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Fast alle Menschen leiden unter Angst. Um sie zu vermeiden wird nach Sicherheit gesucht, die uns in ein inneres Gefängnis führt. Hier wird aber nicht nur das Bedrohliche vermieden, sondern vor allem die Angst selbst. So wird sie zu einem monströsen Feind, dem wir nie ins Auge geschaut haben. Angst: Was ist das denn überhaupt? Nach einer einführenden Betrachtung der Energie von Angst im Spiegel des Enneagramms schreibt OM C. Parkin darüber in einem grundlegenden Essay aus der Sicht der Weisheitslehre. Er öffnet die Augen für das, dem wir auf der Flucht den Rücken gekehrt haben. Statt dorthin zu flüchten, wo keine Angst ist, empfiehlt er, sich der Angst zu stellen und sie zu erforschen. Im zweiten Teil werden in zahlreichen Darshan-Ausschnitten Gespräche zwischen OM C. Parkin und Schülern wiedergegeben, die der Erforschung der Angst dienen. Angst rückt aus dem Dunkel der Vermeidung und Verheimlichung ins Licht des Bewusstseins. Nur so wird das möglich, was das eigentliche Ziel des Suchenden ist: ein Leben ohne Angst.
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Seitenzahl: 197
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OM C. Parkin Angst – Die Flucht aus der Wirklichkeit Die drei emotionalen Grundkräfte des Enneagramms der Charakterfixierungen Trilogie
Band 1
Originalausgabe
advaitaMedia – Weisheit aus der Stille Am Gutspark 1
D-23996 Saunstorf
www.advaitamedia.com
Die Herausgabe dieses Buches wurde durch die finanzielle Unterstützung des Allionce e.V ermöglicht.
Mit Beiträgen von Ulrike Porep und Johannes Spath Lektorat: Dr. Rüdiger Porep Cover, Satz, Grafik: Christoph Konradi, www.konradi.com
Coverphoto: cydonna / photocase.de
Druck & Bindung: CPI Moravia Books s.r.o.
© 2015 advaitaMedia GmbH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-936718-35-5
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige, auch elektronische Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Inhalt
Vorwort
Einführung
von Ulrike Porep
In Angst
Bericht aus der Welt einer Angstfixierung von Johannes Spath
A.N.G.S.T.
Darshan mit OM C. Parkin
Dialoge zum Thema Angst
Es gibt kein Ich ohne Angst
Angst ist die Entfernung zum Selbst
Die Sehnsucht, zurückzukehren
Beende das Versteckspiel
Unruhe in der Peripherie von Angst
Angst und Wahnsinn
Begegnung mit Todesangst
Angst und Misstrauen
Angst ist eine Folge innerer Distanzierung
Das Feuer der Angst
Opfer der Angst oder Täter der Angst?
Ehrfurcht ist der Zugang zum Größeren
Erschrecken als Trauma
Ausblendung von Angst
Angst eingestehen
Seinsangst
Angst als Feind
Mit innerer Verhärtung beginnt der Weg der Gewalt
Abgrenzung gegenüber Gott
Angst ist eine Illusion
Der Flüchtende weiß nicht, wovor er flüchtet
Die Flucht beenden
Flucht und der Wunsch nach Sicherheit
Die Gefahr der Selbstabwendung
Mitten hinein und mitten hindurch
Verheimlichung
Angst vor den Kräften der Nacht
Angst vor den kleinen Katastrophen
Die Angst, ein Nichts zu sein
Angst zu versagen
Angst, entlarvt zu werden
Angst, verrückt zu werden
Die Angst, alles zu verlieren
Angst, ein Ort des Nicht-Seins
Es gibt keine Angst ohne Angst vor der Angst
Bedingungslose Akzeptanz aller Möglichkeiten
Transformation von Angst
Die Angst einladen
Angst erforschen
Verbundenheit mit Angst
Liebe und Angst
Fließen mit Angst
Befreiung aus dem Würgegriff der Angst
Angst ist nur ein Name
Ent-decke die Angst
Vertrauen erlaubt Hingabe an die Angst
Der Angst begegnen in Wachsamkeit
Sklave der Angst oder Sklave wahrer Autorität?
