Anastasis: Gefährliche Rückkehr - Lydia Schwarz - E-Book

Anastasis: Gefährliche Rückkehr E-Book

Lydia Schwarz

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Beschreibung

2025: Die mächtige Organisation "Red Sandstone" will die Menschheitsgeschichte zu ihren Gunsten beeinflussen. Sie beauftragt den Physik-Nobelpreisträger Charles Ori Goldblatt mit dem Bau einer Zeitmaschine: Er soll Jesus von Nazareth davon abhalten, das Christentum zu gründen. Als es so weit ist, besteht das ungleiche Team, das in die Vergangenheit reist, aus einer taffen israelischen Soldatin, einem atheistischen Geschichtsprofessor und aus seiner pubertierenden Tochter, die nur durch ein Missgeschick in alles hineingezogen wird. Alle drei erwachen im Jahr 30 n. Chr. in den Körpern ihrer Zeitreise-Avatare. Doch hier ist plötzlich alles anders als erwartet: Das Zeitreiseteam befindet sich in höchster Lebensgefahr, ihre Mission wurde infiltriert. Sie müssten für immer in der Vergangenheit gefangen bleiben, sollten sie ihren Auftrag nicht erfüllen, die Entstehung des Christentums aufzuhalten. Doch ist das überhaupt möglich? Ein spannender Wettlauf gegen die Zeit beginnt – ein Wettlauf, in dem niemand anders als Jesus zu bekämpfen ist und das Schicksal der Welt auf dem Spiel steht.

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Lydia SchwarzAnastasis

www.fontis-verlag.com

Lydia Schwarz

ANASTASIS

Gefährliche Rückkehr

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.

© 2024 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: René Graf, Fontis-Verlag BaselBilder Umschlag: Matrix: pixground.com; U1: stock.adobe.com/Dar1930E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Stefan Jäger

ISBN (EPUB) 978-3-03848-457-8

Prolog

Die Atmosphäre im Saal vibrierte vor Erwartung. Wo zuvor Hunderte von Stimmen gemurmelt und gewispert hatten, herrschte nun Stille.

Er stand hinter dem Vorhang, schaute durch einen Spalt auf die gefüllten Stuhlreihen und sog die Präsenz und Energie der Menge in sich auf. Sie gab ihm Kraft.

Da draußen im Saal saßen diesmal keine verzweifelten Hausfrauen, die an seinen Lippen hingen, als wäre er die Erfüllung all ihrer Sehnsüchte. Es waren auch keine kritischen Reporter anwesend, die seine Ratschläge in den Medien zerrissen.

In diesem Saal, viele Meter unter der Erdoberfläche, abgeschottet vom Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, befand sich die Elite, die Crème de la Crème, die Skelandria sorgfältig ausgewählt hatte, um sein Projekt zu stützen, zu fördern und nun endlich zu realisieren.

In den Reihen saßen bekannte Schauspieler, Wissenschaftlerinnen und Regierungsmitglieder aus aller Welt – und sie alle warteten auf ihn.

Endlich würde er diesen auserlesenen Leuten seine Gedanken präsentieren, seine Ideen! Und sie würden ihn an die Spitze der Macht katapultieren, würden ihm helfen, seine Vision aus der Traumwelt ins Reich der Realität zu versetzen. Wie lange er auf diesen Moment gewartet hatte!

Skelandria kündigte vorne auf der Bühne seinen Auftritt an. Ihre Stimme hallte durch das Mikrofon und von den grob behauenen Wänden wider. Er zog Kraft aus dem Klang ihrer Stimme, deren dunkles Timbre er bereits vor seiner Geburt gekannt hatte. Es war Skelandria, die seiner Mutter prophezeit hatte: «Dein Sohn wird eines Tages die Geschichte der Menschheit lenken!» – Und sie hatte recht behalten: Er war noch nie so nahe an der Machtergreifung gewesen wie jetzt. Und er spürte, wie diese Macht in seinen Fingerspitzen pulsierte. Er zitterte, und das Amulett aus Onyx mit dem durchstochenen Herzen bebte an seinem Handgelenk. Sein Blick fiel auf die Falten seines knöchellangen Designer-Kaftans und die Sandalenspitzen darunter.

Er wünschte sich, bereits draußen im Scheinwerferlicht zu sein, denn die Halbschatten hinter dem Vorhang umtanzten ihn und wisperten lebhaft. Die dunklen Gestalten, die ihn ständig begleiteten, seit er sich mit ihnen verbündet hatte, drängten sich gegen ihn.

Aber er musste warten. Skelandria wärmte das Publikum auf. Sie beackerte den Boden der Herzen, auf die er seine Saat aussäen würde. Sie erzählte enthusiastisch seine Geschichte der Superlative, die sie bereits vor Jahren prophezeit hatte: Wunderkind. Hellseher. Social-Media-Sensation. Bestseller-Autor. Und Bahnbrecher für die neue Art der Erlösung. – Bald … in wenigen Minuten wäre es so weit!

Er musste diese Spannung aushalten, bis er die große Bühne betreten durfte. Er schüttelte das halblange Haar über die Schulter zurück und strich sich über den Bart. In diesem entscheidenden Moment seines Lebens wünschte er sich, er hätte den Einzigen, der ihm gegen diese dunklen Gestalten geholfen hatte, noch immer an seiner Seite …

Er war noch ein Junge gewesen, als er ihm zum ersten Mal begegnet war. Er hatte sich ängstlich unter der Bettdecke versteckt vor den Fratzen, die ihn umgaben, und stumm um Hilfe gerufen. Da hatte es an der Tür geklopft und auf sein gedämpftes «Wer ist da?» trat ein Menschenähnlicher auf die Türschwelle. Vorsichtig hatte er hinter der Bettdecke hervorgelugt. Die Fratzen verzogen sich kreischend, ihre Stimmen verstummten. Friede floss von der Person in sein Zimmer. «Darf ich reinkommen?», fragte er.

«J-j-j-j-j-a!», hatte er gestottert.

Und der Mann war ins Zimmer getreten. Seine Präsenz erfüllte den ganzen Raum wie eine Wolke. Er gab ihm ein Buch und sagte, er wolle mit ihm reden.

Der ängstliche Junge hatte das Buch nicht nur gelesen – sondern verschlungen.

Sie sprachen von da an regelmäßig miteinander, und während sie sich näher kennenlernten, wurde er älter und marschierte im echten Leben durch offene Türen.

Aber dann begann der Mann Dinge zu sagen, die ihn ängstigten: «Folge mir nach! Ich habe große Pläne mit dir!»

Es klang wie eine Einladung zum größten Abenteuer seines Lebens. … Aber war es das wirklich?

Er zögerte. «Was kostet es mich?», fragte er zurück.

«Wenn du zu mir gehören willst, darfst du nicht mehr dich selbst in den Mittelpunkt stellen. Denn wenn du dich an deine Träume und Wünsche klammerst, dann wirst du sie verlieren. Wenn du aber deine Träume und Wünsche für mich aufgibst, dann wirst du etwas gewinnen, das alle deine Vorstellungen übertrifft. Vertraust du mir?»

Je beliebter und berühmter er wurde, desto mehr störte ihn diese Einladung. War sie nicht viel mehr eine Forderung? Er wollte seine Träume und seine Wünsche nicht aufgeben. Er wollte im Mittelpunkt stehen.

Und dann wurde ihm zum ersten Mal etwas verweigert. Ein anderer bekam den Job in einem bekannten Medienimperium, der ihm so sicher gewesen war. Die Niederlage brachte ihn fast um den Verstand.

Als er die helle Friedensperson fragte: «Warum passiert das ausgerechnet mir?», streckte diese einfach die Hand aus und sagte: «Ich kann dir jetzt noch nicht alles erklären. Aber ich bin bei dir. Vertraue mir! Ich kann dir einen besseren Weg zeigen.»

Aber er wollte diesen besseren Weg nicht.

Er wollte diesen Job haben!

Und irgendwie hörten sie an diesem Tag auf, Freunde zu sein, dieser Mann und er.

Stattdessen ging er zu Skelandria, und sie zeigte ihm, wie er die bösen Alptraum-Gestalten selbstwirksam in den Griff bekam.

Der helle Mann blieb weiter in seinem Zimmer, aber schließlich wollte er ihn nicht mehr in seiner Nähe haben. Er öffnete die Zimmertür, sagte ihm, er solle gehen, und dieser, ganz Gentleman, ging hinaus. – Nicht ohne ihm einen langen Blick zuzuwerfen, der ihm durch und durch ging und ihn von da an bis in seine Träume verfolgte.

Dieser Tag war die Geburtsstunde eines seltsamen Konkurrenzkampfs zwischen ihnen.

In seinem Heimatland, diesem einzigartigen Juwel, geschah ein seltsamer Aufbruch.

Seine Followerzahlen auf Social Media explodierten.

Aber der Friedensperson folgten auch immer mehr Menschen nach.

Er baute Schulen und förderte arme Kinder – mit Erfolg.

Die Nachfolger dieses Mannes taten das Gleiche – und sie hatten auch Erfolg.

Er füllte Hörsäle.

Sie füllten Kirchen.

Sie hielten sich die Waage.

Bis die Stimmung eines Tages kippte.

Er wollte sich nicht länger nur mit diesem Mann messen, er wollte ihn übertreffen.

Er besuchte Skelandria. Sie gab ihm mithilfe eines Blutbundes die Vollmacht über die dunklen Geister, die ihn seit Kindestagen verfolgten.

Und während sein Blut aus der Wunde an seiner Hand in die Schüssel tropfte und sie ihm das durchstochene Herz-Amulett aus Onyx aufs Handgelenk schmiedete, flüsterten ihm seine neuen Freunde die Idee für «Red Sandstone» ein. Sie machten ihn auf Charles Ori Goldblatt aufmerksam. Und sie gaben ihm einen neuen Namen.

Skelandrias Crescendo holte ihn in die Realität zurück. Und sein Herz klopfte aufgeregt.

