Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das wahre Wesen des Zorns Der zweite Band der Trilogie aus den spirituellen Lehren des Enneagramms ist der Kraft des Zorns gewidmet. Diese göttlich-natürliche Kraft der Zerstörung und des Todes wird jedoch, wenn sie von der persönlichen Ich-Welt eines Menschen vereinnahmt wird, zu einem großen Hindernis im Zugang zur REALITÄT. Das Buch beginnt mit einer kurzen Einführung in die sogenannten Zornfixierungen aus dem Enneagramm der Charakterfixierungen und dem Bericht eines Schülers des inneren Weges, der mit einem Schuss Humor von seinem alltäglichen Kampf mit dem Zorn berichtet. Im darauf folgenden zentralen Essay betrachtet OM C. Parkin Zorn aus der Sicht der Weisheitslehre. Hinter dem Begriff Zorn verbirgt sich ein umfassendes geistiges System, welches sich beständig gegen die Realität bewegt. Den zweiten Teil des Buches bilden Ausschnitte aus Darshans des spirituellen Lehrers OM C. Parkin aus den letzten 25 Jahren. Diese erleuchtenden Gespräche mit Schülern öffnen die Augen für verschiedene leidvolle Aspekte der Welt der Zornfixierung – und ihre Verwandlung.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 214
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Zorn – Der Kampf gegen die Wirklichkeit
Die spirituelle Dimension des EnneagrammsTrilogie Band 2
OM C. Parkin
(Band 1: Angst – Die Flucht aus der Wirklichkeit)
Originalausgabe
advaitaMedia – Weisheit aus der Stille
Am Gutspark 1
D-23996 Saunstorf
www.advaitamedia.com
Die Herausgabe dieses Buches wurde
durch die finanzielle Unterstützung von Norbert Karden ermöglicht.
Mit Beiträgen von Ulrike Porep und Gerd Schweitzer
Lektorat: Dr. Rüdiger Porep
Umschlagsgestaltung: Christoph Konradi
Satz: Katja Dorow-Schwart
Coverbild: SAFA TUNCEL, Pixabay
Druck & Bindung: C. H. Beck
© 2020 advaitaMedia GmbH
1. Auflage 2020
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-936718-58-4
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige,
auch elektronische Kommunikationsmittel, fotomechanische oder
vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Vorwort
Einführung
Der alltägliche Kampf mit dem Zorn
Bericht aus dem Leben eines ‚Ennea-Typ 8‘
von Gerd Schweitzer
Physisches Bewusstsein und fixierter Zorn
Der im physischen Körper gefangene Mensch
Eine kurze Entstehungsgeschichte des fixierten Zornes
Darshan mit OM C. Parkin
Dialoge zum Thema Zorn
Bequemlichkeit
Bis hierhin und nicht weiter!
Ein Leben in Gewohnheit
Suche nach Harmonie
Fatalismus und Nicht-Hinschauen
Nur ein scharfes Schwert kann scharf trennen
Gewalt
Festhalten an Zartheit
Gewalt gegen den Körper
Die Integration von Lastern
Die Kraft an sich reißen
Ignoranz
Das Desinteresse am Selbst
Mitgefühl mit der Ignoranz
(Vom indirekten zum direkten Weg)
Ignoranz kann nicht wahrnehmen
Kampf
Kampf ohne Aussicht auf Erfolg
Kampf um Daseinsberechtigung
Die Waffe gegen das Böse ist Erkenntnis
Kontrolle
Auflösung falscher Ordnung oder:
Der Weg der Unordnung
Die subtile Kontrolle des ‚Beobachters‘
Der Bremser kontrolliert den Lebensstrom
Kraft
Kraft oder Gewalt? Der Gang auf Messers Schneide
Die Kraft des Schwertes
Das Innere Feuer schüren!
Der reine Quell der Kraft
Scheinheiligkeit
Spirituelle Weiterbildung des Ichs
Spiritualität als Fluchtraum vor dem, was ist
Spiritueller Hochmut
Heiligung und Menschwerdung
Verweigerung
Die Macht der Verweigerung
Verweigerung gegenüber der Kraft von Gott-Vater
Die Lust am Nein
Die Weigerung zu fühlen
Widerstand
Der Fels
Restwiderstand
Geh den Weg des Feuers!
Vor - Urteil
Wille
Unwille – die Umkehrung des Willens
Der Staat ‚Nein‘
Der göttliche Wille: das Herz des freien Willens
Mein Wille geschieht
Zerstörung
Zerstörungskraft – Ist Zorn böse?
