Anmaßung - Alexander Rahr - E-Book

Anmaßung E-Book

Alexander Rahr

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Beschreibung

Alexander Rahr untersucht in sieben symptomatischen Beispielen, was in den Menschen, was in der Politik und Wirtschaft, was bei Verantwortlichen und einfachen Leuten in Russland vorgeht: Was und wie denken sie über Deutschland und die Deutschen? Woher rührt die wachsende Entfremdung? Von wem geht diese Entfremdung aus, wo führt sie hin? Der Autor scheut nicht Emotionen und deutliche Worte, er sondiert mit Sorge und Trauer ein zutiefst gestörtes Verhältnis, das derzeit wenig Aussicht auf Besserung hat. Er selbst ist auf beiden Seiten involviert. Als Berater der Bundesregierung hat er Analysen und Konzepte verfasst, als Russe hat er für Maßnahmen der russischen Politik Verständnis gezeigt. Ihm ist am vertrauensvollen Miteinander der beiden Länder gelegen, und er hält es für möglich.

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-50181-3

ISBN Print 978-3-360-01376-7

1. Auflage 2021

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung einer Illustration von © adobe.stock/Oleksandr

www.eulenspiegel.com

Inhalt

Vorwort

Einführung

Anna, die Coachin

Alevtina, die Konfliktforscherin

Volodja, der wehrhafte Diplomat

Jewgenija, die Meinungsforscherin

Mischa, der standhafte Patriot

Alexei, der Deutschlandversteher

Peter, der interkulturelle Kämpfer

Vorwort

von Gabriele Krone-Schmalz

Es sollte uns interessieren, was Russen von Deutschen halten und was sie über Deutschland denken. Warum? Weil Russland mehr ist als eine »zusammengekrachte Supermacht« und weil eigentlich jeder – ganz gleich welcher Ideologie er sich verbunden fühlt – wissen müsste, dass das Wohlergehen Europas von einem guten, zumindest auskömmlichen Verhältnis zwischen Deutschland und Russland abhängt. Die Erfahrung zeigt, dass Staaten immer dann besonders gut miteinander auskommen, wenn sie aufeinander angewiesen sind und – nicht zu unterschätzen – wenn diejenigen, die es miteinander zu tun haben, sich gegenseitig vertrauen. Man kann nicht oft genug wiederholen, welch großen Anteil die von Grundvertrauen geprägte personelle politische Konstellation an der deutschen Wiedervereinigung hatte. Die entscheidenden Namen dazu heißen: Michail Gorba­tschow und Helmut Kohl, die jeweiligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Eduard Schewardnadze und, nicht zu vergessen, der amerikanische Präsident George Bush senior.

Von gegenseitigem Vertrauen sind wir weiter entfernt denn je. In zahlreichen Publikationen ist hinlänglich ausgeführt, warum es trotz der enormen Chancen, die jene Zeiten mit ihrer kraftvollen Aufbruchsstimmung boten, abhandengekommen ist. Es ist müßig, akribisch aufzuführen, wer an welcher Stelle welche Chancen hat verstreichen lassen. Das führt lediglich zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und weiteren Verletzungen. Aber es ist von existentieller Bedeutung anzuerkennen, dass es nicht nur ein deutsches, ein westliches Narrativ dieser Entwicklung gibt, sondern eben auch ein russisches. Die angesichts des derzeitigen politischen Personals ohnehin kleine Chance, aus der verfahrenen Situation möglichst bald wieder herauszufinden, wird vollends zunichte, wenn russische Narrative hierzulande von vornherein als unberechtigt, infame Propaganda oder Lügengebäude betrachtet werden. Natürlich muss und sollte man nicht alles glauben – ganz gleich, um welchen Staat es sich handelt –, aber wir sollten zumindest zuhören und auch hören wollen, was unsere russischen Nachbarn uns zu sagen haben.

Es fällt auf, dass in unserem Land in der Regel nur zwei Kategorien russischer Gesprächs- oder Interviewpartner zu Wort kommen: offizielle Regierungsvertreter und ausgewiesene Kremlkritiker. »Neutrale« Experten muss man mit der Lupe suchen, und Straßenumfragen vermitteln stets ein Bild, als gäbe es nur entweder blinde Regierungsunterstützer oder sich ereifernde Putin-Kritiker. Das vielfältige Spektrum dazwischen kommt nicht vor, und es scheint auch nicht wirklich zu interessieren.

