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Beschreibung

Immer mehr Menschen haben keinen Kontakt mehr zur Kirche. Mit der Kirche in ihrer traditionellen Form können sie nichts anfangen. Fresh X ist eine junge Bewegung, die auf Menschen zugeht, die bisher keinen Kontakt zu einer Gemeinde haben. Die Initiativen sind vielfältig: Es werden zum Beispiel offene Treffen in einem Ladenlokal, Hilfe für Menschen in sozialen Brennpunkten oder ungewöhnliche Andachten und Gottesdienste angeboten. In diesem Band stellen junge katholische und evangelische Autorinnen und Autoren ihre innovativen und kreativen Ansätze vor. 

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Maria Herrmann / Florian Karcher

anders,

denn Kirche hat Zukunft.Wie Fresh X neue Wege gehen.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Dorle Schmidt, Studio komplementær, Köln

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL

ISBN Print 978-3-451-39236-8

ISBN (EPUB) 978-3-451-82884-3

ISBN (PDF) 978-3-451-82885-0

Inhalt

anders, denn Kirche hat Zukunft Ein VorwortMaria Herrmann und Florian Karcher

anders, weil es stetig neue Formen braucht und sie jetzt schon entstehen.

„Afresh for each generation“  Das Neue in der Tradition der KircheChristian Schröder

Die Kirche. Ökonomische Analogien im TransformationsprozessDavid Gutmann und Fabian Peters

Von Trockenblumen, erfrischender Grünkraft und warum hier überhaupt Stroh liegtMathias Albracht

Kirche, die ist, was sie sein wird  Veränderungen zwischen Transzendenz und TemporalitätFriederike Erichsen-Wendt

Dass überhaupt mal etwas anders sein darf  Über Fluchtreflexe, Enttäuschung und jede Menge HoffnungstrotzMiriam Fricke

anders durch FreiheitJohanna Kalinna

Macht mal  Warum entsteht das Andere?Maria Herrmann

Form follows function  Von der Architektur für die Kirche lernenLena Niekler

anders, aber in Vielfalt ein Teil der Tradition.

anders denken, anders machen, anders sein  Von den Charismen des GründensKatharina Haubold

Von Baristas und außergewöhnlichen Begleitungen  Teamarbeit in neuen Formen von KircheAndrea Legge

Machtfragen  Anders über Macht denkenMiriam Hoffmann

Anders waren wir schon immer  Menschen of Color in der weiß dominierten KircheSarah Vecera

Die Angst verlieren, etwas zu verlieren  Elemente einer Ekklesiologie im Spagat à la François Jullien: Vielfalt als fruchtbare Ressource entdeckenDag Heinrichowski SJ

Fresh X und Zivilgesellschaft  Da geht noch mehrAdrian Micha Schleifenbaum

the medium is the message  Kontextuelle Evangelisation in neuen Formen von Kirche (Fresh X)Florian Karcher

Eine Kultur der NachfolgeNico Limbach

Licht. Stille. Konfetti  Eine Auseinandersetzung mit dem Warum des gottesdienstlichen Feierns und der Frage nach neuen FeierformenIsabelle Molz

anders, damit Sendung und Berufung die Welt verändern

… und dazwischen ist Gott.  Christliche Gemeinschaft im InternetFelix Goldinger

Von Suppen, Stolpersteinen und Seelsorge zwischen Tür und Angel  Einrichtungsgemeinde am Beispiel einer Tagesstätte für wohnungslose MenschenAnna-Sofie Gerth

Ein Wickeltisch im ehemaligen Frisiersalon  Gibt es Kriterien für neue Ausdrucksformen kirchlichen Lebens – und was bringen sie uns?Janette Zimmermann

Gott hinterherstolpern  Von den alten Mönchen lernenJonte Schlagner

Der Boden des Alltags heiligt dichDave Jäggi

Beten und Businessplan  Unternehmerische Ansätze als Chance für Innovation in Fresh X und KircheAnna und Erik Reppel

Global denken, kontextuell handeln  Fresh X und das für die Welt schlagende HerzDaniel Hufeisen

Der Weg ist das Spiel  Wie Kirche nicht zu retten, aber zu haben istAndrea Kuhla

anders – und doch nicht. Ein Schlusswort zum AnfangenMaria Herrmann und Florian Karcher

Autor:innen

Anmerkungen

anders, denn Kirche hat Zukunft Ein Vorwort

Maria Herrmann und Florian Karcher

Gesellschaft und Kirche in Deutschland verändern sich, sie werden anders. Darüber wird an unterschiedlichen Stellen nachgedacht, eine Menge wird ausprobiert, viel unternommen. Manches davon ist im kirchlichen Bereich von den sogenannten Fresh Expressions of Church inspiriert – einer Bewegung, die vor beinahe 20 Jahren in der Church of England ihren Namen bekommen hat.

Die in England gemachten Erfahrungen inspirieren nun seit über 10 Jahren auch Interessierte im deutschsprachigen Raum an unterschiedlichen Ecken und (Neu-)Anfängen der Kirche: in bestehenden Strukturen und in Aufbrüchen, in Teams vor Ort sowie in kirchlichen Behörden und Kirchenämtern; in digitalen Communities und Bahnhofsmissionen, an Fakultäten, in Instituten und Kneipen.

Während zu Beginn dieser Bewegung von der Insel aufs Europäische Festland eine Reihe von Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum stand, ist es in den letzten Jahren etwas ruhiger geworden. Doch die Prozesse vor Ort und in den kirchlichen Strukturen gingen weiter. Nun ist es an der Zeit wieder einmal genauer hinzusehen und Diskurse und Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen der Bewegung im deutschsprachigen Raum zusammenzutragen.

Wie aus Fresh Expressions of Church Fresh X wurde

Veränderungs- und Erneuerungsprozesse in Kirchen werden häufig durch zwei Faktoren angestoßen: Zum einen ist es oft der Druck von außen, der Veränderung notwendig macht. Zum anderen löst eine (theologische) Konzentration oder Neubesinnung auf das Kernanliegen – oder besser: die eigene Sendung – Veränderung aus.