Die Zerstörungskraft bedroht den Gutmenschen
Zorn
In der Mitte von Zorn ist Liebe
Der Zorn des rechten Augenblicks
In wessen Händen liegt der Zorn?
Das Handwerkszeug des Zorns
Die Erweckungskraft des Zorns
Der Autor
OM C. Parkin
„Ein Leben ohne die Fixierung im Zorn fließt mit der Wirklichkeit.“
OM C. Parkin
Dieser zweite Band der Trilogie aus den spirituellen Lehren des Enneagramms ist der Kraft des Zorns gewidmet. Diese göttlich-natürliche Kraft der Zerstörung und des Todes wird jedoch, wenn sie von der persönlichen Ich-Welt eines Menschen vereinnahmt wird, zu einem großen Hindernis für den Zugang zur REALITÄT. Die schicksalhafte Verirrung des Menschen in den Ego-Zorn wird hier präzise verdeutlicht, genauso klar wird der Weg zurück zur wahren Quelle der (göttlichen) Zorneskraft über Gehorsam zur Demut dargelegt.
Das Buch beginnt mit einer kurzen Einführung in die sogenannten Zornfixierungen aus dem Enneagramm der Charakterfixierungen, die den Zugang zum weiteren Inhalt erleichtert. Der Bericht eines Schülers des inneren Weges, der mit einem Schuss Humor von seinem alltäglichen Kampf mit dem Zorn berichtet, illustriert die (scheinbar äußere) innere Welt eines im Zorn fixierten Menschen.
Im darauf folgenden zentralen Essay betrachtet OM C. Parkin Zorn aus der Sicht der Weisheitslehre. Hinter dem Begriff Zorn verbirgt sich ein umfassendes geistiges System, welches sich beständig gegen die Realität bewegt. Seine Ausführungen öffnen auch den Weg aus diesem geistigen System heraus: Erkenntnis führt aus dem vom Zorngeist geschaffenen Gefängnis.
Den zweiten Teil des Buches bilden Ausschnitte aus Darshans des spirituellen Lehrers OM C. Parkin aus den letzten 25 Jahren. Diese die zwölf Facetten des Ego-Zorns spiegelnden erleuchtenden Gespräche mit Schülern öffnen die Augen für verschiedene leidvolle Aspekte der Welt der Zornfixierung – und ihre Verwandlung.
Hilfreich für das tiefere Verständnis der Inhalte dieses 2. Bandes der Trilogie – und deshalb empfohlen – ist das Studium auch des 1. Bandes mit dem Titel ‚Angst – Die Flucht aus der Wirklichkeit‘.
Dieses Buch möchte die elementaren Wirkkräfte des SEINs, die erschaffenden, die erhaltenden und hier besonders die zerstörenden Kräfte, jenseits der hier ausführlich in die Sichtbarkeit gehobenen Beschränkungen eines denkenden Geistes offenbaren. So wünsche ich allen ein fruchtbares Studium.
Dr. Rüdiger Porep
Gut Saunstorf, im Juli 2020
von Ulrike Porep
„Jedermann kann zornig werden. Das geht leicht. Aber der richtigen Person gegenüber zornig werden, im richtigen Maß, zur rechten Zeit, zum rechten Zweck und auf die richtige Weise – das liegt nicht in der Macht des einzelnen.“
Aristoteles
Fixierung im Zorn als Hindernis auf dem Weg der Selbsterkenntnis
Im ersten Band der spirituellen Trilogie zu den drei emotionalen Grundkräften des Enneagramms haben wir uns mit der Kraft der Angst befasst. Wie behindert das angstfixierte Ich die Entfaltung des menschlichen Potenzials? Wie kann Angst als reine Energie freiwerden und dem natürlichen Fluss der Wandlung und Entfaltung zur Verfügung stehen?
In diesem zweiten Band geht es um die Kraft des Zorns.
Dazu noch einmal eine kurze Einführung in das Enneagramm, das als Kosmologie, als geistiges Modell universeller Prinzipien verstanden werden kann. In der Inneren Arbeit dient das Enneagramm als Spiegel der Seele. Es zeigt das Potenzial menschlicher Entwicklung und die Hindernisse auf dem Weg der Entfaltung auf.