Ob Russland zu Europa gehört oder nicht – mit Publikationen zu dieser Frage lassen sich ganze Bibliotheken füllen. Und die Antworten fallen alles andere als eindeutig aus. Russland ist politisch betrachtet ganz sicher kein asiatisches Land, auch wenn sich der größte Teil Russlands auf dem asiatischen Kontinent befindet. Und Eurasien ist mehr als nur ein geografischer Begriff. Es ist eine politische und wirtschaftliche Option, die nicht nur eine große, sondern die Chance schlechthin bietet, sich in einer Welt zu behaupten, in der sich die Gewichte so dramatisch verschoben haben. Die USA werden schwächer und China wird stärker, beides in einem Ausmaß, mit dem kaum jemand gerechnet hat.

Angesichts dieser Tatsache ist es von ganz besonderer Bedeutung und nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse, darüber Bescheid zu wissen, was Russen von Deutschen halten und was sie über Deutschland denken.

Sowohl die russische als auch die deutsche Seite schleppen wegen der gegenseitigen hohen Erwartungshaltung ihre Enttäuschungen mit sich herum.

Die einen sind enttäuscht darüber, dass die Peres­troika-­Politik Gorbatschows nicht geradlinig und zügig in ein durch und durch demokratisch strukturiertes Staatswesen geführt hat. Die anderen hatten erwartet, in Deutschland einen Fürsprecher in der westlichen Welt zu haben. Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden und tut sich gegebenenfalls viel leichter, ein ramponiertes Verhältnis zu reparieren. Es sind aber nicht nur die knallharten messbaren politischen Kategorien, um die es geht. Auch Befindlichkeiten spielen eine wichtige Rolle. Sie werden vielfach unterschätzt. Ein Fehler. Sonst wäre vielleicht schon eher zur Kenntnis genommen worden, wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt.

Einführung

Was für einen Deutschen den Tod bedeutet, ist für einen Russen gesund. (Sprichwort)

Russland wird nur durch Russland überwunden. (Friedrich Schiller)

Toleranz verlangt nicht danach, Unstimmigkeiten und Widersprüche zu verschleiern. Im Gegenteil, sie fordert, die Unmöglichkeit eines umfassenden ­einheitlichen Denkens anzuerkennen und darum fremde und gegensätzliche Ansichten ohne Hass und Feindschaft zur Kenntnis zu nehmen. (Lew Kopelew)

Der deutsche Leser soll sich durch dieses Buch nicht angegriffen oder beleidigt fühlen. Ziel des Buches ist die Beschreibung der gegenwärtigen Haltung der Russen gegenüber Deutschen. Zweck des Buches ist, die Gefahren des konfliktgeladenen Entfremdungsprozesses für Deutschland darzustellen.

Die Russen bemerken, dass Deutschland seine ­Politik gegenüber Russland verändert hat. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer spricht ­davon, dass Deutschland in Bezug auf Russland aus einer »Position der Stärke« auftreten soll. Bislang wollten die Deutschen – im Gegensatz zu den USA nach der Ukraine-Krise 2014 – der russischen Wirtschaft keinen Schaden zufügen. Doch das hört sich nun anders an. Die Russen wundern sich über die letzten Umfragen in Deutschland, wonach die Massenmigration und Russland für die Deutschen zu den größten außenpolitischen Gefahren für 2021 zählen. Fast ein Drittel der Deutschen sehen Russland inzwischen als gefährlich für die eigene Sicherheit an. 2019 waren es nur 6 Prozent.

Doch welche Gefahr geht für Deutsche von Russland tatsächlich aus? Vielleicht ist sie nur »gefühlt«, künstlich? Leiden die Deutschen unter falschen Vorstellungen? Am Rande sei angemerkt, dass der Autor dieses Buches weit davon entfernt ist, die Schuld an der katas­trophalen Verschlechterung der bilateralen Beziehungen allein den Deutschen zuzuschreiben. Auch Russland hat dabei seinen unrühmlichen Anteil.

