Amyotrophe Lateralsklerose und andere Motoneuronerkrankungen -  - E-Book

Amyotrophe Lateralsklerose und andere Motoneuronerkrankungen E-Book

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Beschreibung

There has been a fundamental revolution of our understanding of ALS in recent years. It is a multisystem neuromuscular disease that has a neurodegenerative basis which, along with the frontotemporal dementias, represents a spectrum of conditions. Cognitive and behavioural disorders are now an integral part of the diagnostic criteria, and initial diagnostic biomarkers have been established. This has significant implications not only for the diagnosis, treatment and care of patients, but also for our understanding of the pathophysiology of the disease. Rapidly advancing technical developments, such as eye control&based communication, are creating novel opportunities for therapists, patients and their relatives, which are increasingly influencing borderline decisions for and against life-prolonging measures. This book takes account of these new developments and develops novel concepts ranging from basic science to the classification and diagnosis of the disease to the opportunities and limitations of current and future treatment options and approaches to care.

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Der Herausgeber

Prof. Dr. med. Dr. rer. med. Andreas Hermann ist Facharzt für Neurologie und wurde auf die Professur der Hermann und Lilly Schilling-Stiftung berufen. Er ist Sektionsleiter der Sektion für Translationale Neurodegeneration »Albrecht Kossel« an der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universitätsmedizin Rostock. Seine Ausbildung erfuhr er u. a. in Ulm, Dresden und Boston. Er beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit Motoneuronerkrankungen. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten einerseits grundlagenwissenschaftliche Arbeiten zur Pathophysiologie der Erkrankung, andererseits klinische Forschung mit dem Schwerpunkt neuartiger Versorgungskonzepte und -methoden inkl. der Versorgung von Locked-in-Patientinnen und Patienten.

Andreas Hermann (Hrsg.)

Amyotrophe Lateralsklerose und andere Motoneuronerkrankungen

Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039166-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-039167-3

epub:   ISBN 978-3-17-039168-0

 

Inhalt

 

 

 

