Angst und Hoffnung - Die Professoren u. Professorinnen der Fakultät für Theologie der Kath. Privat-Universität Linz - E-Book

Beschreibung

Diese Ausgabe widmet sich in interdisziplinärer Ausrichtung den menschlichen Grundphänomenen Angst und Hoffnung. Viele Menschen fürchten um ihre Sicherheit, um ihren Arbeitsplatz, um ihre Beziehungen, um ihre Zukunft. Warum ist Angst zu einem derartigen "Zeichen der Zeit" geworden? Und welche Rolle spielen die Religionen, die Kirchen, die Theologien dabei?

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InhaltsverzeichnisThPQ 165 (2017), Heft 4

Schwerpunktthema:

Angst und Hoffnung

Ansgar Kreutzer

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Manfred Prisching

Soziologie der kollektiven Ängste

1 Der Verlust des Wertebaldachins

2 Der Verlust der Gemeinschaft

3 Der Verlust der Überschaubarkeit

4 Der Verlust der Wohlstandskontinuität

5 Der Verlust der Sicherheit

6 Normalitätsdefizit

7 Resonanzdefizit

Gert Pickel

Angstmacherei und Populismus – eine ungewollte Wiederkehr der Religionen?

1 Macht Religion Angst?

2 Die Mobilisierung von Angst – und die politischen Ziele

3 Die Voraussetzung des Populismus – Bedrohungsängste in der Bevölkerung

4 Die Folgen für die Demokratie und die Sicht auf Religion

5 Fazit

Clemens Sedmak

„Die rechte Sorge“ – Resilienz und der Umgang mit Angst

1 Die Enge der Angst

2 Die Weite der Resilienz

3 Die Tiefe lebensbejahender Praxis

4 Die Unendlichkeit des Mysteriums

Franz Gruber

Theologie der Hoffnung in Zeiten der Angst

1 Hinführung zum Thema

2 Theologie der Hoffnung – Ein Entwurf in praktischer Hinsicht

3 Leiden, Tod und Schuld: Die Widerfahrnisse von Hoffnung. Über einige Einwürfe der Philosophie

4 Rechenschaft über das Zeugnis der Hoffnung – eine theologische Erwiderung

5 Hoffnung in Zeiten der Ängste?

Klaus Mertes SJ

Mut? Angst? Hoffnung!

1 Mut?

2 Angst

3 Angst wovor?

4 Hoffnung!

Wunibald Müller

Angst und Hoffnung in psychotherapeutischer sowie spiritueller Perspektive

1 Hinführung

2 Angst und Hoffnung

3 Die Angst kann uns mit unserem Hoffnungspotenzial in Berührung bringen

4 Von der heilenden Kraft der Hoffnung

5 Angst, Hoffnung, Glaube

6 Es ist die Erfahrung, Teil eines Größeren zu sein

7 Ein Glaube, der uns Mut macht, vertrauensvoll auf dem Wasser zu laufen

Abhandlungen

Gerold Lehner

Vom Nutzen und Nachteil der Reformation für die Ökumene

1 Vorbemerkung: Reformation, Reform und fluide Anpassung

2 Reform und Konflikt

3 Versuch über eine Theologie der Reform

4 Die Herausforderung

Ewald Volgger OT

50 Jahre „Musicam Sacram“

1 Was brachte nun „Musicam Sacram“ Neues?

2 Inwieweit passt da das neue Gotteslob hinein?

3 Welche Ansprüche harren noch der Umsetzung bzw. wo ist mehr möglich?

Tomaš Halík

„Selig die Fernstehenden“

Literatur

Elisabeth Birnbaum

Das aktuelle theologische Buch

Rezensionen

Eingesandte Schriften

Katholische Privat-Universität Linz – Studienjahr 2016/17

Register(Printausgabe)

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

„No tinc por“ – „ich habe keine Angst“. Ein großes Spruchband mit diesen Worten in katalanischer Sprache führte die Demonstration an, die nach dem schrecklichen Terroranschlag vom 17. August 2017 in Barcelona stattfand. Die Demonstranten griffen scharfsinnig auf, was die Terroristen beabsichtigten: ein Klima der Angst zu schaffen, in dem sich niemand auf der Welt mehr sicher fühlen soll; und sie setzten ein mutiges Zeichen der Hoffnung dagegen. Auch über den Terrorismus hinaus geht die Angst um. Der Soziologe Heinz Bude spricht gar von einer „Gesellschaft der Angst“1: Viele fühlten sich vom Verlust ihres Arbeitsplatzes, von sozialem Abstieg oder Ausschluss bedroht; private Beziehungen, Partnerschaften, familiale Bande würden zunehmend als brüchig empfunden. Gerade angesichts dominierender Unsicherheit warnt Bude jedoch davor, sich der Angst völlig auszuliefern. Das Schlimmste sei die „Angst vor der Angst“, denn sie führe zu lähmender Resignation. Eine Angst dagegen, die nicht völlig auf sich selbst festgelegt ist, eröffne Handlungsspielräume „als Aussicht auf neue Möglichkeiten“: „Wer Angst hat, hat auch Hoffnung.“2 Hierin sieht der Theologe Jürgen Werbick in seinem neuesten Buch „Die Angst durchkreuzen. Ermutigung aus dem Glauben“3 einen Einsatzpunkt für Religion und Theologie. Werbick weiß um die ambivalente Beziehung von Religion, zumal der christlichen, zur Angst. „Die Religionen, speziell der christliche Glaube, stehen nicht ohne Grund in dem Verdacht, elementare Ängste der Menschen geschürt und ausgebeutet zu haben.“4 Aber der Theologe sieht in religiösen Erfahrungen zugleich „die wohl bedachte Weigerung, sich von der Angst sprach- und hilflos machen, sich von ihr Mut und Hoffnung rauben zu lassen“5. Die Beiträge dieser aktuellen Ausgabe der Theologisch-praktischen Quartalschrift loten im Schnittfeld von Human-, Sozial- und theologischen Wissenschaften die Gegenwartsbedeutung von Ängsten aus und erkunden zugleich Hoffnungspotenziale, die zu ihrer Bewältigung beitragen.