Den Deutschen sollte ein gutes Nachbarschaftsverhältnis zu Russland wichtig und strategisch von Nutzen sein. Um der komplizierten Lage Herr zu werden, fragen wir im Buch die Russen: Was denken sie über die Deutschen? Das ist beileibe keine rhetorische Frage. Standardwerke, wie Deutsche die Russen sehen, füllen hierzulande ganze Bibliotheken. Jedes Jahr erscheint darüber ein neues Buch auf dem deutschen Markt. Weitaus weniger bekannt ist, welche Ansprüche die Russen an die Deutschen stellen. Die Antwort auf die Frage ist nicht unerheblich, denn Russen und Deutsche sind historisch dazu verdammt, sich zu vertragen. Bekanntlich führte eine deutsch-russische Feindschaft zu zwei fürchterlichen Weltkriegen und ließ Europa kollabieren. Das darf nie wieder passieren.

In Deutschland nennt man diejenigen, die für ein gutes Verhältnis zu Russland eintreten, die Russlandversteher. Werfen wir einmal einen Blick auf die Deutschlandversteher in Russland. Was haben sie zu sagen? Doch Hand aufs Herz: interessiert man sich in Deutschland wirklich dafür, wie die Russen die Deutschen sehen? Nicht wirklich. Für den modernen Deutschen ist es weitaus wichtiger, von den USA, Großbritannien und Frankreich respektiert sowie in der EU ernst genommen zu werden – in Ländern und Nationen, mit denen Deutsche in einem Werte-Bündnis (manche würden sagen: einer gemeinsamen Kultur) zusammenleben. Was außerhalb der transatlantischen Gemeinschaft gedacht wird, inte­ressiert nicht wirklich.

Wie Francis Fukuyama 1990 in seinem Jahrhundertbuch über das Ende der Geschichte schrieb, wird es kein erfolgreicheres System auf Erden geben als das ­liberal-demokratische. Mit der liberalen Moderne hat die Menschheitsgeschichte ihren zivilisatorischen Zenit erreicht. Im Grunde müssen sich alle Völker, um glücklich zu werden, nach dem liberalen westlichen System ausrichten. Doch was, wenn die Russen an dieser universellen westlichen Welt gar nicht teilhaben wollen?

Russland ist, seitdem Peter der Große vor über 300 Jahren das sogenannte Fenster nach Europa aufschlug, für den Westen ein Fremdkörper geblieben. Vermutlich aufgrund seiner größeren kulturpolitischen Prägung durch die byzantinische statt durch weströmische Tradition. Im Grunde sind Ost- und Westeuropa seit dem Großen Schisma 1054 voneinander getrennt. Der Westen versuchte stets, Russland zu zivilisieren. Russland ließ sich vom Westen nicht belehren.

Deutschland begrüßt es stets zu erfahren, wie Russen Deutsche verstehen und respektieren. Aber will man hierzulande, dass auch umgekehrt Deutsche Russen verstehen und respektieren? Nicht wirklich. Ja: Man will Russland aus der Barbarei in das fortschrittliche und aufgeklärte Europa überführen. Doch nein: Über eine unterschiedliche russische Weltsicht oder die besondere russische Interessenlage etwas zu erfahren ist in Deutschland für die Wenigsten von Belang.

Im Jahre 2021 jährt sich zum achtzigsten Male der Tag des Überfalls Adolf Hitlers auf die Sowjetunion. Das nationalsozialistische Deutschland führte einen Vernichtungskrieg gegen die bolschewistische Sowjetunion. Es war der schlimmste Krieg, den die Menschheit bis dato erlebt hatte. Die Sowjetunion beklagte in nur vier Kriegsjahren 27 Millionen Tote, davon die Hälfte Zivilisten. Die gesamten deutschen Kriegsopfer beliefen sich auf 7 Millionen Tote, davon ein Drittel Zivilisten. Sind diese Erinnerungen in der heutigen deutschen Vergangenheitsbewältigung allgegenwärtig, so wie der Holocaust für immer ein fester Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur bleiben wird? Nicht wirklich. Russen und Deutsche aber bilden die beiden bevölkerungsreichsten Nationen in Europa. In der Russischen Föderation leben 142 Millionen Menschen; in der Bundesrepublik Deutschland 82 Millionen. Es ist keine Floskel zu behaupten, dass von einer echten Aussöhnung und guten Beziehungen zwischen den einst verfeindeten Mächten die künftige Friedenssicherung auf dem europäischen Kontinent abhängt.