Nur die Angst will wissen, wo es hingeht
Der Zweifel frisst die Angst
Dem Gegner in die Augen schauen
Der Autor
Vorwort
Wenn wir das Enneagramm als Kosmologie verstehen, als Versinnbildlichung der Großen Ordnung des Seins mit allen Wirkkräften der Evolution und der Involution, dann weist dies weit über das Verstehen des Enneagramms als Lehre von den Charakterfixierungen oder einer Typologie der Persönlichkeiten hinaus. Das Enneagramm in seiner spirituellen Dimension überschreitet das begrenzte Verständnis, das ihm der konzeptuell arbeitende denkende Geist zuweist. Vielmehr geht es hier um die Offenbarung von Wirklichkeit, von Realität, die frei ist von jeglicher Begrenzung. So ist das Enneagramm letztlich kein Lehrgebäude, sondern es öffnet das Sehen des Seins selbst, den Blick in das kosmische Wirkgefüge.
Dieses Buch ist der erste Band einer Trilogie, die den drei emotionalen Grundkräften des denkenden Geistes gewidmet ist, welche dem objektiven Sehen des Seins im Wege stehen: Angst, Zorn und unerfüllte Liebe. Dieser erste Band ist der Tiefenerforschung der Angst gewidmet, sowohl als Antrieb der Flucht aus der Wirklichkeit, als auch als Wegweiser für den Heil(ung)sweg.
Wie ist dieses Buch aufgebaut? Zunächst geht es in der Einführung von Ulrike Porep um grundlegende Aspekte der Wahrheit über menschliches Leiden, resultierend aus der Gefangenschaft in Angst. Es folgt eine authentische Schilderung aus der Welt eines angstfixierten Menschen von Johannes Spath. Sodann erläutert OM C. Parkin in seinem Essay, wie unser eigener Geist immer neue Angst produziert, getrieben von der Idee, seiner Angst vor dem Tod, vor dem letztlich Unbekannten entkommen zu können. Wie inneres Anhalten, Sehen und wahres Erkennen aus unseren eigenen Alpträumen und Angstphantasien befreit, wird aus der Sicht eines spirituellen Meisters präzise dargelegt.
Vollendet wird der Bogen durch OM C. Parkins ausführliche Hinweise auf die Möglichkeit, sich dem Leiden unter Angst und der Befreiung davon anzunähern. Dieser thematische Extrakt wurde aus den überarbeiteten Aufzeichnungen von Darshans mit OM C. Parkin gewonnen. Über zwanzig Jahre hinweg gegebene Belehrungen in Form zahlreicher Dialoge mit Schülern, die ihre auf das Thema Angst bezogenen Fragen stellen, zeigen uns die Schlüssel zu einem angstfreien Leben. Dass dies möglich ist, verspricht uns der Innere Weg, der Weg zu uns selbst, der Weg der Wandlung vom Ich zum Sein.
Dieses Buch dient dazu, den Bogen, den wir um die Angst gemacht haben, zu beenden und uns dem zu nähern, was sie wirklich ist – eine elementare Kraft des Seins.
Dr. Rüdiger Porep Gut Saunstorf, im März 2015
Einführung
von Ulrike Porep
Stets voller Furcht ist dieses Herz,stets voller Besorgnis dieser Geistdurch Nöte, welche droh'n und solche, welche sind.
Furchtfreies Leben, gibt es solches denn?
Oh künd' es an, von mir befragt.
Wirrsal innen – Wirrsal außen –
Im Wirrsal ist verwirrt das Volk.
Dies frag ich nun, oh Gautama,
Wer kann die Wirrsal wohl entwirren?
Nyansponika, 1993, zitiert nach alten Quellen von vor 2500 Jahren.
