7,99 €
Warum hat der unbescholtene Familienvater seinen Untermieter erschlagen? Ist die junge Frau wirklich vergewaltigt worden, oder hat sie etwas zu verbergen? Wieso hat der verliebte Mann seine hochschwangere Freundin erstochen? In zehn von ihm verhandelten Fällen beschreibt der Richter Robert Glinski Motive und Umstände, die gewöhnliche Menschen zu Schwerverbrechern machen. Ein spannender Einblick in die Urteilsfindung der Justiz.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Das Buch
Eine alte Dame wird erschlagen in ihrer Wohnung aufgefunden. Der Verdacht fällt schnell auf den Elektriker ihrer Verwaltung, der einen Generalschlüssel besitzt und ein langes Vorstrafenregister aufweist. Aber reichen die Spuren am Tatort, um den Mann zu überführen?
Bei einem Trinkgelage ersticht ein Mann seinen Freund. Obwohl drei weitere Männer anwesend waren, konnte angeblich keiner von ihnen die Tat beobachten. Das Schwurgericht trifft auf eine Mauer des Schweigens. Bis eine ungewöhnliche Zeugin indirekt den entscheidenden Tipp gibt.
Schwurgerichtsverfahren sind lang, komplex und hochinteressant. Auch wenn Täter, Opfer und Zeugen lügen, Gutachter sich widersprechen, Indizien und Spurenlagen nicht eindeutig sind – in jedem Prozess müssen die Richter ein Urteil fällen. In Mordverfahren geht es dabei für den Angeklagten um alles oder nichts: Freispruch oder lebenslänglich. Der Richter Robert Glinski lässt uns hinter die Kulissen der Justiz blicken – eine spannende Suche nach Motiven und der Wahrheit.
Der Autor
Robert Glinski, 39 Jahre alt, ist seit über zehn Jahren Richter in Sachsen-Anhalt und Mitglied der Strafkammer für Schwurgerichtssachen am Landgericht Magdeburg. Seit er dort schwere Straftaten verhandelt, hat sich seine Sicht auf die Täter verändert.
Robert Glinski
Angeklagt
Zehn spektakuläre Fälle – als Richter am Schwurgericht
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de
Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen. Alle Namen der genannten Personen und Orte wurden anonymisiert. Etwaige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Oktober 2011© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: Hans Scherhaufer, BerlinSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN 978-3-8437-0139-6
Inhalt
Vorwort
Asans Gemüseladen
Wallendes Haar
Eine verhängnisvolle Affäre
Ein Fahrrad für Peggy
Der Ornithologe
Vaterliebe
Der Trinker
Russische Seele
Der »Bastard«
Der schwedische Patient
Für Anne und Anton
Vorwort
Als ich vor etwa fünf Jahren gefragt wurde, ob ich Interesse daran hätte, für eine gewisse Zeit Mitglied einer Schwurgerichtskammer zu werden, war ich gerade als Richter am Oberlandesgericht tätig und im Wesentlichen mit den Aufgaben eines Pressesprechers betraut. Mit dem ganz normalen Alltag eines Richters hatte ich kaum zu tun. Überhaupt war ich mit dem Strafrecht in meiner bisherigen beruflichen Karriere nicht in Berührung gekommen. Und jetzt sollte ich auf einmal zusammen mit zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Schöffen in Fällen von Mord und Totschlag Urteile fällen.
Ich hatte nur vage Vorstellungen von dem, was mich dort erwarten würde. Sofort gingen mir die unappetitlichen Bilder von getöteten Menschen durch den Kopf. Fotos von entsetzlich zugerichteten Leichen und ekelerregende Obduktionsberichte. Würde ich mit diesen Bildern klarkommen? Hieß es unter Kollegen nicht immer, dass man diese richterliche Tätigkeit nicht zu lange ausüben sollte, weil die ständige Beschäftigung mit den brutalen Verbrechen und den menschlichen Abgründen, die sich dabei auftaten, den normal sozialisierten Menschen zu stark deformieren würde?