Im Jahre 2021 jährt sich zum dreißigsten Male die Auflösung der Sowjetunion. Vom Ende des Kalten Krieges profitierten alle. Europa wurde vereint, Deutschland wiedervereinigt, überall in Europa manifestierten sich die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft. Machte es die Deutschen stolz, dass die Russen seit dem Fall der Berliner Mauer in allen soziologischen Meinungsfragen Deutschland als ihr Lieblingsland, als eine Art Vorbild in Europa betrachten? Nicht wirklich. Eher fasste man diese Tatsache in Deutschland als etwas Selbstverständliches auf. Deutschland sei schließlich die stolze Führungsmacht in Europa – eines von Deutschland neu geschaffenen liberalen Groß-­Europa, in dem früher oder später auch das postkommunistische Russland seinen Platz finden könne.

Im Jahre 2021 jährt sich zum zwanzigsten Male der Auftritt von Vladimir Putin im Deutschen Bundestag. Der russische Präsident erklärte damals den Kalten Krieg für beendet und schlug eine neue konstruktive Partnerschaft vor. Haben die Deutschen die ausgestreckte Hand ergriffen? Nicht wirklich. Zehn Jahre später kündigte Deutschland die Modernisierungspartnerschaft mit Russland unter dem Vorwand der Abkehr Russlands von der Demokratie auf. Heute ist Deutschland, nach den Worten Putins, kein Anwalt russischer Interessen im Westen mehr.

Der Fall Nawalny, der wohl niemals aufgeklärt wird, hat die deutsch-russische Beziehung vergiftet. Der bekannte russische Politologe Dmitri Trenin sprach vom bitteren Ende einer strategischen Sonderbeziehung zwischen Russland und der Bundesrepublik, die – allen Konflikten zum Trotz – half, einen neuen Kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen zu verhindern. Deutschland ist für die Russen nicht mehr die Lieblingsnation in Europa. Ist man in Deutschland deswegen alarmiert? Nicht wirklich. Deutsche Thinktanks geben der Bundesregierung den Rat, Russland wie einen Gegner zu behandeln und mit Moskau aus einer Position der Stärke zu reden, was Kramp-Karrenbauer auch beherzigt. Der »Spiegel« schreibt, Deutschland solle Putin endlich richtig »wehtun«.

In Russland fährt man als Antwort schwere Geschütze auf. In der Öffentlichkeit ertönen Stimmen, die von der langjährigen Aussöhnung nach dem Krieg nichts mehr wissen möchten. Der Krieg Nazideutschlands gegen die Sowjetunion soll zum »Genozid gegen das sowjetische Volk« umdefiniert werden, mit allen daraus folgenden Konsequenzen, inklusive möglichen Reparationsforderungen.

Die Russen waren in den vergangenen 30 Jahren in ihrer Gesamtheit erkennbar Deutschland-freundlich. Auch in Deutschland existiert, anders als in vielen westlichen Nachbarstaaten, eine kritische Masse an Befürwortern einer Aussöhnungspolitik mit und Annäherung an Russland. Im politischen Establishment sind es vor allem die SPD und die Linke, die – auch in schwierigen Zkeiten – ihr Möglichstes tun, um einen kompletten Bruch der deutsch-russischen Beziehungen zu verhindern.

Umfragen zufolge sympathisieren in Ostdeutschland, also in der ehemaligen DDR, die Bürger viel stärker mit Russland als in Westdeutschland, wo das transatlan­tische Denken und die Fixierung auf liberale Werte stärker ausgeprägt ist und die Menschen viel kritischer über Russland denken. Die Dankbarkeit gegenüber Amerika für die Befreiung vom Faschismus, für den Aufbau von Demokratie und den Marschall-Plan ist noch so groß, dass die Westdeutschen den USA alles durchgehen lassen. Man kann in Westdeutschland noch latente Stereotypen aus dem Kalten Krieg ausmachen. Zweifellos existiert dort ein stark ausgeprägter Pro-Amerikanismus, der nahezu automatisch einen kritischen Blick auf Russland wirft. In Ostdeutschland ist das umgekehrt.

Noch im Mai 2012 erschien in der russischen Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda ein warnendes Interview mit dem Autor des vorliegenden Buches. Dieser versuchte, wenn auch provokant, die fehlerhafte Sicht vieler Deutscher auf Russland zu korrigieren. Das überzogene Zitat eines russischen Politologen, die Amerikaner hätten den Deutschen das Gehirn amputiert, sollte wiedergeben, wie in den russischen Eliten die Deutschen gesehen werden: als Befehlsempfänger der Amerikaner.