Zu Beginn analysiert der Grazer Soziologe Manfred Prisching die Entstehung eines Lebensgefühls der Angst. Er zeigt, wie in einer „Auflösungsgesellschaft“ Vorstellungen von Normalität und Ordnung verschwimmen. Sie lassen Gefühle der Unsicherheit zurück, die neoautoritäre Bewegungen geschickt für sich zu nutzen wissen. Solche Instrumentalisierungen von kollektiven Ängsten nimmt Gert Pickel, Religionssoziologe aus Leipzig, in den Blick. Er zeigt, wie Angstgefühle zur Entstehung von Feindbildern gegenüber Religionen beitragen („Islamophobie“) und wie mit Ängsten – eine populistische und demokratiegefährdende – Politik betrieben wird. Auf die konstruktive Bewältigung von Angst hebt der Beitrag von Clemens Sedmak, Philosoph und Sozialethiker aus Salzburg, ab. Er stellt in diesem Zusammenhang das Konzept der Resilienz vor, der Fähigkeit, gut mit Widrigkeiten umzugehen. Dabei wirft der Autor einen Blick auf die Hoffnungsinstanz Religion als „Horizont für ein Leben ohne Angst“. Das Projekt einer Theologie der Hoffnung in Zeiten der Ängste entfaltet der Linzer Dogmatiker Franz Gruber. Hoffnung aus dem Glauben blendet das Katastrophische in Geschichte und Gegenwart nicht aus, sondern stellt sich ihm. Erfahrbar wird Hoffnung bei und an Menschen, „die Hoffnung leben und geben aus der Kraft des Widerstehens entmenschlichter und entfremdeter Lebenssphären“. Der anschließende Beitrag von Klaus Mertes SJ ist persönlich gehalten. Der Rektor des Jesuitenkollegs St. Blasien, der die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche maßgeblich ins Rollen gebracht hat, reflektiert über kontraproduktive Ängste in Institutionen wie den Kirchen. Zugleich plädiert er für eine Haltung der Hoffnung gerade in der Bedrängnis, denn sie hält „die Augen offen für die helfenden und rettenden Hände, die sich entgegenstrecken“. Aus der reichen Erfahrung als langjähriger Leiter des Recollectio-Hauses Münsterschwarzach heraus formuliert Wunibald Müller seine therapeutischen und spirituellen Überlegungen, die den Kreis unseres Themenschwerpunktes schließen. Mit persönlichen Worten beschreibt Müller sein Gottesbild und seine Spiritualität, die helfen, Angst zu begegnen und Hoffnung zu entwickeln.

Drei thematisch freie Beiträge bereichern unser Heft: Der Superintendent Oberösterreichs, Gerold Lehner, denkt angesichts des Reformationsjubiläums über eine Theologie der Reform aus ökumenischer Perspektive nach. Ewald Volgger OT erinnert mit dem vor 50 Jahren veröffentlichten Dokument Musicam Sacram an die Bedeutung der Kirchenmusik; und Tomáš Halík resümiert seine breit rezipierte Theologie der kirchlich und religiös „Randständigen“ und entwickelt sie weiter.

Liebe Leserinnen und Leser!

Die Themenstellung der vorliegenden Theologisch-praktischen Quartalschrift zu Angst und Hoffnung verdankt sich auch einem Zitat: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ – so lauten die berühmten Eingangsworte der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Mit dem Aufrufen dieser vier Grundempfindungen, welche alle Menschen teilen, wollte das Konzil die Solidarität der Kirche mit der Welt von heute zum Ausdruck bringen und eröffnete sein Programm einer Theologie der Zeichen der Zeit. Das Profil unserer Zeitschrift lässt sich durchaus als eine publikatorische Umsetzung solch theologischer Zeitgenossenschaft verstehen. Seit 2012 durfte ich als Chefredakteur der Theologisch-praktischen Quartalschrift an diesem Projekt mitwirken. Nun scheide ich aus der Funktion aus. Daher ist es mir ein großes Anliegen, an dieser Stelle mit einem herzlichen Dank zu schließen: Ich danke den Redaktionskolleginnen und -kollegen für die immer inspirierenden und kreativen Sitzungen, den Herausgeberinnen und Herausgebern für das Vertrauen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Friedrich Pustet für die angenehme Zusammenarbeit. Vor allem aber danke ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihr freundliches Interesse, Ihre Rückmeldungen und Ihre Treue!

Ihr Ansgar Kreutzer

(Chefredakteur)

1Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.

2 Interview mit Heinz Bude in der Zeitung „Die Furche“ v. 13.5.2015.

3Jürgen Werbick, Die Angst durchkreuzen. Ermutigung aus dem Glauben, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 2017.