Heute weiß ich es besser. Inzwischen ist mir klar, dass meine damaligen Überlegungen vor allem zeigten, wie wenig ich seinerzeit von dieser Materie verstand. Die Beschäftigung mit den Taten und den Menschen und Geschichten dahinter wirkte auf mich nicht zerstörend, im Gegenteil: Sie hat meinen Horizont erweitert. Obwohl ich das damals nicht wissen konnte, habe ich das Angebot angenommen. Meine Beweggründe waren ausgesprochen banal: Wie viele andere Menschen faszinierte mich das Thema »Mord und Totschlag«, wollte ich mehr über die dunkle Seite des Menschen erfahren. Ich wollte verstehen, warum jemand zum Mörder wird, was diese Täter für Menschen sind und welche Motive sie zur Tat getrieben haben. Es war ein in erster Linie soziologisch-psychologisches und weniger ein juristisches Interesse, das ich meiner neuen Aufgabe entgegenbrachte. Meine Berührungspunkte mit diesem Teil der Gesellschaft hatten sich bis dahin auf den gelegentlichen Konsum von Fernsehkrimis beschränkt. Das Strafrecht kannte ich nur aus dem Studium und aus den Akten. Bis dahin waren Mörder und andere Schwerverbrecher in meinen Augen verschlagen, skrupellos und kaltblütig.
Schon die ersten Fälle machten mir aber deutlich, dass es so einfach nicht war. Sicher, es gibt ihn, den sinnlos mordenden Psychopathen. Doch stellte dieser Tätertyp, wie ich schnell lernte, die absolute Ausnahme dar. Sehr viel häufiger hatten wir es hingegen mit einem Täter zu tun, der durch die Verkettung ungünstiger Umstände, aufgrund einer Ausnahmesituation oder eines einzigen schwachen Momentes gehandelt hatte. Statt einer Verkörperung des Bösen schlechthin saß auf der Anklagebank sehr häufig ein eher bemitleidenswerter Mensch. Anders als im »normalen« Strafrecht hatten wir keine Gewohnheitsverbrecher vor uns, die schon mit einer ganzen Latte von Verurteilungen bei uns vorstellig wurden. In den meisten Fällen gab es zu den vermeintlich schlimmsten aller Täter zuvor keinen einzigen Eintrag im Bundeszentralregister, wie das Vorstrafenregister in Deutschland heißt. Insofern waren sie bis dahin mehr oder weniger unbescholtene Bürger gewesen. Und noch etwas fiel mir schon bald auf, nachdem ich meinen neuen Posten angetreten hatte: Unsere Täter rekrutierten sich aus allen nur erdenklichen gesellschaftlichen Schichten. Vor der Kammer für Schwurgerichtssachen mussten sich Menschen vom ungelernten Dauerarbeitslosen bis zum Professor verantworten. Auch dieser Umstand bedeutet einen gravierenden Unterschied zu der Klientel der allgemeinen Strafkammern, in denen fast ausschließlich Menschen aus unteren Gesellschaftsschichten abgeurteilt werden.
Ich begann mich stärker für die Geschichte der Angeklagten zu interessieren. Im Grunde waren sie nicht anders als alle anderen Menschen, und mir wurde klar, dass unter gewissen Umständen jeder von uns zum Täter werden kann.