«Meine Damen und Herren …!», rauschte ihre Stimme durch den Saal. «Heißen Sie mit mir willkommen: den einzigartigen, den wunderbaren, den charismatischen … Jehoschuah Behemoth!»

Jehoschuah küsste sein Amulett und hob beide Arme. Er trat ins Rampenlicht, um den Siegespreis zu ergreifen, der schon sein ganzes Leben bereitlag und nur darauf wartete, von ihm gepflückt zu werden.

April 2025

Tschetschenien, irgendwo im Kaukasusgebirge

Im gleichen Tempo, wie der Aufzug tief ins Erdreich hinuntersauste, stieg ihm das Herz in den Hals und klopfte dort heftig. Würde der Abstieg in diesen Scheol, diesen Höllenschlund, kein Ende haben? Wie viele Tonnen an Gestein lagen bereits über ihm und würden ihn begraben, wenn sie zusammenstürzten?

Charles Ori Goldblatt, kurz COG, lockerte seine Krawatte und versuchte in den Bauch hinunterzuatmen. Selbst als er das Jahr zuvor den Nobelpreis für Physik in Empfang genommen hatte, war er nicht so nervös gewesen wie jetzt.

Er studierte sein Gegenüber: Der große, gedrungene Mann in Anzug, mit stoischem Gesicht und Sonnenbrille, hatte die Arme vor dem Brustkorb verschränkt.

Nach einem endlos scheinenden Hubschrauber-Flug, der sie eine halbe Stunde lang über eine gottverlassene Ebene geführt hatte, waren sie auf dem Dach eines unscheinbaren Gebäudes gelandet, und der seltsame Typ hatte ihn am Hubschrauber in Empfang genommen, noch bevor die Rotoren vollends zum Stillstand gekommen waren. Als «Assistent der Geschäftsleitung» hatte er sich vorgestellt, aber COG fand, er sah eher aus wie ein Leibwächter.

«Folgen Sie mir!», hatte er gebrummt, und sie waren mehrere eiserne Treppenfluchten hinuntergestiegen, bis sie vor einem pompösen Portal gelandet waren, in dessen Türflügel der Name «Red Sandstone» und ein durchstochenes Herz eingraviert waren.

Wie von Geisterhand bewegt, glitten die Türflügel auseinander, und sie hatten dieses Höllengefährt von Fahrstuhl betreten.

Noch bevor Charles Ori Goldblatt seinen Lungen einen weiteren Atemzug zumutete, bremste der Aufzug ab, und mit einem sanften Ding falteten sich die Türen auf.

Der Leibwächter betrat vor ihm das Foyer eines unterirdischen Gebäudekomplexes, der sich einer Höhle gleich über ihnen wölbte, und COG taumelte ihm hinterher.

Nach drei Schritten blieben sie stehen.

«Bitte warten Sie hier, Mister Goldblatt!», schnarrte der Leibwächter. «Ich werde Skelandria holen!» Er verschwand im Halbdunkel der Halle.

Charles Ori Goldblatt zog hastig ein Stofftuch aus der Hosentasche seines abgetragenen Anzugs, um den Schweiß von seiner Halbglatze abzutupfen. Dann sah er sich unauffällig um.

Das Innere der Halle bestand nicht aus Glanz und Gloria, es war eher spartanisch eingerichtet. Die Gerüstkonstrukte zu seiner Linken erzählten, dass sich der Komplex noch im Bau befand, was sein Vertrauen in ihre Stabilität nicht gerade stärkte. Rechts von ihm glänzte ein glattpolierter Empfangstresen unter schummrigen LED-Spots.

Eine Empfangsdame mit Perlenohrringen und rotem Lippenstift lächelte ihn an.

Der Geruch von Macht und Reichtum hing schwer in der Luft. Stimmengemurmel und lautes Gelächter drangen an sein Ohr. Von der linken Seite her erreichte der Duft von erlesenem Tabak seine Nase. Rauchschwaden umtanzten die Lichterketten über einem dicht besetzten Bartresen.

Im Schummerlicht machte er dort mehrere Frauen und Männer aus. Sie hoben Gläser mit Cognac und Whiskey an die Lippen, unterhielten sich leutselig und wippten mit den Füßen im Takt zur Life-Jazz-Band, die den Raum mit schwungvollen Beats erfüllte. Zwischen den Gästen huschten Frauen in hautengen Paillettenkleidern mit Getränke-Tabletts umher.

In Türöffnungen und Nischen standen überall Wachmänner und Bodyguards. Die bulligen Gestalten trugen Anzüge und einen unbewegten Gesichtsausdruck. Charles Ori Goldblatt konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, sie wären allesamt Mitglieder der tschetschenischen Mafia.

Die Macht konzentrierte sich wie eine Gewitterwolke in diesem Raum. Er glaubte, hinter sich das Rauschen vieler Flügel zu hören, aber als er sich umwandte, stand da nur ein verwaister, schwach beleuchteter Pokertisch.

«Hier unten wird’s doch keine Vögel geben, oder?», murmelte er. «Oder gar Fledermäuse?»

Wie ein Schuljunge, der auf den Rektor wartet, nachdem er einen Streich verübt hat, trat er am Rande dieses seltsamen Ortes verlegen von einem Fuß auf den anderen.

Eine Frau in weiß-flauschigem Bademantel und Badelatschen torkelte gegen ihn. Sie trug ein Glas Martini in der einen Hand, und in der anderen qualmte eine dicke Zigarre. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte sie ihre grau-blonde Betonfrisur als jene Präsidentin einer wichtigen Bank identifiziert, die oft in den Nachrichten zu sehen war.

Die Frau nickte ihm höflich zu: «Mister Goldblatt!» Als sei es nichts Ungewöhnliches, dass man sich in der tschetschenischen Pampa traf und sie in einem Aufzug war, als käme sie direkt aus der Sauna. Sie stellte sich an die Bar zu einem Typen, der einen Bourbon trank. Sein freier Arm lag um die Taille eines Pailletten-Mädchens.

«Hey, Johnny», raspelte sie. «Ich such Kajudo Hanshamzi. Hast ihn gesehen?» Der Mann an der Bar hob den weißen vollen Haarschopf – und COG zuckte zusammen: Bei «Johnny» handelte es sich um niemand anderen als den Finanzminister der Vereinigten Staaten, der in der letzten Zeit wegen eines Misstrauensvotums in den Schlagzeilen gewesen war!

«Dort isser!», lallte der Mann und nickte nach rechts. Dann grapschte er nach dem Mädchen im Paillettenkleid. «Hey, du! Bring meiner Freundin Yvette hier auch einen Bourbon!», befahl er und versetzte ihr einen Klaps auf den Hintern. Das Mädchen eilte davon, und die Frau im Bademantel setzte sich ohne Umschweife neben den Minister auf einen Barhocker.

Yvette LeClerc! Also doch! Die Präsidentin dieser Bank …

Ein Mann in reich besticktem Ornat und Rauschebart klammerte sich an eine grün-bauchige Flasche und wandelte mit seligem Gesichtsausdruck an Charles Ori Goldblatt vorbei. War das etwa der oberste Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche? Oder doch ein Vertreter des Vatikans?

«Mister Goldblatt?», erklang eine heisere weibliche Stimme links von ihm.

«Ja?» Er fuhr herum und sah sich einer hochgewachsenen Frau mit schwarzer Bobfrisur und rotem Kaschmirmantel gegenüber. Sie blinzelte aus schläfrigen Augen auf ihn herab. «Mein Name ist Skelandria. Ich bringe Sie zu Behemoth. Bitte, folgen Sie mir!»

Er musste beinahe losrennen, damit er mit ihren langen Schritten in High Heels mithalten konnte.

«Wie war Ihre Reise, Mister Goldblatt?», erkundigte sich die Dame und winkte ihn in einen breiten Gang, der an unzähligen geschlossenen Räumen vorbeiführte.

«G-g-gut!», stotterte er, unfähig, weitere Worte zu finden, während er sich gleichzeitig umsah. An den Wänden der Gänge stapelten sich palettenweise Kisten: «Milchpulver», «Mehl», «Zucker» stand auf den Kisten. Alles haltbare Lebensmittel.

Sie erreichten eine steile Wendeltreppe, die wiederum in schwindelerregender Höhe in einen anderen Gang mündete, der mit Teppichen ausgelegt war.

«Ist unsere Residenz nicht einfach vorzüglich? Geschmackvoll! Auserlesen!»

Sie hielten vor einer verschlossenen Doppel-Tür.

«J-j-ja!», pflichtete er ihr bei, obwohl es klar eine rhetorische Frage gewesen war.

Skelandria führte ihn in einen Raum, in dem etwa zwei Dutzend Männer und Frauen in Anzügen und ernsten Gesichtern an einem riesigen u-förmigen Konferenztisch saßen und ihn stumm anblickten, als hätten sie nur auf ihn gewartet.

«Setzen Sie sich bitte hier hin!», befahl die Dame in Rot und wies auf einen Stuhl in der Mitte des großen U.

Charles Ori Goldblatt schüttelte das Gefühl ab, vor Gericht zu stehen, und wünschte sich seinen Aktenkoffer herbei, an den er sich klammern könnte. Er wand die Hände ineinander und ließ sich auf den Stuhl sinken. Die Krawatte war ihm immer noch zu eng, und er begann erneut daran herumzunesteln.

Skelandria setzte sich an die Kopfseite des Tischs, neben eine Gestalt, die im ersten Moment seiner Aufmerksamkeit entgangen war: Der junge Mann mit schulterlangem Haar und goldbraunem Teint erhob sich in einer fließenden Bewegung. «Sie sind Mister Charles Ori Goldblatt, kurz COG genannt!» Seine Stimme klang sanft wie der Honig auf der Neujahrs-Challa seiner Mutter. «Sie sind Physiker, Nobelpreisträger, haben, theoretisch, die Reise in Lichtgeschwindigkeit möglich gemacht. Sehe ich das richtig?» Seine Stimme, mochte sie noch so sanft sein, füllte den ganzen Raum aus.