4 Ebd., 15.

5 Ebd.

Manfred Prisching

Soziologie der kollektiven Ängste

 Viele Menschen haben zunehmend den Eindruck, in einer Gesellschaft zu leben, in der nichts mehr „normal“ ist. Der Grazer Soziologe Manfred Prisching zeigt eindrucksvoll, welche zentralen Verlusterfahrungen sich kollektiv entfalten, wenn Werte, Gemeinschaft, Überschaubarkeit, Wohlstand und Sicherheit in Frage stehen: der Verlust der Normalität wie z. B. vermeintlicher Selbstverständlichkeiten und der Verlust der Resonanz (H. Rosa), d. h. einer gelingenden Weltbeziehung wie Verbundenheit mit und Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen. Wer davon profitiert, sind neoautoritäre Bewegungen. (Redaktion)

Wir leben (in Mitteleuropa) in einer wohlhabenden und historisch einmalig sicheren Welt, und dennoch scheinen die Ängste nicht zu weichen, ja sogar zuzunehmen, bis hin zum Empfinden einer Risikogesellschaft und zum Befund einer umfassenden Angstgesellschaft.1 Das ist eine paradoxe Sache. Denn der beste Indikator für Lebenssicherheit und Wohlstand ist die Lebenserwartung, die in den westlichen Ländern hoch ist und weiter ansteigt, jedes Jahr um ein Vierteljahr. Dennoch entspricht diese objektive Sicherheit nicht dem Lebensgefühl. Die oberflächlichste aller Bedrohungen ist der Terror. Manche Menschen sagen, dass sie sich kaum noch auf die Straße trauen. Mehr als 20.000 Tote pro Jahr in Europa jedoch gibt es durch Mord und 30.000 durch Autounfälle. Da ist es sonderbar, dass Menschen Angst haben, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Terroranschläge haben in den letzten Jahren etwa 200 bis 300 Tote pro Jahr in Europa verursacht. Für Amerika wurde festgestellt: Zwei Tote pro Jahr durch eingewanderte, islamische Terroristen, die der amerikanische Präsident für eine der größten Gefahren hält, aber 21 Tote durch bewaffnete Kleinkinder, 31 durch Blitzeinschläge, 69 Personen werden von Rasenmähern getötet, und 737 Amerikaner sterben jährlich, weil sie aus dem Bett fallen.2 Ehepartner sind jedenfalls statistisch viel gefährlicher als Terroristen. Doch die Feststellung, dass solche Ängste übertrieben sind, beseitigt diese nicht. Möglicherweise aber haben wir vor den falschen Dingen Angst, etwa vor importierten Salzsäure-Hühnern: Es wäre ein Skandal, würde es publik, dass man im Magen von Menschen bereits Spuren von Salzsäure gefunden hat. Das ist allerdings zwingend der Fall, denn Magensaft besteht hauptsächlich aus Salzsäure. Deshalb kaufen auch Menschen, bei denen keinerlei Unverträglichkeiten festgestellt worden sind, glutenfreie und laktosefreie Produkte. Man weiß ja nie.

Es herrscht Unbehagen, Angst, Wut. Heinz Bude sagt: „[Angst] ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind.“3 Sie ist die spätmoderne Verständigungssprache. Man spricht über Gefühle, die gewissermaßen objektiviert, als Ausfluss einer (in Wahrheit nichtwirklichen) Wirklichkeit dargestellt werden. Denn die Gefahren sind „unsichtbar“ geworden. Angst kann man auch vor gegensätzlichen Dingen haben: Bei der Kontrollgesellschaft weiß man schon nicht mehr, ob die Angst vor dem „großen Bruder“ überwiegt oder die Maßnahmen allseitiger Überwachung bereits wieder angstreduzierend sind. Am besten hat man Angst vor beidem, vor der Überwachung und vor der Nichtüberwachung.

Dabei haben wir doch viele herkömmliche Ängste abgebaut: vor der Hölle und dem Teufel, vor den Dämonen und Geistern, vor dem bösen Blick der Nachbarin, vor dem Jüngsten Gericht … Dennoch handelt es sich um einen wuchernden Angsthaushalt, mit Folgen für die politische Szene. Sind alle verrückt geworden? Paranoia an allen Ecken und Enden? Woher die vielen Ängste?

Die Ängste resultieren aus dem Verlust der Normalität, aus dem Phänomen einer „Auflösungsgesellschaft“. Da war einmal eine Ordnung der Völker, Gruppen und Staaten (das war nicht notwendig eine besonders gute oder bessere Ordnung, zumal es im Rückblick ohnehin alle möglichen realitätsfernen Stimmungen und Gefühle gibt), doch diese Ordnung ist zerbrochen. Und eine neue geistige Ordnung ist noch nicht an ihre Stelle getreten. Man lebt in einer Gesellschaft, in der nichts mehr „normal“ ist – jedenfalls ist es immer weniger möglich festzustellen, was normal wäre. Wie aber soll man ohne Normalität leben? Bei diesem Normalitätsproblem handelt es sich um fünf aktuell diskutierte Fragestellungen, die auch für den politischen Diskurs mit neoautoritären Bewegungen eine entscheidende Rolle spielen: Werte, Gemeinschaft, Komplexität, Wohlstand, Sicherheit.