Und bei Prozessen am Schwurgericht ist die Sache mit dem angemessenen Urteil besonders heikel. Denn für den eines Mordes Angeklagten geht es um alles oder nichts: Entweder wird er freigesprochen oder zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Tertium non datur – ein Drittes gibt es nicht. Dieses Prinzip prägt die Arbeit am Schwurgericht. Anders als in anderen Strafkammern haben wir bei Mordfällen nicht die Möglichkeit, über die konkrete Strafhöhe, womöglich im Rahmen eines sogenannten strafprozessualen Deals, korrigierend einzugreifen. Wird ein Angeklagter wegen Mordes verurteilt, muss gegen ihn eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden. Diese drastischen Folgen für den Angeklagten bürden dem Gericht eine große Verantwortung auf, die in unserer konkreten Arbeit auch spürbar wird. Denn es ist auch für den professionellen Richter etwas anderes, ob gegen den Angeklagten die höchste Strafe des Strafgesetzbuches verhängt wird oder dem Täter eine kurze Freiheitsstrafe oder sogar nur eine Geldstrafe droht. Mit den Folgen eines möglichen Fehlurteils lässt sich in Fällen mit geringem Strafmaß viel leichter leben.
Auch wenn das Gesetz in Bezug auf das Strafverfahren eigentlich nicht zwischen schweren und leichteren Straftaten differenziert, ist es praktisch doch so, dass an die Überzeugungsbildung in einem Mordverfahren wesentlich höhere Anforderungen gestellt werden. Deshalb werden Schwurgerichtsverfahren mit einem immensen (Kosten-)Aufwand betrieben. In fast keinem dieser Strafverfahren kommen die Richter ohne Sachverständige aus, und ihnen wird jede Stunde, die sie für dieses Verfahren tätig sind, auch entsprechend der Sätze im Zeugen- und Sachverständigenentschädigungsgesetz vergütet. Da kommen so einige Stunden zusammen, denn wir müssen regelmäßig die Hilfe von forensischen Psychiatern, Rechtsmedizinern, Biologen und anderen Wissenschaftlern aller nur erdenklichen Fachrichtungen in Anspruch nehmen. Auch kommt kaum ein Schwurgerichtsverfahren heute ohne technisch aufwendige und kostspielige DNA-Analysen aus. Dutzende von Zeugen müssen vernommen werden, die zum Teil von weit her anreisen und deren Aufwendungen aus der Justizkasse beglichen werden. Schließlich hat jeder, der eines Kapitalverbrechens angeklagt wird, Anspruch auf die Beiordnung eines Pflichtverteidigers; und auch das Opfer oder dessen Hinterbliebene können als Nebenkläger auf die Beiordnung eines rechtlichen Beistandes bestehen.
All dies macht Schwurgerichtsverfahren interessant, aber auch häufig zu komplexen Großveranstaltungen, an denen eine Vielzahl von Menschen mitwirkt, damit die Wahrheit ans Licht gelangt. Was ist wirklich geschehen? Wie hat sich die Tat konkret ereignet? Ist der vor uns sitzende Angeklagte auch wirklich der Täter? Und hat er die Tat auch schuldhaft begangen? Ist er also schuldfähig? Diesen Fragen versuchen wir uns mühsam in einem häufig langen Prozess zu nähern. Und trotzdem kann unser Ergebnis am Ende nur eine mehr oder weniger gelungene Annäherung an die Wirklichkeit sein. Wenn wir uns auch noch so große Mühe geben, den für die juristische Beurteilung relevanten Sachverhalt mit allen uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln aufzuklären, handelt es sich doch am Ende um eine (re-)konstruierte Wirklichkeit, die mit den tatsächlichen Ereignissen nicht unbedingt übereinstimmen muss, erst recht nicht in allen Details. Selbst wenn der Angeklagte umfassend gesteht und auch alle anderen Beweise gegen ihn sprechen, bleibt immer ein Restzweifel zurück, mit dem wir Richter leben müssen.
Die Rechtswissenschaft ist keine Wissenschaft im engeren Sinne. Unsere Arbeitsergebnisse entziehen sich einem exakten naturwissenschaftlichen Beweis. Der enorme Aufwand, den wir in einem Schwurgerichtsprozess betreiben, ist und wird für immer lediglich der Versuch bleiben, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Insofern ist der großzügige Einsatz aller nur erdenklichen Ressourcen auch ein Versprechen der Justiz, sich gegen die Beschränkung unserer Erkenntnismöglichkeiten zu stemmen. Es stellt die staatliche Gegenleistung einer bleibenden Ungewissheit dar. Wir täuschen den Menschen nicht vor, dass wir in allen Fällen zu richtigen Ergebnissen gelangen, mit den natürlichen Beschränkungen unserer Erkenntnismöglichkeiten sollten wir immer offen umgehen. Und uns vor allem hüten, voreilige Urteile zu fällen oder uns auf sonstige Weise die Arbeit leichtzumachen.