Der Eindruck eines Gerichtsverfahrens verstärkte sich. Charles Ori Goldblatt hob den Blick und schaute dem jungen Mann ins Gesicht. Dessen helle Augen durchbohrten ihn. Sie waren zwei nebligen Spinnfäden an einem eisigen Wintermorgen gleich und zogen ihn in den Bann.

«Hm! J-j-ja! Das ist so, wie Sie sagen!» COG räusperte sich, um den Frosch im Hals loszuwerden.

«Schön», lächelte der junge Mann und richtete noch immer seinen intensiven Blick auf ihn.

Charles Ori Goldblatt zappelte innerlich wie eine Fliege, gefangen im klebrigen Netz.

«U-u-und wer sind Sie?»

«Oh!» Der junge Mann lächelte. «Wo sind meine Manieren? Man nennt mich Behemoth. Jehoschuah Behemoth.» Er verneigte sich leicht vor ihm, sodass die dunklen Locken leicht um die Schultern seines seltsamen Gewandes spielten. Charles Ori Goldblatt musterte die sonderbar purpurn-glitzernde Kleidung. An jedem anderen hätte der Aufzug wohl affig gewirkt, aber an dem jungen Mann wirkte der togaähnliche Umhang edel. Als wäre er ein Prinz in seinem Krönungsgewand.

«Mister Goldblatt! Wie Sie sehen, sind hier eine Menge internationaler Politiker und namhafte Größen des Showbusiness versammelt», fuhr Behemoth nahtlos fort. «Einige von ihnen kennen Sie bestimmt.»

Charles Ori Goldblatt ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und erkannte tatsächlich das eine oder andere Gesicht aus den Medien wieder.

«Und im Namen unserer Organisation Red Sandstone heißen wir Sie herzlich willkommen.»

«V-v-vielen Dank, Mister Behemoth! Es ist mir eine Ehre.» Er wusste nicht, ob diese Aussage seine Gefühle korrekt wiedergab. «Und nennen Sie mich gerne ‹COG›, das sind meine Initialen. Irgendwann hat mal ein Journalist diesen Begriff formuliert, weil mein ursprünglicher Name ziemlich lang ist.»

«Hm!» Der junge Mann führte seine langen Finger gedankenvoll ans Kinn. «‹Cog› heißt übersetzt doch auch Zahn. Sind Sie das? Der Zahn eines Zahnrades im Räderwerk der Weltgeschichte … einer unter vielen?»

«Ja, Mister! Das soll mir auch recht sein. Einer unter vielen …» Er rückte seine Brille auf der schweißigen Nase zurecht.

«Das glaube ich Ihnen nicht! Sie, als geehrter Doktor der Physik und Nobelpreisträger? Sie haben doch Größeres vor!»

Er hielt den Atem an. Woher wusste dieser Behemoth von seinen Träumen?

«Was halten Sie davon, wenn wir Ihr brachliegendes Potential nutzen? Wollen Sie mitmachen bei der Führung der Weltgeschicke? Ich könnte sie Ihnen in die Hände legen. Wir brauchen Sie! Und Sie … Sie brauchen uns. Das ist die perfekte Voraussetzung für eine einvernehmliche Zusammenarbeit.»

Charles Ori Goldblatt schwitzte. «Ich wüsste nicht, was ich Ihnen zu bieten hätte», sagte er mit heiserer Stimme. «Ich habe keine Macht! Ich bin ein einfacher Wissenschaftler. Trotz des Geldsegens scheinen mir ständig die finanziellen Mittel auszugehen. Ich habe so viele Ideen und …»

«Und sehen Sie, genau da treffen wir uns», fuhr der junge Herr fort. Die anderen Frauen und Männer nickten einheitlich wie Marionetten.

«Wir benötigen Ihr Knowhow, und Sie benötigen unser Geld und unseren Einfluss. Und ich kann Ihnen versichern: Von beidem haben wir genug! Sie haben in der Theorie das Reisen mit Lichtgeschwindigkeit für die Menschheit möglich gemacht. Wir helfen Ihnen, dieses theoretische Wissen auf den Boden der Praxis zu bringen. Sie wollen weiter forschen? Wir machen es möglich! Wir machen Sie reich und berühmt.»

COG bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl. «Geld und Macht reizen mich nicht!», wehrte er ab. «Ich habe mich der Forschung verschrieben. Alles andere ist nebensächlich.»

Ein Anflug von Amüsement huschte über die perfekten Gesichtszüge von Behemoth. «Aber Sie haben ein Herz für Ihre Nation Israel, nicht wahr?»

«Ja, natürlich! Ich bin in Jerusalem geboren und aufgewachsen.» Charles Ori Goldblatt streckte seine Brust raus.

«Die Entwicklungen in Ihrem Land in letzter Zeit bereiten uns große Sorgen.»

«Was genau meinen Sie damit?»

Spott huschte über Behemoths Gesicht. «Haben Sie Ihren Kopf in den Wolken, Mister Goldblatt? Es ist Ihrer Aufmerksamkeit wohl kaum entgangen, dass der gesamte Nahe Osten in Flammen steht.»

COG schluckte. Dieser junge Mann war ganz schön respektlos! «Nein, natürlich ist es mir nicht entgangen, Mister! Ich lebe tagtäglich in diesem Bewusstsein.»

Behemoth schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln.

«Sie können in diesem Fall auch nicht behaupten, dass Ihnen nicht aufgefallen ist, was in Ihrem Land ebenfalls wie ein Steppenbrand um sich greift …»

«Sie meinen, dass immer mehr Juden und Muslime plötzlich behaupten, der einzig wahre Messias sei dieser Jesus Christus?»

Aus einer Ecke des Raums erklang ein schriller Schreckensschrei, und COG hörte wieder das gespenstische Flügelflattern, das er vorhin schon so seltsam gefunden hatte.

Behemoth hob die Hände an die Ohren und verzog das Gesicht, als hätte er Wermut geschluckt. «Mister Goldblatt, egal, was sie tun», zischte er. «Erwähnen Sie in meiner Gegenwart niemals diesen Namen.» Seine Stimme war nicht mehr sanft, sondern schrill.

COG hatte Gott schon lange abgeschworen, aber als ihn die Kältewelle erfasste, die nun von Behemoth ausging, wünschte er sich, dem wäre nicht so. Er hob beschwichtigend die Hände. «Ist ja schon gut. Kein Problem.»

Behemoth trank mit gierigen Zügen aus einem Glas und atmete tief durch.

«Was hat dieser religiöse Aufbruch mit meinen Forschungen zu tun?», erkundigte sich Charles Ori Goldblatt in die entstandene Pause hinein.

«Alles, Mister Goldblatt, alles!», schnaubte Behemoth mit geblähten Nüstern, als würde er demnächst Feuer spucken. «Nicht nur hat sich die Anzahl der existierenden Sekten in Israel in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Jetzt beginnen auch die Christen auf der ganzen Welt ihr Augenmerk auf Israel zu richten und sagen, dies sei der Anfang vom Ende dieses Zeitalters, und wenn dies geschieht, ist das Kommen dieses … dieses …» Er würgte. «… in unmittelbarer Nähe.» Ein Zittern erfasste seinen Körper. «Das steht sogar in seinem Buch», flüsterte er heiser. «Wissen Sie, Mister … COG, im Prinzip kann jeder das glauben, was er will. Aber sehen Sie, wir haben andere Pläne für die Menschheit, wir wollen das Risiko nicht eingehen, dass irgendetwas … oder irgendwer ein Armageddon herbeiführt. Wir können uns das Ende der Welt nicht jetzt schon leisten.»

Hohles Gelächter erfüllte den Raum.

«Mister Goldblatt, wenn Sie uns helfen und uns Ihre Ideen zur Verfügung stellen, setzen wir Finanzen frei für Ihre Herzensanliegen gegen Armut und Hunger in Nahost. Wir ebnen Ihnen den Weg, Israels Regierungschef zu werden, damit Sie ein Vater und ein Hirte für Ihr Volk werden können, wie Sie sich das Ihr ganzes Leben lang schon gewünscht haben. All die großartigen Ideen, die Sie haben, könnten Sie umsetzen.» Seine Worte hallten im Raum wider.

Charles’ Herz klopfte stark. «Was soll ich tun?»

«Bauen Sie gemeinsam mit uns Ihr größtes Projekt!»

«Wozu?»

Behemoth lachte auf. «Alles, was uns an unseren wichtigen Bestrebungen hindert, wird durch das Christentum verursacht. Es ist Zeit, dieses Übel an der Wurzel auszurotten.»

«Wie wollen Sie das anstellen?»

Behemoth lächelte. «Ganz einfach! Wir entziehen dem Christentum seine Grundlage. Was ist die Grundlage des Christentums, COG?»

Charles Ori Goldblatt holte tief Luft, aber Behemoth schnitt ihm mit einer scharfen Handbewegung das Wort ab. «Nein, sagen Sie nicht seinen Namen. Er ist die Grundlage des Christentums, genau. Die Behauptung seines Todes und, schlimmer noch, seiner Auferstehung hat sich wie eine Seuche auf dem Erdball ausgebreitet. Und genau deshalb bauen wir gemeinsam mit Ihnen Ihr Projekt. Damit wir das ändern können. Wir werden die Geschichte neu schreiben und diesen … diesen … Unaussprechlichen von der Landkarte der Menschheitsgeschichte wegradieren. Die Frage bleibt bestehen, COG: Können wir mit Ihrer Hilfe rechnen?»

Kapitel 1

16 Jahre später ▪ Ein Mittwoch im April

Skopusberg, Jerusalem

Yael

«Heute ist ein guter Tag zum Sterben …»

Yael Cohen starrte auf die hebräischen Schriftzeichen, die unheilvoll auf ihrem Handy aufleuchteten.