1 Der Verlust des Wertebaldachins

Erstens: Die Menschen sind durch die Auflösung des „Baldachins“ der gemeinsamen Werte verunsichert.4 Sie suchen eine einheitliche und konsistente Wertekonstellation. Man muss wissen, was gilt. Es braucht irgendeine Sinnstiftungsquelle. Normative Einheit wurde lange Zeit durch die Religion hergestellt, dann durch Nationalismus, schließlich durch Vernunftglauben und moderne totalitäre Ideologien wie den Marxismus und Faschismus. Das Schwächeln solcher Sinnstiftungssysteme kann eine Zeitlang durch Wohlstand und Konsum überbrückt werden: Menschen, die kaufen, schießen nicht. Aber auf Dauer scheint das nicht zu genügen, besonders wenn es mit dem versprochenen Wohlstandszuwachs auch noch zu hapern beginnt. Wenn es kaum noch außergesellschaftliche Bezüge (wie religiöse Tröstungen) gibt, dann sind die Anderen, die Mitmenschen, Himmel und Hölle zugleich. Der letztere Gedanke, den Heinz Bude von Paul Tillich entlehnt, macht zwangsläufig alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu solchen der Spannung, Unsicherheit, Ambivalenz und Angst, zumal in einer liquiden Spätmoderne5, in der alles andauernd in Schwebe bleibt, der Begründung entbehrt und der Kontingenz6 ausgesetzt ist. Bude meint nicht zu Unrecht, man könne aus dem, wovor sich die Menschen ängstigen, ableiten, „was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln“7.

Neoautoritäre8 versprechen die Wiederherstellung der „richtigen“ Werte, auf Wegen und mit Methoden, die üblicherweise weit jenseits dieser Werte liegen. Ihre Versprechungen sind haltlos, denn das Problem ist, dass es in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft keinen gemeinsamen „Wertehimmel“ geben kann, keine umfassende Leitkultur oder gesellschaftliche Gesinnungslehre. Dort lebt man definitionsgemäß in multiplen Identitäten, in der Vielfalt, in liquiden Verhältnissen, in der Fragilität. Es macht aber Angst, wenn man nicht mehr in der „eigenen Kultur“ lebt, in dem Sinn, dass man über Gültigkeiten Bescheid weiß – was also gut und böse, richtig und falsch ist. Doch es ist gerade diese „eigene Kultur“, die unbefragte Gültigkeiten aufgelöst und damit Freiheiten geschaffen hat, auf die man nicht verzichten will.

2 Der Verlust der Gemeinschaft

Zweitens: Menschen hegen tribalistische Gefühle: Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Heimat, Nation. Sie suchen nach einem Gemeinschaftsgefühl, dessen Quellen versiegt sind, sie streben Einbindung und Einbettung an;9 aber da sind nur noch fluktuierende Gruppierungen. Auch der Nationalismus ist nichts anderes als eine groß geratene Form von „Stammesdenken“, vielleicht die größtmögliche (sodass Europa als Identifikationsobjekt die „Community“ strapazieren würde). Trotz eines sich abschwächenden Gemeinschaftsgefühls war in den deutschsprachigen Ländern in den letzten Jahrzehnten noch die Erfahrung des Krieges gegenwärtig: Kriegsfolgenbetroffenheit und Schuldgefühl. Man hat sich geduckt und hart gearbeitet, mit erstaunlich positiven Folgen. Aber diese Art von Gemeinschaftsstiftung ist in den nachfolgenden Generationen immer weniger ein wirksames Bewusstseinselement. Der Kitt zerbröckelt, die Umstände werden als selbstverständlich genommen, die Wettbewerbsfähigkeit wird wichtiger.

Die Milieus driften auseinander. Da ist die traditionell-kleinbürgerliche Arbeiterschaft, die sichere Jobs und vertraute Umwelt will. Da sind aber auch qualifizierte, moderne Arbeitnehmer, die gut damit zurechtkommen, wenn sie mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft haben. Für die ersteren sind Flexibilität und Liquidität eine Bedrohung, für die letzteren ist es das selbstverständliche Ambiente. Es gibt kreative, coole, sich als Bohemiens gebende Individualisten, die durchaus gutes Geld verdienen. Ein paar konservative Bildungsbürger halten noch die Kulturinstitutionen aufrecht, aber sie sind im Schwinden. Es gibt die bereits etablierten Immigranten, die mit dem Nachzug von Ihresgleichen überhaupt keine Freude haben; und die neueren Flüchtlinge, deren Erwartungen weitgehend enttäuscht werden. Es gibt ein progressiv-intellektuelles Milieu, das sich von der Wirklichkeit der meisten Menschen längst abgekoppelt hat, sich über die Ablösung des Binnen-I den Kopf zerbricht und die Förderung unkonventioneller sexueller Orientierungen für das zentrale soziale Problem hält. Jedenfalls halten die einen die anderen für verrückt, für Restexemplare aus der alten Welt, für Dumpfbacken, für verwöhnte Illusionisten, die auf ihre Kosten leben. Das ist Desintegration.10