Beides trifft auf die Entstehung der Bewegung der Fresh Expressions of Church in Großbritannien zu. Gesellschaftliche Veränderungen Ende des 20. Jahrhunderts führten zu einem rapide ansteigenden Relevanzverlust der Church of England und anderer Kirchen in Großbritannien. Auch wenn die Entwicklungen nicht wirklich vergleichbar sind, lassen sich dabei durchaus Parallelen zur aktuellen Situation in Deutschland ziehen, wenn von Mitgliederschwund, Austrittswellen und Vertrauensverlusten durch zahlreiche Krisen und Skandale die Rede ist. Mit dem Unterschied: Im britischen System, in dem sich Kirche nicht durch Kirchensteuern finanziert, sondern auf die aktive finanzielle Unterstützung Einzelner angewiesen ist, wurden diese Entwicklungen schnell existentiell für englische Gemeinden und die Organisation Kirche. Die Reaktion von kirchlicher Seite war eine inhaltliche Fokussierung auf die Themen Evangelisation und Wachstum. Die 90er Jahre wurden zur Dekade der Evangelisation innerhalb der Church of England ausgerufen. Diesem Anliegen schlossen sich andere Denominationen an, so dass von Anfang an von einer ökumenischen Bewegung die Rede sein kann. Damit war die Grundlage gelegt, um zahlreiche Themen und Experimente rund um die Frage, wie Kirche auch in einem postchristlichen Zeitalter relevant, ja sogar wachsend, sein kann, anzugehen.

In einer ersten großen Welle wurde dabei das Konzept des church planting[1] verfolgt, das ganz vereinfacht gesagt, darauf fußt, dass kleine Gruppen aus bestehenden Gemeinden an anderen Orten eine neue Gemeinde mit Unterstützung der „Muttergemeinde“ pflanzen. Die Erfahrungen und Diskurse aus der Dekade und dem church planting waren entscheidende Grundlagen für die Entwicklung der Fresh Expressions of Church: In einer sich schnell veränderten und diverser werdenden Gesellschaft spielt der konkrete Kontext vor Ort oder in einem Netzwerk eine zentrale Rolle dafür, ob und wie christliche Gemeinschaften als relevant empfunden werden. In dem für die Bewegung zentralen Bericht „mission-shaped church. church planting und fresh expressions of church in a changing context“ der Church of England wurden diese neuen Formen von Kirche 2004 dann beschrieben und eingeordnet. Damit wurden sie fester Bestandteil der strategischen und geistlichen Ausrichtung der Church of England in Zusammenarbeit mit anderen Kirchen, allen voran der englischen Methodist Church. Seitdem wird viel in neue kirchliche Formen investiert, es gibt ein, mittlerweile dezentrales Team, das die Bewegung durch Bildungs- und Begleitprozesse unterstützt, Fresh Expressions sind in die Amtsstrukturen integriert und es sind kirchenrechtliche Voraussetzungen geschaffen worden: Neue Formen kirchlichen Lebens können rechtlich neben pfarrlichen / parochialen Strukturen existieren, wofür das Bischofsamt Sorge trägt. Dazu gibt es eigene theologische (auch auf Ordination zielende) Ausbildungswege. Die Church of England gibt auf ihrer Website im Jahr 2022 an, dass die Fresh Expressions of Church mittlerweile 15% alle Gemeinden innerhalb der Kirche ausmachen.[2] Im statistischen Bericht aus 2021 wird die Zahl der Fresh Expressions mit 9.100, bei kontinuierlichem Wachstum, benannt.[3] Darüber hinaus gibt es eine Reflexion darüber, wie die neuen Formen im Verhältnis zu traditionellen Formen stehen, die sich im Begriff der „Mixed Economy“ (oder mittlerweile wird auch von „Blended Economy“ oder „Mixed Ecology“) nieder schlägt. Damit ist gemeint, dass Kirche eben beides in einer sich positiv ergänzenden Haltung braucht. In England sind die Fresh Expressions of Church ein großes Ding. Und in Deutschland?

Im deutschsprachigen Bereich wird häufig darauf verwiesen, dass die Situation eben eine andere sei: Es gibt keine zentralen Großkirchen, sondern relativ selbstständige Landeskirchen und Bistümer; es gibt eine Kirchensteuer; die Ausbildung von Theolog:innen ist eine andere. Damit sind nur einige Argumente benannt. Ja, es stimmt die Situation ist eine andere und gleichzeitig wächst seit Jahren auch der Druck auf die Kirchen – der Wunsch nach Veränderung und neuen, anderen Formen von Kirche ist lebendig und spürbar. Bereits früh fand die anglikanische Bewegung Bewunderer:innen und Befürworter:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und wurde zu Beginn der 2010er Jahre auch öffentlich wahrnehmbarer ins Gespräch gebracht. Große und kleine Kongresse mit Gästen aus England und zahlreiche Studienreisen auf die Britischen Inseln sorgten für eine erste Verbreitung der Ideen und Ansätze. Daraus wuchs ein Runder Tisch, später ein Netzwerk und ein Verein mit dem Namen Fresh X Deutschland.[4]

Von Anfang an entwickelten sich jenseits dieses „Labels“ Netzwerke, Arbeitsbereiche und Programm in den beiden großen Kirche, in Freikirchen und Verbänden, die zentrale Anliegen der Fresh X-Bewegung teilen. Auch das Netzwerk selbst ist als Verein divers in den konfessionellen Hintergründen, der Intensität und den Anliegen. So sind verschiedene Landeskirchen, Bistümer, (Jugend)verbände, Freikirchen und andere vernetzt, auf der Website als lokale Fresh X registriert oder inhaltlich verbunden. Von Anfang an war es eine Herausforderung für die Bewegung in Deutschland, zum einen die wertvollen Erfahrungen und Materialien der Anglikaner:innen zu nutzen und auf den deutschen Kontext zu übertragen, aber eben zum anderen auch eigene Impulse und Strategien zu entwickeln und sie in die Bewegung einzutragen. Dabei wurden über die Jahre hinweg nicht nur die Kontakte nach England weitergepflegt, sondern auch europäische Netzwerke genutzt oder aufgebaut und Verbindungen zu anderen nationalen Fresh Expressions-Bewegungen (besonders in die Niederlande) aufgebaut, um Erfahrungen auszutauschen. Anders als in der durch die Church of England geprägten Bewegung in England ist Fresh X in Deutschland kein einheitlicher und zentral gesteuerter Arbeitsbereich. Auch das Netzwerk in Form eines Vereins bildet nicht das ab, was inhaltlich im Geiste von Fresh X in Deutschland und dem deutsch-sprachigen Raum geschieht.