„Fast alle Menschen leiden mehr oder weniger unter der Geißel der Angst. Auch die Menschen, die gar keine Angst wahrnehmen.“
OM C. Parkin
Menschen fühlen sich von Angst regiert oder Menschen verleugnen Angst. Aber wer weiß, was Angst wirklich ist? Warum lassen wir uns von Angst geißeln? Sind wir Opfer von Angst? Sollten wir Angst überwinden? Ist Angst nur ein lästiges Übel? Um diese Fragen beantworten zu können, lassen wir uns auf das Thema „Angst“ überhaupt erst einmal ein. Vielleicht ist Angst sogar etwas, was wir nicht wirklich kennen. Wir wollen sie möglichst schnell loswerden – was eine schlechte Voraussetzung ist, wenn man etwas kennen will. Wie können wir aber einem so flüchtigen Phänomen näherkommen und es erforschen?
Angstneurose, Angststörung, Phobie, Paranoia. Das sind im üblichen Verständnis Störungen, die es zu beseitigen gilt. In Wirklichkeit sind diese seelischen Krankheiten Ausdruck einer Verdrängung, einer Weigerung, der Angst zu begegnen. „Angst ist Schwäche, Angst ist kindisch, Angst ist eine Beeinträchtigung.“ Mit solchen Glaubenssätzen verurteilen wir etwas, was wir gar nicht verstehen.
Um dem Phänomen Angst auf die Spur zu kommen, können wir das Enneagramm nutzen. Es ist eine Kosmologie, ein geistiges Modell universeller Prinzipien. Es kann in der Inneren Arbeit als Spiegel der Seele genutzt werden. Es zeigt auf, wie geistige Strukturen, zu neun Charaktertypen verfestigt, ein Leben im fixierten Leiden bedingen, so dass Wandlung und Evolution nur noch begrenzt möglich sind. In der Weisheitslehre wird deutlich aufgezeigt, dass fixiertes Leiden im Gegensatz steht zur Freiheit eines Da-Seins in stetem Wandel, in dem alle Kräfte ihren Raum nehmen und ihre Wirkung entfalten. Damit unser Leben wieder in Fluss kommt, beginnen wir uns erst einmal unseres eigenen Festhaltens dieser Fixierungen bewusst zu werden. Drei Kräfte, die das Universum ganz natürlich in Bewegung halten und ständige Wandlung ermöglichen, sind die Beweg-Gründe natürlichen Seins. Es handelt sich dabei um die erschaffende Kraft, die erhaltende Kraft und die zerstörende Kraft – Geburt, Lebensspanne, Tod.
Wenn das Ich sich einer dieser Kräfte bemächtigt und sich damit auf einen bestimmten Standpunkt fixiert, wird ein künstlicher Stillstand hervorgerufen, eine Fixierung, die durch ständiges aktives Festhalten immer wieder neu erzeugt wird. Das Leben will fließen, die Erscheinungen verändern sich ständig, alles, was geboren, wird, lebt eine Lebensspanne lang, um dann zu sterben und Neuem Raum zu geben. Alles ist ständigem Wandel unterworfen. Das Ich aber möchte diesen Wandel verhindern. Es besetzt eine der drei Kräfte und sagt:„Meins!“ Mein Zorn, meine Angst, meine Wünsche.
Das Zorn-Ich sagt:„Ich will nicht!“
Das Angst-Ich sagt: „Ich will weg!“
Das Wunsch-Ich sagt: „Ich will etwas anderes!“
Wo ein Ich sich auf einen Standpunkt gestellt hat (Nummer 1 bis 9 im Enneagramm der Charakterfixierungen, s. Abbildung 1), da herrscht Begrenzung, Erstarrung, blinde Wiederholung, Leiden.