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

1    Vorwort

Andreas Hermann

I    Patho(physio)logie der Erkrankung

2    Genetik

David Brenner und Jochen H. Weishaupt

2.1    Einleitung

2.2    Gesicherte ALS-Gene

2.3    ALS-Gene mit nicht vollständig gesicherter Relevanz

2.4    Genetische Risikofaktoren und Modifier

Literatur

3    Pathologie

Andreas Hermann

3.1    Einleitung

3.2    Makroskopie

3.3    Mikroskopie

3.4    Molekulare Pathologie

3.5    Molekulare Pathologie der fALS

3.6    Krankheitsausbreitung

Literatur

4    Pathophysiologie

Andreas Hermann

4.1    Einleitung

4.2    Aktuelle Konzepte der Pathophysiologie

Literatur

II    Syndromatologie

5    Motorische Einteilung und Differenzialdiagnosen

Susanne Petri

5.1    Motorische Einteilung

5.2    Diagnosekriterien

5.3    Phänotypen der ALS

5.4    Differenzialdiagnosen

Literatur

6    Kognition, Verhalten

Johannes Prudlo und Elisabeth Kasper

6.1    Einleitung

6.2    Phänomenologie

6.3    Diagnostik

6.4    Motor Cognition

6.5    Non-motor Progression

6.6    Prognose

Literatur

7    Syndromatologie und Therapie der Spinalen Muskelatrophie (SMA)

Christoph Kamm

7.1    Einführung

7.2    Syndromatologie, Klinik und Genetik der spinalen Muskelatrophie (SMA)

7.3    Therapie der spinalen Muskelatrophie (SMA)

Literatur

8    Diagnostik und Verlauf der ALS

Julian Großkreutz und Andreas Hermann

8.1    Einleitung

8.2    Klinische Diagnose

8.3    Zusatzdiagnostik

8.4    Verlauf

Literatur

III    Therapie

9    Therapie der ALS

René Günther und Jan Christoph Koch

9.1    Einleitung

9.2    Symptomatische Therapien

9.3    Krankheitsmodifizierende Therapien

Literatur

10    Diagnostik und Therapie von Atmungsstörungen

Matthias Boentert

10.1    Einleitung

10.2    Pathophysiologie von Atemmuskelschwäche und ventilatorischer Insuffizienz

10.3    Symptome der Atemmuskelschwäche

10.4    Klinische Bedeutung der respiratorischen Insuffizienz

10.5    Diagnostik

10.6    Therapie

10.7    Heimbeatmung und Palliativmedizin

Literatur

IV    Versorgung

11    Versorgungskonzepte und Hilfsmittelversorgung

Thomas Meyer

11.1    Domänen motorischer Funktionsdefizite bei der ALS

11.2    Ziele der Versorgung mit Hilfsmitteln und Assistenztechnologie

11.3    Wichtige Hilfsmittel mit geringerer Komplexität

11.4    Neue Entwicklungen und Perspektiven in der Hilfsmittelversorgung

11.5    Versorgungsnetzwerke und Plattformen

11.6    Zusammenfassung

Literatur

12    Psychologische Aspekte der ALS

Elisa Aust und Katharina Linse

12.1    Lebensqualität und psychisches Befinden von Patienten und Angehörigen

12.2    Schlüsselfaktor Kommunikation

Literatur

13    Palliativmedizin

Torsten Grehl

13.1    Einleitung

13.2    Aufklärung – Early Integration

13.3    Patientenverfügung

13.4    Spezifische palliativmedizinische Themen

Literatur

Stichwortverzeichnis

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

 

 

Elisa Aust, M.Sc. Psych.

Technische Universität Dresden, Klinik und Poliklinik für Neurologie

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

[email protected]

PD Dr. Matthias Boentert

Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie

Universitätsklinikum Münster

Albert-Schweitzer-Campus 1

48149 Münster

Klinik für Innere Medizin, Bereich Neurologie

UKM-Marienhospital Steinfurt

Mauritiusstr. 5

48565 Steinfurt

[email protected]

Dr. David Brenner

Neurologische Klinik Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm (RKU)

Oberer Eselsberg 45

89081 Ulm

[email protected]

Dr. Torsten Grehl

Neurologische Klinik

Ambulanz für ALS und andere Motoneuronerkrankungen

Alfried Krupp Krankenhaus Essen Rüttenscheid

Alfried-Krupp-Str. 21

45131 Essen

[email protected]

PD Dr. Julian Großkreutz

Präzisionsneurologie der Universität zu Lübeck

Neuromuskuläres Zentrum Schleswig- Holstein

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck

Ratzeburger Allee 160, Haus D1

23538 Lübeck

[email protected]

Dr. René Günther

Spezialambulanz für Motoneuronerkrankungen

Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden und Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Dresden

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

[email protected]

Prof. Dr. Dr. Andreas Hermann

Sektion für Translationale Neurodegeneration »Albrecht Kossel«,

Klinik und Poliklinik für Neurologie,

Universitätsmedizin Rostock, und

Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE e. V.) in der Helmholtz-Gemeinschaft

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

[email protected]

PD Dr. Christoph Kamm

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Universitätsmedizin Rostock

Gehlsheimer Str. 20

18147 Rostock

[email protected]

Dr. Elisabeth Kasper

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Universitätsmedizin Rostock

Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE e. V.) in der Helmholtz-Gemeinschaft

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

[email protected]

PD Dr. Jan Christoph Koch

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen

Spezialambulanz für Motoneuronerkrankungen

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

[email protected]

Dr. rer. medic. Katharina Linse

Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden und

Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Dresden

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

[email protected]

Prof. Dr. Thomas Meyer

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Ambulanz für ALS und andere Motoneuronerkrankungen

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

[email protected]

Prof. Dr. Susanne Petri

Klinik für Neurologie

Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

[email protected]

Prof. Dr. Johannes Prudlo

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Universitätsmedizin Rostock und

Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE e. V.) in der Helmholtz-Gemeinschaft

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

[email protected]

Prof. Dr. Jochen H. Weishaupt

Neurologische Klinik

Universitätsmedizin Mannheim

Medizinische Fakultät Mannheim

Universität Heidelberg

Theodor-Kutzer-Ufer 1–3

68167 Mannheim

[email protected]

1          Vorwort

Andreas Hermann

In einer älter werdenden Gesellschaft sind immer mehr Menschen von Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und anderen Motoneuronerkrankungen betroffen. Durch den zügigen Verlauf der Krankheit und die sich schnell entwickelnde Immobilität der Patientinnen und Patienten ist es herausfordernd, diese bestmöglich zu betreuen.

In den letzten Jahren hat sich das Verständnis der ALS grundlegend revolutioniert. So handelt es sich um eine neuromuskuläre Multisystemerkrankung auf neurodegenerativer Grundlage, die ein Krankheitsspektrum mit den frontotemporalen Lobärdegenerationen bildet. Kognitive/Verhaltensauffälligkeiten sind heutzutage fester Bestandteil der Diagnosekriterien, erste diagnostische Biomarker etabliert. Dies hat nicht nur erhebliche Konsequenzen für die Diagnostik, Behandlung und Versorgung der Patienten, sondern auch für das pathophysiologische Verständnis bishin zu möglichen individualisierten Therapiestrategien. Rasant zunehmende technische Entwicklungen schaffen neuartige Möglichkeiten aber auch ungeahnte Grenzentscheidungen für Behandler, Patienten und deren Familien, die Entscheidungen für und gegen lebensverlängernde Maßnahmen zunehmend beeinflussen.