Dennoch nimmt die Sache weiter Fahrt auf, was auch am immer größer werdenden Druck zur Veränderung hin liegen dürfte: Nach den beiden ersten Phasen, die man mit (1.) „Kontakte und Kongresse“ und (2.) „Netzwerk“ überschreiben können, zeichnet sich eine dritte Phase ab, die man vielleicht als (3.) „Strukturelle Einbindung“ beschreiben könnte. In vielen evangelischen Landeskirche entstehen Strukturen für neue Formen von Kirche, die mancherorts „Erprobungsräume“ heißen. Auf katholischer Seite werden Beauftragungen zum Experimentieren ausgesprochen und die Sendungsorientierung und das missionarische Wesen der Kirche in den Prozessen (lokaler) Kirchenentwicklung oder in anderen Zukunfts- oder Visionsprozessen reflektiert. In beiden großen Kirchen werden Innovationsfonds zur Förderung neuer Aufbrüche aufgelegt und (Teil-)Stellen und Teams zur Entwicklung, Förderung und Begleitung solcher geschaffen. Hier und da sind sogar kirchrechtliche Veränderungen in Arbeit oder bereits rechtskräftig, um auf dieser Weise Ermöglichungsstrukturen für das Neue und Andere in der Kirche zu schaffen. In Freikirchen und Verbänden entstehen ebenso Arbeitsbereiche, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen. Das Thema erhält, wenn auch zögerlich, Einzug in den theologischen Fakultäten und Publikationen und erste Ausbildungsformate für Pioniersituationen sind auf dem Markt. Wenn alle diese Entwicklungen eine großes blaues Fresh X-Logo tragen würden, wäre vielleicht sichtbarer, dass die Bewegung bei uns zwar noch kein „großes Ding“ ist (und sich die Engagierten noch viel mehr Unterstützung und Ressourcen wünschen), aber eben doch recht weit verbreitet und mittlerweile dabei ist, sich zu etablieren. Was für die Sichtbarkeit als Narrativ oder Marke hilfreich wäre, ist aber für die deutsche Situation vor Ort nicht unbedingt sinnvoll, wenn es darum geht, das Anliegen in ganz unterschiedliche Kontexte zu transportieren, zu kontextualisieren und dort zu verankern.

Und so gibt es heute ein ökumenisches Netzwerk in Deutschland, das über offizielle Strukturen hinausgeht und das sich themenzentriert, teilweise digital, oft ad-hoc und manchmal formal vernetzt oder in einem Buch wie dem vorliegenden sichtbar wird. Um die Frage nach neuen Formen kirchlichen Lebens aber auf ein nächstes Level zu heben, braucht es im deutschsprachigen Raum neben einem solchen wertvollen Netzwerk nun auch klare kirchenleitende Entscheidungen und neue Strukturen und dabei können wir wieder von den Engländern lernen. Denn die entscheidende Frage ist: Wie holen wir solche Innovationen, also andere frische Formen kirchlichen Lebens aus dem Status eines „nice to have“ und der pastoralen Kür heraus und verschaffen Ihnen eine gleichberechtigte Stellung innerhalb der Zukunftsgestaltung unserer Kirchen, damit Sie ihr Potential entfalten können?

Hintergründe und Ziele des Buchs

Denn auch im deutschsprachigen Raum wird immer deutlicher: Das Territorialprinzip von Gemeinden und die pfarrliche Struktur ist an seine Grenzen gekommen oder hat sie teilweise bereits überschritten. Selbst die Ergänzung z.B. durch kategoriale Seelsorge, inhaltliche Arbeit auf einer übergeordneten oder ergänzenden Ebene oder Verbandsarbeit stellt nicht sicher, dass Menschen eine angemessene Sozialform finden, in der sie als mündige Getaufte ihre Form von Kirche (mit-)gestalten können. Auch die Diskurse darüber, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene neu zum Glauben kommen und eine Kultur der Nachfolge in Gemeinschaft leben können, sind intensiver und ernsthafter denn je zu führen. Dies heißt nicht, dass das kirchliche Handeln alleine durch geeignete Sozialformen oder eine Beteiligungslogik zu bewerten ist: Seelsorgerliches Handeln an den Ecken und Kanten des Lebens ohne Vereinnahmung der Menschen muss weiterhin möglich und selbstverständlich sein. Es wird allerdings für die Gestaltung einer kirchlichen Zukunft eine Vielzahl verschiedener Handlungsräume und -optionen geben (müssen). Die Gestaltung kontextueller Gemeindeform neben der territorialen Struktur der Kirche ist eine davon. Dies stellt deutlich die Frage danach: Wie geht Kirche auchanders?

Der Ausgangspunkt des vorliegenden Buches ist also die Einschätzung, dass eine Ergänzung kirchlicher Strukturen durch z.B. Fresh X dringend notwendig ist. Diese Beobachtung wird allerdings erweitert: Eine Ergänzung durch Fresh X ist nicht nur notwendig, sondern vor allem auch möglich – und sie geschieht bereits. Der Band setzt an diesen Stellen an und bündelt eine (sicherlich nicht vollständige) Auswahl von Diskursen, die im Zusammenhang mit Fresh X in Deutschland auftauchen. Dabei nimmt er eine notwendige Komplexitätsreduktion vor: Das Buch blickt bewusst nicht auf die gesamte Kirchenlandschaft und setzt auch nicht bei dessen Transformationsprozessen an. Es legt weder vollständige soziologische Analysen, noch umfassende Gesamtstrategien oder ausgefeilte und systematische Ekklesiologien vor. Allerdings fügt sich der Band ein in eine lange Reihe von Diskursen zur Gestaltung der Zukunft, die die Kirchen im deutschsprachigen Raum zu führen haben, in dem er sich auf die Gemeindebildung in neuen Kontexten und die aus diesen Prozessen entstehenden Fragen konzentriert.