Doch in Deutschland kam das schmerzliche Interview gar nicht gut an. Keiner der notorischen Russlandkritiker in der Bundesrepublik wollte in den Spiegel schauen. Der Autor wurde in allen deutschen Medien heftiger Kritik unterzogen und geschmäht, dabei hatte er nur den Finger in die Wunde der deutsch-russischen Beziehungen gelegt.

Die Russen und wir, oder: Wie sehen uns die Russen wirklich? Das vorliegende Buch gibt interessante Einblicke in das Gedankengut der Russen, vermittelt Tiefenströmungen in den bilateralen Beziehungen und appelliert an den deutschen Leser, den Russen genauer zuzuhören. Nur über Dialog werden beide Seiten die vielfältige Welt des anderen verstehen. Die Binsenweisheit sagt: Brücken der Völkerverständigung aufzubauen dauert länger, als sie einzureißen. Letzteres passiert momentan. Beide Seiten sollten dagegensteuern.

Der Autor weiß dabei, wovon er spricht. Er, in ­einer russischen Emigrantenfamilie in Westdeutschland aufgewachsen, blickt zurück auf über 300 Reisen nach Russland seit dem Berliner Mauerfall und auf viele Jahre Arbeit im Petersburger Dialog, im Deutsch-Russischen Forum, im Russland-Eurasien-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, bei Radio Freies Europa und als Berater des größten russischen Unternehmens, Gazprom. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und des Freundschaftsordens Russlands. Klar, als Botschafter, der oft auch unangenehme Nachrichten überbringt, hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Der Prophet im eigenen Land zählt bekanntlich nichts. Das vorliegende Buch ist ein Schrei des Verzweifelten: rettet die deutsch-russischen Beziehungen! Gerade darum ist es wichtig, den russischen Blick auf Deutschland ernsthaft zu prüfen.

Anna, die Coachin

Wir besuchen Annas Coaching-Seminar in Berlin. Die Sozialpsychologin hat das Treffen zuerst abgelehnt, doch schließlich zugestimmt. Sie möchte keine Meinungsumfrage über das Verhältnis der Russen zu Deutschland mit Interviewpartnern durchführen, die aus Russland emigriert sind. Die Meinungen wären authentischer, wenn sie von »richtigen« Russen stammen. Doch sie lässt sich umstimmen. Bevor sie ihr Coaching zum Thema »Wahrnehmung der Russen über Deutsche und über Deutschland« beginnt, kontaktiert sie die Gortschakow-Stiftung in Moskau. Sie bittet, dort eine Umfrage unter den Mitgliedern des Jugendparlaments zu diesem Themenkomplex durchzuführen. Die Antwort aus Moskau lässt nicht lange auf sich warten.

Artem, Politologe: Ich bin einen Monat vor dem Fall der Berliner Mauer zur Welt gekommen. In meiner Erinnerung war Deutschland immer ein Einheitsstaat in der Mitte Europas. Es ist ein Land, das eine starke Industrie, eine fortentwickelte Wirtschaft und eine reiche Kultur hat. Deutschland habe ich schon immer mit Stärke ­assoziiert – ob es um die Armee, Fabriken, wissenschaftliche Entdeckungen oder Werke Goethes ging. Dieses Land erkennt keine halben Maßnahmen an und strebt nach Perfektion in jeder seiner Unternehmungen. Eine ältere Generation, die meiner Eltern, verbindet Deutschland weitgehend mit den dunklen Seiten des 20. Jahrhunderts. Ich kann nicht dasselbe für mich sagen. Es fällt mir schwer, spekulative Parallelen zwischen dem modernen Deutschland und dem Dritten Reich zu ziehen. Es scheint mir, dass es mit dem gleichen Erfolg möglich wäre, Napoleons Reich und das moderne Frankreich oder Amerika während der »Großen Depression« mit den modernen Vereinigten Staaten zu vergleichen. Es war zu lange her und das Leben hat sich verändert. Aber vor der reflektierenden Haltung der Deutschen zu ihrer Vergangenheit verspüre ich Respekt. Ich denke, dass dies ein wichtiger Teil des heutigen deutschen Erfolgs ist. Moderne Deutsche scheinen mir ambitionierte Menschen zu sein, die ihre Ziele methodisch und systematisch erreichen. Aus diesem Grund sind ihre Erfolge selten das Ergebnis von Zufall oder hoher Kraftanstrengung. Ein solcher pedantischer und in gewisser Weise langweiliger Ansatz ist manchmal Gegenstand von Ironie, aber er hindert Deutschland nicht daran, ein Modell für andere Länder zu sein. Vielleicht spielen in meinem Bewusstsein die Traditionen der russischen klassischen Literatur eine Rolle, die Deutsche meist als aktive Antipoden zum verträumten Russland darstellen. Es gibt Dinge bei den Deutschen, die nicht immer volles Verständnis finden. Deutsche tun so, als ob sie im 22. oder 23. Jahrhundert leben würden, während die anderen noch im 21. oder gar im 20. Jahrhundert herum­toben. Irgendwie erinnert mich das an die Idee der amerikanischen Exklusivität, wobei hier die Rolle des religiösen Eifers ein spezieller Rationalismus einnimmt. Oft stört dies den normalen Dialog. Übrigens hat sich in den ­letzten Jahren dieses Kategorische, wenn auch informell, mit einer selbstkritischen Reflexion vermischt.

