Die Geburt des Löwen - OM C. Parkin - E-Book

Die Geburt des Löwen E-Book

OM C. Parkin

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Beschreibung

Der "Löwe" ist wieder lieferbar - Neuauflage jetzt bei advaitaMedia! Die Geburt des Löwen schildert in der einleitenden Autobiographie auf beeindruckende Weise, wie ein westlicher Mensch unserer Zeit nach einer Nahtoderfahrung zur WIRKLICHKEIT erwacht. In den Dialogen zur Selbsterforschung (Darshan) konfrontiert OM C. Parkin den Leser unmittelbar mit der wesentlichen Frage: Wer ist jenes 'Ich', auf das wir das Glück und Unglück unseres Lebens, unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen? Dabei demaskiert er schonungslos die Arroganz, das Festhalten am Leiden und die Fluchtmanöver des Egos angesichts der Wahrheit, dass Erleuchtung jetzt ist.

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Seitenzahl: 566

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DIE GEBURT DES LÖWEN

OM C. Parkin

OM C. Parkin

Die Geburt des Löwen

Dialoge zur Selbsterforschung

OM C. Parkin

DIE GEBURT DES LÖWEN

Dialoge zur Selbsterforschung

Neuausgabe

©2018 advaitaMedia GmbH

advaitaMedia – Weisheit aus der Stille

Am Gutspark 1, D-23996 Saunstorf

[email protected]

www.advaitamedia.com

Deutsche Erstausgabe: Verlag Alf Lüchow 1998

Konzeption, Bearbeitung, Lektorat: Chandravali Schang

Cover & Satz: Katja Dorow-Schwart

Umschlagmotiv nach der Erstausgabe von Peter Krafft Designagentur

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-936718-54-6

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige, auch elektronische Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Gewidmet in Liebe und WahrheitGangaji,meinem Selbst

Einmal griff eine Löwin eine Herde von Schafen an. Sie war trächtig, und während des Angriffs verlor sie ihr Junges und starb. Doch der junge Löwe überlebte und wuchs in der Schafherde auf. Die Schafe grasten auf den Wiesen, und der junge Löwe lernte, es ihnen gleichzutun. Sie blökten, und der junge Löwe versuchte, sie nachzuahmen. Im Laufe der Zeit wurde ein ausgewachsener Löwe aus ihm. Eines Tages tauchte ein anderer Löwe auf, um die Herde anzugreifen. Zu seinem Erstaunen erblickte er in der Herde den Löwen, der sich wie ein Schaf benahm. Er jagte ihn und als er ihn beim Genick packte, begann der andere Löwe ängstlich zu blöken wie ein Schaf. Unbeeindruckt zerrte er ihn zum nahe gelegenen See. Er zeigte ihm das Spiegelbild zweier Löwen auf der Wasseroberfläche und sagte: »Sieh’, du bist auch ein Löwe, genauso wie ich selbst. Jetzt friss dieses Stück Fleisch.« Mit diesen Worten zwang er ihm das Fleisch in sein Maul. Doch der Schafs-Löwe weigerte sich. Er blökte verzweifelt und behauptete immer noch, er sei ein Schaf. Doch als er das Blut leckte, da wurde plötzlich sein schlafender Instinkt geweckt, und er begann, das Fleisch zu fressen. Da sagte der alte Löwe: »Hast du jetzt begriffen, dass du genauso wie ich bist? Komm mit mir in den Wald.« Auf diese Weise lässt der Lehrer den Schüler sein wahres Selbst erkennen.

Frei übersetzt aus: Sayings of Sri Ramakrishna, Madras 1971

INHALT

Vorwort zur Neuauflage

Vorwort

TEIL I

Die Geburt des Löwen

Eine Autobiographie

Die Suche nach einer anderen Realität

Der Pakt

Die Romantik des Todes

Der Anfang vom Ende eines Traumes

Die Geburt des Löwen

Brennen im Nichts

Zurück auf dem Marktplatz

TEIL II

Dialoge zur Selbsterforschung

Satsang

Leiden

Der Ich-Gedanke ist der Quell des Leiden

Schuld und Vergessen

Der Wunsch zu leiden

Die Leugnung des Leidens

Die Verheißung der unerfüllten Wünsche

Bequemlichkeit, Angst und Zorn

Leiden ist eine Täuschung

Der Wunsch nach Befreiung

Sterben ins Unbekannte

Lehrer und Schüler in der Nicht-Lehre

Selbsterforschung

Wer bin ich?

Was ist der Geist?

Von ICH zu Ich: Der scheinbare Selbstschrumpfungs-Prozess durch Identifikation mit dem Denken

Jenseits der Subjekt-Objekt-Beziehung: Das Auge kann sich selbst nicht sehen

Der Schmerz des Erwachens

Die Kunst des Nicht-Tuns

Erkenntnis: Der Fall ins Bodenlose

Meditation ist Stille jenseits von Bedingungen

Die Realisation des Selbst: Keine Person wird »erleuchtet«

So-heit ohne Bedeutung

Frei von Laster, frei von Tugend

Liebe ohne Beziehung

Im Fluss des Seins

Glossar

Biografie – OM C. Parkin

Bibliografie – OM C. Parkin

Vorwort zur Neuauflage

Zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung freuen wir uns, „Die Geburt des Löwen – Dialoge zur Selbsterforschung“ für die deutschsprachigen Leser jetzt im Verlag advaitaMedia wieder neu herausbringen zu können und damit alle Bücher von OM C. Parkin lieferbar in unserem Programm zu haben.

Der „Löwe“ hat nach seinem Erscheinen 1998 mehrere Auflagen erlebt, erschien dann gekürzt als Taschenbuchausgabe, und es folgten Ausgaben auf Englisch, Französisch und Spanisch. Seit dem Jahr 2017 ist es auch mit einer eigenen Ausgabe in den USA verfügbar.

Im Jahre des ersten Erscheinens war die sogenannte Satsang-Welle auf ihrem Höhepunkt, angetrieben von der Hoffnung vieler auf schnelle Erleuchtung. OM sagte später in einem Interview dazu:

„Die Satsang-Welle war ein Strohfeuer. Dieses Strohfeuer brannte vielleicht 15 Jahre. Und nachdem das Strohfeuer abgebrannt war, zeigte sich, dass sich die Jahrhunderte alten Bedingungen, unter denen Menschen einen Weisheitsweg zu gehen haben, durch dieses Strohfeuer nicht verändert haben. Es war für viele auch so etwas wie ein kurzer Rausch, in dem sie Erleuchtung für so nah hielten wie nie zuvor und dem naiven Glauben erlagen, auf ihre „Hausaufgaben“ der inneren Praxis verzichten zu können. Denn angeblich, so hatten sie im Satsang gehört, war doch alles nur eine große Illusion. Doch dann kehrte die große Ernüchterung ein. Die Party war vorbei. Übriggeblieben sind wenige, dafür umso ernsthaftere Schüler des Weges: Suchende, Findende, Erkennende.

Die Weisheitslehre lehrt menschliche Reifungsstufen, die universellen Gesetzmäßigkeiten der Bewusstseinsevolution unterliegen. ... Es gibt eine universell zu beobachtende Reihenfolge von Stufen, oder Wellen, durch welche die Evolution in jedem Menschen fortschreitet. Niemand kann diese Gesetzmäßigkeiten aushebeln oder Stufen überspringen.“

OM C. Parkin hat sich die Vermittlung der universellen Weisheitslehre, der philosophia perennis, zur Aufgabe gemacht. Die unermüdliche Lehrtätigkeit und die umfangreichen Schriften (siehe Bibliographie S. 474) zeugen von seinem tief gegründeten inneren Anliegen, den Suchenden auf dem inneren Weg zu begleiten. Zur Lehre selbst sagt er:

„Die reine Advaita-Lehre ist eine absolut radikale, anarchische Lehre, die jede Strukturierung einer Lehre, jede Konzeptlehre beendet. Eine Lehre, die alles zerstört, was zu zerstören ist, bis nichts mehr übrig bleibt, außer DEM. Advaita-Vedanta ist keine Lehre – es ist das Ende der Lehre, das Ende des Wissens. Eine Nicht-Lehre. Dass die Nicht-Lehre allerdings nicht das Gegenteil von Lehre ist, das ist dem Unwissenden genauso wenig deutlich, wie die Tatsache, dass die advaitsche Lehre keine reine Seins-Lehre sein kann, sondern nur eine SEINS-Lehre, in der Sein und Werden sich vereinigen. Die Vermittlung der gesamten Weisheitslehre, der philosophia perennis, enthält beides: strukturierte Lehrformen und vollständige Auflösung der Strukturen, Lehre und Nicht-Lehre, die absolute Wahrheit und relative Wahrheiten über kosmische Gesetze, die absolute Liebe und menschliche Liebe.“

In seinem 2018 erschienenen Buch Spirituelle Meisterschaft beschreibt er die Weiterentwicklung von der klassisch indischen Advaita-Lehre zur Vollendung der paradoxen Vereinigungslehre, die er, wie auch Sri Aurobindo, als integralen Yoga bezeichnet.

Der zentrale Ort, an dem OM lehrt, ist das von ihm gegründete moderne Kloster Gut Saunstorf – Ort der Stille. Hier hat die in den 90er Jahren gegründete Mysterienschule ihren Sitz, in der der Weg des integralen Yoga gelehrt und praktiziert wird und hier sind Suchende eingeladen, OM im Darshan zu begegnen.

Der „Löwe“ – OMs erstes umfangreiches Werk – ist für viele Menschen die erste tiefere Berührung mit einem deutschsprachigen erwachten Weisheitslehrer gewesen, und auch noch heute geben viele Darshanbesucher dieses Buch als initialen Grund ihres Kommens an. Jetzt steht es allen interessierten Lesern wieder zur Verfügung.