Im Enneagramm der Charakterfixierung (s. Abbildung) werden durch 9 Punkte auf einem Kreis die inneren Standpunkte des ich-fixierten Menschen symbolisiert. Jedes Ich hat sich aus der Einheit getrennt und verfolgt seine selbstsüchtigen Ziele. Der Standpunkt auf dem Kreis steht für eine eigene geistige Welt, in der der ich-fixierte, also im Ego gefangene Mensch, sich bewegt. Er weiß nicht, was er tut, der Antrieb ist im Unbewussten verschwunden. Wie der Geist Angst als Antrieb benutzt, wie er ausweicht und flüchtet, das wurde im 1. Band dieser Trilogie behandelt. Dabei ging es um das in den Punkten 5, 6, 7 fixierte Ich, also die Angstfixierungen.
Abbildung 1: Die neun Enneatypen (Punkt 1 bis 9)
Die zweite Kraft, die uns im inneren Dreieck des Ennea-gramms gespiegelt wird, ist die Kraft des Zorns. Dieser Kraft ist dieser zweite Band zu den emotionalen Grundkräften des Enneagramms der Charakterfixierungen gewidmet.
Wir erinnern uns an die drei Kräfte, die den natürlichen Wandel aller Seins-Formen bewirken:
Die Kraft der Geburt (Entstehen, Schöpfung)
Die Kraft der Erhaltung (Bewahren, denWeg gehen)
Die Kraft der Zerstörung (Vergehen, Tod)
Jede Erscheinung ist diesen drei Kräften unterworfen und damit ständigem Wandel. Diesem Wandel widersetzt sich der menschliche Geist, das Ich, durch drei Bewegungen:
Hin (zu etwas scheinbar Besserem)
Weg (von etwas scheinbar Bedrohlichem)
Gegen (etwas scheinbar überwältigend Machtvolles)
Die Kraft des Zorns ist eine zerstörerische Kraft. Sie zerstört, was aus der Sicht eines höheren Willens, des göttlichen Willens, ein Ende haben muss. Die Kraft des Zorns, verbunden mit Weisheit, beendet zu gegebener Zeit jede Erscheinungsform.
Gefühle, Gedanken, physische Erscheinungsformen – alles hat einen Anfang, eine Lebensdauer und findet ein Ende. Das ist das Gesetz des lebendigen Kreislaufs der Kräfte: Geburt, Leben, Tod. Die Kraft der Angst ist die Kraft der Erhaltung, in den Händen eines Ichs (also in den Händen des Eigenwillens) wird Angst als Flucht vor der Realität der Vergänglichkeit benutzt. Die Kraft des Zorns, die Kraft der Zerstörung, die Kraft des Todes, wird in der Besitznahme durch das Ego zu einem destruktiven Machtwunsch, der Macht des Widerwillens.
Die Ego-fixierte Kraft des Zorns hat viele Gesichter. Es geht um den Machtwunsch, der sich dann im natürlichen Aufstieg der Energie im Laufe der menschlichen Individual-Entwicklung in die beiden oberen Zentren von Intelligenz verfeinert in den Wunsch nach Macht über die Liebe (Herzzentrum) und im Mentalzentrum in den Wunsch nach geistiger Überlegenheit (Rechthaberei, Besserwisserei). Im unteren Energie-Zentrum, dem Bauchzentrum, wandelt sich durch Fixierung der instinktive körperliche Überlebenswille in einen Wunsch nach einem bequemen Leben in körperlichen Wohl-Gefühlen.
Die fixierte Kraft des Zorns wird nun vom Ich, vom Ego, als Gegenkraft gegen das Leben genutzt. „Ich bin dagegen!“ sagt das Ich. Wogegen denn? Gegen alles, was ‚Ich‘ nicht unter Kontrolle habe und das Wohlgefühl bedroht. Dieses Ich leistet zornigen Widerstand gegen das, was ist. Es glaubt, das Leben nach seinem eigenen Willen beherrschen zu können. Eigenwille und Unwille sind Ausdruck dieser fixierten geistigen Haltung.
Das Ich, das in dieser Kraft fixiert ist, ist körperfixiert. Die Kraft ist im Bauchzentrum gestaut und kann nur sehr begrenzt aufsteigen in die höheren Zentren von Intelligenz das Emotionalzentrum und das Mentalzentrum. Auch diese übergeordneten Zentren werden vom Eigenwillen besetzt und so dem Machtwunsch unterworfen.