Diese Monografie möchte diesen neuen Entwicklungen Rechnung tragen und neuartige Konzepte von der Grundlagenwissenschaft, über Klassifikation und Diagnostik der Erkrankung, Möglichkeiten und Grenzen aktueller und zukünftiger Therapieoptionen und Versorgungskonzepten mit der Leserin und dem Leser entwickeln. Wir haben uns bemüht, verständlich genug für Neulinge sowie tiefgründig genug für Fortgeschrittene zu schreiben. Mein Ziel war es dabei, das gesamte Spektrum der Erkrankung abzubilden. Ansprechen möchte ich hiermit nicht nur Neurologen und Psychiater, sondern vielmehr auch Palliativmediziner, Psychologen, Neuropathologen, Neurobiologen, Grundlagenwissenschaftler und diejenigen, die sich für die Erkrankung interessieren.

Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Buch bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

Ich möchte jede Leserin und jeden Leser unseres Buches ermuntern, mir Anregungen, Korrekturen und kritische Kommentare zukommen zu lassen. Dies würde mir sehr helfen, potenzielle Schwächen und Fehler für späteren Auflagen zu verbessern.

Bedanken möchte ich mich bei allen Mitwirkenden, den Autoren der einzelnen Kapitel, den Lektoren und dem Kohlhammer Verlag für die Verwirklichung unseres Projektes.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich nun eine gute Lektüre.

Rostock im Frühjahr 2022

Ihr Andreas Hermann

I           Patho(physio)logie der Erkrankung

2         Genetik

David Brenner und Jochen H. Weishaupt

2.1       Einleitung

Bis zu 10 % aller ALS-Fälle sind monogen verursacht. Mutationen in einiger der ALS-Gene können zusätzlich oder ausschließlich eine frontotemporale Demenz (FTD) verursachen. ALS wird autosomal-dominant, selten autosomal-rezessiv, und nur im Fall eines Gens (UBQLN2) X-chromosomal rezessiv vererbt. Nicht bei allen genetisch verursachten ALS-Fällen liegt dabei eine positive Familienanamnese mit Erkrankung weiterer Familienangehöriger (familiäre ALS, FALS) vor – sei es, weil es sich um eine de novo Mutation handelt oder aufgrund unvollständiger Penetranz des Gendefekts mit Überspringen einer oder mehrerer Generation(en). So können bei einigen Prozent der als sporadisch geltenden Fälle, also ALS-Erkrankten ohne weitere betroffene Familienmitglieder, kausale Genveränderungen nachgewiesen werden. Die genetische Aufklärungsrate familiärer ALS-Fälle mittels Gesamt-Exom-Sequenzierung liegt in Deutschland bei 50–60 % (Müller et al. 2018). Durch den technologischen Fortschritt in der humangenetischen Diagnostik (»Next generation sequencing«, NGS) wurden Mutationen in mehr als 30 verschiedenen Genen mit ALS assoziiert. Dabei ist zwischen Genen, die eine ALS monogen verursachen können, Genen, die im Sinne von Risikofaktoren das Risiko an ALS zu erkranken erhöhen, und Genen, die den Verlauf einer ALS modifizieren können (Modifier), zu unterscheiden. Abhängig vom Mutationstyp und der Penetranz der Genveränderung sind diese Grenzen bei einigen ALS-Genen jedoch fließend (z. B. NEK1 oder TBK1). Oft bleibt auch die Pathogenität von seltenen Varianten in sicher mit der ALS assoziierten Genen unklar (Varianten unklarer Signifikanz, VUS). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn keine Familienanamnese erhältlich ist und eine Ko-segregation mit der ALS-Erkrankung nicht zu sichern ist, die Variante noch nicht bei anderen Patienten beschrieben wurde und eine funktionelle Analyse der genetischen Variante nicht möglich ist (etwa wenn der genaue Pathomechanismus des Gendefekts nicht hinreichend gesichert ist – was immer noch die Regel ist). Eine unklare Anzahl an sporadischen Patienten weist genetische Veränderungen in mehreren ALS-Genen zugleich auf (Van Blitterswijk et al. 2012). Hier wird von einer oligogenen Verursachung gesprochen; da die einzelnen Genvarianten meist jeweils eine niedrige Effektstärke haben, ist das Vererbungsmuster komplex. Für ALS-Mutationen konnten loss-of-function (LoF)- sowie gain-of-(toxic)-function (GoF)-Mechanismen gezeigt werden. In vielen Fällen liegt wahrscheinlich auch eine Kombination von LoF- und GoF-Mechanismus vor.