Das Ziel dieser Veröffentlichung ist eine Momentaufnahme der Entwicklungen der Fresh X in Deutschland zu dokumentieren. Wir möchten damit die Kontextualisierung der Kontextualisierungsbewegung der Fresh Expressions weiter begleiten: Fast 20 Jahre nach „Mission-shaped Church“ und etwa fünfzehn Jahre nach der deutschen Übersetzung des Berichts haben sich nicht nur die Diskurse verändert, sondern können ergänzt und angereichert werden durch bisher ungenutzte Ressourcen und Fragestellungen. Entsprechend baut das vorliegende Buch auf sowohl Reflexion als auch Proflexion, auf das was war, ist und sein kann. Es wird lebendig durch Stimmen aus Theorie und Praxis und profitiert von der Vielfalt unter den Autor:innen, die ihren Platz in der für sie stimmigen Weise füllen. Da der deutschsprachige kirchliche Kontext immer in besonderer Weise ein ökumenischer ist, lebt auch das vorliegende Buch im Sinne einer Ökumene der Sendung bewusst selbstverständlich von den verschiedenen Charismen der Konfessionen.

Aufbau des Buches

Wenn man der Frage nachgeht, was an und in der Kirche alles (nicht) anders werden soll, lassen sich Antworten auf unterschiedlichen Ebenen finden: Man kann erstens Aspekte benennen, die seelsorgerliches und missionarisches Handeln betreffen, wie Gottesdienste, Aktionen und Veranstaltungen, Initiativen und Handlungsfelder – das konkrete Handeln in Kontexten vor Ort, in einem Netzwerk oder Sozialraum. Man kann zweitens Haltungen und Atmosphären, Kulturmerkmale und Prozesse identifizieren, die für das Ausrichten einer gegenwartssensiblen und zukunftsfähigen Kirche notwendig sind – das könnte zum Beispiel Fragen einer Leitungskultur betreffen, aber ebenso auch Themen der Spiritualität. Schließlich richtet sich möglicherweise drittens der Blick auf Intentionen und Motive, Visionen und Träume, Kirchenbilder und weitere theologische und gesellschaftliche Themen, die ein verändertes kirchliches Handeln begründen, möglich machen oder auch verhindern – die großen Kontexte und Fragen, die Kraft und Mut verlangen, aber eben auch Anlass geben für die fundamentale Veränderungen. Der Autor Simon Sinek hat eine Beobachtung publik gemacht, die diese drei Ebenen reflektiert: Er beschreibt unter dem Stichwort des „goldenen Kreises“ einen Zusammenhang dieser drei Ebenen. Er stellt dabei die These auf, dass es sowohl zielführend als auch nachhaltig ist, sich von den großen Fragen her, von der goldenen Mitte, einer Idee zu nähern, daraufhin die Haltungen in den Blick zu nehmen und sich erst im nächsten Schritt den Konkretionen und Handlungen zu widmen. Das vorliegende Buch gliedert sich dementsprechend also in drei Teile:

Es fragt zunächst, warum sich die Kirche im Sinne der Fresh X ändert:

Warum

wird Kirche anders, wozu braucht es neue Formen kirchlichen Lebens und woraufhin entstehen Sie?

Dann nimmt es die Haltungen, Prozesse und Fragen in den Blick, die sich in aller Vielfalt in der Bewegung der Fresh X im deutschsprachigen Raum zeigen:

Wie

entstehen Fresh X in Deutschland, welche Fragen und Diskurse durchziehen die Prozesse, welche theologischen Ressourcen fördern das Anderswerden?

Schließlich beschäftigt es sich mit den Konkretionen:

Was

zeigt sich in Fresh X, was ist daran anders?

Danke!

An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Autor:innen bedanken, die mit ihrem Beitrag diesen Band möglich gemacht haben. Für viele war dies nur in den späten Abendstunden oder in der sonst geringen freien Zeit möglich. Auch veröffentlichen eine ganze Reihe der Autor:innen in diesem Band zum ersten Mal einen Text für eine große Leser:innenschaft. Wir wissen um den Mut, den es dafür gebraucht hat und das große Engagement und Vertrauen, das uns mit jedem Artikel geschenkt wurde. Ebenso dankbar sind wir Dorle Schmidt vom Studio Komplimentær für die Gestaltung unseres Buchcovers. Fasziniert sind wir davon, wie stimmig und bestimmt dieses Design für unsere Veröffentlichung gelungen ist. Ein großer Dank gilt auch Fresh X Deutschland e.V. und dem Innovationsbeirat des Vereins, namentlich vor allem Rolf Krüger, für das Vertrauen und die Unterstützung in diesem Buchprojekt. Schließlich bedanken wir uns bei unseren Ansprechpartner*innen im Herder Verlag, allen voran Dr. Johanna Oehler: Dafür, dass wir mit dieser Veröffentlichung unseren Thesen, Diskursen und Erfahrungen Raum bekommen haben, auch und gerade weil die Grundthese des Buches in diesen Zeiten von Kirche und Gesellschaft etwas außergewöhnlich klingen mag.

Das Meistern großer Veränderungen in Kirche und Gesellschaft ist Teamarbeit – es geht nur gemeinsam und in Vielfalt. Wir sind dankbar für das Engagement so vieler Menschen in bestehenden Strukturen und in neuen Aufbrüchen, in den Fresh X Teams vor Ort sowie in kirchlichen Behörden und Ämtern, in digitalen Communities und Bahnhofsmissionen, an Fakultäten, in Instituten und Kneipen. Im Vertrauen auf Gottes Unterstützung und mit einem hoffnungs- und liebevollen Blick auf die Welt tragen sie Sorge dafür, dass Kirche anders werden kann – und eine Zukunft hat.