Im Zentrum des Machtwunsches steht die Fixierung Nummer 9 (der Enneatyp 9), und erstaunlicherweise ist hier zunächst wenig offener Zorn sichtbar. Das Nein, das Dagegensein äußert sich beim Kind vielleicht noch in trotzig-offenem Widerstand, wandelt sich dann aber im Laufe der Begegnung mit begrenzenden Erwachsenen oder anderen begrenzenden Kräften in eine blinde Form von Anpassung an das, was die (äußere) Macht hat. Diese Anpassung ist jedoch immer unterlegt mit verborgenem zornigem Widerstand, der sich nun ausdrückt in passivem Widerstand und Unterlassung von Handlung, wo diese angemessen ist. Die Leidenschaft, das Gift der Bequemlichkeit, beginnt zu wirken. Der von diesem Gift befallene Mensch möchte am liebsten nur noch seine Ruhe, ein konfliktfreies Dasein, Harmonie und körperlich-geistiges Wohlbefinden. Dazu müssen innere Regungen und Impulse, die den Frieden der Anpassung stören könnten, unterdrückt und betäubt werden, und so kommt es zu einem dumpfen maschinenhaften Funktionieren. Der Mensch fällt in den Schlaf der Unbewusstheit. Er wird ein ‚guter Mensch‘. Eine eigene Meinung gibt es nicht mehr, erst bei genauerem Hinschauen zeigt sich ein stures Festhalten am Gewohnten, eine Weigerung, den Herausforderungen zu begegnen und sich weiterzubewegen.
Das Leben im Enneatyp 9 wird bestimmt von dauerhafter Verweigerung kraftvollen Ausdrucks in Handlung. Gefühle werden nur verschwommen wahrgenommen, geistige Interessen und Unterscheidungsvermögen verkümmern. So wird aus einem lebendig-eigenwilligen Kind ein angepasster Erwachsener, der vergessen hat, dass es ihn überhaupt als kraftvolles Wesen gibt. So verweigert er das Menschsein, weiß es aber selber nicht.
In der Angst scheinen wir das Opfer zu sein, das Opfer von Bedrohung, das Opfer potenzieller Feinde. Den Zorn fürchten wir, weil er uns zum Täter macht. Die Kraft des Zorns, wenn sie vom Ich benutzt wird, tritt in Handlung und wird dadurch äußerlich sichtbar: als offene Gewalt, als laute Rechthaberei, als Kampf. Innerlich zeigt sich die Ich-besetzte Kraft von Zorn als Machtwunsch und wird meist verheimlicht. Zorn, das ist NEIN, Nein zum Leben, Nein zu dem, was ist. Widerstand.
Das Über-Ich versucht, den zornigen Machtwunsch unter Kontrolle zu halten. Es sagt Nein zum Nein. Das macht die Sache schlimmer. In der Zusammenarbeit zwischen einem Ich, das bestimmen will, aber auch Konflikten und Unannehmlichkeiten aus dem Wege gehen will, und dem Über-Ich, das sich als ‚guter Mensch‘ präsentieren möchte, entsteht Anpassung und Scheinheiligkeit. So wird der zornig-kraftvolle Machtwunsch unterdrückt. Das Nein verlagert sich von außen nach innen, der Mensch sagt nein zu sich selbst, zum ‚Bösen‘ in sich. Die ursprünglich reine Lebenskraft des Zorns wird durch Kontrolle geknebelt, soll möglichst ganz verschwinden – oder sie wird vom Ich ausgelebt, gerechtfertigt als Verbot und Moral, also scheinbar im Dienst des Guten.
In der 1er-Fixierung (Enneatyp 1) geht es um die Rechtfertigung des Zorns, um Selbstgerechtigkeit. Das Ich maßt sich an zu wissen, was richtig und was falsch ist, es fühlt sich als Richter, seine Sprache ist die des Rechts. Verbote, Moral, Regeln und Vorschriften – das alles entspringt dem zornigen Gedanken: ‚Ich weiß, was rechtens ist‘. Dieses Ich möchte alles geradebiegen, was ihm krumm erscheint, unvollkommen eben. Eine Idee von Vollkommenheit leitet ihn zu selbstgerechten Urteilen an. Hier ist Perfektionismus und Zwanghaftigkeit zu Hause, ein rigides inneres Ordnungssystem, das nicht in Frage gestellt werden darf. Die Orientierung an diesen Ordnungsprinzipien verspricht Orientierung im Chaos der Kräfte und zügelt vor allem die Kraft des Zornes, der sonst unvorhersehbar ausbrechen und zerstören könnte. Dieses Ich ist zorngeladen und möchte ausbrechen. Die Konzentration auf Fehler und Mängel rechtfertigt Zornausbrüche, Zornentladungen, die eine Verschwendung lebendiger Lebenskraft sind und nicht einer intelligenten Entwicklung, in die die natürliche Kraft des Zorns eingebunden ist, dienen.