Neoautoritäre nehmen diese Heterogenisierung auf. Sie versprechen die Wiederherstellung des „Stammes“, den Abschluss nach außen, die Rekonstruktion staatlicher Container, die Eliminierung alles Fremden. „Wir sind das Volk“ war der Slogan von Demokraten gegen die Kommunisten, jetzt ertönt er als populistischer Ruf. Mehr Demokratisierung haben immer linke Gruppen gefordert, jetzt sind es Rechte, die ihre Art von Berufung auf die „Basis“ des Volkes vorantreiben. In der nationalen Abgeschlossenheit wären wir dann wieder „unter uns“ und könnten alles nach unserem Belieben einrichten – im Brexit-Großbritannien, im Trump-Amerika oder im Le Pen-Frankreich. Gemeinschaft ist in der Geschichte immer durch Feinderzeugung intensiviert worden, und bei solcher Gelegenheit hat der Mob immer eine hohe Folgebereitschaft aufgewiesen. Also braucht man Feinde oder Sündenböcke. Diese finden sich (in einem genialen politischen Arrangement der Neoautoritären) sowohl „oben“ (Ausbeuter, Kapitalisten, Banken, Intellektuelle, Experten, Journalisten – ein riesiges Verschwörungsgebilde, wie es in den USA immer wieder dargestellt wurde) als auch „unten“ (Abzocker, Schmarotzer, Flüchtlinge, Muslime, Terroristen). Angst lässt sich in Hass transformieren und dergestalt partiell bewältigen.

Dass die Wiederherstellung dichter Gemeinschaft in Zeiten weltweiter Verflechtungen und Abhängigkeiten blanker Unsinn ist, hindert nicht den Erfolg der Parole.11 Denn die Angst wird gespeist durch die Einflüsse von außen: durch die Gemeinschaftsbedrohung durch Fremde, durch den Jobverlust ins Ausland, durch erlebte kulturelle Vielfältigkeit mit entsprechenden Kollisionen. Das Gefühl steigt, dass man nicht mehr Herr im eigenen Haus ist – und das ist man auch tatsächlich nicht mehr, in einer globalisierten-vernetzten Welt. Dass der Abbau von Europäisierung und Globalisierung das eigene Heim wieder traut macht, ist realitätsfern.

3 Der Verlust der Überschaubarkeit

Drittens: Menschen wollen mit ihrer Lebenswelt und dem gesellschaftlichen Gerüst, welches den Rahmen für die Alltäglichkeit bietet, vertraut sein, aber sie kennen sich nicht mehr aus: Die Unüberschaubarkeit in allen Lebensbereichen12 ist belastend geworden: Stress und Überforderung.13 Alles ist kompliziert geworden, und die Welt ist fremd, an allen Ecken. Was zu tun wäre, scheint sich allemal in der Komplexität zu verheddern.

Die Neoautoritären haben begriffen, was die Progressiv-Intellektuellen in den letzten Jahrzehnten gepredigt haben. Es gibt gar keine Wirklichkeit und keine Wahrheit, alles ist Konstruktion und Sprache, die Welt findet oberhalb der banalen materiellen Dinge statt. Deshalb kann man die Welt auch definieren, wie man sie will – und die Neoautoritären treten denn ein in die Epoche des Postfaktizismus. Die Dinge sind, wie man sagt, dass sie sind, besonders wenn man es hinlänglich oft wiederholt. Fact-checking ist bloße Strategie der etablierten Oberklasse samt ihren manipulatorischen Intellektuellen, die Behauptung der umfassenden Komplexität ein bloßer Herrschaftsmechanismus. Die Neoautoritären hingegen sind basisdemokratisch, sie haben das Ohr an den Wünschen des Volkes. Sie versprechen die einfachen Lösungen: Die Führungsgestalt, die ja aus der „Substanz des Volkes“ kommt und deshalb genau weiß, was die Menschen wollen, zerschlägt den Gordischen Knoten. Man kann die Dinge ganz einfach und klar sagen, und damit können sich die Menschen diese Welt wieder aneignen, die ihnen weggenommen worden ist.

Wenn plötzlich jene Gruppen, welche die Wirklichkeit in stetem Bemühen relativiert haben, diese wiederentdecken, weil sie anderes als „Tatsachen“ den Neoautoritären nicht entgegenhalten können, hat dies etwas Skurriles. Denn in der Tat gibt es keine Gordischen Knoten mehr, sondern komplexe Verhältnisse, die wir erst langsam zu begreifen beginnen. Wenn es Gordische Knoten gäbe, dann würden die Akteure sie nicht finden. Und wenn sie sie fänden, hätten sie keine geeigneten Schwerter, um sie zu durchschlagen. Damit bleibt die Angst, in unbegriffenen Verhältnissen zu leben, bestehen. (Man kann sie durch die Angst ergänzen, in die Hände der „schrecklichen Vereinfacher“ zu fallen.)

4 Der Verlust der Wohlstandskontinuität

Viertens: Das war noch das letzte Versprechen, alles, worauf man bauen konnte: Wohlstand und Fortschritt, Schutz und Absicherung. Noch um die Jahrhundertwende hat man sich in den vielen Erfolgsgeschichten gesonnt: Europa als Vorbild für die Welt, die Welt im Modus der Konvergenz, Wirtschaftsverflechtung und Demokratisierung gehen Hand in Hand: Alle werden reich und demokratisch. Dann kam die weltweite Wirtschaftskrise 2008 ff., und eine Krisensequenz folgte: Immobilienkrise, Bankenkrise, Realwirtschaftskrise, Budgetkrise, Griechenlandkrise. Und jetzt sind wir in der Migrationskrise, der Terrorkrise und der Europakrise. Die soliden Industriejobs sind teilweise abgewandert, die Vorschau auf Industrie 4.0 lässt den Rest dahinschmelzen. Die Polarisierung von Einkommen und Vermögen hat nicht nur seit langem die USA, sondern neuerdings auch Europa erfasst. Die ländlichen Gebiete haben den Abstieg vor Augen, wenn sie die leerstehenden Geschäfte und die abgesiedelten öffentlichen Einrichtungen betrachten (und sie wählen deshalb überall, in den USA, in Britannien, in Frankreich und in Österreich, anders als die Städte).