Jürgen Stöhr Saunstorf, im Sommer 2018

Vorwort

»Aus Unwissenheit erscheint dieses Universum vielförmig, aber in Wirklichkeit ist all dieses Brahman, das bleibt, wenn alle mangelhaften Geisteszustände zurückgewiesen sind. Alles, was man von Brahman getrennt glaubt, hat keinen Seinsgrund. Das höchste Brahman ist die einzige Wirklichkeit, ohne ein Zweites. Es ist reine Weisheit, makellos, vollkommener Friede ohne Anfang und ohne Ende, tatenlos und das Wesen unvergänglicher Seligkeit. Wenn alle Unterschiede, die von der Maya (Illusion) geschaffen werden, zurückgewiesen sind, dann bleibt etwas Selbst-Leuchtendes, das ewig ist, makellos, unermesslich und unzerstörbar: Die Weisen erkennen es als die höchste Wahrheit, die absolutes Bewusstsein ist, in dem der Erkennende, das Erkannte und das Erkennen vereinigt sind, unendlich und unwandelbar.

Gib die Vorstellung eines Ichs in Familie, Sippe, Name, Gestalt und Lebensstellung auf, die alle von diesem physischen Körper abhängen, und werde die wesenhafte Form, die absolute Seligkeit ist, nachdem du auch die Eigenschaften des feinen Körpers sowie das Gefühl, Täter zu sein, aufgegeben hast. Erst nach dem vollständigen Verschwinden des Ich-Gefühls und nach der Vernichtung all seiner trügerischen Kundgebungen entdeckt man die wesentliche Wahrheit ›DAS bin ich‹ durch die Unterscheidung zwischen dem falschen und dem wahren Selbst.«

Das Kleinod der Unterscheidung, Shankara (788–820 n.Chr.)

Als jemand, der die Perlen der Verwirklichung, die in den Texten der Weisheitsliteratur zu finden sind, liebt, könnte ich obige Zitate mit endloser Begeisterung fortsetzen. Mit welcher Klarheit wird das Wesen von Erleuchtung trotz begrenzter sprachlicher Mittel, trotz der Übersetzung und trotz der Kluft von über tausend Jahren in diesen Versen zum Ausdruck gebracht!

Ich hatte in den vergangenen 25 Jahren das Glück gehabt, auch physisch solchen »Kennern des Absoluten« begegnet zu sein. Die Begegnung mit Anandamayi Ma z.B. war und ist für mich der lebendige Beweis dafür, wie sich Gottverwirklichung auch heute noch offenbaren kann. Nachdem ich viele Jahre lang eher der traditionellen Überlieferung der Bhakti (der liebenden Hingabe an ein erwähltes Ideal) gefolgt war, hatte in den letzten Jahren auch Jñana, der Weg der Erkenntnis und Selbsterforschung, an Bedeutung gewonnen. Die Lehren Shri Ramana Maharshis und Nisargadattas vermittelten tiefe Einsichten in das unvergängliche innere Wesen und bauten vor allen Dingen keine neuen Grenzen auf, wie sie sonst durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Wegen und Traditionen allzuleicht entstehen. Vielleicht war ihre nackte Klarheit und die Unerbittlichkeit ihrer Erforschung der eher männliche Pol des Erkennens, welcher jetzt anstand.

1996 erzählte mir ein Bekannter von einem Deutschen, der nach einem Autounfall das Erwachen zu seinem wahren Selbst erfahren hatte. Die Broschüre »Mythos Erleuchtung« fiel mir in die Hände. Ich begann, sie beiläufig zu lesen, anfangs mit der Einstellung: »Aha, wieder ein neuer sogenannter Erleuchteter ...« Schließlich waren die historisch glaubhaft Befreiten bisher eher in Indien angesiedelt und liefen einem hier nicht gerade zahlreich über den Weg. So ein Anspruch musste doch erst einmal kritisch beäugt werden ...

Beim Lesen des Textes traten diese Überlegungen jedoch bald in den Hintergrund. Ich bekam Herzklopfen, und eine innere Beschleunigung trat ein, ein Gefühl, als ob das Kartenhaus aller zurechtgelegten Konstruktionen wie »das bin ich und das ist die Welt« zusammenbrach. Ein »Fall ins Bodenlose« geschah, in dem alle Stützen entzogen wurden und der illusorische Charakter von Chandravali und ihrer Welt bloßgelegt wurde. Das, was ich über »reines Bewusstsein« in den Schriften gelesen hatte, war plötzlich keine theoretische Aussage mehr.

Hatte dieses Erleben etwas mit OM C. Parkin zu tun, dessen Interview ich gerade gelesen hatte? Hatte »ich« etwas mit »ihm« zu tun? Vom inneren Gefühl her war es eher ein Teilhaben an dem ohnehin immer präsenten, gleichen Hintergrund, der sonst wie eine Leinwand vom Geflimmer unseres Lebensdramas überschattet wird, aber niemandem »persönlich« gehört. Wie auch immer, ich fuhr einige Wochen später zu einem Satsang mit OM, doch die physische Begegnung war verglichen zur inneren Erfahrung nicht ausschlaggebend. Vielleicht diente sie eher dazu, »Werkzeuge« zu verbinden, in diesem Fall Lektorin, Autor und Verlag des Buches, das Sie gerade lesen. Kurz vor Weihnachten kam ein Anruf von OM, ob ich mir vorstellen könne, aus den Tonbandaufzeichnungen seiner bisher gehaltenen Satsangs ein Buch zusammenzustellen. Ich war begeistert, beinhaltete das doch Arbeit und Vertiefung spirituellen Erkennens in einem. Ich erinnere mich, als ich die ersten 50 Seiten von OM erhielt. Ein merkwürdiges Gefühl des Schwindels, als trete ich in leeren Raum, kam zuweilen auf.

Die etwa 500 Seiten Material stammten sowohl aus Satsangs, die OM zwischen Dezember 1994 und März 1997 gehalten hatte, als auch aus Interviews mit dem Journalisten Christian Salvesen, die zu speziellen Themen gemacht worden waren. In den Satsangs begleitet OM den fragenden Sucher in seinem eigenen Prozess der Erforschung, es wird also spontan die Ausgangssituation der jeweiligen Person einbezogen. Die Interviews behandeln auch übergreifende Fragen philosophischer Natur. Das Ordnen des Materials geschah wie das organische Wachstum einer Pflanze, es fügte sich nach einem inneren Gesetz. Wiederholungen und Überschneidungen waren nicht immer vermeidbar, um den Zusammenhang zu bewahren. Die Aussagekraft und Authentizität des Materials machte mich betroffen. Ungefiltert von einer Übersetzung lag hier ein Zeugnis des Erwachens und eine präzise Anleitung zur Selbsterforschung in deutscher Sprache vor, gepaart mit dem unbestechlichen Einfühlungsvermögen eines westlichen Psychologen in die falsche, hemmende Struktur des persönlichen Ich!

Die Lehre des Advaita, der Nicht-Dualität, ist nicht mit Ramana Maharshi versiegt oder in Indien geblieben. Unaufhaltsam strahlt ihre stille Kraft im Westen weiter, lädt zum Satsang ein und entblößt den Mythos, mit dem der Mensch des Westens Erleuchtung als fern vom Hier und Jetzt umgeben hat.

Weggefährten, die traditionellen Pfaden treu geblieben waren, blieben z.T. kritisch distanziert, zudem OM keineswegs darauf bedacht ist, ein traditionelles Heiligenbild zu untermauern. Eine Freundin jedoch meinte: »Vielleicht will Gott damit zeigen, dass Erleuchtung auch außerhalb der Tradition möglich ist.« Wie unwesentlich und blass diese Begriffe »außerhalb«, »innerhalb«, »traditionell«, »untraditionell« jedoch angesichts der grundlegenden Wahrheit sind. Sie haben letztlich keine Bedeutung. Die gesprochenen Worte sind nicht OM’s persönliche Botschaft oder sein Auftrag für die Welt.

»Bist du dir sicher, dass ich das alles gesagt habe?« fragte OM mich einmal während der Woche, in der wir gemeinsam an dem Buch arbeiteten. Die Wildgänse fliegen über das Wasser und spiegeln sich. Es ist weder ihre Absicht, ein Spiegelbild zu erzeugen, noch die des Sees. Es geschieht.

OM ist der Klang des Absoluten. Er gehört niemandem, aber jeder darf ihn hören. In der Stille des Herzens offenbart sich, dass du DAS bist, was du suchst.

Chandravali Schang Lohmar, im November 1997

TEIL I

Die Geburt des Löwen

Eine Autobiographie

Die Suche nach einer anderen Realität

Als ich 18 Jahre alt war, wurde es plötzlich ganz schlimm. Von außen betrachtet, schien es sich lediglich um die Krise eines Jugendlichen zu handeln, der sich mit den Unsicherheiten und Ängsten vor dem Eintritt ins Erwachsenenleben plagt. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein Leben ganz normal verlaufen. Ich hatte eine behütete Kindheit erfahren und war in einer Mittelklassefamilie in einem wunderschönen Luftkurort in der Nordheide bei Hamburg großgeworden. Wir wohnten in einem geräumigen Landhaus mit einem herrlichen, großen Garten. Da das Haus direkt am Waldrand stand, konnten wir Kinder den Wald als einen großen Abenteuerspielplatz nutzen und uns austoben. Als Erstgeborener war ich das Wunschkind meiner Eltern gewesen. Natürlich gab es große Eifersuchtsszenen, als meine Geschwister geboren wurden und mir meinen Platz strittig machten. Doch insgesamt war es genau diese natürliche Dynamik des Familienlebens, die Ausdruck einer scheinbar relativ gesunden Familienstruktur war, welche mir Halt gab. Der gewohnheitsmäßige Tagesablauf, die Einbindung in schulische und familiäre Aktivitäten, in Sport und Spiel, hatten eine versteckte Unzufriedenheit und Freudlosigkeit aber nur mehr oder weniger erfolgreich verborgen. Rückblickend kann ich sagen, es war eine latente Depression.