In der Fixierung Nummer 8 (Enneatyp 8) finden wir offenen Missbrauch der Kraft des Zorns. Hier geht es vor allem um die Vermeidung der Ohnmacht und Schwäche. In der Entfaltung dieser Fixierung finden wir kindliche Geschichten von Gewalterfahrung, körperlichen Missbrauch durch die Eltern, frühe Notwendigkeit, sich zu wehren und zu kämpfen. Oft ging es dabei um reines Überleben.
Als Erwachsener wird dieses Ich glauben, es gehe immer darum, sich zu behaupten und stark zu sein. Offener Kampf um Recht und gegen Unrecht bestimmt das Leben. Dieses Ich möchte sich ein Leben lang rächen für erlittenes Unrecht. In der Logik des 8er-Denkens liegt Schuld immer auf der Seite der Übermächtigen. Sich wehren verkörpert die reine Unschuld, und von dieser ist er oberflächlich überzeugt.
Tief verborgen liegt in diesem Geist die Überzeugung der eigenen Schuld. Das Kind fühlte sich im Grunde schuldig für die Übergriffe und Gewalt, die ihm angetan wurden. Aus der Sicht des Opfers nutzt der Enneatyp 8 nun die Kraft des Zorns für den gerechten Ausgleich, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, die in seinen Augen ebenfalls Opfer der Übermacht anderer sind. Wenn es gerecht zugehen soll in der Welt, dann ist Gewalt eben das einzige, was die rechten Verhältnisse herstellen kann.
Der Enneatyp 8 beansprucht für sich ein lustvolles Leben. Maßlosigkeit und Gewissenlosigkeit bestimmen sein Handeln. Die Aneignung der Kraft des Zorns lassen ihn machtvoll das durchsetzen, was er als Ausgleich für erlittenes Unrecht beansprucht.
Auf dem inneren Weg geht es nicht um Vermeidung von Zorn und Selbstverbesserung, sondern um Einsicht in die Fehlhaltung des Ichs. Der Eigenwille verrennt sich in stures Festhalten am Nein, das Ich tritt den Kampf gegen das Leben an und verliert immer, früher oder später. Es geht darum, sich einer höheren Macht zu beugen – in der Bereitschaft zu Liebe und Wahrheit.
Bericht aus dem Leben eines ‚Ennea-Typ 8‘
von Gerd Schweitzer
1
Wer ihn unvoreingenommen kennenlernt, wird ihn möglicherweise für einen lebenserfahrenen, freundlichen und herzlich humorvollen alten Mann halten. Auch ein manchmal mürrischer, aber doch nicht unsympathischer Grantler könnte eine mögliche Wahrnehmung seiner Persönlichkeit sein. Er ist noch freiberuflich und beratend unterwegs, und wenn er es denn zuließe, könnte man auch guten privaten Umgang mit ihm pflegen. Zurückgezogen lebt er, außerordentlich gern verheiratet, im Einzelhaus mit Garten. Den Zornbolzen in ihm, den er in gewisser Weise wie einen Schutzschild pflegt, können nicht Eingeweihte schwerlich erkennen. Seinen oft unbändigen Zorn, den er selbst kaum beschreiben kann, versteht er dank langer Übung geschickt hinter der Fassade eines lieben Onkels oder eines harmlosen Pensionärs geschickt zu tarnen.
Er fragt sich manchmal schon, ob es ihm wohl besser an-stünde, diese abgrundtiefe, in ihm immer wieder hochschießende Wut angemessener zu bändigen. Immerhin ist er ja schon in der Lage, eine mit Spaghetti gefüllte Schüssel samt Tomatensoße nicht gegen die Wand im Wohnzimmer zu schmeißen, wie er es vor vielen Jahren tat, als er sich im Überlebenskampf ausgebremst fühlte. Auch muss er einen ihn frustrierenden Menschen längst nicht mehr vor die Tür bitten, um eine kontroverse Angelegenheit mit Körperkraft zu regeln. Diese Zorneskraft aber vollständig hinzunehmen, ohne dabei nach irgend einer spektakulären Ausdrucksform (im Außen oder im Innen) zu greifen, möglicherweise sogar STILL damit zu sein, ist für ihn eine unmögliche, absolut lustfeindliche und somit untaugliche Perspektive.
Als er sich kürzlich an der offenen Tür des Wandschranks in der Küche schmerzhaft gestoßen hatte, hatte er die Schranktür, zur Revanche, bereits blitzschnell in festen Händen. Dem Impuls zorniger Entladung – totaler Angriff gegen den zum Feind gewordenen Schrank – konnte er aber widerstehen und die Tür und den Schrank da belassen, wohin sie gehörten. In Scharnier und Verankerung. Diese letztlich bewusst richtige Entscheidung hat Zerstörung verhindert, unangemessen lautstarke Äußerungen (Flüche) fanden kurz noch weiter statt.