Als Richter am Schwurgericht lernt man nicht nur etwas darüber, wie Menschen zu Tätern werden, sondern auch darüber, wie Menschen zu Opfern der jeweiligen Taten werden. Bei der Bearbeitung schwerster Straftaten gelangte ich zu einer unerwarteten Erkenntnis: Nicht selten spielt der Zufall eine entscheidende Rolle. Viele Straftaten sind keineswegs das Ergebnis gründlicher Vorbereitung und Planung. Ganz häufig entspringt die Tat einem spontanen Entschluss oder einer plötzlichen Gemütsregung, wofür das spätere Opfer nicht einmal der Auslöser gewesen sein muss. Oft war er oder sie nur die Projektionsfläche für eine empfundene Kränkung oder schlicht ein unerwartetes Hindernis bei einem versuchten Raub.
Gegen sinnlose Verbrechen können wir uns nicht wirklich wirksam schützen, jeder von uns kann theoretisch zum Opfer eines Gewaltverbrechens werden. Unser Leben kann sich so von heute auf morgen verändern, und zwar auf Dauer, vielleicht sogar für immer. Plötzlich benötigen wir vielleicht Hilfe, um vor allem die psychischen Folgen einer Straftat bewältigen zu können.
Ich habe es erlebt, welche Kraftanstrengungen Opfern abverlangt werden, wenn sie im Rahmen einer strafrechtlichen Hauptverhandlung aus ihrer Sicht erzählen sollen, was passiert ist, wenn sie dem vermeintlichen Täter erneut begegnen und sie auch kritischen Fragen aller Prozessbeteiligten ausgesetzt sind. An ihrer Befragung führt aus strafprozessualen Gründen kein Weg vorbei, umso mehr muss das Gericht, müssen alle beteiligten Richter ihrer Fürsorgepflicht gerecht werden und sensibel mit den Opfern umgehen, damit sie nicht erneut unnötig Leid erfahren und damit zum zweiten Mal zum Opfer werden. Zu diesem Schutz der Opfer gehört auch, dass sie als Nebenkläger auftreten können und ihnen zudem eigens darauf spezialisierte Rechtsanwälte zur Seite stehen. Diese Nebenklägervertreter sollen ihren Mandanten Halt geben und damit im modernen Strafprozess eine nicht zu unterschätzende Rolle erfüllen.
Meine Arbeit als Richter in einer Schwurgerichtskammer hat mich dazu gebracht, nichts für unmöglich zu halten. Hatte ich vorher noch eine verhältnismäßig klare Vorstellung davon, welche Verhaltensweisen den Menschen zuzutrauen sind und was es auf gar keinen Fall geben kann, bin ich inzwischen eines Besseren belehrt worden. Dass ein Angeklagter nur für ein paar Euro einen Mord begeht, dass der Täter einem weiblichen Mordopfer Nüsse in die Vagina einführt und dass plötzlich wie aus dem Nichts ein Augenzeuge der Tat auftaucht – alles das habe ich schon erlebt. Und ich habe Taten erlebt, die letztlich auf einer einzigen falschen Entscheidung in der Vergangenheit basierten. Oft ging es dabei keineswegs um große und bedeutsame Entscheidungen des Lebens, bei denen jedem schon vorher einleuchten würde, dass sie mit Bedacht getroffen werden müssen, sondern um kleine, auf den ersten Blick unbedeutende und banale Weichenstellungen, die sich jederzeit korrigieren lassen. Dennoch wurden sie den späteren Angeklagten zum Verhängnis. Und das nicht, weil es nach dem kleinen Schritt in die falsche Richtung keine Gelegenheiten zum Gegensteuern mehr gegeben hätte. Das wurde mir oft schon deutlich, wenn ich in der Verfahrensakte über die Hintergründe las. Etwas mehr Konsequenz bei der Trennung von einem erkennbar problematischen Untermieter etwa oder der Verzicht auf ein letztes Bier in der Stammkneipe hätte gereicht, um das Unheil zu verhindern, wegen dem er oder sie nun vor Gericht stand. Dem zweifelhaften Helden einer antiken Tragödie gleich überhören die Betroffenen aber alle Alarmsignale und schreiten weiter dem Unglück entgegen.