Ihre Kollegin Eileen pflegte sich oft pessimistisch auszudrücken. Aber heute, einen Tag, bevor sich die Welt für immer verändern würde, war kein guter Zeitpunkt, um über den Tod zu scherzen!

Für einen Moment blendete Yael alles aus: die brennende Sonne auf ihren dunklen Locken, das Geschrei der jugendlichen Schülerinnen und Schüler um sie herum und sogar Gregorys Nörgelstimme neben sich.

Ihr Daumen huschte über das Display. «Was ist los, Eileen?»

«Etwas ist oberfaul hier!»

«WAS? Ist faul?» Yael fehlte die Geduld für Eileens Andeutungen.

«Etwas stimmt hier nicht.»

«Wo bist du?»

«Im Institut. Kannst du kommen?»

«Nein! Ich bin unterwegs mit Schülern. Es gibt Leute, die ihre Tarnung noch aufrechterhalten müssen.»

«Yael, komm bitte! Es ist mir nicht wohl», schrieb Eileen weiter.

«Ist dir etwa auch schlecht?» Yael presste eine Hand auf ihren Bauch. Eine Übelkeitswelle überrollte sie. Etwa schon die fünfte in dieser Stunde. Hatte sie einen Sonnenstich?

«Nein, aber ich hab ein mulmiges Gefühl. Da laufen so komische Gestalten rum, die ich nicht kenne», schrieb Eileen.

«COG wird schon wissen, was er tut und wen er ins Institut reinlässt.»

«Yaaaaeeeel?» Eine nasale Stimme unterbrach ihre Gedankengänge. «Du wirst doch die Rucksäcke der Schüler mit dem Bus vom Skopusberg runterkarren, oder?»

Yael blickte auf. Mister Gregory, der hauptverantwortliche Sportlehrer, blickte sie aus großen Kuhaugen an. Seine schwarzen Stirnfransen waren uneben geschnitten. Yael seufzte innerlich auf. «Nein, ich mach den Besenwagen!», fuhr sie ihn schroff an. «Bei Ausflügen wie diesem muss immer eine Lehrkraft hinter den Nachzüglern herlaufen, damit auch niemand verlorengeht!»

Enttäuschung blitzte in Gregorys Augen auf.

Schnell senkte Yael den Blick wieder aufs Display.

«Mach dir keine Sorgen!», schrieb sie an Eileen.

«Yael …?», nörgelte Mister Gregory weiter.

«Ja?» Sie wandte den Blick nicht vom Nachrichtenverlauf.

«Solltest du nicht das Handy weglegen? Als Vorbild für die Schüler und …»

Sie hob den Zeigefinger, ohne aufzublicken. «Eine Sekunde.»

«Aber Yael … Sie sind unruhig. Die werden sich gleich gegenseitig lynchen. Oder mich.»

«Dann lass dir halt was einfallen, um sie zu ködern! Du bist doch so nett!», schnappte Yael.

Es wurde Zeit, dass ihr Doppelleben ein Ende fand! Sie hatte keine Nerven für Typen wie Gregory.

Gregory räusperte sich lautstark, zischte dann aber ab.

Gut so! Sie wandte sich wieder Eileen zu. «Melde dich bei Henry, Jassir oder Eli. Vielleicht ist einer von denen frei», tippte sie ins Display.

«Was denkt ihr, wie alt die Cohen wirklich ist? Sie sagt immer ‹dreißig plus›. Meint ihr, das stimmt?» Hamid Salehs vorwitzige Stimme unterbrach ihre Konzentration erneut.

«Ich wette, sie ist 34.»

«32», entgegnete eine Stimme, die sich im Stimmbruch überschlug. «Ihre Beine sind der Hammer!»

«Ich weiß nicht. Irgendwie sieht sie blutjung aus, aber auch abgehalftert. Wollen wir wetten? 34.»

«32.»

«Gut! Schlag ein! Die Wette gilt! Batwoman ist 34, und du hast verloren.»

Dachte der freche Schüler etwa, sie höre ihn nicht?! Abgehalftert? Also, bitte … Hamid hatte Nerven! Ihre Haut war nahezu faltenlos, und sie fühlte sich wie eine durchtrainierte Kampfmaschine! Yael fuhr sich durch den lockigen Pferdeschwanz und untersuchte dabei verstohlen die Haare in ihrer Handfläche. Sie runzelte die Stirn wegen der zwei grauen Strähnen, die sie entdeckte.

Vielleicht musste sie auch abgehalftert wirken für den Job, der vor ihr lag? Abgebrüht auf jeden Fall. Und sie war 35, aber das würde sie diesen Knilchen niemals verraten.

«Keiner von denen schreibt zurück. Ich werd euch wohl alle erst jenseits des Jordans wiedersehen.»

Selbst für Eileen klang das jetzt zu fatal. «Eileen! Hab Geduld! Es ist eben kurz vor Tag X. Es sind nur die Nerven. Und sonst meldest du dich einfach stinkfrech beim COG, er nimmt sich bestimmt eine Minute Zeit für dich.»

Es sind nur die Nerven, Yael!, sprach sie auch sich selbst innerlich zu und unterdrückte die nächste Übelkeitswelle. Sie würde morgen Geschichte schreiben. Da war es normal, dass sie ein bisschen nervös war.

Ein tiefer Seufzer drang an ihr Ohr.

Yael hob den Kopf und starrte auf die Gestalt ihrer besten Schülerin Rowena McNullan einen Meter neben sich. Die Jugendliche hatte sich breitbeinig neben dem Randstein hingepflanzt und starrte ins Leere. Sie sah elend und erschöpft aus, das T-Shirt ganz durchgeschwitzt. Noch nie hatte sie ihrem Vater Henry mehr geähnelt als in diesem Moment. Der hatte auch immer diese Leidensmiene, wenn er im Institut eine unangenehme Aufgabe übernehmen musste … Ach, Henry! Ach, Eileen! Dieses blöde Institut! Das würde jetzt warten müssen!

Die nächste Nachricht blitzte auf. «Es gefällt mir nicht, allein zu sein.»

«Halte durch, Eileen!»

«Na dann! Leb wohl, Yael! Die letzten fünf Jahre mit dir waren der Hammer!»

«Hör auf zu spinnen. Du hast das im Griff wie immer. Wir sehen uns morgen! Ich muss los! Einmal noch das Lehrerinnenleben genießen n.»

Das Handy blieb stumm. Yael steckte es schnell weg. Es passte nicht zu Eileen, dass sie die Nerven verlor. Seltsam!

Sie schob das mulmige Gefühl zur Seite, und ihr Blick fuhr wieder zu Rowena, die gerade ins Kreuzfeuer von Hamids Sticheleien zu geraten schien. Die Schüler waren reif für mehr Bewegung, und Yael wollte ihre Aufgabe hier ehrenvoll zu Ende bringen.

Rowena

«Rowena, es macht dich nicht attraktiver, wenn du so breitbeinig in der Gegend rumstehst! Du siehst ja sonst schon aus wie ein Mann!»

Rowena schreckte hoch und scharrte reflexartig ihre Füße näher zusammen. Verschämt blickte sie auf.

Hamid Saleh, ihr Klassenkollege aus Libyen, wieherte los und klatschte seine Mitschüler mit einem High Five ab.

Unterdrücktes Kichern wegen seiner Bemerkung wogte wie eine Welle durch die Schülertraube, die sich auf einem Parkplatz am Jerusalemer Skopusberg um ihren Sportlehrer Mister Gregory und seine Assistentin Yael Cohen scharte. Und mit einem Mal waren alle Augen auf Rowena gerichtet.

Zu verdattert, um eine gescheite Antwort zustande zu bringen, senkte Rowena verlegen den Kopf. Sie glaubte aus dem Pulk die Bemerkungen «McNullan, die sportliche Null!», «Voll unweiblich!» und «Zerlumptes Outfit …» zu hören.

Dieser Idiot von Hamid! Musste er sie vor der ganzen Klasse bloßstellen? Auch Dwayne Wilson, der australische Diplomatensohn, den alle «The Sixpack» nannten, kicherte hinter vorgehaltener Hand.

Ihre beste Freundin Shania O’Haran, die als Einzige nichts mitbekommen zu haben schien, schnaufte ihr ins Ohr: «Sehen die neuen Stirnfransen vom Gregory nicht erzbescheuert aus?»

Rowena bückte sich und gab vor, einen Stein aus ihrem neuen pinken Turnschuh zu entfernen, damit niemand sah, wie in ihren Augenwinkeln Tränen glitzerten. Ein kleines helles Steinchen purzelte aus dem Schuh auf den unebenen Asphalt-Flickenteppich des Bürgersteigs am steilsten Hang des Skopusbergs in Jerusalem. Eine Träne tropfte hinterher.

Rowenas Turnschuhe waren noch nicht eingelaufen, und an ihrer Ferse scheuerte eine Blase, herbeigeführt durch die Tortur des schnellen Spaziergangs von der Anglican International School of Jerusalem quer durch die Stadt hierher auf den Skopusberg.

Nach einer zweistündigen, sterbenslangweiligen Führung durch das Universitätsgelände und den Botanischen Garten waren die Schüler gereizt und kampfbereit.

Mister Gregory klatschte in die Hände und brüllte in militärischer Manier: «So, bis jetzt sind wir nur rumspaziert! Jetzt wird noch richtig Sport gemacht!»

Das allgemeine Stöhnen unmotivierter Teenager ignorierend, hob er die Hand. «Alle Rucksäcke hier abgeben! Wir schließen sie für euch im Schließfach ein. Später karrt sie ein freiwilliger Lehrer den Berg runter zurück in die Schule. Wir starten hier unseren Orientierungslauf ins Kidrontal nach Getsemani hinunter und dann wieder hinauf in die Jerusalemer Altstadt …»

Das Murren wurde lauter.

«Bravo, Gregory! Das ist der beste Plan, vor allem jetzt vor Ostern, wo die Straßen von Touristen und Pilgern verstopft sind», maulte Hamid wieder lautstark.