Entscheidungen zugunsten eruptiver Entladungen haben so gut wie immer viel Aufwand nach sich gezogen. Die Reste von Spaghetti mit Tomatensoße von der Wand zu kratzen war kein Kinderspiel und lästig die Wand dann neu zu tapezieren war noch lästiger. Eingetretene Türen oder von der Wand gerissene Schränke wieder in Funktion zu festigen (oder gar neu anzuschaffen) war noch dazu kostspielig, noch arbeitsaufwendiger, also noch lästiger.
Dennoch, damit das klar ist, an NICHTS anhaften, STILL sein, mag für Milchknaben und verweichlichte Typen erstrebenswert sein. Diese Spaßverderber und nutzlosen Weicheier straft er mit Verachtung, zumindest sind sie allemal langweilige Zeitgenossen. Beachtet gefälligst: Wo ich bin ist vorn. Und wenn ich hinten bin, ist hinten vorn. Seine unumstößliche Devise.
2
Den Zorn hält er für nützlich. Er hat ihn gegen Angreifer, erkorene Feinde und andere Kontrahenten mehr oder weniger geschützt. Diese Art von Zorn liegt ihm im Blut, mit ihm hat er überlebt – als Nachkriegskind und einziger Spross einer proletarischen Familie. In einem stark industriell geprägten Stadtteil aufgewachsen, in dem bis in die 60er Jahre hinein raue Sitten herrschten, sahen sensible Gemüter sehr alt aus. Seine Gewöhnung an diese Umwelt erfolgte auf dem Schulhof und auf der Straße, auf denen oft körperliche Gewalt herrschte. Sein Elternhaus war, wie schon gesagt, proletarisch und seine Erziehung, in materiell bester Geborgenheit, war denn auch keineswegs zimperlich. Der aus Angst vor dieser Gewalt geborene Zorn wurde als Selbstverteidigung (auch im Sprachstil) zu seiner Waffe und hat daher immer schon sein Leben bestimmt.
3
Erst vor kurzem wäre es durch ihn fast zum Eklat in einer Bücherhalle gekommen. Sein Auftritt war so publikumswirksam, dass der Wachdienst vom Leiter dieser Einrichtung zur Hilfe herbei gerufen wurde. Er hatte sich ziemlichen Ärger eingehandelt, und hätte er nicht noch eben die Kurve gekriegt, wäre es für ihn wohl übel ausgegangen. Und das trug sich so zu: Es hatte ihn nach einem ganz bestimmten Roman vom Günter Grass verlangt, den die Provinzbibliothek seines Wohnortes aber nicht vorrätig hatte. Schon mit leichtem Unmut folgte er der Empfehlung der dortigen Bibliothekarin, über den Fluss in eine der nächstliegenden Bücherhallen der Stadt zu fahren, wo er mit Sicherheit fündig werden würde. Auf der Fahrt in die Stadt von irgendeinem Lackaffen im BMW verkehrswidrig geschnitten zu werden, versetzte ihn schon so in Rage, dass er in seinem Opel wie ein Wahnsinniger herumbrüllte und eine unbändige Lust bekam, diesen Typen auszubremsen, aus dem Wagen zu ziehen und ihm in die Fresse zu schlagen. Durch Umleitungen, die ebenfalls grenzwertigen Langmut einforderten, gelangte er dann endlich ans Ziel.
Zunächst wieder entspannt dann in der Bücherhalle aufgelaufen, wollte er an einem der Kunden-PCs nach dem Standort des Buches forschen, fand aber alle Geräte von Kundinnen besetzt. Warten zu müssen nervte bereits, dem Impuls sich einen Platz zu erstreiten, folgte er dennoch nicht. Er hätte natürlich den Raum mit den vielen Regalen selbst durchforschen können, was ihm aber zu aufwendig erschien. So steuerte er zielstrebig einen Schreibtisch vor der Romanabteilung an, um Orientierung zu erbitten. Ein Schild mit Namen und Funktion wies den dahinter Sitzenden, den ein Buch lesenden Mann mittleren Alters, als Leiter der Dienststelle aus. Auf ihn wirkte dieser Mann, langhaarig mit grauem Spitzbart und im Rollkragenpullover, verstaubt, verkopft und energetisch abweisend. Durch den Spitzbart getriggert, belegte er ihn mit dem Namen ‚Ziegenkopf‘.