Abbildung 1:
Die neun Enneatypen (Punkt 1 bis 9)
Auf dem inneren Weg stellen wir in Frage, was zunächst selbstverständlich erscheint. Die grundlegendste Selbstverständlichkeit ist das Ich selbst. Wer ist eigentlich „Ich“? Wer bin ich? Wir entdecken, dass jedes Ich eine Geschichte erzählt, seine Leidensgeschichte. Und jedes Ich hat eine Strategie entworfen, wie es das Leiden los werden oder fernhalten kann und glücklich zu werden hofft. Das ist die Suche nach dem Glück, die aber, wenn wir es ehrlich betrachten, bestenfalls zu kurzfristiger Linderung, ansonsten jedoch in dauerhaftes Leiden führt. Diese Geschichte beginnt also mit Ich und Mein und endet in einer Sackgasse, wo die Strategien offensichtlich nicht weiterführen. Können wir das einsehen, dass hier kein Glück zu finden ist, oder nehmen wir den nächsten Anlauf im Labyrinth der Strategien des denkenden Geistes? Was ist die Lösung?
Abbildung 2:
Enneagramm mit Symbol der Dynamik der drei Wirkkräfte Zunächst beginnen wir uns zu interessieren für die Wahrheit, für das, was IST, nicht gedacht, nicht vorgestellt, nicht erträumt. Ein Spiegel dessen, was IST, ist das Enneagramm. Es zeigt die natürlichen Gesetze des Seins auf, aber auch die mehr oder weniger unbewussten Versuche des Ichs, jemand zu werden, etwas zu erreichen in der Welt der Erscheinungen. Es spiegelt sowohl das Potential des Menschseins, als auch seine unbewussten Antriebe. Es zeigt die Schattenseite der bewussten Anstrengung des Ich, die Kräfte von Zorn, Angst und Liebe für ein vermeintlich glückliches egoistisches Sein zu nutzen. Wenn das nicht klappt, tarnt das Ich seinen eigenen Egoismus und schiebt sein Leiden auf äußere Umstände.
Es soll nun noch einmal auf die Grundprinzipien des Enneagramms eingegangen werden, um Angst als eine der drei grundlegenden Kräfte im Kosmos einzuordnen, um dann noch genauer auf diese natürliche Kraft, die Kraft der Angst, einzugehen. Diese natürliche Kraft muss unterschieden werden von der fixierten Kraft der Angst, fixiert durch einen ichhaften Standpunkt, der Angst vermeiden will.
Die drei Kräfte im Enneagramm
Das innere Dreieck im Enneagramm, dessen Eckpunkte die Enneatypen 3-6-9 bilden, gibt Aufschluss über die drei grundlegenden Energien des natürlichen Wandels. Das Sechseck (Hexagramm), das von den Punkten 1,2,4,5,7 und 8 gebildet wird, zeigt in seinen Verbindungslinien die Dynamik, das Zusammenspiel der Kräfte, auf (s. Abbildung 2).
Im natürlichen Dasein jeder Erscheinungsform sind die drei Kräfte (Eckpunkte des Dreiecks) im Gleichgewicht: Punkt 3: die Kraft der Geburt (Entstehen, Schöpfung)
Punkt 6: die Kraft der Erhaltung (Bewahren, den Weg gehen)
Punkt 9: die Kraft der Zerstörung (Vergehen, Tod).
Beim Menschen entsprechen diese drei Kräfte drei Zentren von Intelligenz im Körper: Emotionalzentrum, Mentalzentrum, Instinktzentrum. Wenn diese Zentren voll entwickelt und ausgeglichen sind, bewirken sie natürliches Fühlen, mentale Urteilsfähigkeit und angemessenes Handeln.
Das Ich, der Gedanke Ich, besetzt primär eines der drei Zentren, d.h. hier ist mehr Energie als in den anderen beiden Zentren, und damit entsteht ein Ungleichgewicht. Ist das Gleichgewicht der drei Kräfte gestört, tritt eines der drei Zentren in den Vordergrund. Das wird nun zum Lebensthema eines Menschen, der sich als Ich bezeichnet. Ich und mein Zorn (Punkt 9, 8, 1) – der Zornige will die Macht
Ich und meine Angst (Punkt 6, 7, 5)
– der Ängstliche ist auf der Flucht und sucht Distanz Ich und meine Wünsche (Punkt 3, 4, 2)
– der Wünschende sucht nach Erfüllung.