In der Gesellschaft der Beschleunigung14 muss man perfekter werden, optimieren, einen Zahn zulegen, qualifizieren. Aber alle, die alles richtig machen, erleben, dass es schief geht, weil es immer noch zu wenig ist – gerade die Mittelschicht, welche die bürgerlichen Werte gelebt hat, fühlt sich getäuscht.15 Man strengt sich an, aber ist mit Unzulänglichkeit konfrontiert. Man hat die Kinder, mit allen Mitteln, hinaufqualifiziert, aber das reicht nicht für deren sichere Karriere. Alles das macht Stress und Angst. Selbst die Aufsteiger wissen, dass sie so tun müssen, als ob sie wüssten, was sie tun, während sie in Wahrheit auf dünnem Eis wandeln. Nicht die Leistung, sondern der Erfolg zählt.16 Es ist eine Luxusgesellschaft, die alles hat, nur kein Vertrauen in die Zukunft und keine Sicherheit. Dazu kommen die Immigranten, die sich in die besonders bedrängte untere Hälfte der Bevölkerung drängen, Arbeitsplätze wegnehmen, auf die man ein Anrecht zu haben glaubte, und die Löhne drücken. Da geht doch alles den Bach hinunter.

5 Der Verlust der Sicherheit

Fünftens: Eine letzte Kategorie von Bedürfnissen muss erwähnt werden: Sicherheit. Man mag auch diese Kategorie nach unterschiedlichen Richtungen ausfächern; doch in ganz fundamentaler Weise handelt es sich um handfeste (Über-)Lebenssicherheit, körperliche Sicherheit, Schutz vor Gewalt. Dieses Ziel wurde in der Geschichte durch die Durchsetzung staatlicher Souveränität erreicht und durch das staatliche Gewaltmonopol abgesichert. 70 Jahre europäischer Friedlichkeit haben die Sensibilität noch gesteigert. Und nun: die Erfahrung des Terrors – jederzeit, an jedem Ort, gegen jedes Ziel. Und dazu, in schwieriger Weise assoziativ verknüpft (weil nun eben die Standardattentäter Muslime sind und sich in der Durchführung von Attentaten auf ihre Religion berufen), die Gefährdung von Souveränität und Gewaltmonopol: durch Flüchtlinge, die über die Grenze drängen, die den Staat hilflos erscheinen lassen.

Die Neoautoritären haben begriffen, dass der Schutz gegen Gewaltgefährdung eine fundamentale existenzielle Kategorie betrifft. Wenn ein Staat das nicht mehr leisten kann, ist er verächtlich. Deshalb bieten sie die einfachen Lösungen an: Schließung der Grenze; Mauern bauen; Migranten heimschicken; Strafen drastisch erhöhen. Doch in einer vernetzten Welt werden wir gesicherte Heimeligkeit nicht wiederherstellen können, und während alle auf die Grenzen starren, breiten sich andere Unsicherheitspotenziale aus, etwa im Zuge der Digitalisierung – demnächst Blackout? Dark Net? Cyberwar? Ein paar Eingriffe ins Netz, und es lassen sich Völker verwüsten.

6 Normalitätsdefizit

Werte, Gemeinschaft, Überschaubarkeit, Wohlstand, Sicherheit – alles steht in Frage. Wir wenden uns zwei zentralen Verlusterfahrungen zu, die aus den geschilderten fünf Entwicklungen erwachsen: Verlust der Normalität und Verlust der Resonanz.

Die gegenwärtige Angst resultiert aus dem Kontrast: aus der Wohlfahrtsentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aus dem nie dagewesenen „Integrationsversprechen“, das aus Bildung und Leistung, Karriere und Statuserwerb, Mobilität und Wohlstand erwächst.17 Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Nun rücken die gut ausgebildeten, anspruchsvollen, erwartungsfrohen Horden an, aber sie bleiben stecken, denn in jene Positionen, wo es sich wirklich „auszahlt“, kommt man nur mit Beziehungen, Netzwerken, kulturellem Kapital.18 Man nimmt zudem wahr, dass auch die Erfolgreichen über persönliche Mediokrität nicht hinauskommen – aber sie haben eben Glück gehabt. Dennoch flattern über die Bildschirme die Versprechungen der Spätmoderne, und so ist es gar nicht einsichtig, warum man in dieser vermeintlichen Multioptionsgesellschaft19 auf etwas verzichten soll. Doch die (ohnehin überzogenen) Bilder von Euphorie, Luxus, Schönheit und Konsum gelten in der Praxis nur für die obersten drei Prozent.20 Das schafft Verbitterung.

Man kann das Problem jedoch nicht auf sozioökonomische Verhältnisse reduzieren, es ist deshalb mit ein bisschen mehr Geld oder Umverteilung nicht zu lösen. Denn es geht um Lebensstil, um respektierte Milieus, um Identität, um Lebensgefühl. Es geht um Kränkung und Enteignung, um das Gefühl von Ungerechtigkeit, um zunehmende Fremdheit in der eigenen Welt. Diese ist so unsicher geworden, dass man immer etwas falsch machen und scheitern kann. Man kann sich nie ausruhen. Auch die Partnerschaft kann jederzeit kollabieren.