Gerade hatte ich mit wenig Elan das Abitur bestanden, da tat sich plötzlich ein großes schwarzes Loch in mir auf, für das sich keine Ursache finden ließ. Gewiss, schon seit einigen Jahren hatte es dunkle Vorzeichen gegeben. Nichts hatte mir in der Schule so recht Freude bereitet, ich hatte begonnen, die ersten Drogenerfahrungen zu machen und war mit der Polizei in Konflikt geraten.

Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen hatten meine Wahrnehmung für Bereiche geöffnet, in denen ich mich meinem Ursprung »irgendwie näher« fühlte als im Normalbewusstsein, und ich begann zu ahnen, dass mit der Wahrnehmung im täglichen Bewusstsein »irgendetwas nicht stimmte«. An diesem Punkt begegnete ich zum ersten Mal bewusst einer großen Macht, welche die Wahrnehmung bestimmte, sie auf eine bestimmte Realität fixierte: der Psyche. Das Tor zu einer anderen Realität, einer inneren Realität, war aufgetan worden. Was jedoch grausam war, war, dass der Zugang zu dieser inneren Welt in seiner Fülle und Vielfalt nur durch den Einfluss von Drogen möglich schien. Jedes Mal, wenn die Reise vorüber war, wurde ich erbarmungslos wieder hinausgestoßen aus den Toren des vermeintlichen Paradieses. Ich war gefangen. Ein Gefangener meiner Wahrnehmung. Unter diesen Umständen sah ich nur einen einzigen Ausweg. Ich musste mehr über diese Psyche erfahren. Ich hatte die Gewissheit gewonnen, dass es eine unsichtbare Macht gab, die sich hinter der Welt oder dem, was meine Wahrnehmung mir als »die Welt« weismachen wollte, verbarg. Ich wollte alles daransetzen, um herauszufinden, wer oder was das war. Das äußere Leben, Essen, Trinken, Arbeiten, ja selbst jugendliche Vergnügungen erschienen mir eher eine Bürde zu sein, ein notwendiges Übel. Es war mir lästig und bereitete mir selten wirkliche Freude.

Was lag jetzt näher als mich für einen Studienplatz in Psychologie zu bewerben? Ich hatte Glück. Über das Ausländerkontingent bekam ich trotz hohem Numerus clausus einen der heiß begehrten Studienplätze an der Uni Hamburg. Um es kurz zu machen: Ich lernte viel über Statistiken und über psychologische Tests, doch über das Wesen der Psyche selbst lernte ich wenig. Dennoch halfen mir das Studium und vor allen Dingen das »Drumherum«, die Begegnung mit anderen Studenten usw., in meiner Erforschung weiterzukommen. Nach drei Jahren brach ich das Studium unmotiviert ab. Zu diesem Zeitpunkt begegnete ich auf einer Messe für Gesundheit, Psychologie und Esoterik meinem ersten Lehrer. Er war Marokkaner und war in die Lehre nordafrikanischer Sufis gegangen. Diese haben ausgefeilte Techniken entwickelt, um durch monotone, rhythmische Bewegungen, Atemtechniken und das Wiederholen bestimmter Laute erweiterte Bewusstseinszustände zu erlangen, die er als Trancen bezeichnete. Die Möglichkeit, solche Zustände auch ohne Zuhilfenahme von Drogen zu erlangen, reizte mich ungemein. Ich befand mich auf einer verzweifelten Suche. Rückblickend muss ich allerdings sagen, dass mir weder bewusst war, was genau ich suchte, noch war mir die Verzweiflung wirklich bewusst.

In einem Moment der Klarheit schrieb ich in mein Tagebuch:

»Mein Ziel ist der Heilsweg. Der Heilsweg ist der Weg der Einswerdung mit Gott. In diesem Leben wird es ein Ende ganz sicher nicht geben. Dafür sind die Bequemlichkeiten, die Ablenkungen zu groß, die Verlockungen zu unüberschaubar.«

Erst Jahre später, nachdem ich mich von meinem Lehrer längst wieder getrennt hatte, sollte ich erkennen, dass ich unterbewusst im Kontakt mit dem »Übersinnlichen« zunächst etwas ganz anderes gesucht hatte: die Erfüllung eines unbewussten Wunsches nach Macht. Ein folgenschweres Missverständnis, wie sich später herausstellen sollte ...

Der Pakt

Ende der 80er Jahre arbeitete ich eng mit einem Kreis von Wahrheitssuchenden in Österreich zusammen. Ein- bis zweimal im Jahr trafen wir uns zu gemeinsamen Nachtritualen, in denen wir uns gegenseitig auf Reisen nach innen begleiteten.

In jener Nacht hatte ich die Reise mit dem vermeintlich harmlosen Anliegen eröffnet, mehr darüber erfahren zu wollen, woher meine Grundangst gegenüber anderen Menschen und der ganzen Welt stammte.

Plötzlich fand ich mich in einem Kellergewölbe wieder. Unterirdische Gänge waren in den Fels geschlagen, welcher durch das Licht der Kerzen an den Wänden kupfern schimmerte. Eine festliche, eine erhabene Stimmung ging von diesen Gewölben aus, als ich mich durch die langen Gänge bewegte und in einen großen runden Saal mit einer Kuppel eintrat.

Der goldene Glanz der großen Altarkerzen erhellte den Raum nur spärlich. Es herrschte absolute Stille. Ich schaute in den Kreis. Sie waren zusammengekommen für dieses Ritual. Satan und seine Hohenpriester: die Herrscher der Unterwelt, zwölf an der Zahl, elf mächtige Gestalten in schwarzen, wallenden Gewändern, einer in Weiß. Ich wusste um meine innere Führung. Das gab mir absolutes Vertrauen. Der Ablauf eines jeden Bildes oder Gedankens geschah in der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Ich war gekommen, um den Pakt zu lösen. Ich wollte beginnen, mich umzuschauen, als der Bewusstseinsfaden riss und die Kontinuität der Wahrnehmung abbrach. Ein neues Bild erschien: Ich sah die Seele auf ihrem Weg, in diese Welt zu inkarnieren. Als ich durch das Eingangstor hindurchschritt, hielt mich noch unter dem Torbogen ein Wächter an: Es war ein Engel von vollendeter Schönheit, seine blauen Augen wie aus Eis. Sein Name war Luzifer und er ließ sich mit »Seine Majestät« anreden. Die Menschen sprachen von ihm als der gefallene Engel, er selbst stellte sich jedoch als ein Abgesandter Gottes vor, beauftragt, die Teilnahmeregeln hier auf Erden festzulegen und über ihre Einhaltung zu wachen – und er ergoss sich in Schwärmereien über die Lebensbedingungen auf Erden.

In dem Moment, als wir den Handel besiegelten, geschah etwas Seltsames. Eine gewaltige Macht spaltete sich entzwei und ich vergaß. Ich vergaß den Engel, ich vergaß den Handel, ich vergaß, wer ICH BIN. Da dämmerte es mir, dass dieser Handel ein Pakt gewesen war. Ich nenne ihn »die Versuchung«, und sie begann, gnadenlos zu wirken von dem Moment an, wo der Pakt besiegelt worden war. Immer wieder von neuem manifestierte sich diese Versuchung, in tausend Masken, in unendlicher Vielfalt, maßlos, begierig.

Wie konnte das geschehen? Ich hatte vergessen. Und doch war der Pakt so etwas wie eine Eintrittskarte gewesen. Ich erkannte, es gibt keine Seele auf der ganzen Welt, die keinen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist, denn ohne diese Eintrittskarte hat noch nie ein Mensch dieses Theater von innen gesehen. Die Macht dieses Wächters ist hier allgegenwärtig. Doch jeder glaubt, sich an ihm vorbeigeschlichen zu haben. Und er lacht sich ins Fäustchen, denn so lange sie das glauben, hat er sie fest im Griff.

Noch einmal kehrte ich bewusst zu dem Moment des Paktes zurück und da wusste ich plötzlich, dass ich trotz allem freiwillig gekommen war, ja dass noch nie eine Seele von Luzifer gefangengenommen worden war. Langsam kehrte meine Aufmerksamkeit in den Saal zurück, in dem der Kreis der Herrscher der Unterwelt zusammengekommen war. Sie taten nichts anderes, als meinen Auftrag zu erfüllen, meiner Absicht stattzugeben. So hart und unerbittlich die Lehrzeit auch gewesen sein mochte, alles funktionierte nach genau festgeschriebenen Gesetzen. Es waren göttliche Gesetze, denn es gibt keine anderen. Diesem illustren Kreis von Gottgesandten kam hier die besondere Aufgabe zu, die Seelen durch Versuchung ins Menschsein und damit in die Sünde, die Ab-Sonderung zu verführen, um ihnen somit durch Erkenntnis die Möglichkeit zur Rückerinnerung an Gott zu geben.

Luzifer bedeutet Bringer des Lichtes. Was für ein Spiel, das göttliche Spiel. Ich musste unweigerlich lachen. Wieder schweifte mein Blick durch die Runde: mächtige Männer, die Gesetze der Unterwelt schienen sie verhärmt zu haben. Strenge Lehrer, aus deren Gesichtern sich die Freuden des Lebens zurückgezogen hatten. Einer dieser Männer fiel gänzlich aus der Reihe. Er war in Weiß gekleidet. Ein schöner Jüngling von sanfter, lichter Ausstrahlung, wie in seinen Gesichtszügen zu lesen war. Nur die Harfe hätte das Bild zur Vollendung gebracht. Was hatte dieser schöne, venusgleiche Mann ausgerechnet in dieser Runde verloren? Ich erhielt die Antwort: »Der Engelsdämon.« Ich konnte es kaum fassen: Er verkörperte den Aspekt des Teufels, der sich in der Gestalt des Engels manifestierte. Erneuter Filmriss.