Er wartete zunächst geduldig vor dessen Schreibtisch, wartete also darauf, von diesem Menschen beachtet oder wenigstens wahrgenommen zu werden, doch der las ohne aufzublicken weiter. Nun machte er sich durch forsches Räuspern bemerkbar. Der Ziegenkopf blickte endlich auf, und er brachte, durchaus friedlich-freundlich gesinnt, sein Anliegen vor. Wo, in welchen Räumen, in welchem Regal fände er den ersehnten Grass´schen Roman? Dafür gibt es die Kunden-PCs, antwortete ihm der Ziegenkopf. Die sind alle besetzt, sagte er. Ob er wohl mal kurz in seinem PC nachschauen könnte. Er fühlte Zorn aufsteigen und wies auf den PC auf dem Schreibtisch. „Oder ist der nur für Ihre Videospiele?“
Er war jetzt sicht- und spürbar im Groll, aber der Ziegenkopf entsprach jetzt endlich seiner Bitte. Freundlichkeit hätte zu nichts geführt, dachte er und fühlte sich bestärkt. Der Ziegenkopf sah nach und stellte fest, dass dieser Roman vorrätig ist, aber noch für drei Wochen ausgeliehen war. Ohne sich für die Auskunft zu bedanken, wandte er sich ab.
4
Zunächst stöberte er lustlos in einem Regal mit Neuerscheinungen und beschloss dann, den Grass´schen Roman vorzubestellen. Er wandte sich an die Information, an der sich jetzt bei der Datenerfassung herausstellte, dass der Jahresbeitrag fällig wäre. Da er zu wenig Bargeld mitführte, verwies ihn die Angestellte an einen Kassenapparat, der EC-Karten annahm. Aber alle Bemühungen, seine Karte einzuführen, scheiterten. Zorn kochte hoch, und nach mehreren Versuchen gab er auf und schaute sich nach Hilfe um. Hilfe schien zu nahen, als eine sehr füllige kleine Angestellte in körperengem auberginefarbenem Kleid aus einem Büro gleich neben dem Kassenapparat herauskam, die er, bevor sie an ihm vorbeieilen konnte, rasch ansprach und um Unterstützung bat.
Die Frau, auf dem Etikett als Kundenbetreuung ausgewiesen, erwies sich keineswegs als unterstützend. Im Gegenteil vermittelte sie den Eindruck, als würde sie von ihm unzumutbar belästigt. Dennoch riss sie ihm die EC Karte fast aus der Hand und wandte sich forsch dem Kassenapparat zu. Er folgte ihr zähneknirschend. Er war wütend wegen dieser wenig kundenfreundlichen Behandlung, blieb aber äußerlich noch beherrscht. Doch eine tiefe Verachtung nahm dafür in seinen Gedanken jetzt Raum: Was bildet sich diese kleine dicke ‚Grützwurst‘ (so sah sie aus!) ein? Diese unattraktive und mürrische Frau, dem Aussehen nach wahrscheinlich ohne einen Partner, wahrscheinlich mega-frustiert, weil hoffnungslos untervögelt.
In seinem Körper stieg Wut mit Lust zum Ausagieren auf, die aber hier zurückgehalten werden musste, was in seiner Gemütslage immer noch schwierig war. Nachgeben wäre für ihn ein immenser Imageverlust, irgendwie müsste er der Grützwurst noch seine Überlegenheit beweisen. Ihr eine saftige Schelle verpassen, das wär’s jetzt gewesen! Er brauchte dringend irgendein Ventil.
Im Bemühen um die Kontrolle, nicht auszuflippen, hatte er nicht mehr mitbekommen, dass durch die Grützwurst die Angelegenheit derweil geregelt war. Vorwurfsvoll plappernd über das, was er offensichtlich falsch gemacht hatte, wurde er nun von ihr aufgefordert die PIN einzugeben. Er tippte die PIN ein, alles klappte. Die Grützwurstwandte sich ab und ging. Tschüss, du Sau! – hörte er sich sagen. Nicht leise, in sich hineingesprochen, aber auch nicht in den Raum gebrüllt. Aber klar und deutlich und für alle in der Halle hörbar.