«Uuuuund …», hob Mister Gregory die Stimme. «Zur Belohnung gibt es für euch am Ende ein Eis – in der Gelateria ‹Zur halben Amphore› zwischen Herod’s Gate und dem Damascus Gate!»

Das Klönen der Schüler mauserte sich zu einem halbwegs gelungenen Applaus.

Rowena packte ihren Rucksack und reihte sich hinter Shania in die Warteschlange der Schüler ein. Plötzlich fühlte sie Hamids Atem in ihrem Nacken. Sein starker Deogeruch stieg ihr in die Nase. «Was ist, Hamid?», warf sie ihm entgegen und trat einen Schritt zurück.

In seinen dunklen Augen blitzte es, als hätte er eine Goldader gefunden. «Mein Vater hat am Samstagabend an einem Charity-Event in Jaffa teilgenommen. Und ratet dreimal, wen er dort getroffen hat?»

Hamid veratmete eine Kunstpause und platzte heraus: «Unsere liebe Sport-Assistentin, Frau Yael Cohen! Im Minirock, die hübschen langen Beine in Lederstiefeln. Nicht mehr ganz nüchtern und unverschämt angeschmiegt an einen der reichen jüdischen Banker, die ursprünglich aus New York kommen. Dieser Doron Weiß-ich-Was, der bekannt ist für seinen guten Riecher an der Stock-Exchange und ziemlich dick im Geschäft mit dem Präsidentschaftskandidaten, Mister Goldblatt.»

«Lass Frau Cohen in Ruhe!», gab Rowena zurück.

«Lass uns in Ruhe, Hamid!», ergänzte Shania. Sie schob sich zwischen Rowena und Hamid. «Und geh doch mit deinem Vater eine Ölpipeline im Negev anbohren! Es sei denn, der Wind trägt dich von selbst dahin, Spargeltarzan!»

Hamid schob die Unterlippe schmollend vor und stolzierte beleidigt davon.

«Gut gekontert, Shania!», meinte Rowena.

Diese kicherte und warf ihren Pferdeschwanz über die Schulter zurück. «Ich weiß!»

«Ich mag es nicht, wenn er Frau Cohen in ein schlechtes Licht rückt. Ich glaub, sie wäre meine Lieblingslehrerin, wenn sie nicht so … so bewegungssüchtig wäre.»

«Die Tusse?», lachte Shania. «Ach nee!»

«Ich mag sie ja auch nicht so sehr in Sport. Aber in Geschichte ist sie so stark und erzählt so lebendig, als wäre sie selbst dabei gewesen.»

«Geschichte … Bäh!», machte Shania und warf ihren Rucksack auf den Stapel zu Frau Cohens Füßen.

Die Lehrerin trat einen Schritt zurück und sagte mit gedämpfter Stimme zu ihrem Kollegen. «Gregory, es ist eine schlechte Idee, zwanzig Teenager in kurzen Sportklamotten durch Ostjerusalem zu jagen! Gerade jetzt, wo die Feiertage vor der Tür stehen!»

«Ach, lass das bloß meine Sorge sein», lachte Mister Gregory und winkte beruhigend ab. «Es sind ja alle zusammen. Die wird niemand beachten.»

«Die Straßen sind nicht so sicher, wie du denkst.»

«Du wirst ja zur Sicherheit den Besenwagen spielen, Cohen, also ist doch alles in Butter. Von mir aus bräuchte es das nicht mal. Du könntest ja auch die Rucksäcke runterkarren vom Berg. Deine Entscheidung.» Er drehte sich um und joggte rückwärts los. «Seht das als meinen Beitrag für euer Workout-Programm von heute! Dann müsst ihr später nicht mehr ins Gym.»

Dwayne «The Sixpack» Wilson, hochgewachsen und mit der Figur eines Surfers, jagte seine Faust in die Luft und stieß einen Kampfruf aus. «Los, Leute! Riesen-Eisbecher wartet!»

Rowena ließ den Rucksack langsam auf den Stapel zu den anderen sinken und bewegte dann vorsichtig ihre wehe Ferse.

«Hey, Rowey?», zwitscherte Shania. «Hmmm … Du weißt ja, Joggen ist meine Lebensaufgabe, und ich wollte heute tatsächlich noch ins Gym. Muss den Trainingsplan einhalten. Ich hab einen Ruf zu verlieren, und …»

«Ja, ja, schon klar!», seufzte Rowena abgrundtief. «Ich kann ohnehin nicht mit dir mithalten. You go, girl!»

«Danke! Bist ein Schatz!» Shania warf ihr einen Handkuss zu. Und dann sauste sie, in bauchfreiem T-Shirt und hautenger Sporthose, die ihren kompakten Hintern besonders betonte, dem Pulk mit den Jungs hinterher. Ihr langer blonder Pferdeschwanz winkte Rowena höhnisch zu. Shanias Vorfahren mussten zierliche, irische Elfen gewesen sein! Sie war feingliedrig und trotzdem sportlich-zäh.

Rowena ließ sich Zeit, einen festen Doppelknoten in ihre langen Schnürsenkel zu binden, als jemand sie seitlich anrempelte.

«Hey, Mädel! Arbeite schön an deiner Bikinifigur, damit wir im Sommer auch was zu gucken haben!», röhrte Hamid und machte sich mit seinen langen dürren Beinen auf den Weg, den anderen hinterher.

«Blödmann!», krächzte Rowena ihm halbherzig hinterher. Sie stemmte sich auf und zupfte ihr Schlabber-T-Shirt über der bequemen grauen Trainingshose zurecht.

Im Gegensatz zu ihrer hübschen Elfen-Freundin stammten ihre eigenen schottischen Vorfahren väterlicherseits wohl von Godzilla ab. Wenn man den alten Fotos glaubte, hätte einer ihrer Großonkel sogar in der Filmreihe mitspielen können. In der Hauptrolle. Als Monster. Und sie schlug definitiv dem schottischen Zweig der Familie nach.

Unmotiviert trabte sie als Schlusslicht los. Vor sich sah sie gerade noch eine Dreiergruppe Mädchen um die Ecke verschwinden. Allesamt sportlich, mit guter Figur.

«Oh Gott! Warum zählt bei allen immer nur das Äußere?», murrte sie. «Ist es denn nicht viel besser, wenn man intelligent ist und ein großes Herz hat?» Rowena strich sich eine Strähne ihres krausen rotblonden Haars aus der erhitzten Stirn. Das Bedürfnis, zu weinen, war verflogen. Wütend polterte sie in der Hitze den schmalen Bürgersteig hinunter. «Ich hasse diese Gesellschaft, die alle nur nach ihrem Äußeren beurteilt.»

Am Fuß der steilsten Neigung angekommen, keuchte sie bereits wie ein Wasserkocher kurz vor dem Siedepunkt, und sie ahnte, dass sich ihre helle Haut gerade, wie so oft, feuerrot verfärbte.

«Achtung, Alarmstufe Rot!», pflegten die Jungs ihrer Klasse jeweils beim Sport in der Halle zu sagen, wenn sie wieder mal als Letzte ins Ziel keuchte.

Kam es diesen Schrumpfhirnen nicht in den Sinn, dass Rowena, als Tochter eines Geschichtsprofessors, zu Hause eher ein Pop-up-Quiz über den Dreißigjährigen Krieg erwartete als Sit-ups? Bei ihnen waren eben andere Dinge wichtiger als Laufen.

In stummem Trott setzte sie ihren Weg den Hügel hinab fort und wünschte sich, dass Pop heute Nachmittag alle Vorlesungen oben auf dem Berg abblasen würde. Aber natürlich sagte Henry McNullan seine Vorlesungen nicht ab. Und sein weißer VW tauchte nirgends zwischen all den hupenden und stinkenden Fahrzeugen auf, die sich auf der schmalen Straße den Berg hinauf- und hinunterquälten.

Heute war Mittwoch. Pop kam mittwochs nach den Vorlesungen selten direkt nach Hause. Da fuhr er oft zu seinem dubiosen Zweitjob. «Ins Institut», wie er den geheimnisvollen Ort in der Neustadt Jerusalems nannte. Wenn er «ins Institut» fuhr, kam er oft erst nach Hause, wenn Rowena schon schlief.

Langsam dampfte Rowena die Martin-Buber-Straße hinunter. Der Bürgersteig war von metallenen Absperrungen eingerahmt und mit Autos zugeparkt. Immer wieder musste Rowena auf die stark befahrene Straße ausweichen. Ein kleiner Lastwagen mit Ladefläche streifte sie beinahe und hupte wie eine zornige Hornisse.

Rowena blinzelte in den Himmel, der ganz apriltypisch mit weißen Bauschewölkchen gestreuselt war. Gestern noch hatten sie einen Regenguss erwischt. Vermutlich den letzten bis im Herbst. Die Sonne brannte in den Wolkenlücken heiß auf ihren Kopf, und sie fühlte sich wie der Lammbraten, den sie an Ostern für Pop und Granny in den Ofen zu schieben gedachte.

Jeder Schritt bergab gab ihr einen Schlag aufs Knie. Ständig musste sie Fußgängern ausweichen. Die Frauen trugen lange Kopftücher und Gewänder. Rowena befand sich mitten in einem arabischen Viertel. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie hier allein unterwegs war, und sie war froh, dass sie eine lange Sporthose trug und ihre Schultern bedeckt waren. Schnell duckte sie sich unter einem Straßenschild hindurch. Das war halt einfach Jerusalem: Man musste lernen, bei welchem Häuserblock welches Viertel begann – und sich dann den religiösen Gepflogenheiten anpassen.

Seit sie vor fünf Jahren von England zu Pop nach Jerusalem gezogen war, hatte sie gelernt, dass in einer Stadt, in der drei Weltreligionen zu Hause waren, vor allem eines gefragt war: Toleranz. Sie hatte freiwillig Kurse über den Islam belegt, studierte in einer Gruppe mit älteren Schülern Kommentare zu Thora und Talmud und besuchte auch gelegentlich den Jugendgottesdienst in der Kapelle ihrer christlichen Schule.