Plötzlich fand ich mich im Speisesaal eines Landhauses in Südspanien wieder; es war die Residenz einer Dame, die ich dort flüchtig kannte. Sylvia, eine Mittvierzigerin, war in der Umgebung als strahlende, großzügige Gastgeberin opulenter Mahle bekannt. Sie war sanft und von einer Anmut, wie ich sie nur von Märchenprinzessinnen her kenne. Ich sah nur eine Szene, es war die Szene aus einem Traum, den sie mir vor Wochen selbst geschildert hatte: Durch die großen, halbrunden Fenster aus handgeblasenem Glas schienen die letzten Sonnenstrahlen des sich verabschiedenden Tages und tauchten den Speisesaal in ein goldenes Licht. Die großzügige Tafel war von einer weißen, seidenen Tischdecke geziert. Fürstliche Speisen deckten den Tisch. An die 15 Gäste hatten sich an diesem Abend versammelt, um sich von der Gastgeberin, Sylvia, bewirten zu lassen. Sylvia, in Weiß und zartem Aquarellblau gekleidet, saß am Tischende und unterhielt sich angeregt mit einem älteren Herrn zu ihrer Linken. Ein stilvolles Ambiente schien sich mit der harmonischen Tafelrunde zu vereinen, als mein Blick unversehens unter den Tisch wanderte und gefror: Dort hockten lechzend Sylvias beide Afghanen, um mit gieriger Zunge das Blut vom Schwert zu lecken, welches sie in ihrer ausgestreckten Rechten unter dem Tisch hielt. »Der Engelsdämon« – noch einmal tauchte dieses Wort in meinem Bewusstsein auf, bevor meine Aufmerksamkeit zurück in die Katakomben taumelte, in denen ich mich aufhielt, zurück zu dem Schönling in der Runde der Zwölf. Da endlich begriff ich den Mephisto in Goethes Faust, der da verkündet: »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«

So nahm ich ihn wahr als eine Macht jenseits der Form von Gut und Böse. Er konnte sich jeder beliebigen Form bemächtigen oder anders: Er vermochte in jeder Form dieser Welt zu erscheinen. Die Teufelsvorstellungen des Christentums, insbesondere der Kirche entpuppten sich als bloße Schattenprojektionen abgespaltener, animalischer Kräfte im Menschen. Meine innere Führung ermahnte mich, mich wieder meines Auftrages zu erinnern:

Durch die Runde schweifend, wusste ich sofort, wer von den Zwölfen mein Vertragspartner war. Als ich ihm gegenübertrat, sah ich ihn das erste Mal lächeln, und mich berührte die Güte, die aus seinen Gesichtszügen sprach. Sein Name war Orwhan. »Ich bin gekommen, um den Pakt zu lösen. Die Zeit ist da. Lange Zeit habe ich gedient und viel gelernt«, sprach es aus mir. Das Geschenk der Erkenntnis über den Inhalt des Paktes, das Geschenk der Erinnerung, hatte diesen Moment erst möglich gemacht. Was hatte ich verkauft und was dafür empfangen?

»Die Qualität des warmen, mitfühlenden Herzens ist unnötig, ja geradezu hinderlich auf dem Weg der Macht«, hatte er mir offenbart und mir das Wissen als ein Instrument schmackhaft gemacht, welches geradezu dafür geschaffen sei, es zu benutzen, um mehr und mehr Macht anzusammeln. Die Macht zu herrschen, die Macht, sich andere untertan zu machen. »Du bekommst dein Herz zurück, denn hierher kehren nur diejenigen zurück, die erkannt haben, und glaube mir, es sind wenige. Der Pakt ist es, um den sich das ganze Erdendrama dreht. Der einzige Grund, warum er geschlossen wird, ist, ihn zu erkennen, zu lösen und sich damit an das zu erinnern, was jenseits des Paktes ist. Nur wenn Du jetzt glaubst, dass im nächsten Moment der Pakt seine Wirkung verliert, so irrst Du. Erinnere Dich an die Gesetze von Raum und Zeit auf dieser Erde. Die Materie ist träge und der Pakt schwingt nach. Das Opfer des Egos, welches Du zu bringen hast, ist gewaltig. Und so werden auch Deine Prüfungen, welche erst jetzt beginnen, gewaltig sein. Erst sie werden zeigen, ob Deine Entscheidung eine Ent-Scheidung war. So gehe und nutze Dein hier erlerntes Wissen im Dienste des Einen.«

Gedankenfetzen flogen vorüber, alles begann von innen her zu vibrieren, zunächst ganz fein, bald immer stärker. Und immer wieder wiederholte ich diesen Satz: »Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet?« Eine Freude breitete sich aus, ein inneres Tanzen und Juchzen, eine Leichtigkeit. Es war, als wäre eine tonnenschwere Last von mir abgefallen.

»Der Teufel ist böse. Gott ist gut«, sagte der Teufel, und das Himmelszelt erzitterte, als er in dröhnendes Gelächter ausbrach, und alle Engel und alle Dämonen stimmten mit ein.

Die Romantik des Todes

Juli 1990, Vorarlberg, Österreich, auf einer Almhütte.

Es war totenstill im Raum. Die Wirkung der Droge begann ganz unvermittelt mit den mir bereits bekannten Körperwahrnehmungen. Im Laufe meiner Experimente mit Halluzinogenen hatte ich gelernt, dass nur wenige der auf allen Wahrnehmungsebenen auftretenden Halluzinationen wesentliche Informationen enthielten. Die meisten boten zwar überaus angenehme Erfahrungen, lenkten jedoch vom eigentlichen Erkenntnispotential, das durch die Droge freigelegt wurde, ab. Ich betrachtete sie inzwischen als »Nebenwirkungen«, ähnlich der Nebenwirkung eines schulmedizinischen Medikamentes. Die meisten Drogenkonsumenten freilich nahmen halluzinogene Drogen gerade, um dieses schmückende Beiwerk zu genießen und sich daran zu berauschen. Es ist, als hätte Gott diesem machtvollen Erkenntnisinstrument noch einige verschlungene Irrwege vorangestellt, auf denen jeder Benutzer zunächst auf die Integrität seiner Absicht hin geprüft wird.

Ich schenkte den einsetzenden starken Sinneseindrücken keine Beachtung. Plötzlich erschien wie auf einer Großbildleinwand ein Bild in kristallener Klarheit und von einer beeindruckenden Farbenpracht. Das Bild kam aus einer tieferen Schicht. Ich begann es meinem Begleiter unverzüglich zu beschreiben: Es zeigte eine weite Ebene, eine Prärielandschaft wie im Südwesten der Vereinigten Staaten. Das gesamte Feld war übersät mit Leichen. Niemand war mehr am Leben. Die Schlacht war vorüber. Nirgends gab es Vegetation, so dass der Blick frei über die weite Ebene schweifen konnte bis zu einer Bergkette in der Ferne, welche den Horizont säumte. Rechts im Bild, groß im Vordergrund, schien es einen Überlebenden zu geben. Auf einem Pferd saß jemand. Es war ein Skelett, welches ein Banner wie zum Triumph erhoben in der rechten Hand hielt. Nie war mir diese Figur zuvor bewusst begegnet, und auch in diesem Moment erkannte ich sie in ihrer Offensichtlichkeit nicht als die Personifikation des Todes. Hinter den Bergen ging die Sonne, ein riesiger, halbrunder Feuerball, unter und tauchte die gesamte Ebene in ein tieforangenes Licht. Eine gespenstische Stille lag über allem. Nichts lebte mehr. Doch ich empfand die Stille nicht als bedrohlich. Im Gegenteil. Auch die zum Teil grausam zugerichteten Körper strahlten einen tiefen Frieden aus.

Das ganze Bild übte eine derart starke Anziehung auf mich aus, dass ich glaubte, hineingesogen zu werden. Auch diese Kraft nahm ich rein wahr, ohne Interpretation. Meine Beschreibung war in gewisser Weise naiv und unschuldig, denn ich hatte keinerlei Zugang zum analytischen Denken. Ich drückte direkt und einfach das aus, was ich wahrnahm.

Und so fragte ich meinen Begleiter, nachdem ich meine Beschreibung beendet hatte, was das alles zu bedeuten habe. Er schwieg einen Moment und sagte dann trocken, dass es sich bei meiner Vision offensichtlich um eine Art Todessehnsucht handele, die sich darin ausdrücke. Das sagte mir nichts. Ich konnte seine Äußerung nicht in Bezug zu meinem Leben setzen. Ich war noch ganz im Bild versunken, als plötzlich ein Satz erschien – auch er unverschleiert und kristallklar:

Die Romantik des Todes

Augenscheinlich handelte es sich um die Überschrift des Bildes. Ich war nicht einmal erstaunt. In mir war lediglich so etwas wie ein Achselzucken, eine Verständnislosigkeit. Mit dem Satz wusste ich nichts anzufangen. So endete meine Erfahrung vorerst in dieser Verständnislosigkeit.

Nur wenige Wochen danach, am späten Abend des 6. August 1990, kurz nach Mitternacht, stieg ich in Hamburg in meinen Wagen, um zu meinem Wohnort in die Heide zu fahren. Ein ohrenbetäubender Knall – dann riss der Film der Geschehnisse.

Gegen Baum geprallt

nm. HARMSTORF. Schwerer Unfall am Ortseingang Harmstorf: Ein aus Richtung Helmstorf auf der Landstraße 213 fahrender Mercedes-Kombi kam aus bisher ungeklärter Ursache von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Der 28jährige Fahrer, Cedric P., wurde lebensgefährlich verletzt in seinem Wagen eingeklemmt, mußte von Blauröcken der Feuerwehren Harmstorf und Bendestorf aus dem Unfall-Wrack befreit werden. Anschließend wurde der Verletzte mit Notarzt und Rettungswagen in das Buchholzer Krankenhaus gebracht.