Konzeptionell hat die Entdeckung von genetischen Ursachen der ALS entscheidend zum Verständnis der Erkrankung auf molekularer Ebene beigetragen. Man geht aktuell davon aus, dass die Vielzahl an verschiedenen ALS-Genen funktionell in wenige zellbiologischen Vorgängen konvergiert (insbesondere Proteinhomöostase, RNA-Prozessierung und axonaler Transport) (Weishaupt et al. 2016).

2.2       Gesicherte ALS-Gene

Es wird angenommen, dass die meisten ALS-Genmutationen die Krankheit monogen verursachen. Dies bedeutet, dass die meisten ALS-Mutationen in der allgemeinen Population eine geringe Häufigkeit, aber zugleich hohe Effektstärke haben, welche zu einer meist autosomal-dominanten Vererbung führt.

Nach strengen Kriterien gibt es zwei Bedingungen, welche die Pathogenität von Genveränderungen beweisen können: 1.) Der Nachweis einer Ko-Segregation von Genmutation und Erkrankung in der Stammbaum-Analyse (Linkage analysis mit Berechnung eines statistisch signifikanten LOD-Scores) und/oder 2.) eine genom-weit statistisch signifikante Anreicherung von verschiedenen Mutationen in einem Gen in ALS-Patienten verglichen mit gesunden Kontrollgruppen. Tabelle 2.1 listet diejenigen Gene auf, welche gemäß diesen Kriterien als gesicherte ALS-Gene gelten, geordnet nach ihrer Häufigkeit bei familiären ALS-Patienten in Deutschland ( Abb. 2.1). Mutationen in einem beträchtlichen Anteil dieser Gene können auch eine frontotemporale Demenz (FTD) sowie weitere Phänotypen bedingen ( Tab. 2.1). Dabei kann ein und dieselbe Mutation innerhalb einer Familie bei verschiedenen Familienmitgliedern unterschiedliche Phänotypen (z. B. ALS und FTD) auslösen.

Im Folgenden beschreiben wir die Charakteristika der in Deutschland am häufigsten mutierten, sicher pathogenen, vermutlich monogen wirkenden ALS-Gene. Die proportionalen Häufigkeiten der einzelnen ALS-Gene beziehen sich auf deutsche FALS-Patienten (Müller et al. 2018).

C9ORF72

Eine Hexanukleotid-Expansion im Gen C9ORF72-Gen ist mit ca. 25 % die häufigste Ursache familiärer ALS in Europa. Der Erbgang ist autosomal-dominant. Das C9ORF72-Protein wird in verschiedenen Geweben exprimiert. Es gibt Hinweise darauf, dass es an der Regulation von Autophagie, nukleozytoplasmatischem Transport und Immunprozessen beteiligt ist. Pathophysiologisch führt die Repeat-Expansion wahrscheinlich zu einem Gain-of-function (durch die toxischen aberrant translatierten RNA- und Peptidprodukte) als auch zu einem Loss-of-function. Die C9ORF72-Mutation kann sich in verschiedenen Familienangehörigen mit unterschiedlichen Phänotypen manifestieren. Dabei geht die Bandbreite der klinischen Syndrome über das ALS-FTD-Spektrum hinaus und beinhaltet auch hypo- oder hyperkinetische Bewegungsstörungen (Cooper-Knock et al. 2015). ALS-Patienten mit C9ORF72-Mutation zeigen im Vergleich zur Kohorte der Patienten ohne bekannte genetische Ursache ein ähnliches Erkrankungsalter, jedoch im Mittel eine kürzere Überlebensdauer (Umoh et al. 2016). Hinsichtlich der Repeat-Expansion scheint eine Antizipation keine relevante Rolle zu spielen. Neuropathologisch imponieren intranukleäre RNA foci welche aus der Transkription der Hexanukleotid-Expansion hervorgehen. Gleichzeitig finden sich intrazelluläre Ablagerungen, welche Ubiquitin, p62 und hyperphosphoryliertes TDP-43 bzw. Dipeptid Repeat Proteine enthalten. Letztere entstehen durch unkonventionelle Translation der (eigentlich intronischen) Hexanukleotid-Repeats und sind in Neuronen, Gliazellen, aber auch im Liquor zu finden (Cooper-nock et al. 2015). Derzeit befinden sich genspezifische Antisense-Oligonukleotid (ASO)-Therapien, welche sich gegen die C9ORF72-Mutation richten, in der klinischen Testung (NCT03626012 und NCT04931862).

Abb. 2.1: Häufigkeit der Mutation einzelner ALS-Gene in deutschen FALS-Patienten nach whole-exome-Sequenzierung. 43 % der FALS-Fälle bleiben kryptogen (Müller et al. 2018, © 2018, mit freundlicher Genehmigung von BMJ Publishing Group Ltd.).