Führen der Kampf um Macht, die Flucht vor dem Bedrohlichen, die Suche nach Wunsch-Erfüllung ins Glück?
In den drei Bänden dieser Trilogie, die jeweils einer der drei Kräfte gewidmet sind, soll aufgezeigt werden, wie Angst, Zorn und die Suche nach Wunscherfüllung als Leidensstrukturen wirken, und wie Heilung und Befreiung aus dem fixierten Ich möglich ist. Der spirituelle Meister OM C. Parkin spricht immer wieder, besonders im Darshan, zu Menschen, die sich zunächst mit ihrem Leiden zeigen. Er weist auf die verborgenen Motive der Menschen hin, ihre vergeblichen Versuche, aus zornigem Widerstand, angsterfüllter Flucht und sehnsüchtigem Habenwollen das Leben positiv und sinnbringend zu gestalten. Er zeigt auf die verborgenen Schatten-Aspekte des Ichs, er bringt Licht in die Dunkelheit, so dass durch Erkenntnis Wandlung möglich wird. Hiermit wird der erste Band der Trilogie vorgelegt. Er geht der Frage nach, wie die Angst uns, wenn wir sie loswerden wollen, zum Sklaven macht, aber auch, wie wir diese Kraft nutzen können.
Kehren wir nun zu der Energie zurück, der dieses Buch gewidmet ist. Im Enneagramm der Charakterfixierungen gelten Punkt 6 und seine Nachbarpunkte 5 und 7, die durch die Leidenschaften von Geiz und Gier der Angst zu entkommen versuchen, als Angstfixierungen. Angst erscheint als eine der Grundkräfte, die uns daran hindern, frei zu sein. Es ist aber nicht wirklich die Angst, die uns hindert, sondern unsere Vermeidung, unsere Abwehr, unser Ausweichen vor dieser Kraft, die wir nicht fühlen wollen, so dass der freie Fluß des Da-Seins behindert ist.
Obwohl niemand Angst haben will, hält er doch, ohne es zu wissen, daran fest. Angst wird fixiert durch Abwehrstrategien, die eigentlich nur bewirken, dass nichts mehr fließen kann. So wissen wir am Ende nicht einmal mehr, was Angst eigentlich ist. Erst wenn die Flucht vor der Angst ein Ende hat, kann sich etwas ändern, lösen, auflösen, entspannen. Dazu beginnen wir aber zunächst Einblick zu gewinnen in das unbewusste Festhalten, und welcher inneren Dynamik und Logik diese Fixierung folgt.
Wie kommt es denn nun überhaupt zu einer Charakterfixierung und im Besonderen zu einer Angstfixierung? Alles beginnt mit einem Irrtum, der Idee, jemand zu sein, ein Körper, ein getrenntes Wesen mit Namen Ich, ausgesetzt in eine Welt voller Gefahren, Unannehmlichkeiten, einem Chaos ständig wechselnder Reize. Das Ich sucht nach Orientierung in einer vermeintlich sicheren, angenehmen, überschaubaren Welt, in der es sich wohl und zu Hause fühlen kann.
Im Punkt 6 des Enneagramms, dem Zentrum der angstfixierten Ich-Strukturen (5,6 und 7), können wir erforschen, wie Angst, ein momentanes begrenztes Gefühl, ausgebaut wird zu einer fixierten Vermeidungsstrategie, die eigentlich Sicherheit erschaffen soll, aber immer tiefer hineinführt in geistige Welten, die immer neue Angst erzeugen. In der persönlichen Geschichte eines Menschen, der in Angst fixiert ist, finden wir Erinnerungen an beängstigende Erfahrungen. Die Umwelt schien nicht geeignet, ihm als Kind die Sicherheit zu geben, die ein Vertrauen ins Leben erlaubt und rechtfertigt. Wir hören von unzuverlässigen, im schlimmsten Falle bedrohlichen Vätern und Müttern. Der kindliche Geist kommt zu der Überzeugung, dass man sich auf nichts verlassen kann, dass das Leben bedrohlich ist, die Menschen Feinde sind, die einem nach dem Leben trachten und dem Wohl der Seele. Der Enneatyp 6 ist argwöhnisch, von hyperwachsamem paranoidem Misstrauen gekennzeichnet, und er hält ständig nach Gefahren Ausschau.
