im Kerker dachte Sandra weiterhin angestrengt nach, was ihr jedoch angesichts ihrer Körperhaltung immer schwerer fiel. Wenn sie das alles einigermaßen unversehrt überstehen wollte, durfte sie jetzt nicht nachlassen. Sie machte sich selber Mut.
Schon in der Schule nannten Sandra alle ‚das menschliche Lexikon‘, da sie, aufgrund ihres fotografischen Gedächtnisses, alles Wissenswerte in sich aufsog wie ein Schwamm.
Aber jetzt endete jeder Gedanke in einer Sackgasse.