SOD1

SOD1 wurde 1993 als erstes ALS-Gen entdeckt und ist das am zweithäufigsten mutierte ALS-Gen bei familiärer ALS (11 % aller FALS-Fälle in D). SOD1 ist ein ubiquitär exprimiertes antioxidatives Enzym, das reaktive Sauerstoffspezies (ROS) in weniger toxische Moleküle umwandelt. Pathomechanistisch wird von einem überwiegenden Gain-of-toxic-function durch das mutierte Protein ausgegangen. Dabei spielt die durch die Mutation bedingte Fehlfaltung des Proteins wahrscheinlich eine entscheidende Rolle. Der Krankheitsbeginn und -verlauf hängen von der spezifischen Mutation ab, wobei diesbezüglich auch innerhalb einer Familie eine erhebliche interindividuelle Variabilität bestehen kann. Neuropathologisch stellen sich intraneurale zytoplasmatische Aggregate des mutierten Proteins dar. Der Erbgang ist meist autosomal-dominant. Eine Ausnahme stellt die D90A-Mutation in SOD1 dar, welche sowohl autosomal-dominant als auch autosomal-rezessiv vererbte ALS auslösen kann. Eine erste genspezifische auf Antisense-Oligonukleotiden (ASO) basierende Therapie, die auf eine Herunterregulation der SOD1-mRNA- und damit der SOD1-Proteinmenge abzielt, befindet sich aktuell in der fortgeschrittenen klinischen Testung, der Wirksamkeitsnachweis war zunächst negativ, einige sekundäre read-outs aber vielversprechend (NCT02623699).

FUS

Das Gen FUS kodiert ein RNA-bindendes Protein. Der Anteil von FUS-Mutationen beträgt bei der FALS ca. 4 %. Bestimmte FUS-Mutationen sind mit einem außergewöhnlich schnellen Verlauf der Erkrankung und einem Beginn der Symptome in einem frühen Lebensalter verbunden (Naumann et al. 2019). Deswegen ist FUS das am häufigsten mutierte ALS-Gen bei sehr früh beginnender ALS, bei denen in knapp der Hälfte der Fälle de novo-Mutationen in FUS auftreten (Hübers et al. 2015; Naumann et al. 2019). Der Erbgang von FUS-Mutationen ist autosomal-dominant. FUS ist ein ubiquitär exprimiertes, vorwiegend im Nukleus lokalisiertes DNA-/RNA-bindendes Protein, das an der Spleißregulation, der Bildung von stress granules und der DNA-Reparatur beteiligt ist. Pathomechanistisch geht man in erster Linie von einem GoF-Mechanismus des mutanten Proteins aus. Gleichzeitig wird aber auch ein nukleärer loss-of-function-Mechanismus diskutiert, da die ALS-Mutationen meist die Kernlokalisationssequenz des Proteins betreffen, mit dadurch verursachter nukleozytoplasmatischer Translokation sowie erhöhter Aggregationsneigung des Proteins im Zytoplasma. FUS-Mutationen sind neuropathologisch durch FUS-positive Aggregate in ZNS-Gewebe von ALS-Patienten gekennzeichnet. FUS-Mutationen manifestieren sich nur äußerst selten als FTD. Allerdings finden sich neuropathologisch im post-mortem-Gewebe von FTD-Patienten nicht selten FUS-positive Ablagerungen (ohne FUS-Mutation), welche dann aber auch weitere RNA-bindende Proteine enthalten (z. B. TIA1, HNRNPA1 etc.). Ein die FUS-Expression herunterregulierendes ASO befindet sich aktuell in der fortgeschrittenen klinischen Testung (NCT04768972).

TARDBP

Das Proteinprodukt des ALS-Krankheitsgens TARDBP,TDP-43, ist ein ubiquitär exprimiertes RNA-bindendes Protein, welches unter anderem das alternative Splicing multipler prä-mRNAs reguliert. Mutationen in diesem Gen stellen die vierthäufigste genetische Ursache familiärer ALS in Deutschland dar (4 % aller FALS-Fälle). TDP-43-Mutationen akkumulieren in der C-terminalen low complexity domain, welche zu einer Aggregationsneigung und möglichem Prion-ähnlichem Verhalten des Proteins führt. ALS/FTD-Mutationen führen zu einer weiter erhöhten Autoaggregationsneigung, und möglicherweise dadurch bedingt zu einer nukleo-zytoplasmatischen Umverteilung des Proteins. Pathomechanistisch ist noch nicht völlig geklärt, ob die Mutationen in TARDBP (durch die Umverteilung vom Kern in das Zytoplasma der Zellen) zu einem Verlust von TDP-43-Funktion im Kern führt, oder möglicherweise zusätzlich auch ein toxischer Effekt des zytoplasmatischen, zur Aggregation neigenden mutierten TDP-43-Proteins eine Rolle spielt. Krankheitsbeginn und -verlauf hängen von der Aggressivität der Mutation ab. Manche Patienten entwickeln zusätzlich ein Parkinson-Syndrom. Darüber hinaus können sich TARDBP-Mutationen auch als FTD manifestieren. Neuropathologisch imponieren neurale und gliale zytoplasmatische hyperphosphorylierte TDP-43-Inklusionen. Allerdings sind TDP-43-Aggregate nicht spezifisch für Patienten mit TARDBP-Mutation, sondern finden sich typischerweise bei mehr als 95 % aller ALS-Patienten.