Ein Mensch, der in Angst fixiert ist, ist einer, der glaubt, die Angst selbst sei die Gefahr, die abgewendet werden muss. Da Angst gekoppelt ist an bestimmte Erfahrungen, werden diese Erfahrungen „weiträumig“ gemieden. Ein Leben ohne Angst soll durch diese Vermeidung geschaffen werden. Auf der Flucht vor der Angst bleibt es bei atemlosem hektischem Davonlaufen, ohne noch genau zu wissen, wovor eigentlich. Was sitzt da eigentlich im Nacken? Was treibt diese Flucht an? Das Leben? Was wird verantwortlich gemacht für die unermüdliche Anstrengung übertriebener Wachsamkeit und paranoider Vorstellungen über das bedrohliche Da-Sein? Das Ich des Angstbesetzten sieht die Gefahr und jede Bedrohung in der äußeren Welt.
„Wie kann ich vertrauen, nach all dem, was mir geschehen ist?“ fragt dieses Ich. Eigentlich ist es keine Frage, sondern die Rechtfertigung des Abstands, die das Ich als Sicherheitsmaßnahme vertritt. Je weiter weg vom Leben, desto sicherer. Die Wahrheit ist aber, je weiter weg, desto weniger kann gesehen werden, was wirklich ist. Die Geschichte, wo jemand aus der Ferne ein Seil für eine Schlange hält, führt beispielhaft aus, was es heißt, nicht näher heranzugehen: Was ist da wirklich, gefährliche Schlange oder harmloses Seil? Fixiert sein heißt: Es gibt ein in sich geschlossenes geistiges System, das dem Menschen und seinem Überleben dienlich sein soll. Es ist in sich logisch, eben psychologisch, so dass es zunächst keinen Grund gibt, das System selbst in Frage zu stellen.
Die Grundannahme lautet: Alles ist auf Überleben eingestellt, und der Stärkste gewinnt (Darwins ,survival of the fittest'). Ich fühle mich unsicher und bin in ständiger Gefahr, Also muss ich schneller sein als die Gefahren, ich muss sie vorher-sehen, sie aufspüren in ihren Verstecken. Die Gefahr – was ist das? Es ist das Böse, das, was mir schaden will, das, was nicht wohlwollend, nicht gut ist. Das Böse wird in der Welt gesehen, in anderen Menschen. Wie kommt es denn da hin, das Böse?
Ist es vielleicht das Ich selbst, das sich als böse erkennt? Das Ich, das sich getrennt hat von Gott, das Schuld auf sich geladen hat, das sich abgewandt hat vom Vertrauen in das Göttliche. Wenn das Böse in mir ist – dann habe ich Angst vor mir selbst. Ich habe Angst vor mir! Das ist Spaltung, da bin ich nicht mehr eins, da bin ich zwei, die sich feindlich gesonnen sind, die sich nicht kennen, die sich verdächtigen, die sich bekämpfen. Wie wird innerer Frieden hergestellt? Nun, der Feind wird nach außen projiziert, das Böse wird im anderen gesehen, in dem, was ich nicht kenne. So wird das Unbekannte bekannt, und das Böse bin ich los. Nun muss ich mich nur noch schützen. Und dazu dienen Misstrauen, Zweifel, Verdächtigungen, Distanzierung, Verrat. Aggression und Feindseligkeit unterstützen die Distanzierung. Dass diese Strategie bezahlt werden muss mit immer neuer Angstproduktion, Entfremdung und Vereinsamung, ist wenig spürbar, denn das Fühlen geht in der Geschwindigkeit der paranoiden Phantasien verloren. Alle Aufmerksamkeit gilt einem aufgeblähten Denkapparat, einem Sicherheitssystem, das „weiß“ was wahr ist, nämlich alles, was das Misstrauen und den Zweifel stärkt und bestätigt. Ein Teufelskreis.