Ihre Oberschenkel und Lungen brannten. Der monotone Trott fing an, sie zu langweilen. Sie fischte nach ihrem Handy in der Hosentasche und checkte Instagram.

Auf dem ersten Bild lachte sie eine verschwitzte Shania an. Wie konnte die laufen und gleichzeitig auf Instagram posten? Unter ihrem süßen Elfenlächeln und eingezogenen Bauch prangte der wenig geistreiche Kommentar: «If you love yourself, then you’ll go running.» Und darunter die Hashtags: #joggingismylife #lovemylife #couldntbebetter #beautiful #trainingforjerusalemmarathon #marathonlover. Fünfzig ihrer beinahe zweitausend Follower hatten das Bild bereits geliked. Auf dem zweiten Bild erschien neben Shanias Gesicht das von Dwayne Wilson, ihrem australischen Mitschüler.

Hach, er sah einfach zu gut aus! Dwayne war erst im Jahr zuvor zu ihrer Klasse gestoßen. Die Strähnen seines kinnlangen Haars hingen ihm höchst vorteilhaft ins Gesicht. Er war braungebrannt und hatte sein T-Shirt ausgezogen. So wie immer! Kaum zeigte sich die warme Frühlingssonne über den judäischen Hügeln, fand er eine Entschuldigung dafür, seinen bloßen Oberkörper auf dem Pausenhof spazierenzuführen. Er machte keinen Hehl daraus, dass ihm das Gym wichtiger war als die nächste Semesterprüfung. Und die Zurschaustellung seines Sixpacks (oder eher Eightpacks?) hatte die gleiche Wirkung auf die weibliche Schülerschaft wie der Honigtopf auf ein Bienenvolk.

Rowena erinnerte sich daran, wie Shania und sie sich jeweils in sicherem Abstand zu dem Spektakel hingepflanzt und über das irrwitzige Balzverhalten ihrer jüngeren Mitschülerinnen gelacht hatten. Bis zu dem Tag, als Dwayne «The Sixpack» Wilson Bienenvolk hatte Bienenvolk sein lassen und lässig zu ihnen herübergeschlendert kam.

«Hey Girls?» Seine Zähne hatten weiß geblitzt, als er Shania und Rowena mit seinem Lächeln gesegnet hatte.

«Hey», hatte Shania, ohne eine Miene zu verziehen, erwidert.

«Kommt ihr nächstes Wochenende auch nach Tel Aviv? Party des Jahres ist im ‹Bloating Sheep› angesagt.»

Rowena machte sich in der Regel nichts aus geschniegelten Playboys. Aber als sie sich beim Starren erwischte, war es schon zu spät gewesen. Ihr Erdbeer-Milchshake war in Schräglage geraten und munter auf ihre Schuhe hinuntergeplätschert. Doch Dwayne hatte nur gelacht, ihr eine Serviette gereicht und dann ein ungezwungenes Gespräch mit Shania und ihr angefangen.

Seitdem saßen die Freundinnen des Öfteren am Samstagnachmittag kichernd auf Rowenas Bett, umarmten ein kuscheliges Kissen und rühmten Dwaynes unzählige Vorzüge.

Wenn Shania dann nach Hause ging, schwelgte Rowena oft in der Vorstellung von Dwayne, dem Prinzen mit goldenem Haar, der sie hinter sich auf den feurigen Rappen zog und mit ihr in Richtung Sonnenuntergang ritt. Unterwegs küsste er sie natürlich, sodass ihr Hören und Sehen verging …

Rowena schüttelte die Vorstellung aus ihrem Kopf. Zurück zu Insta! Was Shania konnte, konnte sie schon lange: Mit zitternden Fingern wählte Rowena das Pluszeichen im Programm an, um ein Bild hinzuzufügen. Sie schoss im Laufschritt ein verwackeltes Bild vom Makassed Hospital im Hintergrund und rettete sich vor einem knatternden Moped auf einen engen Bürgersteig aus hellem Jerusalem-Stein, der von Olivenbäumen gesäumt war.

Sie begann zu tippen: «Ein Hoch auf die Sportlehrer der Anglican International School of Jerusalem …» Und suchte nach dem Hashtag #newteacher #hasnoidea und …

Während des Bruchteils einer Sekunde sah sie den Baumstamm des zierlichen Olivenbaums auf sich zukommen, bevor sie hart mit der Stirn voran dagegen prallte. Vom Schlag gesteuert, ging sie in die Knie und klatschte dann wie eine reife Pflaume seitlich nach hinten neben einen fliegenumschwärmten Abfallhaufen. Das Handy hüpfte klappernd über die Verbundsteine davon.

Schützend zog sie sich beide Unterarme übers Gesicht und rollte sich auf den Rücken. Ein Schock ging durch ihren ganzen Körper. Sie ließ den Hinterkopf aufs Pflaster sinken und schmeckte Straßenstaub auf der Zunge.

Tränen schossen ihr in die Augen. «Ich will sterben», stöhnte sie. «Lass mich einfach sterben!»

Eine Hand legte sich warm auf ihre Schulter und schüttelte sie leicht. «Dwayne? Bist du das?», seufzte Rowena hoffnungsvoll.

«Nein! Nicht Dwayne! Ich bin’s! Frau Cohen, deine Lehrerin», hörte sie eine freundliche Stimme über ihrem Kopf. «Und glaub mir: Hier und jetzt ist kein guter Zeitpunkt, um zu sterben!»

Rowena öffnete die Augen so weit, dass sie gegen das Sonnenlicht die Silhouette der Sport-Assistentin sehen konnte. «Ach, Sie sind’s?» Rowena hörte selbst, wie enttäuscht ihre Stimme klang.

Der Pferdeschwanz aus dunklen wuchtigen Locken hing der Lehrerin weit über die Schulter, als sie sich über ihre Schülerin beugte.

«Alles klar bei dir, Rowena?», fragte sie besorgt und half dem Mädchen, sich aufzusetzen.

Rowena betastete ihre Stirn. «Ich hab mit ’nem Baum Bekanntschaft geschlossen!», stöhnte sie.

«Das hab ich gesehen!», stellte Frau Cohen fest. «Der Baum hat es überlebt, wie ich sehe. Aber bei dir bin ich noch nicht so sicher. Zeig mal!»

Frau Cohen betastete vorsichtig Rowenas Stirn. Ihre Finger fühlten sich kühl auf ihrer feuerheißen Haut an.

«Au!» Rowena wich zurück. Eine Träne lief ihr übers Gesicht.

«Bluten tut’s nicht …», stellte Frau Cohen fest und blickte sie forschend an. Sie reichte Rowena ein sauberes weißes Stofftaschentuch.

«Danke», flüsterte das Mädchen. Sie blickte in das freundliche Gesicht ihrer Lehrerin. Es war braungebrannt und dunkel, so wie viele Gesichter hier im Nahen Osten. Ihre gerade Nase war von wenigen Sommersprossen übersät, als hätte ein Koch sie mit der Pfeffermühle gewürzt. Ihre Lippen waren voll wie Rosenblüten, und sie hockte nahe genug vor Rowena, dass sie die grünen Funken im satten Braun ihrer Augen aufleuchten sah. Wenn sie wütend war, wollte niemand in die Schusslinie der Blitze kommen, die aus diesen Augen schossen. Und die ansonsten widerspenstigen Jungs waren wie Wachs in ihren Händen.

So hübsch wie Frau Cohen müsste man sein! Sie hatte bestimmt keine Probleme, durchs Leben zu kommen.

«Wo ist mein Handy?», murmelte Rowena.

«Bist du sicher, dass es dir gut geht? Sag mir bitte, falls dir schlecht wird! Das wäre dann eventuell eine Gehirnerschütterung. Aber jetzt wollen wir erst mal dein Knie verpflegen. Das sieht übel aus.»

Rowenas Lieblings-Trainingshose war zerrissen, und Blutspuren zogen sich über die jetzt sichtbare Haut. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus, und sie vergrub das Gesicht in den Händen.

«Ich … ich kann kein Blut sehen», stotterte sie.

Frau Cohen holte einen kleinen Rucksack von ihrem Rücken und kramte darin herum, während Rowena krampfhaft weg von ihrem Knie in das Blätterdach des Olivenbaums blickte, der ihr zum Verhängnis geworden war. Sie biss sich auf die Zähne, weil die Wunde immer stärker brannte. Der Schock flaute ab, die Schmerzen flammten auf. Links und rechts machten die Fußgänger einen großen Bogen um das ungleiche Lehrerin-Schülerin-Paar am Boden. Sie ernteten einige neugierig-ratlose Blicke hinter Hidschabs und Kufiyas hervor, die besonders Frau Cohens lange Beine in enger Sporthose betrafen.

Frau Cohen betupfte Rowenas Knie mit Desinfektionsmittel, und Rowena atmete heftig aus. «Geht’s?», fragte Frau Cohen. «Sonst ist da vorne gleich das Makassed Hospital.»

«Ach, nein, das geht schon», antwortete Rowena tapfer. «Ich weiß nicht, ob sie dort Freude hätten, wenn wir in Sportkleidung reinspazieren. Schon gar nicht, dass wir hier auf der Straße rumsitzen.»

Frau Cohen schnaubte. «Das hab ich Mister Gregory auch gesagt. Aber er fand nichts dabei, eine Horde halbnackter Teenager durch ein arabisches Wohnviertel zu jagen.»

«Mister Gregory ist noch nicht so lange in Jerusalem», verteidigte Rowena den Lehrer durch zusammengebissene Zähne, weil Frau Cohen immer noch an ihrer Schramme herumtupfte, um die Blutung zu stillen.

«Deswegen ist er trotzdem ein … äh … eher unsensibler Mensch. Gerade jetzt, wenn die Stimmung in der Stadt vor den Feiertagen sowieso religiös aufgeladen ist. Ich schicke ihn gleich nachher los. Er soll das Auto mit den Rucksäcken auf dem Skopusberg holen. Das ist die Strafe.»