TBK1

Heterozygote Mutationen im Gen TBK1 können eine familiäre ALS und/oder FTD verursachen. Die meisten ALS/FTD-assoziierten TBK1-Mutationen sind LoF-Mutationen, die sich annähernd gleichmäßig über das ganze Gen verteilen. Ca. 1–2 % der familiären ALS-Fälle sind durch Mutationen in TBK1 erklärt. Bei familiärer FTD sind pathogene TBK1-Varianten die dritthäufigste genetische Ursache (Le Ber et al. 2015) und können sich zudem auch als atypische Parkinson-Syndrome oder zerebelläre Syndrome manifestieren (Wilke et al. 2018).

2.3       ALS-Gene mit nicht vollständig gesicherter Relevanz

Im Zuge der Verfügbarkeit von Hochdurchsatzsequenzierungsmethoden und der ansteigenden Menge an Sequenzdaten von Kontrollpopulationen sowie angesichts des Fehlens von unabhängiger Validierung muss die Kausalität einiger ALS-Gene infrage gestellt werden. Für manche Gene wurde weder eine statistisch signifikante Ko-Segregation von Mutationen im jeweiligen Gen und dem Phänotyp ALS noch eine genomweit signifikante Anreicherung von Mutationen bei ALS in Assoziationsstudien gezeigt. Die Autoren werten daher Mutationen in folgenden Genen als zumindest noch nicht völlig ausreichend gesichert hinsichtlich ihrer Kausalität für familiäre ALS: FIG4, SQSTM1/p62, SIGMAR1, CHMP2B, ERBB4, DAO, DCTN1, NEFH, PRPH, TAF15, SPAST, ELP3, und LMNB1.

2.4       Genetische Risikofaktoren und Modifier

Genetische Risikofaktoren sind Genvarianten mit niedriger Effektstärke, welche oft relativ häufig sind und die Wahrscheinlichkeit an einer ALS zu erkranken signifikant erhöhen, aber allein keinen mendelischen Erbgang bewirken. In den letzten Jahren wurden Varianten in mehreren Gen-Loci mit einem höheren Risiko für ALS und zum Teil mit einem rascheren Krankheitsverlauf (im Sinne eines Modifiers) assoziiert. Zu den entsprechenden Genen zählen TNIP1, KIF5A, C21ORF2, MOBP, SCFD1 und UNC7A. Zudem sind mittellange Polyglutamin- bzw. Polyalanin-Expansionen in den Genen ATXN2, ATXN1 und NIPA1 mit einer erhöhten Suszeptibilität für ALS assoziiert (Elden et al. 2010; Tazelaar et al. 2020). Dabei scheint eine grenzwertige Polyglutamin-Expansion in ATXN2 oder ATXN1 zu einer verstärkten pTDP-43-Pathologie zu führen. Tierexperimentell hat sich die Reduktion der Expression von ATXN2 mittels Antisense-Oligonukleotiden (ASO) als therapeutisch wirksam erwiesen (Becker et al. 2017), weshalb diese Therapie nun bei sporadischen ALS-Patienten getestet wird (NCT04494256).

Tab. 2.1: Charakteristika der gesicherten ALS-Gene geordnet nach ihrer Häufigkeit in deutschen FALS-Patienten gemäß Müller et al. 2018.

Literatur

Bannwarth S, Ait-El-Mkadem S, Chaussenot A, et al. (2014) A mitochondrial origin for frontotemporal dementia and amyotrophic lateral sclerosis through CHCHD10 involvement. Brain 137: 2329–2345.

Becker LA, Huang B, Bieri G, et al. (2017) Therapeutic reduction of ataxin-2 extends lifespan and reduces pathology in TDP-43 mice. Nature 544: 367–371.

Brenner D, Yilmaz R, Müller K et al. (2018) Hotspot KIF5A mutations cause familial ALS. Brain 141: 688–697.

Chen YZ, Bennett CL, Huynh HM et al. (2004) DNA/RNA helicase gene mutations in a form of juvenile amyotrophic lateral sclerosis (ALS4). American Journal of Human Genetics 74: 1128–1135.