Maria Herrmann und Florian Karcher

anders, weil es stetig neue Formen braucht und sie jetzt schon entstehen.

Wir fragen also zuerst warum: Warum wird Kirche anders, aber auch: Wofür und woraufhin sollten Veränderungen aktiv angegangen werden? Und: Wozu braucht es (mehr) Fresh X?

Christian Schröder schaut im Hinblick auf diese Fragen zurück nach vorn, David Gutmann und Fabian Peters geben einen ökonomischen, Mathias Albracht einen geistlichen Kontext. Friederike Erichsen-Wendt und Miriam Fricke schauen von je unterschiedlichen Seiten auf die nächsten Generationen kirchlichen und theologischen Nachwuchses und sprechen dabei viel Grundsätzliches an. Johanna Kalinna zeigt ausgehend vom Begriff der Freiheit die Notwendigkeit und Möglichkeit der Etablierung von Fresh X für kirchliche Systeme. Maria Herrmann beschreibt den Prozess der Entstehung kirchlicher Innovationen. Schließlich baut Lena Niekler eine Brücke in den nächsten Buchabschnitt und denkt über den Zusammenhang von Form und Funktion neuer kirchlicher Sozialformen nach.

Diese Perspektiven ergänzen einander und können miteinander gelesen werden. Sie bilden je unterschiedliche Ausgangspunkte eines vernetzten Nachdenkens über das Warum der Veränderung der Kirche – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

„Afresh for each generation“ Das Neue in der Tradition der Kirche

Christian Schröder

Vielleicht ist es kein Zufall, dass fresh expressions in der anglikanischen Gemeinschaft zuerst entstanden sind. Wohl keine andere christliche Konfession hat ein vergleichbar breites Spektrum an konkreten Ausdrucksformen kirchlicher Kultur hervorgebracht. Als „both catholic and reformed“ war anglikanische Identität seit ihrer Entstehungszeit sehr häufig mit verschiedenen Doppeldeutigkeiten und beweglichen Identitäten konfrontiert. Die mixed economy der fresh expressions gehört in dieser Weise schon immer zur anglikanischen Tradition dazu. Wer heute ein Amt in der Church of England übernimmt, spricht die Declaration of Assent und bekräftigt darin, dass es Aufgabe der Kirche sei, „to proclaim [the faith] afresh in each generation“. Auch in anderen christlichen Traditionen gibt es ähnliche Kurzformeln für die Überzeugung, dass die Kirche sich ständig erneuert. „Ecclesia semper reformanda“ wurde vor allem durch Karl Barth in der reformierten Tradition popularisiert, obwohl der Gedanke deutlich älter ist. Das Zweite Vatikanische Konzil hat festgehalten, dass die katholische Kirche in der Geschichte ihre Verkündigung immer wieder an Zeit und Kontext der jeweiligen Völker angepasst hat (Gaudium et Spes 44).

Diese Selbsteinschätzungen aus unterschiedlichen Konfessionen passen auf den ersten Blick nicht zu dem, was Kirchen in der Regel von außen zugeschrieben wird. Bei denen, die sich ihnen nicht zugehörig fühlen, gelten sie insgesamt eher als Horte der Tradition und nicht der Innovation, eher als veraltet denn als zeitgemäß. Es könnte also sein, dass es sich bei diesen Sätzen um das handelt, was Historiker*innen als „invention of tradition“ bezeichnen. Etwas, das in der Gegenwart als wünschenswert oder notwendig erachtet wird, bekommt eine historische Dignität zugeschrieben, wird als wesentlicher Bestandteil der Identität einer Gruppe behauptet, der aber leider in den Wirren der Geschichte teilweise verschüttet worden ist und nun unbedingt zu neuer Blüte gebracht werden soll. Kirchengeschichte als Geschichte von fresh expressions zu verstehen wäre deshalb sicherlich eine Verdrehung der Tatsachen. Vor allem deshalb, weil trotz aller Reform- und Anpassungsschritte durch die Jahrhunderte der christliche Glaube zumindest in Westeuropa seit 1700 Jahren Teil der dominanten Mehrheitskultur ist. Dennoch: Neuaufbrüche und kontextsensible Anpassungen der Kirche gab es natürlich trotzdem immer wieder. Vielleicht lassen sie sich als Vorläufer der heutigen Fresh X-Bewegung sehen. Eine kleine Spurensuche in historischen Schlaglichtern anhand der vier Kennzeichen der fresh expressions:

Missional – Die Welt ist Gottes so voll

Das erste Kennzeichen ist wohl dasjenige, das historisch am schwierigsten zu entdecken ist. Heute wird oft das Wort missional benutzt, um sich von einem traditionellen Missionsverständnis abzugrenzen. Es wäre leicht, Beispiele für Mission in der Geschichte zu finden, bei der vor allem die Ausbreitung kirchlicher Strukturen und gesellschaftlicher Dominanz der Christ*innen im Vordergrund stand. Aber Christ*innen, die andere nicht vereinnahmen wollten, sondern selbst auf der Suche danach waren, wo Gott sich in der Welt finden lässt, sind nicht so leicht zu entdecken. Historisch führt die Spur immer wieder zu Mystiker*innen. Dann finden sich selbst in klassischen Missionsbewegungen solche, die nicht einfach Heiden für ihren kolonialen Glauben gewinnen wollten, sondern sich zuerst selbst als Suchende nach dem Geheimnis Gottes empfanden. Besonders mit dem Rückgang tradierter Kirchlichkeit in Europa und Nordamerika entstanden auch hier solche Beispiele: Madeleine Delbrêl etwa lebte nicht Jahrzehnte in einer atheistisch geprägten Pariser Banlieue, um dort möglichst viele Taufen zu erreichen, sondern um „Gott einen Ort zu sichern“. Und diesen Ort sah sie gerade in einem völlig entkirchlichten Milieu. Ähnliche Beobachtungen lassen sich für einige Protagonist*innen der Theologie der Befreiung machen. Die Verbindung von Mystik und Politik, von Gotteserfahrung und sozialer Not zielte nicht auf die Bewerbung der Kirche als heilsnotwendiger Institution. Sie führte deswegen aber immer wieder zu einer anderen Art der „Popularisierung“ des Glaubens, indem sie in ungewöhnlichen Kontexten nach Gott fragte und die Kirche zurückstellte.