Die Erkenntnis, dass keine Vorstellung so absurd ist, dass sie nicht der Realität entsprechen könnte, hilft mir als Richter, unvoreingenommener zu sein, indem ich nicht manches von vornherein ausschließe. Ein Angeklagter, der nur für ein paar Euro einen Mord begeht, oder eine Augenzeugin, die den Täter nur indirekt offenbart – nichts ist unmöglich bei einem Schwurgerichtsprozess. Und es kommt nicht darauf an, was wir Richter persönlich für möglich halten, sondern darauf, was tatsächlich passiert ist. Die einzelnen Sachverhalte mit aller Gründlichkeit aufzuklären, vorhandene Beweismittel sorgfältig zu prüfen, wie abwegig uns etwas auch erscheinen mag, ist unsere eigentliche Aufgabe.
Wie schwer das oft ist und welche verschlungenen Wege die Rechtsprechung manchmal gehen muss, sollen die folgenden zehn Kapitel zeigen. Alle Geschichten zusammen verdeutlichen vor allem eines: dass eine vorurteilfreie Haltung gegenüber Tat und Täter für jeden Richter, der mit Strafsachen betraut ist, selbstverständlich sein sollte – erst recht an einem Schwurgericht.
Asans Gemüseladen
Wann immer in der Öffentlichkeit die konkrete Strafzumessung der Gerichte bei einem Gewaltverbrechen diskutiert wird, geht es geradezu stereotyp um die Kindheitserlebnisse des Täters, um die Tat in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. So durchschaubar diese Strategie auch sein mag, so habe ich in der Zeit meiner Beschäftigung mit schwersten Straftaten doch selten erlebt, dass ein des Mordes Angeklagter als Kind nicht tatsächlich grauenhaften Erlebnissen ausgesetzt war. Misshandlungen jeglicher Art, Alkoholmissbrauch der Eltern und das Fehlen einer liebevollen familiären Atmosphäre – fast jeder unserer Straftäter konnte hierzu etwas berichten. Bei Asan Sahin lag die Sache anders. Nach herkömmlichen Maßstäben sprach nichts dafür, dass er, knapp 35 Jahre nachdem er in einem kurdischen Dorf zur Welt gekommen war, ein brutales Verbrechen begehen würde. Die Verhältnisse, in die er hineingeboren wurde, entsprachen in keinster Weise solchen, aus denen typischerweise spätere Straftäter hervorgehen. Es waren besondere Umstände, die Asan schließlich zum Mord trieben.
Asan war als zweites von insgesamt fünf Kindern in einem intakten und liebevollen Elternhaus aufgewachsen. Die Familie lebte in bescheidenen, aber keinesfalls ärmlichen Verhältnissen. Die Beziehung der Kinder zu ihren Eltern war herzlich, Gewalt und Alkohol spielten keine Rolle. Erzogen wurden die Kinder nach weltlichen und verhältnismäßig liberalen Maßstäben, weil vor allem der Vater mit dem strikten schiitischen Islam, der Staatsreligion im Iran, nicht viel anfangen konnte.