«Wie machen Sie das, Frau Cohen?», meinte Rowena und blinzelte die Lehrerin an, die weiter im Rucksack nach Verbandsmaterial wühlte.

«Was meinst du?»

«Die Männer dazu bringen, zu tun, was Sie sagen.»

Frau Cohen lachte hellauf. «Du denkst, das ist so?»

«Ja, klar. Die Jungs wollen Sie alle haben. Und die Mädchen wollen alle wie Sie sein.»

Frau Cohens Lachen verrutschte etwas, und sie verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. «Wie hart hast du dir den Kopf angeschlagen?», forschte sie und warf Rowena einen zweifelnden Blick zu.

«Nicht so hart», antwortete Rowena befangen. «Ich wünschte mir auch, ich wäre mehr so wie Sie. So … so …» Sie verstummte. So sportlich und selbstbewusst.

Frau Cohen blickte Rowena kurz in die Augen und platzierte dann eine Gaze auf der Schürfwunde am Knie. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen, und sie schüttelte leicht den Kopf. «Es stimmt eben schon, was man so sagt», murmelte sie leise, mehr zu sich selbst. «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.»

«Das sagt man doch, wenn die Kinder wie die Eltern sind, oder?», schwatzte Rowena, um sich vom Blut abzulenken, das immer noch ihr Bein herunterrann. «Und sie kennen meine Vorfahren ja gar nicht.»

«Doch, doch», entgegnete Frau Cohen. «Henry McNullan ist dein Vater, und der ist Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität oben auf dem Skopusberg. Und deine Großmutter ist Paula Taylor McNullan, Koryphäe für Archäologie und Geschichte in Oxford, England.»

«Aber das sagt ja nichts über mich aus», antwortete Rowena enttäuscht.

«Hm!», machte Yael Cohen. «Vielleicht schon. Vielleicht sagt es aus, dass du klug bist. Und kluge Menschen lassen sich nicht beeindrucken, wenn unsensible Menschen, wie zum Beispiel Hamid, dummes Zeug reden.» Frau Cohens Zwinkern verriet Rowena, dass sie Hamids Foppereien mitgekriegt hatte und sich als ständige Zielscheibe von seinen Sprüchen mit ihr verbunden fühlte.

«Ach das … Na ja … Ich wünschte mir, Aussehen wäre nicht so wichtig, aber anscheinend zählen ja die inneren Werte unterm Strich doch nicht. Sonst könnt ich vielleicht auch etwas Großes bewirken in dieser Welt. Aber mit meinem Aussehen komm ich wohl nicht weit.» Rowena breitete die Hände über ihren Körper aus. «Die nennen mich ‹Holland› oder ‹Ebbe›, wenn sie denken, ich höre sie nicht. Und anscheinend habe ich alles, was ich obenrum nicht habe, am Hintern angehängt. Ich sehe aus wie eine Birne.» Rowena schnaubte frustriert.

«Der Schlag hat wohl dein Ehrlichkeitszentrum angestoßen», stellte Frau Cohen fest. «Aber du weißt doch nur zu gut, dass Aussehen nicht alles ist. Viel wichtiger ist, was hier drin sitzt.» Sie ließ den Zeigefinger über Rowenas Augenbraue schweben, wo dieselbe Denkerfalte saß, die sie auf der Stirn ihres Vaters immer beobachtete.

«Außerdem: Man hört doch immer, dass jedem Menschen Schönheit innewohnt. Meine Ima sagt: Das Geheimnis ist, sich mit den Augen von denen zu sehen, die einen lieben. Du hast zum Beispiel ein tolles Lächeln. Wenn du lächelst, geht die Sonne auf! Ich wette, es wird noch viele geben, die sich da hinein verlieben. Dafür musst du nichts tun, außer du selbst sein. Und lass dir eins gesagt sein: Du hättest hören sollen, wie sie bei uns im Lehrerzimmer deine Crème brûlée loben. Da erblasst jede Köchin vor Neid.»

«Danke, dass sie mich trösten wollen.» Rowena stöhnte auf, weil Frau Cohen das Gazetuch über der Schürfwunde am Bein mit einem Klebstreifen befestigte.

«Kannst du aufstehen?» Die Lehrerin streckte ihr die Hände entgegen und zog sie auf die Füße.

In Rowenas Kopf drehte es sich, als sie ein paar Schritte im Kreis herumstakste. Sie kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und suchte ihr Handy. Sie fand es, völlig zerkratzt, zwei Meter weiter die Straße runter im Sand.

«Hast du etwa beim Laufen getextet?», seufzte die Lehrerin und fasste Rowena am Ellbogen.

«J-j-a», stotterte Rowena und belastete tapfer ihr verletztes Bein.

«Mit deinen Kolleginnen?»

«Nein, Instagram!»

Diesmal sah Rowena deutlich, dass Frau Cohen die Augen verdrehte. «Dann können wir ja von Glück reden, dass du nur in einen Baum und nicht auf die Straße raus vor ein Auto gelaufen bist», stellte sie trocken fest.

Langsam setzten sich die beiden weiter die Straße hinunter in Bewegung – an kleinen Läden und einem Wahlplakat vorbei. Von einem der Plakate lächelte sie Charles Ori Goldblatt mit seinen weißen Zähnen an.

«Vielleicht sollten wir mehr so sein wie COG hier», wandte Rowena sich an Frau Cohen. «Er ist aus ärmlichen Verhältnissen gekommen, und sehen Sie, jetzt ist er der Liebling der Nation. Höchstwahrscheinlich wird er auch unser Ministerpräsident. Das alles hat er nur mit Köpfchen geschafft.»

«Hmmm…», machte Frau Cohen gedankenvoll und streifte das Wahlplakat flüchtig mit ihrem Blick. «Oder aber er hatte einfach gute Verbindungen und ist selbst auch nur eine Marionette!», murmelte sie und wich Rowenas Blick aus. «Hier vorne müssen wir nach rechts abbiegen, da geht’s nach Getsemani.»

Sie bogen in ein enges Sträßchen ein, das von zwei hüfthohen Steinmäuerchen eingefasst war. Links und rechts breiteten sich Steinhalden aus, auf denen Gesträuch und Pinien wuchsen. Wie eklig der ganze Plastikmüll zwischen den faustgroßen Steinen und dem Geröll aussah!

Aus einiger Entfernung konnte sie schon die Skyline der Hochhäuser der Neustadt sehen. Im Vordergrund thronte majestätisch die Altstadt von Jerusalem auf einem Hügel. Die hellen Steine leuchteten gleißend in der Nachmittagssonne.

Die Kuppel des Felsendoms glänzte golden.

Das Sträßchen war eng, es war heiß, und Rowenas Knie pochte bei jedem Schritt. Frau Cohen wich einem Mann aus, der ihnen bergauf entgegenkam und einen Esel hinter sich herzog. Dann sprang sie zur Seite, um einem rücksichtslos herumkurvenden Fahrradfahrer zu entgehen.

«Es ist ein Wunder, wenn alle Schüler heute heil am Herod’s Gate ankommen», knurrte Frau Cohen. «Gelateria hin oder her, ich muss ein ernstes Wörtchen mit Mister Gregory reden. Das sagst du ihm aber bitte nicht!»

Eine Traube amerikanischer Touristen versperrte ihnen den Weg. Frau Cohen begann nervös auf den Zehenspitzen herumzuhüpfen. «Los, ihr Schmocks, auf die Seite!» Sie packte Rowena an der Hand und zog sie hinter sich her. «Die Touristenbusse stauen sich schon hier oben, was wohl erst unten beim Garten Getsemani los sein wird. Mann!»

«Wissen Sie!», stieß Rowena hervor und stolperte Frau Cohen hinterher. Sie erreichten die stark befahrene Straße, an der der Eingang zum Garten Getsemani lag. «Dwayne hat uns für dieses Osterwochenende nach Tel Aviv eingeladen. Mich und Shania und noch ein paar andere. Und Shania hat gesagt, sie geht hin, obwohl sie weiß, dass ich an Ostern nicht kann, weil uns Granny immer um die Feiertage aus England besuchen kommt. Und jetzt geht sie trotzdem hin, und ich finde das so unfair.»

Es half ihr über die brennendsten Schmerzen hinweg, wenn sie plapperte.

«Ich verstehe Shania schon, dass sie auch ohne mich hinwill. Was soll sie auch mit mir zu Hause hocken und nur aus Solidarität Trübsal blasen?»

«Shania sollte sich geehrt fühlen, dass sie mit deiner Großmutter an einem Tisch sitzen darf», entgegnete Frau Cohen ungerührt und eilte mit Rowena im Schlepptau im Zickzack zwischen den Fußgängern und Touristenbussen hindurch. «Was würde ich dafür geben, der großen Paula Taylor McNullan die Hand zu schütteln und mit ihr an einem Tisch zu sitzen!»

«Sie müssten halt zu uns zum Essen kommen», meinte Rowena vorschnell und biss sich dann auf die Lippe.

«Ja, klar!» Frau Cohen lächelte und navigierte Rowena zielsicher durch die Menschenmenge vor den Stufen der Kirche aller Nationen. Direkt vor ihnen sang eine zusammengewürfelte Gruppe Gitarristen ein Lied über Jesus Christus. Kaum zwei Meter neben ihnen führte ein Pater in einer langen, dunklen Robe eine Prozession an. Die Säulen und die bunte Fassade des Gebäudes luden die Touristenströme dazu ein, Erinnerungsfotos zu schießen.

Frau Cohens Handy klingelte. «Einen Moment schnell! Das ist sicher Gregory … Äh … ich meine Mister Gregory. Dem werde ich mal ein paar Takte erzählen.» Sie tippte auf den Bildschirm ihres Smartphones und hob es ans Ohr. Dabei wischte sie sich mit dem Handgelenk den Schweiß von der Stirn. «Yael Cohen hier! Gregory, siehst du jetzt ein, wie bescheuert deine Idee war …? Oh, Verzeihung … Hallo Doktor Kozlowski.» Frau Cohens Gesichtszüge wurden ernst. «Ja, ja, ich habe den Test machen lassen! Hm …» Die Lehrerin tastete nach einem der Eisenstäbe des Zauns, vor dem sie gerade standen, als müsse sie Halt suchen. Mit der freien Hand fuhr sie sich übers Gesicht.