Foto: nh

Der Anfang vom Ende eines Traumes

Erste visuelle Eindrücke und Empfindungen setzten sich langsam wieder zu einem Bild zusammen. Ein Wahrnehmungsfluss begann: ein Zimmer, ein Bett, ein Körper, Intubationen, Schläuche, ein Krankenhaus. Der Moment des Erwachens war wie die Fortsetzung eines Films. Doch es schien niemanden zu geben, der erwachte, kein Ich. Aus vielen Wahrnehmungsmomenten fügte sich im Bewusstsein langsam wieder ein Körper zusammen, eine »Person« entstand, doch diese »Person« war nicht Ich, sondern lediglich ein Objekt meiner Wahrnehmung. Es war ein Schock, dass Ich ohne jeden Zweifel vollkommen existierte, ohne dass der Körper existierte, ja ohne dass die Welt existierte. Ich war unsterblich. Es war unfassbar.

Durch einen Wink Gottes war mir die Gnade zuteil geworden, die Unterbrechung des Wahrnehmungsstromes erfahren zu dürfen. So hatte die Zeit- und Raumdimension ausgesetzt, ja, der Ur-Dualismus zwischen Erfahrendem und Erfahrenem hatte aufgehört zu existieren. Zwei Tage war ich klinisch tot gewesen.

Aus unerfindlichen Gründen hatte ich, nur wenige Minuten von meinem Zielort entfernt, mit meinem Wagen die Fahrbahn verlassen und war mit ca. 60 Stundenkilometern ungebremst frontal gegen eine hundertjährige Eiche geprallt. Dass der Organismus überhaupt eine Überlebenschance hatte und der Körper schon bald nach dem Moment des Unfalls aus dem Wrack geschweißt und geborgen werden konnte, verdanke ich dem Zusammentreffen verschiedener glücklicher Umstände. Man könnte es auch als ein Wunder bezeichnen.

Meine Existenz als Individuum war erschüttert worden, und ich war unfähig, meine Erfahrungen anderen mitzuteilen. Der gesamte Organismus schien in einer Art Betäubungszustand zu sein, körperlich und emotional. Ich erlebte eine totale Gleichgültigkeit gegenüber dem, was ich bisher als »das Leben« angenommen hatte. Dieses »Leben« erschien mir plötzlich als ein Strom leerer, nichtssagender Phänomene, die aus Dem entstehen, was Ich Bin – ewiges Bewusstsein.

Ich war gerade aus dem Koma aufgewacht. Ein Freund stand an meinem Bett und fragte mich, was »ich« denn erlebt hätte. Ich musste an all die Berichte von sogenannten Nahtoderlebnissen denken, die ich bei Elisabeth Kübler-Ross gelesen hatte, Berichte von langen, dunklen Tunneln, an deren Ende gleißendes Licht erschien, oder an außerkörperliche Erfahrungen. Schmunzelnd fielen mir auch die Beschreibungen von Leuten ein, die von Entführungen durch Außerirdische berichteten. Was hatte »ich« erlebt? Nichts von alledem.

Ich hatte Nichts erlebt. Doch selbst dieser Ausdruck nähert sich der Erfahrung nicht, denn Nichts ist nicht »nichts«. Die Grenzen der Sprache als ein zutiefst dualistisches Instrument schienen erreicht. Es hatte kein »Ich« gegeben, um irgendetwas zu erleben, denn das würde ja bedeuten, dass die Trennung zwischen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung existiert hätte. Nachdem die »Wellen« der Wahrnehmung abrupt zur Ruhe gekommen waren, war Ich ein Ozean grenzenlosen Bewusstseins, ohne Form und ohne Eigenschaften. Es war das reine Ich Bin. Auf unbeschreibliche Art und Weise war sich der Ozean seiner selbst bewusst, ohne dass es jemanden oder etwas gab, was sich des Ozeans gewahr war.

Nachdem »ich« wieder aufgewacht war, begann ein schleichender Prozess von Re-Identifikation mit »Ich«-Gedanken. Dennoch durchdrang das ozeanische Bewusstsein nach wie vor die gesamte Wahrnehmung. Gleichzeitig erlebte ich den Körper als eine leere Hülle, die für die vollkommene Existenz meiner Selbst ohne Belang war. Alles, was für mich zuvor Realität gewesen war und somit Bedeutung gehabt hatte, erschien mir plötzlich leer und ohne Sinn. Meine Familie und alte Freunde kamen mich im Krankenhaus besuchen, doch ich war unfähig, mit ihnen zu kommunizieren. Ich hatte auch gar kein wirkliches Interesse daran, denn sie sahen mich nicht. Sie vermuteten, ich stünde noch unter dem Schock des Unfalls oder unter Betäubungsmitteln. Ansonsten schien ich für sie ganz »normal« zu sein. Die Heilung des Körpers schritt sehr schnell voran. Außer einem Schädel-Hirn-Trauma, ein paar Rippenbrüchen und schweren Prellungen hatte ich keine gravierenden Verletzungen davongetragen, so schien es zunächst.

Schon wenige Tage nachdem ich aus dem Koma erwacht war, war ich wieder auf den Beinen. Ich saß eines Abends draußen auf dem Balkon, der an mein Zimmer angrenzte, und verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, einen Freund in Wien anzurufen. Er war der Organisator einer therapeutischen Ausbildung, die ich im vorigen Jahr angefangen hatte. Der zweite Teil dieser Ausbildung sollte nächste Woche in der Nähe von Wien auf einer Burg in den Bergen stattfinden. Am Telefon erzählte ich meinem Wiener Freund, was geschehen war und dass ich dennoch den dringenden Impuls verspürte, dorthin zu fahren. Ich wusste, dass es unmöglich für mich war, an der Ausbildung teilzunehmen, aber ich spürte, dass es für mich wesentlich war, dort zu sein, mit meiner Gruppe. Er hielt diese Absicht zunächst für verrückt und stimmte meinen Ärzten bei, die die Reise zu diesem Zeitpunkt für absolut verantwortungslos hielten.

Aber ich ließ mich nicht von meinem Impuls abbringen und reiste im Schwerbehindertenabteil der Bundesbahn nach Wien – auf eigene Verantwortung. Auf Burg Plankenstein angekommen, erkannte ich den Grund meiner Reise. Gangaji, die Frau meines Ausbildungsleiters Eli Jaxon-Bear, war mit nach Österreich gekommen und gab abends Satsang. Sie hatte bei einem indischen Meister Erleuchtung erlangt und von ihm den Auftrag bekommen, von »Tür zu Tür« zu gehen, um dieses Wissen weiterzugeben. Mit indischer Religion hatte ich mich noch nicht befasst, von indischen Meistern hatte ich nicht einmal Bücher gelesen. Dennoch, oder gerade deshalb, war es vollkommen natürlich, mit Gangaji in Satsang zu sein – so als wäre ich es schon immer gewesen.

Gleich im ersten Satsang erkannte ich sie als meine letzte Lehrerin. Durch alles, was sie sagte und durch alles, was sie nicht sagte, deutete sie direkt auf die Erfahrung meines unsterblichen Selbst. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt, als die gesamte Identifikation mit meiner Person wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war, nicht offener sein können, um diese Botschaft zu hören. Es entstand ein enger Kontakt zu Gangaji, dem ich in meinen Briefen an sie Ausdruck verlieh.

Die kommenden zwei Monate verbrachte ich in einem Zustand, geprägt von Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit. Ich empfand weder direkten Kontakt zum Körper, noch erfuhr ich Emotionen irgendwelcher Art. Manchmal ging ich in Hamburg auf der Straße spazieren und stellte mir vor, wie jemand meinen Körper mit einem Messer ersticht. Ich war dem Tod gegenüber vollkommen indifferent, denn ich lebte in der Erkenntnis, dass der Tod nur in der Vorstellung existierte, nicht aber in Wirklichkeit. Mein Zustand ließ es nicht zu, einer täglichen Arbeit nachzugehen. So schnell die Heilung der »groben« Wunden und Verletzungen des Unfalls auch vonstattenging, so deutlich zeigte sich doch auch eine tiefe Verletzung des zentralen Nervensystems. Die Selektion der millionenfachen Reizimpulse, die besonders über das Sehen und Hören in jedem Moment auf das Gehirn einströmen, schien nicht mehr zu funktionieren. Die Folge war ein totaler »Overload«, sobald die Anzahl der Reize ein bestimmtes Niveau erreicht hatte. Es war mir unmöglich, mich in einem Café oder Restaurant aufzuhalten, und selbst der Einkauf im Supermarkt wurde zur Tortur. Kopfschmerzen, erhöhter Augendruck, verschwommenes Sehen, Nackensteifheit und totale Schwäche waren nur einige der Symptome.

Ich erinnere mich noch genau an den regnerischen Novembertag im Jahre 1990, als ich an meinem Schreibtisch saß. Mir wurde klar, dass ich mich wieder um meine Einkünfte kümmern musste. Gedanken über Verpflichtungen durch laufende Kosten und das leere Bankkonto führten zu einer aufsteigenden Woge von Angst. Seit dem Unfall hatte ich keine Gefühle mehr gehabt. Nun kam die Angst überraschend und – anders als jemals zuvor. Sie war rein und ohne begleitende Gedanken. Die Intensität dieses Gefühls wurde immer stärker und erreichte ein nie gekanntes Ausmaß. Irgendwann kam der Impuls, »auszurasten« und auf die Straße zu laufen. Der Gedanke »Das muss es sein, was ›Paranoia‹ genannt wird« tauchte auf. Gleichzeitig saß ich in vollkommener Ruhe und war stiller Zeuge des Geschehens. Ich bezeugte die Welle und griff zum ersten Mal nicht ein. Niemand tat etwas. So konnte ich das erstaunliche Schauspiel beobachten, dass die Angst zu einer gigantischen, bedrohlichen Welle anschwoll, nur um dann wieder im Nichts zu versinken. Minuten später war alles vorbei. Ich war tief beeindruckt von der Erfahrung, dass die Macht und Intensität dieses negativen Gefühls mich, das Selbst, nicht berührte. Von diesem Zeitpunkt an tauchten täglich Angstzustände auf, die ohne Vorwarnung und meistens ohne Bezug zu Gedanken oder Geschehnissen über mich hereinbrachen. Später verstand ich durch Gangaji, dass das gesamte unterdrückte Material der Vergangenheit aus dem Unterbewusstsein in das Bewusstsein gespült wird, um dort zu »verbrennen«, sobald das ständige »Damit Umgehen« in Gedanken zur Ruhe kommt und der Geist sich der Meditation hingibt.