Man hat also Angst, man muss sie aber sorgfältig verbergen. Wer ängstlich ist, der verliert – und somit läuft das gängige Ideal der Coolness auf die Selbstzensur von Angst hinaus: Verdrängung als Grundvoraussetzung, um überhaupt im Spiel zu bleiben. Denn die moderne „zweidimensionale“ Gesellschaft, die auf Geld und Spaß beruht,21 produziert zwar Stress und Angst, aber man muss in jeder Situation dennoch ein glückliches Gesicht machen. Fröhlichkeit ist Vorschrift. Gut-drauf-sein ist Pflicht, sonst findet man sich schon in der Verliererecke. Andererseits ist Angst ein vorzeigbares Argument, sie hat etwas Authentisches, sie ist als Bekenntnis unbestreitbar, gerade in dieser authentizitätssüchtigen Gesellschaft. Das Angstbekenntnis, etwa des „Wutbürgers“, ist zudem intellektuell nicht anstrengend, denn niemand kann gegen die Angstempfindungen einer Person argumentieren. Wenn man Angst hat, hat man Angst. Die „inszenierte Opferrolle“ ist die letzte Rückzugsposition.

Es ist nichts mehr normal. Man ängstigt sich vor der Welt, aber man ängstigt sich auch vor der eigenen Angst. Man verdrängt sie, aber man pflegt sie auch, nicht zuletzt als (unwiderlegbares) politisches Argument. Die heimische Bevölkerung ängstigt sich vor den Fremden, die Eingewanderten ängstigen sich vor deren Angst. Angst und Wut werden kombiniert.

7 Resonanzdefizit

In dieser Szenerie, in der alles aus den Fugen gerät, steigt das tiefe Gefühl auf, überhaupt nicht mehr verstanden zu werden. Irgendetwas geht schief. Alles geht schief. Die grundlegende Verbindung zwischen Mensch und Welt scheint zerbrochen. Hartmut Rosa hat dies in den Begriff der Resonanz gefasst.22 Resonanz bedeutet: eine gelingende Weltbeziehung, Verbundenheit mit und Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen, eine andere, zufriedenstellende Art des In-der-Welt-Seins; im „Einklang“ stehen mit sich und der Welt. Gegenstück ist die Repulsion: Die Welt fühlt sich feindselig an. Sie antwortet nicht mehr. Man hat keine innere Beziehung zu ihr. Man fühlt sich fremd.

Die spätmoderne Welt ist durch eine ungeheure Leistungsfähigkeit gekennzeichnet, die mit Vernunft und Rationalität, Berechnung und Fixierung, Kontrolle und Effizienz zu tun hat, freilich sind diese Komponenten auch verknüpft mit Ressourcenverbrauch und Steigerungslogik, Wachstum und „Tretmühle“.23 Dies hat uns großartige Errungenschaften beschert: lange Lebenserwartung, haltbare Hüftgelenke, Buchdruck, Antibiotika, Smartphones. Die andere Seite, bei der es weniger gut aussieht, sind positive Weltbeziehungen auf den Resonanzachsen: Wohlgefühl, Beheimatung, Einbettung, Zuhause-Sein, gelingende Beziehung, Zufriedenheit; also das fundamentale Gefühl: Im Grunde, alles in allem, ist die Welt in Ordnung. Es ist der Unterschied zwischen der Weltbeherrschung und der Weltanverwandlung.

In der Spätmoderne haben wir möglicherweise ein Problem auf beiden Seiten der Weltbeziehung: Wenn wir schon hingenommen haben, dass wir auf der „romantischen“ Seite24 Abstriche machen müssen, dann wird die Balance prekär, wenn auch die Seite der Leistungsfähigkeit nicht mehr funktioniert – wenn auf jeden Fall das Vertrauen auf Verbesserung und Fortschritt, auf Sicherheit und Wohlstand schwindet. Denn diese Welt braucht Dynamik, Ausweitung, Grenzenlosigkeit – was letzten Endes nicht funktionieren kann. Und das „gelingende Leben“ erschöpft sich nun einmal nicht in verbesserten Zahnplomben und den neuesten Nike-Sportschuhen. Romantische Desiderate bleiben unbefriedigt, das materielle Substrat wird dünn: Dann bricht Sinnlosigkeit auf. Sie wird artikuliert unter Bezug auf die genannten vier Dimensionen: (1) Das normative Gefüge der Welt gerät ins Durcheinander, und man hat Angst, weil man zwischen dem Richtigen und dem Falschen nicht mehr unterscheiden kann. (2) Die unproblematische Beheimatung ist zerbröckelt, und man hat Angst, weil man allein und fremd ist. (3) Die Welt ist so komplex geworden, dass man sich nirgends mehr auskennt, und man hat Angst, weil man in einem unverstandenen, gefährlichen Ambiente leben muss. (4) Der Wohlstand gerät in Gefahr, und man hat Angst, dass die fundamentalen Rahmenbedingungen des Lebens nicht mehr halten. (5) Selbst die Friedlichkeit bröckelt, und man hat das Gefühl, mit der allseitigen körperlichen Gefährdung in vergangene Zeiten zurückzufallen.