Und doch gab es in den ersten Lebensjahren von Asan eine kleine Besonderheit, die ich an dieser Stelle unbedingt erwähnen möchte. Zwar könnte sie im Kontext eines langen Lebens leicht übersehen werden, doch hat sie seine Persönlichkeit entscheidend geprägt und wirft somit ein klareres Licht auf das spätere Geschehen: Noch wenige Jahre vor Asans Geburt hatten seine Eltern in einer kurdisch dominierten Region im Irak gelebt. Dort war auch Asans älterer Bruder Soran zur Welt gekommen. Daher sprach die Familie Kurdisch, woran sich auch in den ersten Jahren nach dem Umzug in den Iran nichts änderte. So erlebte Asan, dass innerhalb der Familie Kurdisch und sonst Farsi gesprochen wurde. Diese Trennung zwischen innerfamiliärer und außerfamiliärer Kommunikation führte bei ihm zu einer massiven Sprachhemmung und dadurch bedingt zu frühkindlichen Entwicklungsstörungen. Erst mit fünf Jahren begann Asan zu sprechen, nachdem ein Arzt den besorgten Eltern den Rat gegeben hatte, sich auch innerhalb der Familie nur auf Farsi zu unterhalten.
Schnell holte Asan in der Folgezeit seinen Rückstand auf und konnte regulär eingeschult werden. Am Ende schaffte er sogar einen qualifizierten Abschluss. Bis zu seinem fünften Lebensjahr allerdings war er das Sorgenkind, auf das sich alle Aufmerksamkeit richtete und dem besondere Fürsorge und Liebe entgegengebracht wurde. Asan genoss es, im Mittelpunkt der Großfamilie zu stehen und von allen umsorgt und behütet zu werden. Auch nachdem er seine Entwicklungsdefizite aufgeholt hatte und ein »normales« Kind geworden war, forderte er von seiner Familie weiterhin besondere Zuwendung ein. Das Wohlgefühl, das ihm die Sonderstellung in der Familie beschert hatte, war Teil seiner Persönlichkeit geworden. Damit war sein Seelenheil auch künftig davon abhängig, dass er besonders umsorgt wurde, nur so konnte er sich geborgen fühlen. Eine solche frühkindliche Prägung wirkt sich so lange nicht nachteilig aus, wie es gelingt, die gewohnten Beziehungen aufrechtzuerhalten. Was aber passiert, wenn die Lebensumstände zu einem Verlust dieser dringend benötigten Rahmenbedingungen führen? Oder wenn der Betreffende auch nur denkt, dass sie ihm auf einmal vorenthalten werden. Ich werde auf diese Frage zurückkommen.
Nach dem erfolgreichen Schulabschluss ereignete sich erneut etwas, das auf den ersten Blick nichts mit den späteren Geschehnissen zu tun hatte, aber für die Einschätzung des begangenen Verbrechens sehr wohl von Bedeutung war. Asan absolvierte gerade eine Ausbildung zum Fluglotsen, als er seinen ersten schweren epileptischen Anfall erlitt. Die Epilepsie als solche bekamen die Ärzte schnell in den Griff, Asan wurde auf wirksame Medikamente eingestellt und erlitt nur noch sehr selten einen Anfall. Allerdings war der Traum von der Karriere als Fluglotse endgültig ausgeträumt. Er wurde entlassen und kehrte in sein Heimatdorf zu seiner Familie zurück, wo er sich die folgenden Jahre mit Gelegenheitsarbeiten durchschlug und auf seine große Chance wartete. Die sah er gekommen, als sein älterer Bruder Soran ihn einlud, seinem Beispiel zu folgen und nach Deutschland auszureisen. Asan war von dieser Idee sofort begeistert, wusste er doch von seinem Bruder, dass es in Deutschland – gemessen an iranischen Verhältnissen – um ein Vielfaches leichter war, genügend Geld zu verdienen, um die nunmehr auch noch um Enkel angewachsene Großfamilie im Iran unterstützen zu können.