In diesem Hamsterrad scheint die Angst unter Kontrolle zu sein. In seiner Phantasiewelt von gefährlichen Dämonen und Drachen bewegt sich der Held mutig und scheinbar angstfrei. In einem starren Korsett, seiner Rüstung, trägt er den Kopf erhoben, schaut auf die Schwachen herab und versteckt seine eigenen Nöte. Er verrät sich selbst, indem er das, was ist, feige versteckt: die Angst, die Wahrheit, die Unsicherheit und letztlich seine wahre Natur, das Selbst. Geheimhaltung, Verstecken, Selbstlüge – all das steht im Dienste der Angstvermeidung, der Angst, sich auszuliefern und vernichtet zu werden.
Verrat ist ein sehr starkes Thema in diesem geistigen System und enthält viele Ebenen. „Ich verrate nichts!“ sagt das Ich und hält sich für loyal. Loyalität wird höher bewertet als der Verrat um der Wahrheit willen, d.h. in jedem Fall die Wahrheit zu sprechen und Abweichungen von der Wahrheit aufzudecken. Im Ehrenkodex militärischer Denkstrukturen stehen Treue und Pflicht als Gegensatz zum Verrat an höchster Stelle der moralischen Werteskala. Dass es dabei um den Verrat des Geistes an der eigenen Seele geht, der offenbart werden muss, um zurückkehren zu können in das, was vertrauenswürdig und gut ist, ist für den fixierten 6er-Geist nicht sichtbar. Die Angst regiert so lange, bis der Mut siegt und sich zeigt, was sichtbar werden möchte: alles, was bisher verheimlicht wurde, die „Leichen im Keller“ ebenso, wie tiefe Einsichten in das, was wahr ist.
So kann der Weg der Befreiung von Angst nur durch die fühlende Begegnung mit der Angst selbst geschehen, Mut und Vertrauen müssen stärker sein als alle Argumente des Geistes, der zur Flucht rät. Stehenbleiben – allein in der Angst – ist die Lehre für den, der frei sein will, frei vom Geist, frei von Angst, zurückgekehrt in das, was verloren schien, das Urvertrauen, der wahre Glaube an das Gute, an das Göttliche, an die wahre Autorität.
In Angst
von Johannes Spath
Ein Bericht aus der Welt einer Angstfixierung
Der folgende Text erschließt einen Einblick in die Erlebenswelt eines angstfixierten Menschen. Nicht jeder Leser wird sich mit dieser Welt identifizieren können oder wollen, doch jedem werden Anklänge an diesen Wahnsinn des denkenden Geistes bekannt vorkommen. Ein Leben auf der Flucht vor der Wirklichkeit, ein Leben in Gedankenwelten, in verrückten Ideen, Bildern, Phantasien, Einbildungen, Hirngespinsten, abenteuerlichen paranoiden Konstrukten, kurz: in der privaten Hölle, ist das nicht menschliches Schicksal? Erst wenn diese „Normalität“ als Leiden gesehen und empfunden wird, kann ein wirkliches und dringendes Interesse daran entstehen, die Wirklichkeit jenseits der Grenzen der „Welt des denkenden Geistes“ kennen zu lernen, wie sie sich erst in der Stille des no-mind offenbart. Dem dient dieses Buch als Ganzes.
Er wachte früh am Morgen auf. Sofort war der Gedanke an heute Abend da, ließ eine heiße Welle der Erregung in ihm aufsteigen, die sich in seinem Herzraum eng zusammenzog. Nun war es nicht mehr zu umgehen, er hatte sich darauf eingelassen. Warum eigentlich? Hatte er nicht gewusst, zu was er da „ja“ gesagt hatte? War er naiv, leichtfertig, größenwahnsinnig, die Dimension seiner Angst und seiner Fähigkeiten blind verkennend? Nun war es jedenfalls nicht mehr zu ändern. Er würde zu der Veranstaltung hinfahren, die Sache irgendwie hinter sich bringen, in der Hoffnung, es einfach nur zu überleben. Wie ein Damoklesschwert hing der Gedanke an den Abend den ganzen Tag über ihm. Inhaltlich hatte er zwar alles umfassend und gründlich vorbereitet und mit Kollegen sorgfältig abgesprochen. Sie hatten ihn gelobt und seine Zweifel ausgeräumt. Gestern noch hatte er seine Begeisterung und sein Interesse an den Fragen deutlich gespürt! Gestern noch hatte er Vertrauen gespürt.