Alexandra, Beamtin: Ich bekam Interesse an Deutschen und deutscher Kultur in der 10. Klasse, als ich unerwartet die Regional-Olympiade in Deutsch gewann. Ich sollte dazusagen, dass ich erst vier Jahre später den ersten echten Deutschen traf, als ich mein Studentenpraktikum im Büro einer deutschen Stiftung in Moskau absolvierte. Dieser Deutsche war kein Geringerer als Hans-Dietrich ­Genscher, ein ehemaliger Bundesaußenminister und einer der Architekten der deutschen Einheit. Ich war sehr beeindruckt von Genschers Freundlichkeit, dem Charisma dieses Mannes, der Klarheit seines Denkens. Vielleicht hat dieses Treffen meine Sympathie für das deutsche Volk vorbestimmt. Und die Deutschen, die mein Interesse sahen, erwiderten mir freundlich und bekundeten immer ihr Interesse an Russland und seiner Kultur. Die Verschlechterung der russisch-deutschen Beziehungen in den letzten Jahren hat diese positiven Aspekte nivelliert. Wir sind heute gezwungen, über das Negative zu sprechen, sei es über Wirtschaftssanktionen, den Konflikt in der Ukraine oder das Schicksal ­Nawalnys. Der Streit offenbart uns im Unterbewusstsein, was wir in unserem deutschen Gesprächspartner früher gar nicht sehen wollten oder nicht erwartet hatten. Aber ich glaube, wenn es uns nach einem so schrecklichen Krieg, den unsere beiden Völker durchgemacht hatten, gelungen ist, diplomatische Beziehungen, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und intensiven kulturellen Austausch herzustellen, dann wird es wahrscheinlich ein­facher sein, mit einem solchen Gepäck die gegenwärtige Entfremdung umzukehren.

Andrei, Jungunternehmer: Ein moderner junger Deutscher trägt seinen Kopf hoch und mit Stolz. Nicht umsonst ist er stolz auf den kulturellen Reichtum seines Landes, seine wirtschaftlichen Erfolge, Technologien, Infrastruktur und malerischen Landschaften. Es scheint, dass er seine Überlegenheit zwar demonstrieren möchte, aber seine gute Erziehung es ihm nicht erlaubt. Zunehmend nimmt man bei den Deutschen die Ehrfurcht gegenüber den USA wahr, die sowohl im Verhalten als auch im Aussehen zum Ausdruck kommt. Wenn Deutsche Englisch sprechen, tun sie das in einem zusehends belehrenden Ton. Sie haben großes Vertrauen in die eigene Russland-Expertise, trotz Mangels an Wissen in diesem Bereich. Deutsche folgen dem universellen Maßstab der europäischen Werte und Minderheitenrechte, die Geschichte der UdSSR wird verteufelt, und die Geschichte Deutschlands in den 1930er und 1940er Jahren relativiert. Für junge Deutsche ist »Russland« alles, was östlich der polnischen Grenze liegt. Die Deutschen halten uns Russen nicht für ebenbürtig. Wir hören uns nicht nur – wir schauen einander in die Augen und sehen nur den Wind.

Alexander, Wirtschaftsexperte: »Heute Kinder – morgen das Volk«: Wie junge Russen die jungen Deutschen von heute sehen.