Daraus speist sich das starke Gefühl: Die Welt ist aus den Fugen, und alle tun so, als ob alles in Ordnung wäre.

Der Autor:Geb. 1950, Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaftslehre, Professor für Soziologie an der Universität Graz. Neuere Publikation: Verrückt. Verspielt. Verschroben. Unsere spätmoderne Gesellschaft (zus. mit Franz Yang-Močnik), Wien 2014. Arbeiten zur Wirtschafts- und Politiksoziologie, Kultursoziologie und Zeitdiagnostik.

Weiterführende Literatur:

– Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014. Bude beschreibt das Lebensgefühl einer Gesellschaft, welcher der Boden unter den Füßen zu schwanken scheint. Er sichtet Lebensbereiche: von den Schulen zu den Finanzmärkten, von den Partnerschaften zur digitalen Welt. Es sind unterschiedliche Mechanismen, die wirksam sind – jedenfalls produzieren sie die Angst der Gegenwart.

1Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a. M. 1986; Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.

2 Die Zahlen stammen vom Europa-Direktor der Hilfsorganisation Human Rights Watch.

3Heinz Bude, Gesellschaft der Angst (s. Anm. 1), 11.

4Hans-Georg Soeffner, Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist 2000.

5Zygmunt Bauman, Liquid Modernity, Cambridge 2000.

6Frank Becker / Benjamin Scheller / Ute Schneider (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt a. M. 2016.

7Heinz Bude, Gesellschaft der Angst (s. Anm. 1), 10.

8 Der Bezug auf neoautoritäre Bewegungen und Personen ist deswegen von Belang, weil es diese Gruppierungen sind, die herrschende Ängste in der westlichen Welt ebenso nutzen wie erzeugen. Die fünf Elemente, die hier besprochen werden, können empirisch aus dem aktuellen politischen Diskurs abgeleitet werden (aus Homepages, Programmen, Verkündigungen, Reden, Kommentaren, Auseinandersetzungen). Der Begriff „neoautoritär“ scheint mir die Orientierung dieser Bewegungen besser zu treffen als die verbreitete (und ideologisch geleitete) Bezeichnung „rechtspopulistisch“; denn in Wahrheit besteht das Programm dieser Gruppen ebenso aus (konventionell) rechten wie linken Elementen. So gehört beispielsweise ein starker Etatismus und Garantismus (also das Versprechen materieller Sicherheit, Sozialstaatlichkeit und Wohlstand) durchaus in das politische Repertoire. Beim Begriff „neoautoritär“ hingegen weiß man ganz genau, was gemeint ist.

9Michel Maffesoli, The Time of the Tribes, London u. a. 1996.

10 Unterschiedliche Milieus hat es immer gegeben. Aber hinzu kommt, dass in einer explodierenden Kommunikationsgesellschaft, in der Diskursivierung aller Verhältnisse, die wechselseitige Sichtbarkeit ebenso wesentlich gestiegen ist wie die Artikulationsmöglichkeit aller Gruppierungen (über die sozialen Medien). Vgl. Hubert Knoblauch, Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden 2016. Sie kommen also wechselseitig andauernd in Kontakt und stellen fest, dass sie in verschiedenen Welten zu leben scheinen.

11Peter L. Berger (Hg.), Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften, Gütersloh 1997.

12Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985.

13Karl Peter Fritzsche, Die Stressgesellschaft. Vom schwierigen Umgang mit den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, München 1998.

14Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2006.

15Rolf G. Heinze, Die erschöpfte Mitte. Zwischen marktbestimmten Soziallagen, politischer Stagnation und der Chance auf Gestaltung, Weinheim u. a. 2011.

16Sighard Neckel, Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a. M. 2008.

17Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1997.

18 Den heimtückischen Mechanismus beginnen wir gerade zu begreifen: Qualifizierung hilft nicht, wenn alle qualifiziert sind; dann ist es bloß die Minimalvoraussetzung, überhaupt mitspielen zu dürfen. Aber noch gravierender ist der folgende Zusammenhang: die Erkenntnis, dass die große Egalisierung (die ganze Alterskohorte mit Studienabschluss) in Wahrheit eine neue, versteckte, antimeritokratische Selektivität hervorbringt. Dann helfen nämlich nicht mehr Zertifikate, um eine bessere Position einzunehmen, sondern informelle Bekanntschaften, Freundschaften, Protektionismen; und es wird jenes kulturelle Kapital (bis hin zum Habitus) wichtiger, welches in Bildungsprozessen nicht erworben wird.

19Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994.

20 Diese Bemerkung soll keine Abwertung der westlichen Luxusgesellschaften bedeuten, die doch sowohl im zeitlichen Querschnitt als auch im historischen Längsschnitt einen Lebensstandard mit sich gebracht haben, wie er unvergleichlich ist. Aber auch die Erwartungen sind gestiegen, und die (fragwürdigen) Wunschbilder, die allenthalben aufgedrängt werden, sind nun tatsächlich nicht für die Masse der Menschen umsetzbar.

21Manfred Prisching, Die zweidimensionale Gesellschaft. Ein Essay zur neokonsumistischen Geisteshaltung, Wiesbaden 2006.

22Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

23Mathias Binswanger, Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?, Freiburg i. Br–Basel–Wien 2006.

24Thomas Tripold, Die Kontinuität romantischer Ideen. Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte, Bielefeld 2012.

Gert Pickel

Angstmacherei und Populismus – eine ungewollte Wiederkehr der Religionen?