Kontextuell – Zeit, Ort und Milieu erfordern neue Ideen

In soziokulturellen Entwicklungen gibt es selten Neues im Sinne einer Erfindung (invention), sehr häufig allerdings im Sinne von Innovation. Diese meint hier vor allem das neue Konstellieren oder Kombinieren verschiedener Modelle, aus denen eine als nützlich empfundene Sozialgestalt entstehen kann. Soziale Innovation in diesem Verständnis lässt sich in der Geschichte tatsächlich dauernd beobachten, zunehmend aber als Begleiterscheinung des technischen Fortschritts der letzten 200 Jahre. Die gesellschaftliche Veränderung durch die Industrialisierung führte bei vielen Christ*innen zu einem verstärkten Einsatz für die „neuen Armen“, für die es öffentliche Sicherungssysteme noch nicht gab. Klöster oder Stiftungen hatten bis zur Französischen Revolution vielerorts die Armenfürsorge getragen, die lokalen Fonds waren oft eng mit den kirchlichen Strukturen verbunden. Das alles fehlte nun oder war nicht mehr in der Lage, Schutz vor Massenarbeitslosigkeit oder die Versorgung von Waisenkindern und Alten zu gewährleisten. Das 19. Jahrhundert hat quer durch die Konfessionen einen bemerkenswerten Innovationsschub an diakonischen Formen des Kircheseins hervorgebracht. Von den frühen Kindergärten über Altenheime bis zur Bahnhofsmission sind in dieser Zeit Orte von Kirche entstanden, die allesamt Reaktionen auf spezifische Kontexte und Problemstellungen waren. In einer Phase der Institutionalisierung mündeten viele dieser Initiativen in die beiden großen konfessionellen Sozialorganisationen Caritas und Diakonie. Die meisten hatten ihren Anfang allerdings in einem höchst lokalen Kontext, etwa in einem Stadtteil, einer Kleinstadt oder sogar einem Dorf.

Erfolgreiche Gründungen passten in die Kultur der jeweiligen Zeit. Aus der Sicht von heute sind sie recht einfach zu identifizieren. Von den gescheiterten Innovationen wissen wir meistens nämlich nichts. Was an Ausdrucksformen kirchlichen Lebens bis zu uns überlebt hat, war also mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst einmal eine sehr passgenaue Antwort auf einen bestimmten historischen Kontext.

Formational – Nachfolgeoptionen jenseits der Kirchenbank

Menschen, die dieses Buch lesen und bereits seit ihrer Kindheit kirchlich sozialisiert sind, werden es für selbstverständlich halten, dass Gemeinden nach Möglichkeit auch Angebote für Jugendliche haben. Die volkskirchliche Logik, die trotz einiger Spezifika auch für Freikirchen jahrzehntelang prägend war, geht von einer lebenslangen Kirchlichkeit aus, in der Menschen als Kinder und Jugendliche in den Glauben hineinwachsen, den sie dann verantwortet als Erwachsene in den vorgesehenen Formen ausdrücken. Im Laufe der Moderne hatten die Kirchen erkannt, dass es nicht ausreichte, Jugendlichen biblisches Wissen und den Ablauf des Gottesdienstes beizubringen. Einerseits lag dies daran, dass überhaupt erst so etwas wie „die Jugend“ im heutigen Sinn entstand. Die zunehmende Varianz möglicher Lebensläufe und das Verlassen des Elternhauses auch vor einer möglichen eigenen Familiengründung waren nur zwei Gründe, weshalb Jugendarbeit zur Rekrutierung künftiger erwachsener Kirchenmitglieder an Bedeutung gewann. Allerdings waren Gemeinden hier nicht die ersten Orte, die die Bedeutung spezifisch jugendgemäßer Verkündigung und Seelsorge erkannten. Der eigentliche Erneuerungsschub ging von denen aus, die Jugend nicht allein als Durchgangsstation zum erwachsenen Gemeindemitglied verstanden, sondern jungen Menschen eigene, altersgemäße Gelegenheiten schufen, ihrem Glauben Gestalt zu geben. Die verschiedenen Jugendverbände, später zusammengeschlossen etwa im CVJM oder BdKJ, waren historisch vor allem deshalb erfolgreich, weil durch sie Nachfolge in einem eigenen Raum jenseits etablierter Formen von Kirchlichkeit möglich wurde, zum Beispiel auf dem Sportplatz oder im Ferienlager.

Ekklesial – Das Neue soll selbst Kirche werden

Auch das vierte Kennzeichen ist nicht leicht in andere historische Epochen zu übertragen. Dass etwas kirchlich Initiiertes zu einer eigenen Form von Kirche werden und nicht lediglich eine Art Vorfeldorganisation oder Projekt darstellen soll, war im kirchlichen Mainstream lange Zeit nicht vorstellbar. Häufig lässt sich dies aber in der Gründung von monastischen Gemeinschaften beobachten. Deren Ausgangspunkt lag in der Regel nicht bei einer kirchlichen Autorität, sondern entsprang dem Wunsch Einzelner oder einer kleinen Gruppe nach einer bestimmten Lebensform, die als evangeliumsgemäß empfunden wurde. Eine Förderung oder gar Steuerung „von oben“ tritt höchstens in einem zweiten Stadium der Förderung und Verbreitung ein. Häufig war deshalb gerade in der frühen Phase solcher Gründungen unklar, ob sich daraus kirchlich anerkannte Formen entwickeln würden.