Also reiste Asan mit gefälschten Papieren nach Deutschland, stellte einen Asylantrag und zog zunächst zu seinem Bruder nach Hamburg. Dort tauchte er vorerst auch unter, als sein Asylantrag abgelehnt wurde und Asan eigentlich zur Ausreise aus Deutschland verpflichtet gewesen wäre. In Hamburg lernte er auch Anke kennen, eine Deutsche, die sich für Amnesty International um Ausländer kümmerte, sie bei Behördengängen unterstützte und ihnen in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite stand. Zwischen den beiden entwickelte sich bald eine intime Beziehung, die jedoch nur einige wenige Monate währte. Von Dauer indes blieb ihre Freundschaft. Asan hatte in Anke eine Vertraute gefunden, an die er sich mit seinen Problemen auch dann noch wenden konnte, als er längst nicht mehr in Hamburg lebte. Dieser sehr persönlichen Beziehung zwischen ihnen ist es zu verdanken, dass wir in der späteren Gerichtsverhandlung auf eine wertvolle Zeugin zurückgreifen konnten, die insbesondere über Asans psychische Verfassung zum Zeitpunkt der Tat aufschlussreiche Hinweise geben konnte.
Durch gesundheitliche Probleme eines Freundes ergab sich für Soran die Möglichkeit, einen Gemüseladen in einem Dorf in Sachsen-Anhalt zu übernehmen. Aus ausländerrechtlichen Gründen konnte er das Geschäft nicht unter seinem eigenen Namen anmelden, so dass sich seine Lebensgefährtin Natascha, die den deutschen Pass besaß, beim Gewerbeamt als Inhaberin registrieren ließ. Aber weder Soran noch seine Lebensgefährtin hatten die Absicht, selbst in dem Laden zu stehen und eigenhändig die darin anfallende Arbeit zu erledigen. Ihr Interesse beschränkte sich von Anfang an darauf, mit Hilfe des Gemüseladens den einen oder anderen Euro zu verdienen. Entsprechend zogen sie es vor, sich in einer Großstadt in der Nähe niederzulassen, anstatt direkt in das Dorf zu ziehen. Auf der Suche nach jemandem, der die Geschäfte führen konnte, kam Soran auf die Idee, seinen Bruder Asan darum zu bitten. Asan, der in Hamburg nach wie vor keiner geregelten Tätigkeit nachging, war über die Aussicht, in eigener Verantwortung ein Geschäft zu betreiben, hocherfreut und sagte sofort zu.
Die ersten Tage kam er bei seinem Bruder und dessen Lebensgefährtin unter, schnell jedoch hatten sie für Asan eine kleine Wohnung in dem Dorf gefunden. Asan nahm seine neue Tätigkeit voller Elan und Zuversicht auf. Anfangs liefen die Geschäfte nicht besonders gut, doch nachdem sich die Dorfbevölkerung an den neuen Inhaber gewöhnt hatte, kam nach und nach Geld in die Kasse. Alle Beteiligten konnten zufrieden sein. Soran verdiente neben seiner eigentlichen Tätigkeit in einer Spedition noch etwas hinzu, und Asan hatte nicht nur sein Auskommen, sondern fühlte sich vor allem endlich gebraucht. Durch die neue Aufgabe hatte sein Leben wieder einen Sinn erhalten.
Sehr bald hatte Asan einen weiteren Grund zur Freude. Immer wieder kam Konstanze Brauer in den Laden, anfangs um Besorgungen zu machen, später waren ihre Einkäufe nur noch der Vorwand, um Asan wiederzusehen. Die beiden waren sich vom ersten Augenblick an sympathisch, wollten einander besser kennenlernen. Bei einer dieser Begegnungen fasste Asan sich endlich ein Herz und fragte Konstanze, ob sie am Wochenende mit ihm ausgehen wolle. Ohne Zögern sagte sie zu. Sie gingen tanzen, amüsierten sich und fanden schnell bestätigt, worauf sie jeder für sich insgeheim gehofft hatten – dass sie ein Paar werden könnten. So kam es, dass Konstanze den Gemüseverkäufer aus dem Iran schon an ihrem ersten gemeinsamen Abend mit zu sich nach Hause ins Nachbardorf nahm und die Nacht mit ihm verbrachte.