Rowena war für einen Moment überzeugt, dass es diesmal ihre Lehrerin war, die demnächst in Ohnmacht fallen würde.

«Sind Sie sicher?», fragte sie. «Hm… hm… ja, verstehe … ich werde diese verdammte Firma verklagen. Von wegen hundertprozentige Sicherheit. Ja, geben Sie mir den nächstmöglichen Termin. Nein. Keine Beratung. Der Fall ist klar. So rasch wie möglich erledigen. Oh mein Gott! Ja …» Frau Cohen ließ sich in Zeitlupe mit dem Rücken gegen den Zaun in die Hocke sinken und sah im Trubel von hupenden Autofahrern und drängelnden Touristen wie eine gefallene Göttin aus. «Okay, nächsten Mittwoch!», sagte sie monoton. «Um 14:00 Uhr! Ja, danke! Bis dann!»

Sie tippte wieder auf den Screen des Smartphones und starrte leer vor sich hin.

Rowena hüpfte auf ihrem gesunden Fuß zu ihr hin und streckte ihr das schon etwas schmuddelige Taschentuch entgegen, das Frau Cohen ihr vorher gereicht hat. «Wollen Sie das hier?», fragte sie keck.

Die Lehrerin blickte zu Rowena auf. Ihre Augen waren wie dunkle Brunnen.

«Hier, das Taschentuch!» Rowena hielt es ihr hin.

«Nein, danke! Ich brauche keins», wehrte sie schnell ab. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, wie um ihre Aussage zu unterstreichen.

«Sie sehen aber so aus, als würde Ihnen Weinen guttun.»

«Nein. Ich weine niemals. Ich kann es gar nicht.»

«Jeder kann weinen.»

«Ich nicht.»

«Nehmen Sie das Taschentuch trotzdem, falls die Tränen noch kommen sollten.»

Frau Cohen umklammerte das Taschentuch mechanisch. «Bist du sicher, dass du erst sechzehn bist, Rowena?»

Verlegenheit stieg in Rowena auf. «Es war wohl nicht Mister Gregory, oder?»

Frau Cohen schüttelte stumm den Kopf.

«Geht es um einen anderen Mann?», wagte Rowena zu fragen.

«Schön wär’s!» Frau Cohen lachte zynisch auf.

Direkt neben ihnen fuhr ein Touristenbus los und hüllte sie in eine Abgaswolke. Frau Cohen hustete, hüpfte aus der Hocke auf und landete wieder auf den Fußballen. «Komm! Die anderen haben das Eis sicher schon aufgeschleckt. Gehen wir raus aus dieser Menschenmasse! Schnell!»

Sie marschierte strammen Schrittes los, und Rowena musste sich beeilen, damit sie nicht den Anschluss verlor. Seufzend blickte sie auf die steile Straße, die durch das Kidrontal hinauf zur Jerusalemer Altstadt führte. Hektisch begann sie an ihren Fingernägeln zu kauen, so wie sie es immer tat, wenn sie am Ende war.

«Warten Sie auf mich, Frau Cohen! Haben Sie mich vergessen?» Rowena fing an zu traben.

Frau Cohen drehte sich um und trottete rückwärts weiter. «Du musst dich jetzt noch ein bisschen durchbeißen, Rowena!», befahl sie.

«Ich weiß nicht, ob ich es schaffe! Das Knie schmerzt!»

«Komm! Ich weiß, dass du das schaffst. Ich schlage vor, du kämpfst dich durch den Schmerz hindurch und wandelst ihn in Kraft um. Schau!» Sie deutete auf die stark befahrene Straße, die sich in einem großen S zu der Altstadt hinaufschlängelte. «Dort siehst du die Altstadtmauer, und da müssen wir nur kurz dran entlanglaufen und sind schon bald beim Herod’s Gate. Und Herod’s Gate heißt, die Gelateria ist nicht mehr weit entfernt. Du hast es bald geschafft.»

Frau Cohen klatschte in die Hände, drehte sich um, und Rowena legte einen Zahn zu.

Der Hügel vor Rowena fühlte sich endlos an, selbst als sie die hellen Steine der Altstadtmauer erreicht hatten, die zu ihrer Linken den Bürgersteig entlangführten.

«Ach, schau! Da vorne kommt uns Hamid entgegen!», rief Frau Cohen.

Oh nein! Rowena wollte auf der Stelle umdrehen, als sie den Mitschüler entdeckte, der mit langen ausgreifenden Schritten den Hügel hinab auf sie zustürmte. Sein Haar, das sich in dunklen Wellen über seiner Stirn auftürmte, schien mehr zu wiegen als alles andere an ihm und wehte wie eine Fahne im Wind. Hamids Arme und Beine waren grobknochig und dürr wie Feuerhaken, sodass seine Gelenke sich an Knie und Ellbogen abhoben. Gescheit wie Einstein war er – wenn es nach ihm selbst ging. Bodenlos faul aber auch, wie es der Schulleiterin in einem unachtsamen Moment vor ein paar Schülern herausgerutscht war. Und ein Mundwerk hatte er … so groß wie das Mittelmeer.

Als er sie entdeckte, winkte er wild mit beiden Händen über dem Kopf. «Huhu! Frau Cohen!», brüllte er, und im nächsten Moment joggte er direkt vor Rowenas Nase neben der Lehrerin her. «Eigentlich hätt ich gedacht, dass Sie alle Nachzügler einsammeln, Frau Cohen! Wie kommt es jetzt, dass ich es bin, der das tut?»

Frau Cohen gab sich unbeeindruckt. «Hallo Hamid! Magst du kein Eis?»

«Och, Frau Cohen! Ich hätte gedacht, sie würden mich vor Freude umarmen, weil ich so ein netter Kerl bin und Ihnen helfe, Besenwagen zu spielen.» Einladend breitete er seine Arme aus. «Oder wie wäre es mit einer Eins in Sport, als Belohnung?»

«Vergiss es, Hamid!»

«Was halten Sie davon, wenn ich mir selbst eine Eins verpasse?»

Die ganze Lehrer- und Schülerschaft an der Anglican International School wusste über Hamids Fähigkeiten als Hacker Bescheid. Im letzten Jahr hatte er es geschafft, sich in das Programm für die Notengebung der Lehrer einzuhacken. Bis sie ihm auf die Schliche gekommen waren, hatte er das ganze Notensystem der Schule irreparabel auf den Kopf gestellt. Alle Schüler, die nett zu ihm waren, hatten ohne Probleme das Semester geschafft. Seine Widersacher hatten ein zweites Mal zu den Prüfungen antraben müssen.

Seither führten sämtliche Lehrer die Notenlisten wieder handschriftlich, welche von der Schulleiterin höchstpersönlich in einem feuersicheren Schrank verschlossen aufbewahrt wurden.

Hamid hatte sich den Respekt und die Furcht aller eingeheimst, und er ertrug die Strafe dafür mit trotzigem Stolz: Er musste seitdem dem Hausmeister zur Hand gehen.

«Wir … schaffen … das … auch … ohne … dich …», keuchte Rowena.

Doch sie hätte besser geschwiegen, denn Hamid drängte sich nun dicht neben sie. «Hey, Rowens, täuschen mich meine Augen, oder hast du dich auf dem Weg hierher in ein Einhorn verwandelt?» Er deutete auf Rowenas Stirn.

«Vergiss es!», keuchte Rowena.

«Nein. Echt, Rowens! Bist du mit einem Lastwagen zusammengestoßen?»

«Halt … die … Klappe … Hamid!»

Hamid kicherte vergnügt. «Oh, là, là … Und deine Hose … Gehst du endlich mit der Mode? Sieht scharf aus, so zerfetzt!»

Rowena knurrte nur.

«Bist du noch sauer, dass ich vorher gesagt hab, dass du aussiehst wie ein Mann?»

«Ja», antwortete Rowena wahrheitsgetreu.

Er blickte sie treuherzig mit dunklen Augen an. «Du weißt, dass ich dir nichts Böses will. Ich bin kein schlechter Mensch, McNullan!»

Sollte das eine Entschuldigung sein?

«Ja, aber es war trotzdem fies von dir!» Und du bist ein Trampeltier und ein Großmaul, wollte sie noch anhängen. Aber ihr fiel ein, was Granny gesagt hatte: «Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, dann sag lieber gar nichts.» Deshalb schwieg sie.

«Komm, Rowens! Ich will es wieder gutmachen. Wir machen einen Deal: Wenn du es schaffst vor – sagen wir – …» Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «… 4 Uhr das Herod’s Gate zu erreichen, dann zahl ich dir ein zweites Eis. Wenn du es nicht schaffst, dann bringst du für die ganze Klasse nächste Woche nochmals eine Ladung Crème brûlée mit. Und für mich allein eine große Schüssel.» Er rieb sich den Bauch. «Deine Crème brûlée schmeckt göttlich.»

«Ver …giss es!» Endlich aus der Schusslinie von Hamids Sprüchen zu geraten, motivierte sie, und sie legte einen Zahn zu.

Hamid dachte nicht ans Aufgeben. «Hey, Rowens! Wenn du so schnell wärst, wie du gescheit bist, dann wärst du in dieser Zeit bis nach Libyen und zurück gejoggt, das schwör ich dir.»

«Hau … ab, Hamid!» Tränen stiegen wieder in Rowena auf. Nur noch nach Hause …

«Hamid!», sagte Frau Cohen mit sanfter Stimme. «Du bist keine Hilfe! Los, verschieb dich zu den anderen und sag Mister Gregory, er muss keinen Suchtrupp schicken. Wir sind bald da.»