In der Armutsbewegung suchten bereits seit dem späten 12. Jahrhundert viele Menschen aus Enttäuschung über den verweltlichten Klerus nach intensiveren Formen des Glaubenslebens. Häufig blieben solche Versuche individuelle oder sogar lokal begrenzte Unternehmungen. Einige gewannen größere Anhängerschaft, wurden aber, wie etwa die Waldenser oder Katharer, aus der Kirche herausgedrängt oder sogar verfolgt. Nach der Logik der Zeit konnte eine Gemeinschaftsform dadurch einen ekklesialen Status erhalten, wenn sie von den kirchlichen Autoritäten approbiert wurde. In den Ordensgründungen, die mit den Namen Franziskus und Klara von Assisi oder Dominikus verbunden sind, gelang diese Anerkennung zum einen deshalb, weil andere, wie die oben genannten, als häretisch abqualifizierte Gemeinschaften gewissermaßen die Vorarbeit geleistet hatten. Das Verständnis für die Kirchlichkeit des gesellschaftlich verbreiteten Armutsideals war auch in der kirchlichen Hierarchie angekommen. Gleichzeitig entstand mit dem Aufstieg der Städte eine Leerstelle in der Seelsorge, denn die alten Orden, wie etwa die Benediktiner oder Zisterzienser, waren ländlich orientiert. Die neuen Gemeinschaften suchten aber bewusst die Städte auf. Auch weil sie Finanzierungsmöglichkeiten suchen mussten und dabei nicht auf Stiftungen und Landbesitz zurückgreifen konnten. Sie fanden sie beim aufstrebenden Stadtbürgertum, das die gut ausgebildeten Bettelorden dem etablierten Klerus vorzog.

Das Neue als Konstante

Wir können Geschichte nur aus unserer Gegenwart heraus lesen, die in sich schon vielfältig und widersprüchlich genug ist. Deswegen bleibt die Suche nach historischen Vorbildern so oft unbefriedigend. Zu fremd wirken viele tradierte Formen von Kirchlichkeit. Ein fairer Umgang mit Vergangenheit erfordert aber auch die Kontextualisierung nach hinten. Zugestehen dürfen wir den Christ*innen vor uns, dass sie – wo sie Handlungsspielräume dazu hatten – ebenfalls nach Formen zur Verkündigung des Evangeliums gesucht haben, die ihnen passend für ihre Zeit schienen.

Das verbietet keinesfalls einen kritischen Blick auf die kirchliche Tradition, besonders auf ihre patriarchalen oder kolonialen Ausprägungen, und es entschuldigt sie auch nicht. Aber mixed economy bedeutet, dass es in der Vielfalt des kirchlichen Ökosystems immer auch Formen gibt, die nicht mehr ganz so frisch sind und dennoch von bestimmten Menschen geschätzt werden. Das wiederum ist nur der Fall, weil die beständige Suche nach einer Kirche, die in einen konkreten Ort und eine konkrete Zeit passt, in der Tat eine Konstante einer ökumenisch gelesenen Kirchengeschichte ist.

Literatur

David Hempton / Hugh McLeod (Hg.), Secularization and Religious Innovation in the North Atlantic World, Oxford University Press, Oxford 2017.

Salvatore Loiero / François-Xavier Amherdt, Theologie zwischen Tradition und Innovation / La théologie entre tradition et innovation – Interdisziplinäre Gespräche / Échanges interdisciplinaires, Schwabe Verlag, Basel 2019.

Christian Schröder, Gegründet seit 33 AD. Gründungskompetenz als treibender Faktor der Kirchengeschichte, in: Florian Sobetzko / Matthias Sellmann (Hg.), Gründer*innen-Handbuch für pastorale Start-ups und Innovationsprojekte, Echter Verlag, Würzburg 2017, S. 357–367.

Die Kirche Ökonomische Analogien im Transformationsprozess

David Gutmann und Fabian Peters

Das Auto. Mit diesem Claim warb der größte deutsche Automobilhersteller vor einigen Jahren für seine Fahrzeuge. Über viele Jahrzehnte galten in der Branche die vorherrschenden Attribute stärker, schneller, weiter. Dies hat sich binnen kürzester Zeit geändert. Wer in Deutschland auch zukünftig Autos fürs Volk anbieten will, für den gilt: digital, elektrisch, klimaneutral. Und auch wenn insbesondere die Elektromobilität noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, so wird doch eines deutlich: Die Branche verändert sich, sie wird anders.

Die Kirche. Den Volkskirchen geht es heute ähnlich. In diesem Jahr werden erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik weniger als die Hälfte der Deutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen angehören. Nicht erst seit Veröffentlichung der Freiburger Studie im Jahr 2019 ist klar, dass ein massiver Schrumpfungsprozess bevorsteht, den der evangelische Theologe Thies Gundlach mit der 40 Jahre dauernden Wüstenwanderung des Volkes Israel verglich. Und nicht wenige würden angesichts der projizierten Entwicklung und insbesondere der aktuell hohen Zahl an Kirchenaustritten am liebsten den Kopf in den (Wüsten-)Sand stecken, die Augen vor der Realität verschließen und einfach weitermachen wie bisher.

Für ein Wirtschaftsunternehmen wäre das keine Option. Schon allein wegen seiner Anteilseigner, der Shareholder: die würden wegen ihrer Renditeaussichten auf Veränderung drängen. Auch für die Kirche sollte das keine Option sein. Schon allein wegen ihrer Mitglieder, den bedeutendsten Stakeholder:Innen muss dem kirchlichen Auftrag gemäß auch zukünftig das Evangelium in Wort und Tat bezeugt werden.

Dabei gilt es realistisch auf das Setting der anstehenden Veränderungen zu blicken: Ein „Wachsen gegen den Trend“ ist eher unwahrscheinlich. Um dauerhaft die heutige konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung zu halten, müsste – um allein der kirchlichen Überalterung entgegenzuwirken – die Zahl der Eintritte die der Austritte übersteigen. Davon sind die gegenwärtigen Zahlen weit entfernt. Dennoch gilt es die wesentliche Erkenntnis der Freiburger Studie ernst zu nehmen: Zumindest einen Teil des Mitgliederrückgangs können die Kirchen beeinflussen. Es gilt Ansatzpunkte zu erkunden, wie sie darauf reagieren können.