Cooper-Knock J, Kirby J, Highley R, et al. (2015) The Spectrum of C9orf72-mediated Neurodegeneration and Amyotrophic Lateral Sclerosis. Neurotherapeutics 12: 326–339.

Cooper-Knock J, Moll T, Ramesh T, et al. (2019) Mutations in the Glycosyltransferase Domain of GLT8D1 Are Associated with Familial Amyotrophic Lateral Sclerosis. Cell Reports 26: 2298–2306.e2295.

DeJesus-Hernandez M, Mackenzie IR, Boeve BF et al. (2011) Expanded GGGGCC Hexanucleotide Repeat in Noncoding Region of C9ORF72 Causes Chromosome 9p-Linked FTD and ALS. Neuron 72: 245–256.

Deng HX, Chen W, Hong ST et al. (2011) Mutations in UBQLN2 cause dominant X-linked juvenile and adult-onset ALS and ALS/dementia. Nature 477: 211–215.

Elden AC, Kim HJ, Hart MP, et al. (2010) Ataxin-2 intermediate-length polyglutamine expansions are associated with increased risk for ALS. Nature 466: 1069–1075.

Freischmidt A, Wieland T, Richter B et al. (2015) Haploinsufficiency of TBK1 causes familial ALS and fronto-temporal dementia. Nature Neuroscience 18: 631–636.

Greenway MJ, Andersen PM, Russ G et al. (2006) ANG mutations segregate with familial and ›sporadic‹ amyotrophic lateral sclerosis. Nature Genetics 38: 411–413.

Hadano S, Hand CK, Osuga H, et al. (2001) A gene encoding a putative GTPase regulator is mutated in familial amyotrophic lateral sclerosis 2. Nature Genetics 29: 166–173.

Hübers A, Just W, Rosenbohm A et al. (2015) De novo FUS mutations are the most frequent genetic cause in early-onset German ALS patients. Neurobiology of Aging 36: 3117.e3111–3117.e3116.

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3          Pathologie

Andreas Hermann

3.1       Einleitung

Das Verständnis der Pathologie der ALS hat sich in den letzten Jahren revolutioniert. Der erste Fallbericht einer ALS stammt aus dem Jahr 1824 von Charles Bell (Rowland 2001; Tyler und Shefner 1991). Nach einigen weiteren Berichten war es Jean-Martin Charcot, der erstmals die bis heute wesentlichen Befunde der Neuropathologie beschrieb: Verlust der Vorderhornzellen und Sklerose des Tractus corticospinalis lateralis und die Erkrankung entsprechend benannte (Charcot 1874). Wesentliche weitere Meilensteine in der Beschreibung der Neuropathologie waren der Verlust der Betz’schen Riesenzellen von Brodmann (Brodmann 1909), der Nachweis eosinophiler Einschlusskörperchen – sog. Bunina Körperchen (Bunina 1962), und die Entdeckung zytoplasmatische polyubiquitinylierter Einschlüsse (Leigh et al. 1988; Lowe et al. 1988). Molekularpathologische Untersuchungen konnten 2006 darlegen, dass TDP-43 in fast allen sALS aber auch vielen fALS der wesentliche Bestandteil dieser Ubiquitin positiven zytoplasmatischen Einschlüsse ist (Neumann et al. 2006). Durch den Nachweis, dass TDP-43 auch in den meisten Fällen der FTLD-U (Frontotemporalen Lobärdegeneration-Ubiquitin; alle Tau negativen FTLDs zusammengefasst) in zytoplasmatischen Aggregaten vorkommt, wurde die klinische Beobachtung, dass zwischen ALS und FTD ein Zusammenhang bzw. eine Überlappung besteht, molekularpathologisch bewiesen.

3.2       Makroskopie

ALS-Patienten zeigen einen diffusen Muskelschwund bzw. -atrophie und eine merkliche Reduktion des subkutanten Fettes. Das Rückenmark zeigt häufig eine graue Verfärbung und Atrophie der Vorderwurzeln insbesondere im zervikalen und lumbalen Bereich. Der Großteil der Gehirne von ALS-Patienten zeigt keine makroskopischen Veränderungen. Nur im Falle des Vorliegens von relevanter kognitiver/behavioraler klinischer Auffälligkeiten ( Kap. 6) kann eine frontotemporale Atrophie vorkommen, die am ausgeprägtesten auftritt im Falle einer ALS-FTD. Neben diesen Veränderungen der grauen Substanz können auch Reduktion der weißen Substanz (insbesondere im kortikospinalen Trakt) sichtbar sein.