Noch im selben Monat erhielt ich einen Brief von Gangaji:

»Ich weiß, dass es eine starke Erfahrung sein muss, materielles Leben zu verlassen, denn du siehst die Lüge so viel klarer. Du erklärtest, dass Du seit dem Unfall das Gefühl hast, nicht mehr Teil dieses Lebens zu sein. Das ist die Wahrheit! ... Du bist Leben. Erforsche, wer Du wirklich bist, indem Du entdeckst, was sich nie verändert.«

Ich hatte zwar eine einschneidende Einheitserfahrung jenseits aller Phänomene gemacht, den eigentlichen Kern des Leidens aber nicht vollkommen realisiert, denn in bewussten und unbewussten Gedanken hatte sich auf subtileren Ebenen eine Identifikation mit der Person, die damals noch »Dervish« hieß, wieder zusammengesetzt. Ich erfuhr wieder eine Form von Abtrennung.

In meinem Leben war nichts mehr von Bedeutung. Gangaji war der einzige Mensch, dem ich mich offenbaren konnte. Ein einziger Wunsch begann von mir gänzlich Besitz zu ergreifen: der Wunsch nach vollkommener Befreiung von der dem menschlichen Zustand innewohnenden Abtrennung vom göttlichen Selbst, dem Ursprung.

Dinge, die mir früher wichtig gewesen waren, wie soziale Kontakte zu Freunden, bedeuteten mir plötzlich nichts mehr. Ich begann, mich mehr und mehr zurückzuziehen. Ich erlebte andere Menschen, darunter auch meine alten Freunde, als wären sie in einer Art schlafwandlerischem Zustand. Ich sah auch, dass sie nicht wirklich miteinander kommunizierten, sondern dass sie mit selbsterzeugten Bildern aus der Vergangenheit kommunizierten, die sie auf ihr jeweiliges Gegenüber projizierten: Niemand kommunizierte mit Mir, jetzt. Deshalb löste ich mich aus alten »Beziehungen«. Das Alleinsein auch äußerlich zu suchen unterstützte einen inneren Prozess, den ich als Abnabelung von der Illusion, die der menschliche Geist als »die Welt« bezeichnete, erlebte. Es war, als würde ich, getragen vom Wasser des Ozeans, in diesem langsam tiefer sinken. Nichts konnte getan werden, um dieses Hinabsinken zu beschleunigen. Vielmehr mussten all die Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns, durch die ich immer wieder die Tendenz hatte, aufzutauchen, zurückgewiesen werden. Es war niederschmetternd, feststellen zu müssen, dass mein gesamtes, eingeprägtes Denken, welches sich mir als ein Versuch dargestellt hatte, das Glücklichsein auf Erden zu erreichen, welches mir Verstehen, Wissen und Sicherheit vorgegaukelt hatte, zielstrebig genau das Gegenteil erzeugte, nämlich Leiden.

Zum ersten Mal erfasste ich Leiden in seiner ganzen Dimension. Zum ersten Mal wurde Leiden offen-sichtlich. Wie hatte es sich bloß verstecken können? Wie war es möglich, dass ich mir dieses Leidens nicht vollkommen bewusst gewesen war und daher auch nie den Wunsch gehabt hatte, mich davon zu trennen? Mir wurde mit einem Male die grenzenlose Ignoranz der Menschen bewusst, die in der Hölle schmoren und glauben, im Paradies zu sein. Das schien insbesondere auf Menschen der westlichen Zivilisation zuzutreffen, die »alles haben« – Geld, Erfolg, Partner, Vergnügen aller Art, ein bequemes Leben ohne den Überlebenskampf vergangener Zeiten. Doch wie soll einem Blinden das Sehen beschrieben werden? Was für eine Täuschung von Glückseligkeit! Ich begann zu ahnen, warum große Meister das Leiden als einen Schlaf bezeichneten. Das wesentliche Merkmal des Leidens ist, dass der menschliche Geist sich seines Leidens nur am Rande bewusst ist, wenn überhaupt. Das ist das eigentlich Fatale am Sündenfall. In diesem Moment wird die Blindheit blind gegenüber der Blindheit und das Unbewusstsein des Unbewusstseins wird zum menschlichen Zustand, eine fast perfekte Illusion von relativem Glück und vermeintlicher Liebe, die mit Komfort, Wohlbehagen und vorübergehender Befriedigung durch Hochgefühle verwechselt werden.

In den Monaten nach dem ersten Zusammentreffen mit Gangaji traf ich mehrfach mit einem Therapeuten zusammen, um in medialen Zuständen das Unfallgeschehen nachträglich auf seine Hintergründe hin zu erforschen. Zu unser beider Erstaunen war der Unfall selbst in keiner Weise spannungsbelastet. So oft ich auch zum Unfallgeschehen selbst zurückkehrte, der Geist blieb still und es zeigte sich keine Reaktion. Dass der Unfall selbst keinerlei Trauma, keine Spur im Geiste hinterlassen hatte, zeigte sich schon an der Tatsache, dass ich bereits zehn Tage nach dem Erwachen aus dem Zustand des klinischen Todes wieder entspannt im Auto gesessen hatte und sogar selbst gefahren war. Schließlich empfahl mir mein Begleiter, den Vorgang noch einmal ganz bewusst und in Zeitlupe nachzuvollziehen, von dem Moment an, wo ich ins Auto stieg. Als ich mich dann an die Empfindung erinnerte, die ich hatte, während ich mit aufgedrehter Stereoanlage in meinem Mercedes durch Hamburgs nächtliche Straßen fuhr, geschah es: Der Geist reagierte mit heftiger Erregung, und aus der Tiefe schoss ein schneidender Satz empor: »Ich entscheide hier, wann ich sterbe.« Es war schockierend. – Es entstand ein Moment von betretenem Schweigen. Dann kam der trockene Kommentar meines Begleiters, der in dem Moment nur bedingt humorvoll gemeint war: »Da hast Du dem alten Herrn ja ganz schön in die Suppe gespuckt.« Das war natürlich eine Verharmlosung eines unfassbaren Größenwahns.

Ich empfand eine seltene Mischung aus Abscheu und Leichtigkeit des Herzens. Denn in diesem Moment wusste ich, dass die Versuchung jenes alten, irregeleiteten Machtwunsches, der mit den Mitteln der Schwarzen Magie durchgesetzt werden sollte, endgültig gebrochen war. Die Lösung des Paktes war der erste Schritt gewesen, und die Realisation nach dem Unfall hatte jenen Wunsch lächerlich gemacht, ja ad absurdum geführt.

Diese Erfahrung setzte in der Folgezeit tiefste Erkenntnisse über die Rolle der Schuld in der persönlichen Leidensgeschichte von Dervish frei. Das Konzept von Schuld erwies sich als das Urtrauma des Geistes. Es war mir nie zugänglich gewesen, und ich war erstaunt, als sich mir zeigte, dass der Terror, die ungreifbare, dumpfe Angst, die mein ständiger Begleiter gewesen war, auf der tieferliegenden Schuld aufbaute.

Ich berichtete an Gangaji in einem Brief:

»Eine Idee namens ›Dervish‹ hatte den Wunsch nach Macht, um sich über das Göttliche zu stellen. Das Gefühl von Scham angesichts des Allmächtigen ließ den Wunsch nach Demut entstehen.«

Unter dem Aspekt der Schuld zeigte sich der Lebensfilm von »Dervish« in einem neuen Licht: Es wurde klar, dass jede Motivation in seinem Leben unbewusst darin bestanden hatte, der Schuld zu entfliehen. Verbunden durch dieses unsichtbare Band der Schuld waren plötzlich Ereignisse aus seinem Leben im Bewusstsein aufgetaucht. Schon als kleiner Junge hatte er sich oft zutiefst schuldig gefühlt. Die konkreten Ereignisse, an denen die Schuld sich festmachte, waren unerheblich.

Selbst das Gehen eines spirituellen Weges, die Suche, erwies sich im Nachhinein als ein verzweifelter Versuch, sich der tonnenschweren Last der Schuld zu entledigen. Die Idee der Selbstreinigung hatte Dervish’s Arbeit mit einem nordafrikanischen Sufi bestimmt, seinem ersten Lehrer. In einem alten Tagebuch fand sich eine Eintragung aus jener Zeit:

»... dafür ist es wichtig, dass ich konsequent und schonungslos weiter an meiner Selbstreinigung arbeite. Mit ›Selbstreinigung‹ ist gemeint:

die Reinigung meines Herzens anhand von Sufi-Methoden und Gebetendie Arbeit an all meinen Schwächen, negativen Seiten, ... Begierden auf der materiellen Ebene, an emotionalen Unruhezonenkörperliche Reinigung durch Fasten, ... durch yogische Methoden.«

Beinahe im gleichen Atemzug hatte er jedoch die Schuld geleugnet:

»Empfinde ich Schuld mir gegenüber? Nein. Ein übersteigerter Schuldkomplex ist eigentlich nie mein Problem gewesen.«

Dadurch, dass die Leugnung der Schuld jetzt aufgegeben worden war, hatte ich das Gefühl, direkt in die Schichten der Urschuld hineinzufallen.