Was für die Automobilindustrie gilt, kann auch für das institutionalisierte Christentum gelten: Die Kirche verändert sich, sie wird anders.

Relevant für Mitglieder und Gesellschaft

Kirchliche Angebote sollen – entsprechend dem biblischen Auftrag, die frohe Botschaft allen zu verkünden – niemanden ausschließen und grundsätzlich allen unbegrenzt zur Verfügung stehen. Ökonomen würden solche Angebote als öffentliche Güter klassifizieren. Unabhängig von der eigenen Zugehörigkeit zur evangelischen oder katholischen Kirche können sie beliebig oft in Anspruch genommen werden. Das ist bei Wirtschaftsunternehmen grundlegend anders. Diese stellen vorwiegend Güter bereit, die von Einzelnen käuflich erworben werden. Ökonomen sprechen von privaten Gütern. Anders als die Inanspruchnahme ähnelt die Finanzierung der kirchlichen Angebote hingegen der wirtschaftlichen Vorgehensweise. Im Wesentlichen erfolgt sie durch die Kirchensteuerzahlung der Mitglieder entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. In der ökonomischen Logik müssten die kirchlichen Angebote daher prinzipiell nicht als öffentliche Güter, sondern als sogenannte Clubgüter ausgestaltet sein. Nur jene sollten sie in Anspruch nehmen dürfen, die durch ihre Kirchenmitgliedschaft zur Finanzierung beitragen. Da das allerdings im Widerspruch zu theologischen Grundüberzeugungen steht, offenbart sich hier ein echtes Dilemma: Theologisch begründete „Gemeinwesenorientierung“ auf der einen und (nicht nur) ökonomisch notwendige „Mitgliederorientierung“ auf der anderen Seite. Sogenannte kirchliche Amtshandlungen wie Taufe, Trauung und Bestattung stehen kirchenrechtlich (mit gewissen Ausnahmen) eigentlich nur Mitgliedern zur Verfügung. Ökonomen nennen das Clubgüter. In der gemeindlichen Realität werden diese allerdings aus seelsorgerlichen oder anderen Gründen auch bei Ausgetretenen durchgeführt. Aus ökonomischer Sicht wird es bei besonders begehrten und zugleich limitierten Angeboten wie dem Gottesdienstbesuch an Heiligabend, Jugendfreizeiten oder KiTa-Plätzen brisant. Hier entsteht eine sogenannte Allmendeproblematik. Man denke bspw. an ein katholisches Paar, das sein Kind gerne in einer kirchlichen KiTa mit dem christlichen Glauben vertraut machen möchte. Da die Plätze allen (auch konfessionslosen) Eltern zur Verfügung stehen, kommt es – obwohl beide Kirchenmitglieder sind – im Gegensatz zu einigen Nicht-Kirchenmitgliedern nicht zum Zuge.

Nimmt man die Folgen dieses Dilemmas (mehr oder weniger) bewusst in Kauf, ist es umso wichtiger zu plausibilisieren, warum Kirchenmitgliedschaft dennoch Vorteile gegenüber Trittbrettfahren hat. Nur wenn der individuelle Nutzen greifbar wird, den man selbst oder andere von der eigenen Kirchenmitgliedschaft haben, kann das System Kirchenmitgliedschaft dauerhaft bestehen. Deshalb sollten gerade die kirchlichen Angebote, die prinzipiell nur Kirchenmitgliedern vorbehalten sind, von Serviceorientierung und Professionalität geprägt sein. Wenn möglich, gilt es persönlich enttäuschende Erlebnisse wie unbeantwortete Tauf-, Trau- und Bestattungsanfragen oder die aus Sicht der Kirchenmitglieder unwürdige Begleitung und Feier dieser Lebenswenden zu vermeiden. Insbesondere bei Kasualien ist die theologische und persönliche Kompetenz der Pfarrpersonen mit ihrer Liebe zu den Menschen und ihrer Kreativität für unterschiedliche Lebensumstände gefragt.

Gefragt ist ein Haltungswechsel von einer Komm- zu einer Geh-Pastoral. Kirche und ihr Handeln müssen aktiv im öffentlichen Raum präsentiert werden. Dies kann nur gelingen, wenn sie als relevant wahrgenommen werden. Die bevorstehende demografische Alterung der Bevölkerung bietet den Kirchen die Chance, sich mit ihrem dichten Netzwerk aus Kirchengemeinden, Pflegedienstleistern, Wohlfahrtsverbänden, Kindertagesstätten, Bildungseinrichtungen, Beratungsangeboten und als Arbeitgeber und Grundeigentümer als relevanter Akteur einzubringen und zu präsentieren. Dies setzt allerdings den politischen Willen voraus, gemeinsam und koordiniert aufzutreten. Wenn es gelingt, dieses Netzwerk ökumenisch zu gestalten, entstehen darüber hinaus Synergieeffekte und zusätzliche Hebelwirkungen bei der Steigerung ihrer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung.

Tue Gutes und rede darüber

Die Arbeit in den Kirchengemeinden und insbesondere von Diakonie und Caritas ist weithin sichtbares Zeichen, wie der christliche Glaube und insbesondere individuelle Kirchenmitgliedschaft dabei helfen, das Leben in der Gegenwart zu bestehen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist leider bei diakonischen und caritativen Angeboten allzu oft nicht unmittelbar erkennbar, dass diese Teil der kirchlichen Arbeit sind. Es gilt, überzeugende Persönlichkeiten mit regionaler und überregionaler Reichweite zu suchen, die für die Kirchen und ihr Engagement einstehen und die Sinnhaftigkeit des Solidarbeitrags Kirchensteuer bezeugen. Unter dem Stichwort Marketing machen Wirtschaftsunternehmen nichts anderes und nehmen dafür selbstverständlich die Dienste sogenannter Influencer in Anspruch.