3.3       Mikroskopie

Histologisch stechen insbesondere der Verlust von Motoneuronen (MN) und deren Axonen ins Auge. So zeigt sich ein Verlust der myelinisierten Axone des Vorder- und Seitenstranges sowie eine Größenreduktion des Vorderhorns des Rückenmarkes. Zentral ist der Verlust der Vorderhornzellen (α-Motoneurone/unteres Motoneuron/LMN) im Rückenmark und den bulbären Hirnstammkernen sowie der Betz’schen Riesenzellen in der Schicht 5 des motorischen Kortex (oberes Motoneuron/UMN). Zudem ist eine Vakuolisierung/Spongiose erkennbar.

Die ca. 3–6 μm großen eosinophilen intrazellulären Einschlüsse der MN werden Buninakörperchen genannt ( Abb. 3.1). Sie treten im Wesentlichen zytoplasmatisch auf in den spinalen MN, nur selten in den Betz’schen Zellen, okulomotorischen MN oder in den MN des Nukleus Onuf. Immunhistochemisch positiv sind sie für Cystatin C und Transferrin, manchmal auch Peripherin, aber negativ für p62. Ihre Funktion ist unklar.

Reaktive Astrozyten, charakterisiert durch eine starke Expression des »glial fibrilllary acidic proteins« (GFAP), sind insbesondere im Rückenmark und dort im Vorderhorn zu finden, jedoch auch im Motorkortex und der anliegenden weißen Substanz. Mikroglia (CD68+) akkumulieren insbesondere in Bereichen des größten Myleinverlusts sowohl im Rückenmark als auch der weißen Substanz, was eine Rolle in der Myelinphagozytose nahelegt. Auffällig ist deren Vorkommen insbesondere bei den Patienten mit klinisch raschem Verlauf. Diese sog. Neuroinflammation ist ein zweischneidiges Schwert, einerseits schützt sie gegen Neurodegeneration, andererseits kann sie diese vorantreiben.

Weitere Auffälligkeiten beinhalten insbesondere eine Fragmentierung des Golgiapparates.

3.4       Molekulare Pathologie

Die diagnostisch wegweisende molekulare Pathologie ist charakterisiert durch das Vorhandensein einer Vielfalt an p62 positiven, Ubituitin positiven neuronalen (NCI) bzw. glialen (GCI) zytoplasmatische Einschlüssen. Diese sind in den meisten sALS und fALS Fällen TDP-43 positiv. Lediglich im Falle von SOD1-ALS und FUS-ALS lässt sich TDP-43 nicht in diesen Ablagerungen nachweisen, sondern vielmehr SOD1 bzw. FUS. Myelinisierende Oligodendrozyten zeigen ausgeprägte TPD43 positive Ablagerungen in Bereichen, in denen die Neurone stark betroffen sind (Brettschneider et al. 2013). Die zytoplasmatischen Einschlüsse erscheinen häufig strangförmig (»skein-like«), es kommen aber auch zahlreiche andere Formen vor. Interessanterweise lassen sich diese Ablagerungen nur schlecht in Routinefärbungen wie z. B. H&E Färbungen darstellen, was den Stellenwert der Molekularpathologie unterstreicht.

Die TDP-43 Pathologie ist charakterisiert durch Verlust des nukleären TDP-43 sowie dem Auftreten von zytoplasmatischen Aggregaten ( Abb. 3.1). Die Ablagerungen unterscheiden sich morphologisch zwischen oberen und unterem Motoneuron mit deutlich ausgeprägteren Ablagerungen in den spinalen MN (Braak et al. 2017). Das Verteilungsmuster von TDP-43 ist unterschiedlich. Das Verteilungsmuster von TDP-43 Einschlüssen im Gehirn wurde in FTLD-U beschrieben und in vier Muster eingeteilt (Typ A–D), wobei ALS im Wesentlichen Typ B zuzuordnen ist (Mackenzie et al. 2011). Viel entscheidender ist jedoch die Entdeckung, dass auch bei ALSni Patienten die TDP-43 Pathologie über das motorische System hinausgeht (Neumann et al. 2006; Nishihira et al. 2008; Prudlo et al. 2016).

Abb. 3.1: Typische mikroskopische Veränderungen von sALS-Patienten. (A) Sklerosierung der Tractus corticospinales laterales. (B) Bunina Körperchen (Pfeil). (C) Typische Ablagerungen von phopshoryliertem TDP-43 in spinalen Motoneuronen. Dreieck markiert »skein-line« Läsionen. (D) Gyrus dentatus, pan TDP-43 ICH zeigt nukleären Verlust und paralleles Auftreten von zytoplasmatischen TDP-43 Ablagerungen (Dreieck). Bildmaterial zur Verfügung gestellt von (A) Prof. J. Prudlo, Rostock, und (B–D) Prof. M. Neumann, Tübingen.