Konstanze war eine sehr lebendige und selbstbewusste junge Frau, die ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gestaltete, ohne sich um die Meinung anderer zu kümmern. Sie ahnte zwar, dass es im Dorf Gerede geben würde, wenn sie sich für einen Ausländer als Lebenspartner entschied, doch scherte sie sich nicht weiter darum. Sie hatte sich in Asan verliebt und hielt ohnehin nichts von den Vorurteilen über muslimische Einwanderer, die in dem Dorf zahlreich kursierten. Konstanze lebte zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Vater sowie ihren Großtanten auf einem großen Bauernhof, wobei jede »Partei« ihr eigenes Reich besaß. Ihre Mutter bewohnte mit ihrem Vater die ebenerdigen Räume, die Großtanten teilten sich eine Einliegerferienwohnung, und Konstanze hatte den ausgebauten Dachstuhl für sich.
Innerhalb der Familie herrschte ein Klima der Offenheit und des Vertrauens, sie waren fest miteinander verschweißt und nahmen Anteil am Leben des jeweils anderen. Deshalb blieb den anderen nicht lange verborgen, dass Konstanze sich verliebt hatte. Auch machte sie kein Geheimnis daraus und offenbarte ohne Zögern den Namen ihrer großen Liebe. Nicht alle Familienmitglieder waren davon begeistert, dass sie sich ausgerechnet einen Iraner ausgesucht hatte, denn auch sie wussten von den Vorbehalten, die in ihrem Dorf gegenüber Ausländern existierten. Aber die Familie vertraute Konstanze, dass sie schon das Richtige tun würde. Die letzten Zweifel an ihrer Partnerwahl verflogen, als Asan ihnen vorgestellt wurde. Dieser ebenso attraktive wie ausgeglichene und höfliche Mann traf sofort ihren Geschmack. Ab diesem Moment freuten sie sich nur noch für das Paar und unterstützten es nach Kräften.
Vor diesem Hintergrund dauerte es auch nicht lange, bis die Familie Asan anbot, mit in ihr Haus einzuziehen. Asan nahm das Angebot freudig an und gab seine eigene Wohnung auf, obwohl er fortan jeden Tag zehn Kilometer zu seinem Laden im Nachbardorf fahren musste. Schon bald wurde Asan zu einem vollwertigen Familienmitglied, Konstanzes Eltern sprach er mit Mama und Papa, ihre Großtanten Ilse und Margot mit Tante an. Da Konstanze in dieser Zeit gerade keine Arbeit hatte, ging sie ihm im Gemüseladen zur Hand, damit sie auch tagsüber zusammen sein konnten. Alles lief prima, zumindest vorübergehend.
Mit der Zeit wuchs jedoch die Unzufriedenheit unter Konstanzes Verwandten. Vor allem ihrer Großtante Ilse missfiel die Rolle, die ihre Nichte im Zusammenhang mit dem Gemüseladen offensichtlich zu spielen hatte. Nicht nur arbeitete Konstanze inzwischen voll im Geschäft, mehrfach brachte sie zudem erhebliche Beträge ihres Ersparten ins Geschäft ein. Zwar machte ihr Soran immer wieder Versprechungen, doch erhielt sie für ihren Einsatz keine Gegenleistung, ganz zu schweigen von einem festen Gehalt. Sowohl Konstanze als auch ihre Großtante Ilse, die als ehemalige Bankangestellte ein feines Gespür für solche wirtschaftlichen Zusammenhänge hatte, gewannen den Eindruck, dass Soran der einzige Profiteur dieses Unternehmens war, während alle anderen nur die leidige Arbeit erledigen sollten. Diesen unhaltbaren Zustand wollten sie ein für alle Mal beenden.