5
Die Atmosphäre im Raum veränderte sich jetzt schlagartig. Eine tiefe Stille war plötzlich eingetreten. Menschen, die in Regalen stöberten, am PC saßen oder in den Nischen lasen, die Angestellten an den Infotischen, allesamt hielten in ihren Tätigkeiten inne, schienen wie gelähmt. Seine Worte standen im Raum und klangen in ihm fühlbar nach, er fühlte sich einerseits gut, andererseits hatte er das Gefühl, sich zu weit vorgewagt zu haben. Die Grützwurst, die schon fast hinter dem Kassenautomat verschwunden war, stand betroffen und fast aufgelöst wieder vor ihm. In die Stille hinein sagte sie, dass sie sich so etwas nicht sagen lassen müsste. Dabei wirkte sie nicht zornig, eher wehleidig und anklagend.
Wieder veränderte sich die Atmosphäre daraufhin schlagartig. Jetzt aber mit einer erwachenden und langsam anschwellenden Empörung. Er warplötzlich umzingelt von aufgebrachten Menschen, und er registrierte verwundert, dass es außer dem Ziegenkopf ausschließlich Frauen waren. Wie hinter einer Mauer weiblicher Körper sicher geborgen, ragte der Ziegenkopf hervor,während er sich im Inneren des empörten Frauenkreises befand. Die Grützwurstbekam jetzt solidarische Zustimmung in lautstarken Bekundungen. „Flegelhaft und unverschämt, das muss man sich nicht bieten lassen“, waren einige der vielen Äußerungen. Frauen unterschiedlicher Jahrgänge und in unterschiedlichen Stimmlagen gaben ihren Unmut kund. Der Aufstand um ihn herum reichte ihm jetzt. Er wollte fortgehen. Als er betont langsam dem Ausgang zustrebte, hörte er, wie die Frauen jetzt auf den Ziegenkopfeinredeten. „Wachdienst rufen und Hausverbot im Center erteilen“, damit wollten die Frauen Leitungspräsenz zur Sühne der Untat einfordern.
Auf den Wachdienst hatte er absolut keine Lust.
6
Der Wachmann kam die Rolltreppe hoch, gerade als er hinunter zum Ausgang wollte. Laute Rufe von Frauen auf der Balustrade, die erregt auf ihn hinwiesen, machten den Wachmann auf ihn aufmerksam. Er blieb vor der Rolltreppe stehen. Gern hätte er die Begegnung vermieden, aber jetzt war es besser, sich zu ergeben. Der Wachmann war ein stämmiger Mann mit freundlichem Gesicht und wahrscheinlich türkischer Abstammung. Er reagierte anders, als von ihm befürchtet, und das erstaunte und beeindruckte ihn. Ohne militanten Zugriff nahm er ihn ruhig beiseite und aus der Reichweite des Stromes neugierig stehengebliebener Passanten. Er forderte ihn auf, ihm erst einmal seine Version des Vorfalls zu schildern, zu dem er gerufen worden war. Er hielt es jetzt rein taktisch für angebracht, dem Wachmann gegenüber Reue vorzutäuschen. Nachdem er aufmerksam zugehört hatte, fragte ihn der Wachmann, ob er mit ihm wieder hineingehen und sich für seinen Ausfall entschuldigen wolle. Ohne Widerstand war er dazu bereit.
In Begleitung des Wachmanns stand er dann wieder vor der erwartungsvoll versammelten Frauenschar, vor der Grützwurst und dem Ziegenkopf. Seine Entschuldigung kam ihm, ehrlich wirkend, über die Lippen. Als er in Augenkontakt mit der Grützwurst auch ihren Anteil ansprach, nickte diese sogar zustimmend. Sie sei heute auch sehr gestresst gewesen. Mit Handschlag verabschiedete man sich und derZiegenkopf nahm sein Hausverbot zurück.
7
Vorm Center gelüstete es ihn nach all diesen Turbulenzen nach einem Bierchen, und so strebte er zügig einer Eckkneipe zu, die er aus alten Zeiten kannte. Die innere Stimme, die ihn vor Alkoholgenuss warnte, überhörte er. Er wäre wohl allemal noch dazu in der Lage, nach einigen wenigen Bierchen mit den natürlich dazu gehörenden Doppelkörnern, seinen Opel sicher zurück über den Fluss zu lenken.
Er erwachte am nächsten Morgen mit heftigen Kopfschmerzen auf dem Sofa seines Wohnzimmers und hatte keine Ahnung, wie er dahingekommen war. Seine Frau war stinksauer. Einen starken Kaffee bekam er, trotz demütiger Bitte, diesmal nicht von ihr serviert. Dafür klingelte die Polizei an der Tür. Ob ihnen der lädierte Opel Corsa gehören würde, der quer vor der Einfahrt des Nachbarn abgestellt worden war …