Aber jetzt konnte er davon nichts mehr in sich finden. Er fühlte in sich keinen Kontakt mehr zu dem Thema, mit dem er sich wochenlang intensiv auseinandergesetzt hatte. Um was ging es eigentlich – wirklich? Widerwillig griff er nach seinen Unterlagen, versuchte in den Aufzeichnungen einen Sinn und Zusammenhang zu finden. Das fürchtete er am meisten: Vor dem Publikum zu stehen und überhaupt keinen Bezug zu dem zu fühlen, was er sagte. Gelähmt vor Angst mit einer totalen Blockade im Kopf wie ein Roboter die Fragen abzuarbeiten. Und wenn er nicht fühlte, was er sprach, dann wäre alle Mühe umsonst. Ja, er kannte das, er hatte es schon erlebt – ganz früher, in seiner Jugend, er erinnerte sich jetzt deutlich an die Situation. Es war in der Schule, und die Erinnerung war gesättigt von Scham und Demütigung. Ein Referat im Fach Erdkunde war zu halten gewesen und er hatte dagestanden, bis ins Mark kontrahiert, wie ein farbloser Turm, und er brachte es nicht weiter als mechanisch einige zusammenhanglose Sätze hervorzuwürgen, die er noch nicht einmal sinnvoll zu beenden in der Lage gewesen war. Die Blockade war total. Um welches Thema es eigentlich ging und was das alles sollte war ihm vollständig entfallen. Der Lehrer hatte ihn unterbrochen, eine ironische Bemerkung gemacht und ihn aufgefordert, das ganze noch einmal von vorn zu beginnen. Im zweiten Anlauf war alles noch schlimmer geworden, schließlich war er einfach verstummt, hatte betäubt und geschlagen vor der Klasse gestanden und nur noch abgewartet, dass der Lehrer ihn endlich an seinen Platz zurück schickte. Seine Mitschüler hatten gegrinst und hämisch gewitzelt und es war ein Abgrund gewesen, eine Vernichtung, eine unverzeihliche Schande. So etwas durfte nie wieder geschehen. Er hatte ab sofort alles darangesetzt, Situationen zu vermeiden, in denen eine Wiederholung derartig katastrophalen Versagens drohte. Und wenn sich das gar nicht umgehen ließ, hatte er immer besser gelernt, die Umstände so weitgehend zu entschärfen, dass er nicht mehr sichtbar werden musste. Aber war dieses Erlebnis in der Schulzeit wirklich der Beginn seiner Tragödie, war es für sein furchtbares Defizit verantwortlich, oder war es nur die Neuauflage von etwas viel älterem, längst verschollenem, das sich im Nebel diffuser Erinnerungsfetzen und undefinierbarer Gefühlslandschaften seiner Kindheit verlor? So musste es sein, er spürte es mit Gewissheit. Seine Gedanken tasteten sich vorsichtig rückwärts in die Vergangenheit. Ein Grauen begann sich langsam, aber an Intensität zunehmend in ihm breit zu machen, ein namenloses Grauen – abgekoppelt von jedem Erinnerungsbild, eine tiefschwarze Atmosphäre von Kälte und Nicht-Sein, von Angst und Schmerz. Woher kam das, was war das? Er wusste es nicht, es erschien ihm völlig rätselhaft, aber er fühlte Tränen in seinen Augen aufsteigen. Das leere, tote Abbruchhaus, die Ruine, kam ihm in den Sinn, das Bild seines schlimmsten Albtraums, den er als kleiner Junge hatte, ein Bild des Grauens und des Todes ...