Ungefähr ein Jahr nach dem Unfall, kurz vor meinem erneuten Zusammentreffen mit Gangaji, begegnete ich der Schuld auf einer inneren Forschungsreise ein letztes Mal: Diesmal war sie nicht mehr an konkrete, innere Bilder gebunden, sondern erschien als ein tiefgreifendes, unbestimmtes Gefühl von Schuld an der Ursünde, der Ab-Sonderung vom göttlichen Selbst. Der Urgrund des Schuldkonzeptes schien erreicht und verbrannte ohne Identifikation im Bewusstsein. Daraus eröffnete sich zum ersten Mal die Blüte der Un-Schuld und ich ahnte, dass niemals jemand schuldig geworden war.

Die Geburt des Löwen

Im August 1991 fuhr ich wieder nach Lunz am See in Österreich, um mit Gangaji zusammenzutreffen, die dort Satsangs abhielt. Tagsüber nahm ich an einer therapeutischen Fortbildung teil, abends saß ich mit Gangaji im Satsang. Seitdem ich Gangaji vor einem Jahr begegnet war, hatte ich in ständigem schriftlichen Kontakt mit ihr gestanden. Die Tatsache, dass ich gleich nach dem Unfall zu ihr geführt worden war, hatte in mir eine tiefe Ahnung, ja eine Gewissheit wachgerufen, die eine immense Erregung in mir erzeugte: Meine Chance schien gekommen! Vielleicht zum ersten Mal seit Jahrmillionen. Ich wusste, dass ich sie nutzen musste. Jetzt oder nie. Ein Sog zog mich zu Gangaji. Mein Zuhause, mein Herz, es schien so greifbar nahe zu sein. Hier wurde ich zum ersten Mal, aus der Sicht des Schülers, der Bedingungslosigkeit gewahr, die das wahre Verhältnis zum Lehrer erfordert. Mein Leben oder vielmehr das, was davon übriggeblieben war, hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Wesentlichen auf dieses Verhältnis reduziert. Ich begriff, Gangaji IST Das, was ich suchte. Doch es tauchte auch Angst auf, nackte Angst. Es schien eine Kraft zu geben, die um einen unvorstellbaren Verlust fürchtete, einen Abgrund ahnte, der sich auftat. Etwas in mir fühlte sich stark bedroht. In einem Satsang hatte Gangaji von der Notwendigkeit gesprochen, sich ganz der Shakti zu überlassen. »Sie wird sich um alles kümmern«, hatte sie gesagt. Zum Abschluss des Satsangs hatte ich die Arroganz besessen, ihr mitzuteilen, ich hoffte, dass sich Shakti auch meiner Wünsche annehmen werde. Am nächsten Morgen hatte Gangaji mir gegenüber ihre tiefe Betroffenheit über diese Arroganz ausgedrückt.

Abgrundtiefe Verlustängste waren in mir berührt worden und tief eingeprägte Konzepte über Erleuchtung tauchten in diesem Zusammenhang auf. Sie skizzierten Erleuchtung als einen asketischen, weltabgewandten Zustand, der jede Form sinnlicher Genüsse verbot. Vergangene Mönchsinkarnationen drängten an die Oberfläche. Die Macht blinder Identifikation war zwar diesen Ängsten und Bildern entzogen, dennoch blieb ein scheinbar unauflösbarer Rest an Identifikation, und die Bedrohung war unleugbar.

Körperlich ging es mir nach wie vor sehr schlecht. Die äußeren Wunden waren zwar schnell verheilt und ich hatte keine inneren Verletzungen davongetragen, aber das ganze energetische System des Organismus war kollabiert. Es stand zeitweise kaum physische Energie zur Verfügung, was sich in andauernden Schwäche- und Erschöpfungszuständen ausdrückte. Die Nervenschaltzentrale im Gehirn funktionierte nicht. Kleinste körperliche oder mentale Anstrengungen überlasteten sofort das System, was mich immer wieder zur Ruhe und zum Nichtstun zwang. Es war frustrierend, und doch war im Hintergrund das Wissen, dass dies wesentlich war, um meine gesamte Aufmerksamkeit der einzig wahren Sehnsucht zu widmen: der Sehnsucht nach endgültiger Freiheit. Der Satsang mit Gangaji machte den Zustand, in dem ich mich befand, sehr deutlich:

Das Bewusstsein hatte sich von der Anhaftung am Körperlichen befreit. Auch mit Emotionen schien es kaum noch Identifikationen zu geben. Ich hatte einen Zustand beständiger Dissoziation erreicht, in dem ich alles, was an Phänomenen auftrat, beobachtete, ohne sie als »Ich« zu identifizieren. Dissoziiert beobachtete ich den Körper, wie er sich bewegte und agierte. Ich war Zeuge von Gefühlszuständen und von Gedanken. Ihnen galt meine größte Aufmerksamkeit. Die Spaltung des Geistes in Ober- und Unterbewusstsein schien aufgelöst zu sein, und ich war mir eines jeden Gedankens bewusst, der auftauchte und wieder verschwand. All diese Erscheinungen waren von einer großen Klarheit, sie waren nicht mehr verschwommen, verzerrt oder dumpf, wie ich es von früher her kannte. Die Selbstbetäubung des Geistes schien nicht mehr zu funktionieren, und so gab es kein »Versteck« mehr in meinem Bewusstsein, weder für Gefühle, noch für Gedanken. Diese Nacktheit war zuweilen äußerst unbequem. Dennoch fühlte ich mich in der Fixierung dieser Beobachterhaltung gefangen und besonders die scheinbare Realität von Ich-Gedanken, die immer wieder schmerzlich war, löste sich nicht auf. Es schien auf einer mir nicht zugänglichen Ebene eine Identifikation mit Ich-Gedanken zu geben, die durch diese Distanz nicht aufgelöst wurde.

Nach etwa zwei Wochen mit Gangaji passierte plötzlich etwas Unvorhergesehenes. Der Ort, den ich bis dahin als den »Ort der Wahrnehmung« angesehen hatte, sank plötzlich vom Kopf ins Herzzentrum. Ich schien die Welt mit einem Mal von dort aus wahrzunehmen. Diese Art der Wahrnehmung schien direkter zu sein als die vorige. Ich fühlte eine tiefe Liebe zu Allem, und in Momenten schien alles zu verschmelzen. Es war ein Feuer der Sehnsucht in meiner Brust entfacht, welches sich immer mehr zu einer wahren Feuersbrunst entwickelte. Sie war wie ein gewaltiger Sog, der Gedanken, Gefühle, selbst den Körper und die Außenwelt an sich riss und verschlang. Alles begann, in diese Sehnsucht hineinzuschmelzen. Die Frage »Was will Ich?« hatte als Gedanke keine Bedeutung mehr. Kein Gedanke hatte mehr Bedeutung. Ich war nur noch diese Sehnsucht. Sie war übermächtig. Doch diese Sehnsucht war nicht wie die Sehnsucht, die ich kannte. Es war eine Sehnsucht, die sich nach nichts sehnte, reine Sehnsucht, in der Schmerz und Glückseligkeit nicht mehr voneinander zu trennen waren.

Drei Tage und drei Nächte hatte das Feuer gebrannt. Ich erklärte den Ausbildungsteilnehmern, dass ich nicht mehr an der Gruppe teilnehmen könne, da mich jede therapeutische Übung, ja selbst das Gespräch mit anderen Gruppenteilnehmern von dem Gewahrsein dieses Feuers wegbringen würde.

An jenem lauwarmen Sommerabend im August 1991 gab Gangaji auf einer Bergwiese Satsang unter einer riesigen, alten Linde. Von diesem Ort aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf den Lunzer See, der in seiner stillen Pracht, majestätisch in die Berge eingebettet, eine perfekte, meditative Kulisse für Satsang abgab. Ich war im Satsang häufig zu scheu, um Fragen zu stellen und es kostete mich Überwindung, vor der Gruppe mit Gangaji in Dialog zu treten. Schließlich schilderte ich ihr die Resultate meiner Selbsterforschung: Ich könne zwar alle Gedanken beobachten, aber das würde mir letztlich auch nicht weiterhelfen, denn ich sei auch in dieser Position ein Gefangener. Ich-Gedanken würden auftauchen und Leiden verursachen. Ich müsse erkennen, dass Nicht-Identifikation noch nicht das Ende von Leiden sei.

Gangaji forderte mich auf, mir die Frage zu stellen, wer denn derjenige sei, der sich der Gedanken bewusst ist. Ich war einen Moment still, da wurde ich plötzlich von einem unendlichen Erstaunen erfasst. In einem zeitlosen Moment der Gnade erkannte ich das absurde Schauspiel der Ideen, die sich ständig selbst bewahrheiten. Die Realität des Ich-Gedankens platzte wie eine Seifenblase und die ganze Welt implodierte. Aus der Tiefe meiner selbst stieg ein unbändiges Gelächter empor, das nicht enden wollte. Noch am selben Abend schrieb ich Gangaji in einem Brief:

»Alle Versuchungen kristallisieren sich in einer einzigen: der Idee selbst.«

Das Wesen von Ideen hatte sich mir offenbart. Die ganze Welt wird nur durch den Ich-Gedanken zusammengehalten und mit der Ent-Wurzelung dieses Gedankens, der nie eine wirkliche Wurzel gehabt hatte, war die ganze Welt ent-wurzelt worden. Es gab keine Beziehung mehr zwischen »mir« und »der Welt«. Ich war sprachlos angesichts der Unfassbarkeit dieses grotesken Schauspiels. Ein Meer von Glückseligkeit öffnete sich, und ich verbrachte die folgenden Tage in vollkommener Stille versunken, ohne einen einzigen Gedanken.

Tage später erhielt ich die Information, dass ich jetzt nach Indien reisen solle, um dort Gangajis Lehrer Shri Poonjaji zu treffen und die Realisation zu vertiefen. Am 6. September 1991 traf ich in Delhi ein, um am darauffolgenden Tag nach Lucknow weiterzufliegen. Es war meine erste Indienreise. Zuvor hatte mich nie etwas nach Indien gezogen.

In Lucknow angekommen, quartierte ich mich in einem heruntergekommenen, ehemaligen Nobelhotel im englischen Kolonialstil ein. Die Hälfte der Gäste waren Besucher aus westlichen Ländern, die gekommen waren, um Poonjaji zu sehen. Am nächsten Morgen ging es mit der Riksha zu Poonjajis Haus. Auf der Straße herrschte Chaos. Kühe, Schafe und andere, für mich nicht erkennbare Gegenstände lagen ruhig auf der Mitte der Fahrbahn. Fußgänger, Rikshas und Autofahrer teilten sich die Hauptstraße scheinbar gleichberechtigt. Erstaunlicherweise funktionierte dieses Chaos.

Ich trat in die Stille von Shri Poonjajis Wohnzimmer ein, wo er Satsang abhielt. Die etwa fünfzig anwesenden Personen füllten den Raum bis in die letzte Ecke. Bis vor kurzem war Shri Poonjaji ein unbekannter indischer Meister gewesen, der viele Jahre lang Satsang vor zehn und weniger Schülern gegeben hatte. Doch dann war er von Osho-Schülern aus Poona entdeckt worden, die nach Oshos Tod nach einem neuen Lehrer Ausschau hielten. Während Oshos Lehren bei vielen den Eindruck hinterlassen hatten, Erleuchtung sei praktisch unerreichbar, war hier auf einmal ein Lehrer, der den Suchern mitteilte, dass sie in Wirklichkeit schon erleuchtet seien, und dass es möglich sei, die Suche jetzt aufzugeben. Diese Botschaft kam natürlich vielen Osho-Schülern entgegen, die Erleuchtung als ein Spiel betrachteten, bei dem es darum geht, möglichst viel Spaß zu haben. Unter den ersten Besuchern Shri Poonjajis waren aber auch einige Osho-Sannyasins, die das Erleuchtungsspiel bereits hinter sich gelassen hatten, »ES« erkannten (engl.: »who got it ...«) und völlig verändert in Poona wieder auftauchten, um bald darauf dem Ashram den Rücken zu kehren.

Diese Vorkommnisse hatten in Poona viele Gerüchte freigesetzt. Das Management des Ashrams, tief beunruhigt über die Tatsache, dass es jetzt einige Erleuchtete zu geben schien, die »ES« erlangt hatten, sah offensichtlich seinen Machtbereich gefährdet und versuchte, Osho-Schüler am Besuch von Shri Poonjaji zu hindern, indem es offiziell verlauten ließ, dass es unerwünscht sei, Shri Poonjaji aufzusuchen. Es half nichts. In dem weltweit gut funktionierenden Netzwerk der Osho-Sannyasins breitete sich die Kunde des Meisters, der »Erleuchtung verfügbar machte«, wie ein Lauffeuer aus. So waren auch an diesem Tag viele der anwesenden Sucher Schüler Oshos.

Ich setzte mich still auf ein Meditationskissen in den hinteren Reihen des Raumes, nachdem ich zuvor Poonjaji begrüßt und ihm einen langen Brief ausgehändigt hatte. Die Begegnung mit Shri Poonjaji, den ich sofort als mein Selbst erkannte, war wenig spektakulär. Sie fand in der Form eigentlich gar nicht statt, da ich in der Form nicht mehr anwesend war. Seit dem Moment der Realisation bei Gangaji war ich Zeuge eines inneren Prozesses, in dem alles, was Name und Form hatte, als Nicht-Wirklichkeit zurückgewiesen wurde. Die ganze Welt, alles, was im Bewusstsein als Objekt erschien, und das war zu diesem Zeitpunkt primär das »Außen«, war leer und somit ohne Bedeutung für mich. Dazu zählten natürlich auch »andere Menschen«, denn auch sie entpuppten sich als von meinem Geist geschaffene Traumwesen ohne jede Wirklichkeit. Die Welt war wie ein Geister-Theater, Körper wandelten als leere Hüllen und hinter der Kulisse war: Nichts.

»Ich« hatte zu nichts und niemandem mehr eine Beziehung, alles war mir gleichgültig, oder besser: gleich ungültig. Leben oder Tod, es bedeutete nichts mehr. Der Impuls, den Körper aufrechtzuerhalten, war zu diesem Zeitpunkt sehr schwach geworden, der Selbsterhaltungstrieb zog sich zurück. Es war, als würde sich die Energie aus diesem Lichterspiel, das ich bisher für die Wirklichkeit gehalten hatte, nach innen zurückziehen. Ohne den Impuls zu haben, mit Poonjajis Person Kontakt aufzunehmen, erfuhr ich die Quelle tiefster Erkenntnis in mir, die zu sprudeln begann, als nicht getrennt vom Wissen, das aus seinem Munde sprach.

In meinem Brief an ihn hatte ich am Abend zuvor den Verlauf der Ereignisse und das Erwachen benannt und beschrieben. Während des folgenden Satsangs las Poonjaji den Brief vor:

»Dervish konnte jedem beliebigen Gedanken Leben schenken, denn er selbst entschied über ›wahr‹ oder ›nicht wahr‹. Dies ist der Geist (mind), der den Geist bewahrheitet, die Schlange, die in ihren eigenen Schwanz beißt.

Ich erkannte auch, dass innerhalb des Traums jede Wahrnehmung an einen Gedanken geknüpft ist. Gleichgültig, ob es sich um ›innere‹ oder ›äußere‹ Wahrnehmung handelt, die Blase der Wahrnehmung kann zu einem initialen Gedanken zurückverfolgt werden. Diese Blase der Wahrnehmung ist es, die Dervish ›Realität‹ nannte, ein Selbst-Bild, das überall reflektiert wurde. Dervish hatte es immer für selbstverständlich gehalten, da er nie hinterfragt hatte, wer diese ›Realität‹ geschaffen hatte.

In diesem Licht könnte der Satz aus der Bibel Am Anfang war das Wort verstanden werden. Genaugenommen war es nicht das Wort, sondern der Gedanke – der Ich-Gedanke – aber das Wort ist nur der gesprochene Gedanke.«

Poonjajis Kommentar: »Das verlangte nach Bestätigung.« Tatsächlich war die Bestätigung wesentlich, die Bestätigung aus meinem eigenen Herzen, welches sich in der Form von Shri Poonjaji zeigte. Der Geist oder die Realität, die davon übriggeblieben war, konnte »ES« kaum glauben, und in den beiden darauffolgenden Tagen schien ich in tiefste Zweifel und Verwirrung zu stürzen. Poonjajis Präsenz brachte den »Bodensatz« des Geistes aus dem Schatten schonungslos ans Tageslicht.

Am 3. Tag schrieb ich in einem Brief an Gangaji:

»Die ersten drei Tage hier waren wirklich hart. Die Verwirrung war so komplett, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was vor sich ging. Das Spektrum der Charakterfixierung zeigte sich in seiner ganzen Pracht. Dämonen erschienen in allen Facetten des Regenbogens. Letzte Nacht kam die Erkenntnis plötzlich aus dem Nichts und der Knoten, der so unauflösbar schien, löste sich plötzlich auf. Die ganze komplizierte Geschichte offenbarte sich als bloße Wiederholung der einen Versuchung: Die Versuchung zu suchen. Hier: Die Suche nach Erleuchtung. Der Dämon des Zweifels versuchte, mich vergessen zu machen, dass ich gefunden hatte.«

Wenn ich feststellte, dass für mich nichts mehr Gültigkeit oder Wert besaß, so ist dies nicht ganz korrekt. Genauer gesagt erlebte ich den Rückzugs-Prozess von der Welt wie einen Rückzug von Lebensenergie zunächst aus äußeren Phänomenen, doch sodann auch aus »inneren« Erscheinungen wie Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. Im Kern des verbleibenden inneren Prozesses stand die Vertiefung der Realisation. Alles schien sich darauf zurückzuziehen und diesem Kern zu dienen.

Am Ende der ersten Woche hatte ich einen Traum. Ich stand mit einem Freund Angesicht zu Angesicht an einem Abgrund und sprang mit ihm in die Tiefe. Während ich fiel, erkannte ich, dass es ein Fall ins Bodenlose war. Wellen von Angst durchströmten mich, und ich wiederholte wie ein ständiges Mantra: »Ich bin, Ich bin, Ich bin ...«, so, als müsse ich der Angst versichern, dass Ich ins Nichts, in die Leere fallen kann und trotzdem BIN.

Poonjaji ließ mich in sein Schlafzimmer holen, um mir mitzuteilen, dass ich jetzt zu seiner Familie gehöre. Auf eine seltsame Weise war ich für »äußere Kommunikation« nicht aufnahmefähig. Ich empfand keine Freude oder Leidenschaft für irgendetwas, auch nicht für Poonjajis Person, Gefühle schienen betäubt zu sein. Ohne das Bedürfnis zu empfinden, Poonjajis Person nahe zu sein, war ich ihm näher als nah. Doch es war keine emotionale Nähe, sondern die Absorbierung in dem einen Bewusstsein.

In der darauffolgenden Zeit wurde der Körper sehr krank. Er bekam Bronchitis und hohes Fieber. Der Körper brannte und wurde zunehmend schwächer. Ich konnte kein »Ich« mehr finden, welches an dem Prozess in irgendeiner Form beteiligt war. Es passierte einfach, ohne das Zutun eines »Ich«. Am letzten Tag vor meiner Abreise übergab ich Poonjaji einen Brief, den er während des Satsangs öffnete. Er zog ein leeres Blatt Papier aus dem Umschlag heraus. Das Gelächter unter den Anwesenden war groß, und Poonjaji hatte seine helle Freude. »Diese Sprache kann ich sehr gut verstehen«, war sein Kommentar, und er wiederholte diesen Satz mehrmals. Mit diesem Satz der Verabschiedung im Herzen verließ ich Lucknow, wohl wissend, dass es kein Abschied von meinem Lehrer war.

Brennen im Nichts